Ich habe einige Jahre als Referendarin und Lehrerin an verschiedenen Schulen gearbeitet. Auslöser dafür waren die Schulerlebnisse meines Sohnes. Sein Werdegang in der Schule hatte sich für meinen Mann und mich immer mehr als Glücksspiel dargestellt, je nachdem, ob kompetente oder inkompetente, motivierte oder unmotivierte Lehrer, Pädagogen mit einer entwickelten Persönlichkeit oder mit Defiziten ihn unterrichteten. Ich stellte fest, dass viele Eltern ähnliche Erfahrungen gemacht hatten. Kaum jemand konnte sich erklären, was die eigentliche Ursache dafür war. Viele hatten dieses Gefühl von hilfloser Wut und Ohnmacht, das ich selbst oft empfand. Manche reagierten mit Druck auf ihre Kinder, mit Schulwechsel, mit Anpassung. Ich fasste einen anderen Plan. Ich hatte nach meinem Studium der Politikwissenschaft und Germanistik nicht den Lehrerberuf ergriffen, sondern andere berufliche Erfahrungen gemacht. Ich beschloss, nun doch selbst Teil des Schulsystems zu werden, denn ich wollte begreifen, was da vor sich geht, ich wollte die »heimlichen Lehrpläne« kennenlernen.
Ich wusste nicht, ob ich überhaupt zur Lehrerin geeignet war. Und es hatte sich auch niemand sonst darüber Gedanken gemacht, als meine Bewerbung für ein Referendariat auf der Basis der üblichen Unterlagen angenommen wurde. Es wurden aufschlussreiche Jahre in der Schule. Ich bekam Einblicke in Strukturen, die Eltern und Schüler sonst nur von außen betrachten und erahnen können. Ich habe Dokumente, Konzeptpapiere, Briefe, Befragungsergebnisse gesammelt und aufbewahrt. Alles, was mir wichtig erschien, was ich erlebte, was mich berührte, meine Erfolge und Misserfolge habe ich notiert und ein »Schultagebuch« geführt. Auf diesen Erfahrungen beruht mein Bericht. Gleichzeitig blieb ich aber auch distanzierte Beobachterin. Ich hatte den Anspruch, nach einem eigenen Weg für die Vermittlung von Schlüsselkompetenzen zu suchen und einen Umsetzungsversuch zu machen. Auch darum geht es in diesem Buch.
Der Buchtitel ›Schule versagt‹ ruft sicherlich unterschiedliche Assoziationen hervor. Je nachdem, wie sich das eigene Schulerleben oder das der Kinder abgespielt hat oder abspielt, wird die Reaktion von Zustimmung bis zu Ablehnung reichen. Ich bin keineswegs der Ansicht, dass jede Schule immer versagt. Ich weiß, dass es Schulen gibt, die anders sind. Im Buch finden sich auch Beispiele dafür. Der Neurobiologe Joachim Bauer hat sogar ein Buch mit dem Titel ›Lob der Schule‹ verfasst und darin beschrieben, was das Bildungssystem leisten kann und soll, nicht, was es tatsächlich leistet. Auch bei ihm finden sich Hinweise darauf, wie Schule an der wichtigsten Voraussetzung für gelingendes Lernen, nämlich an konstruktiven Beziehungen zwischen Lehrern und Schülern, scheitern kann. Oder dass es mit den sozialen Beziehungen in Lehrerkollegien mitunter gar nicht gut aussieht.
Auch ich befasse mich mit der Frage, wie Schule gelingen kann. Aber zunächst wollte ich herausfinden, warum Schule so oft versagt. Ich meine mit »Schule« nicht einzelne Schulen. Ich meine den »Output« unseres Schulsystems als Ganzes, im Hinblick darauf, dass es letztendlich um die Anforderungen der Wissensgesellschaft, um Schlüsselkompetenzen, um die kreative, produktive und verantwortliche Orientierung von jungen Menschen in der Zivilgesellschaft und vor allem um ihre individuelle Förderung geht.
Zunächst kommt mein Sohn zu Wort. Ich habe ihn gebeten, seine Schulerfahrungen noch einmal hervorzuholen und aufzuschreiben. Aus der Schilderung seiner Erlebnisse wird (auch) deutlich, warum ich diese Recherche unter- und auf mich genommen habe. Mein Sohn war noch ein Teenager, als ich das Referendariat begann. In den verschiedenen Schulen, in denen ich unterrichtete, lernte ich die Lehrerrolle ebenso kennen wie die Schülerrolle und die gruppendynamischen Prozesse im Lehrerzimmer. Ich habe auch Erfahrungen gemacht mit Innovationsversuchen im bestehenden System. Deren Ziel war es, die Fähigkeit der Schüler zu eigenverantwortlichem Arbeiten und Lernen zu stärken. Dafür ist ein gutes pädagogisches Konzept Voraussetzung, aber für den Erfolg oder den Misserfolg erwies sich letztlich der menschliche Faktor als ausschlaggebend. Die Barriere der eingefahrenen Verhaltensmuster ist schwer zu überwinden.
In jüngster Zeit findet das Prinzip der Servant Leadership in Unternehmen und Organisationen immer größere Verbreitung. Das Konzept steht für eine Kultur des Führens und Dienens als Basis für Erfolg. Ich kam zu der Überzeugung, dass es genau solche Kompetenzen sind, nämlich Mentor und »leitende Kraft« zu sein und gleichzeitig dem Wachstumsprozess der Schüler zu dienen, die vorhandene Verhaltensmuster ablösen müssen. Diese Kompetenzen müssen die Grundlage der Vermittlung von Lehrstoff ebenso wie der individuellen Förderung von Schülern sein. Die Lehrer-Schüler-Beziehung muss verändert werden. Ich stelle sieben Thesen zur nachhaltigen Veränderung dieser Beziehung auf. These 1 lautet nicht zufällig: Bei sich selbst beginnen, zum Beispiel bei der Frage, warum man sich überhaupt für den Lehrerberuf entscheidet. Die zweite Schlussfolgerung für mich war, dass das System Schule zwingend neu strukturiert werden muss, von der Ausbildung und Persönlichkeitsentwicklung von Lehrern angefangen bis hin zu neuen Lernformen. Damit sich die frustrierenden Erfahrungen von Schülern, Eltern und Lehrern nicht endlos fortsetzen. Damit Schule nicht versagt.
Die Ereignisse, Szenen und Dialoge, die wir im Buch beschreiben, haben sich so oder in sehr ähnlicher Weise abgespielt. Orts- und Personenbeschreibungen sind verfremdet, alle Namen frei erfunden. Ich habe Typisierungen vorgenommen. Es geht hier nicht darum, einzelne Schulen, Lehrer und Vorgesetzte zu porträtieren. Die im Buch vorkommenden Personen repräsentieren nicht einzelne identifizierbare Individuen, sondern Denk-, Handlungs- und Lebensorientierungen, die jeweils für einen bestimmten Lehrertypus charakteristisch sind. Es geht um Verhaltensmuster und -motive, auf die ich immer wieder traf.
Wenn ich darüber nachdenke, was, neben den Ergebnissen der Recherche und den daraus erwachsenen Erkenntnissen, für mich persönlich geblieben ist aus dieser Zeit, dann ist es die lebendige Erinnerung daran, dass ich mit einigen klugen, aufgeschlossenen und integren Lehrerinnen und Lehrern zusammen gearbeitet habe. Vor allem aber empfinde ich Dankbarkeit dafür, das Heranwachsen und die Entwicklung junger Menschen beobachtet, begleitet und vielleicht auch gefördert zu haben. Wie bei allen schöpferischen und produktiven Prozessen spürte ich dort die Energie, die sich nicht verbraucht, sondern erneuert und stetig zufließt.
Inge Faltin, November 2010