Die neue Woche begann mit Mathe. Ausgerechnet! Und Adi fehlte, das bemerkte Nele sofort. Aber sie war viel zu müde, um deshalb traurig zu sein. Fast schlief sie über ihrem Geodreieck ein, was Mathe-Meier natürlich nicht entging. Prompt rief er sie an die Tafel. Immerhin machte der Schreck sie wach, und da sie sich bei ihren Hausaufgaben solche Mühe gegeben hatte, schlug sie sich nicht einmal schlecht. Jedenfalls meinte Mathe-Meier schließlich fast freundlich: »Mach mal so weiter, Nele, dann wird das schon.« Er hatte es wohl als Aufmunterung gemeint, doch in Neles Ohren klang es wie: »Na, ein Totalversager bist du ja wenigstens nicht.« Als Nächste durfte Vanessa antreten. Sie murkste furchtbar herum, legte das Dreieck falsch an und verwechselte die Seitenlänge mit der Höhe des Dreiecks. Mathe-Meier klebte mit dem Hintern auf der Pultkante und beobachtete ihre Bemühungen mit höhnischer Miene. Schließlich raffte er sich auf, griff zum Schwamm und wischte Vanessas Skizze aus. Aber entlassen war sie damit keineswegs.
»Was ist klein a?«, fragte er und lehnte sich wieder ans Pult, die Anne verschränkt.
»Die Grundlinie«, sagte Vanessa.
»Wie lang?«
»6,5 Zentimeter?«
»Klein a?« Ihm traten fast die Augen aus dem Kopf.
»Äh ... ach nee, 13,2 Zentimeter«, berichtigte sich Vanessa.
»Und Alpha?«
»Alpha?« Vanessa schaute ihn hilflos aus ihren Pandaaugen an.
»Alpha!«, belferte Mathe-Meier. »Das ist ein Winkel! So etwas Ähnliches wie eine Ecke.«
»Ach so, ja, Alpha. Alpha ist 65 Grad«, sagte Vanessa.
Nele sah, dass sie den Tränen nahe war. Aber sie weinte nicht, sondern fasste sich plötzlich an die Stirn, wankte ein wenig und schenkte Mathe-Meier einen atemberaubenden Augenaufschlag. Dieses Theater war wirklich die reine Verschwendung, dachte Nele, der Kerl war bestimmt immun. »Herr Meier, ich habe rasende Kopfschmerzen«, hauchte Vanessa jetzt. »Darf ich bitte einen Moment an die frische Luft gehen?«
Mathe-Meier starrte sie verblüfft an. »Ja, Kind, geh nur«, sagte er dann mild. Und dazu lächelte er sogar. Es war nicht einmal ein gehässiges Lächeln, sondern ein nettes. So nett, dass Nele überlegte, ob sie sich nicht auch Mascara zulegen sollte. Und wenn es nur für die Mathestunden war.
In der nächsten Stunde hatten sie Erdkunde bei der Schmalbach. Vanessa saß wieder brav an ihrem Platz, von Kopfschmerzen keine Spur. Auch Adi war inzwischen eingetrudelt. »Wir haben total verschlafen, alle Mann!«, hatte er grinsend erklärt und der Schmalbach einen Entschuldigungszettel aufs Pult gelegt.
»Bevor wir anfangen, möchte ich erst das Geld für den Ausflug einsammeln«, sagte die Schmalbach, schlug die Klassenliste auf und rammte sich ihre Lesebrille auf die Nase. »Ich hoffe, ihr habt alle daran gedacht.«
Mist! Das hatte Nele völlig vergessen. Aber wer dachte auch schon an eine Fahrt ins Historische Museum, wenn er gerade ein Baby bekommen hatte?
Auch Sara kramte vergeblich in ihren Hosentaschen. »Darf ich kurz rausgehen?«, fragte sie. »Ich habe das Geld in meiner Anoraktasche gelassen.«
Sie kam kreidebleich zurück. »Es ist weg! Dabei weiß ich ganz genau, dass ich die fünf Euro in die Ärmeltasche gesteckt habe. Der Reißverschluss hat noch geklemmt.«
Die Schmalbach sah sie über ihre Brillenränder hinweg an. »Bist du sicher?«
»Ganz sicher! Meine Mutter hat mir das Geld heute Morgen gegeben, zwei 2-Euro-Münzen und zwei Fünfziger, weil sie keinen Schein hatte. Ehrlich, ich schwör's!«
Die Schmalbach lächelte. Eine Seltenheit, aber es kam vor. »Du brauchst nicht zu schwören, ich glaube dir auch so. Geh bitte in der Pause ins Sekretariat und melde den Diebstahl.«
Nele und Sara sahen sich erstaunt an. Den Diebstahl? Das sagte dir Schmalbach einfach so? Wieso war sie sich so sicher? Normalerweise empfahl sie in solchen Fällen, noch einmal in allen Taschen und Fächern, Büchern und Heften zu suchen. Oder sie sagte gleich, dass man am nächsten Tag aber bestimmt an das Geld denken solle. Aber jetzt glaubte sie Sara sofort!
Nele und die drei, vier anderen, die das Geld auch vergessen hatten, kamen weniger glimpflich davon. Sie mussten sich eine längere Standpauke über Pünktlichkeit und Verlässlichkeit anhören, aber danach ging die Schmalbach endlich zur Tagesordnung über, den Stockwerkbau des tropischen Regenwaldes. Sie verteilte dazu sogar ein hübsches Arbeitsblatt, das nicht nur zu beschriften, sondern auch anzumalen war. Nach der Geo-Zeichnerei bei Mathe-Meier war das die reinste Erholung.
»Kommst du mit ins Sekretariat?«, fragte Sara, als es klingelte.
Nele packte ihre Buntstifte ein. »Lass uns am Ende der Pause gehen, du weißt doch, was da jetzt los ist, da stehen wir nur endlos in der Schlange.«
»Stimmt. Außerdem ist das Geld sowieso futsch, egal, wann wir es anzeigen«, meinte Sara. »Meine Mutter wird bestimmt stinksauer sein.«
Aber du kannst doch nichts dafür«, sagte Nele. »Wenn es geklaut wurde.«
»Doch. Ich hätte es nicht draußen in der Jackentasche lassen dürfen.« Sara sah ziemlich niedergeschlagen aus.
»Ja«, sagte Nele, »das war blöd. Meinst du, deine Mutter lässt dich jetzt nicht mit auf den Ausflug?«
»Am besten erzähle ich ihr das alles gar nicht«, überlegte Sara. »Ich kann die fünf Euro ja auch von meinem Geld bezahlen. Ich hab noch was von meiner Oma.«
Nele hakte sie unter und drückte ihren Arm. »Wenn du deine Oma nicht hättest!«
»Dann hätte ich eine suchen müssen, so wie du!«, lachte Sara.
»Zum Glück nicht«, meinte Nele. »Am Ende hättest du mir Anneli vor der Nase weggeschnappt! Und ich hätte gar nichts machen können, weil ich eingesehen hätte, dass du sie nötiger gebraucht hättest als ich.«
»Weißt du«, sagte Sara nachdenklich, als sie Arm in Arm über den Schulhof schlenderten, »manchmal beneide ich dich ja. Du hast eine nette Mutter, du hast keine große Schwester und du hast dir deinen neuen Vater nach deinem Geschmack ausgesucht. Aber wenn ich dann an meine Oma denke, dann ist der ganze Neid plötzlich weg. Die würde ich gegen niemanden eintauschen, nicht mal gegen eine tolle Mutter.«
Frau Dornberg, die Schulsekretärin, schüttelte genervt den Kopf, als Sara ihr berichtete, wann und wo ihre fünf Euro abhandengekommen waren. »Kinder, Kinder«, seufzte sie und fummelte eine silbergraue Haarsträhne zurück, die sich aus ihrem Knoten gelöst hatte, »was ist denn heute nur wieder los? Du bist bereits die Vierte, die mir so etwas meldet. Man sollte meinen, ihr hättet alle zu viel Geld, wenn ihr so nachlässig damit umgeht. Ihr wisst doch, dass ihr eure Wertsachen ständig bei euch tragen sollt. Wie oft sollen wir euch das noch sagen.«
Ich hab's halt vergessen«, sagte Sara zerknirscht. »Das kann doch mal passieren.«
Mal ja. Aber hier passiert es ständig! Allein heute Morgen sind schon fünfunddreißig Euro weggekommen. Wann ist es denn passiert? Während der ersten Stunde, nehme ich an, was?«
»Ja«, sagte Sara überrascht. »Anfang der zweiten Stunde habe ich es gemerkt, als ich Frau Schmalbach das Geld für unseren Ausflug geben wollte.«
Frau Dornberg presste die rot geschminkten Lippen aufeinander und nickte grimmig. »Dachte ich es mir doch. Da muss jemand einen hübschen kleinen Beutezug gemacht haben.« Sie tippte Saras Meldung in den Computer. Ihre langen roten Fingernägel klapperten auf der Tastatur. »Ich fürchte, das Geld kannst du abschreiben«, sagte sie bedauernd. »Das finden wir nicht wieder. Ich wäre schon froh, wenn wir den Dieb fänden. Ich habe nämlich noch etwas anderes zu tun, als den ganzen Tag Verlustanzeigen aufzunehmen.«
»Sind es denn wirklich so viele?«, fragte Nele.
Frau Dornberg nickte. »In der letzten Zeit häuft es sich. Dass mal jemand etwas verliert, ist ja normal, doch seit ein, zwei Wochen fehlt ständig Geld. Also, sagt euren Klassenkameraden noch mal, dass sie gut aufpassen sollen.«
»Machen wir«, versprach Sara. »Und danke.«
»Wofür?« Frau Dornberg lächelte sie mitleidig an. »Ich konnte dir ja gar nicht helfen.«
»Denkst du das Gleiche wie ich?«, fragte Nele, nachdem sie das Sekretariat verlassen hatten.
Sara schaute sie unsicher an. »Du meinst – Vanessa?«
»Es könnte doch passen. Immerhin war sie in der ersten Stunde ganz schön lange ›an der frischen Luft‹.«
»Aber traust du ihr das zu?«
»Ich weiß nicht.«
Ihnen blieb keine Zeit, weiterzugrübeln, die Pause war zu Ende. Zum Glück hatten sie heute keine Theaterprobe, sondern nur noch zwei Stunden Englisch und eine Doppelstunde Physik.
Erst auf dem Nachhauseweg kamen sie wieder dazu, sich in Ruhe zu unterhalten. »Man müsste einen Köder auslegen«, meinte Nele. »Es gibt doch so präparierte Geldscheine. Wenn du die anfasst, hast du noch tagelang schwarze Flecken an den Händen.«
»Und wo willst du die hernehmen?«, fragte Sara. »Und vor allem – wo willst du sie hinlegen? Wenn du sie in deine Jackentasche steckst und die Jacke im Flur hängen lässt, fasst du vielleicht aus Versehen selber hinein und dann hast du die Verbrecherspuren an den Fingern.«
Nele kicherte. »Das könnte ganz schön peinlich werden, was? Aber es geht sowieso nicht, an solche Geldscheine kommen wir nicht ran. Ich glaube nicht, dass man sie bei der Polizei kaufen kann.«
»Trotzdem, deine Idee mit dem Köder ist gar nicht so schlecht. Vielleicht fällt uns ja noch etwas dazu ein.«
»Wenn es überhaupt Vanessa ist«, sagte Nele. »Ich meine, wir wissen zwar, dass sie was im Drogeriemarkt geklaut hat, aber das muss ja nicht gleich heißen, dass sie immer und überall klaut. Vielleicht ist es ganz schön gemein von uns, sie zu verdächtigen.«
»Ja, vielleicht«, sagte Sara. Sehr überzeugt klang es nicht. »Allerdings ist es ja doch noch ein Unterschied, ob man in einem Laden klaut oder seine Mitschüler bestiehlt.«
Sie wurde von Joschi unterbrochen, der sie mit dem Fahrrad überholte und eine halsbrecherische Vollbremsung hinlegte. »Bleibt es bei halb vier?«, fragte er. »
»Natürlich.« Sara strich sich das Haar aus dem Gesicht.
»Ach du Schreck, die Theaterprobe! Die habe ich ja ganz vergessen!«, rief Nele. »Ich hab zu Hause noch gar nicht Bescheid gesagt. Aber das geht schon klar«, fügte sie schnell hinzu, als sie Saras und Joschis enttäuschte Mienen sah.
»Unbedingt!«, sagte Joschi. »Die anderen freuen sich auch schon darauf.« Er riss den Lenker seines Mountainbikes in die Höhe und startete auf dem Hinterrad. »Bis nachher!«
»Angeber«, murmelte Sara.
Nele sah sie von der Seite an. »Du magst ihn, stimmt's?«
»Och.« Sara zuckte mit den Schultern. »Nicht mehr als andere.«
»Ach ja, mit dem Thema bist du ja durch. Hast du dir eigentlich schon überlegt, in welches Kloster du eintrittst?«
Sara lachte. »Quatsch! Ich werde einfach eine unabhängige, alleinstehende Frau und mache mir ein feines Leben. Du darfst dich dann ab und zu auf meiner Luxusjacht erholen, wenn Adi und die Kinder dir zu viel werden.«
»Wie lieb von dir«, sagte Nele. »Dafür darfst du uns dann Ostern und Weihnachten besuchen. Da kriegen unabhängige, alleinstehende Frauen nämlich immer einen Einsamkeitskoller. Hab ich neulich in einer Singleshow gehört.«
»Seit wann guckst du Singleshows?«
»Guck ich ja gar nicht, war Zufall.«
»Bist du sicher?«
Sie waren an der Ecke angelangt, an der sie sich trennen mussten. Das letzte Stück des Weges hüpfte Nele. Auf einem Bein. Ihr war so danach zumute.
Zu Hause duftete es schon von Weitem nach Mittagessen und ihr lief das Wasser im Munde zusammen. Aber noch im Flur kam ihr Anneli entgegen und drückte ihr eine brüllende Lilly in den Arm, die nicht duftete, ganz im Gegenteil. »Sei so lieb und wickele sie eben. Ich muss mich um das Essen kümmern, sonst brennt mir noch was an.« Sie sah etwas abgehetzt aus.
»Was ist denn los? Warum kochst du? Ist Frau Werner denn nicht da?«
»Krank«, sagte Anneli knapp und eilte in die Küche. »Der Rücken!«
'Typisch! Immer wenn etwas Neues passierte, kriegte Frau Werner, ihre Haushälterin, es im Rücken. Das war schon so gewesen, als Neles Mutter und Ron ein Paar geworden waren, und später, als Nele und ihre Mutter in Rons Haus gezogen waren und es richtig viel zu tun gab, war Frau Werner drei Wochen lang ausgefallen. Aber gerade als Ron und Neles Mutter sich überlegt hatten, ob sie nicht eine andere Hilfe suchen sollten, hatte sie wieder auf der Matte gestanden und sich so viel Mühe gegeben, dass sie es doch nicht übers Herz gebracht hatten, ihr zu kündigen. Was Nele für einen großen Fehler gehalten hatte. Und jetzt sah man ja, dass sie recht gehabt hatte! Also wirklich, bevor sie ein eigenes Baby bekamen, musste Frau Werner weg! Sie war sowieso eine Hexe, auch wenn sie in letzter Zeit so getan hatte, als wäre sie die Superputzundkochfee. Alles nur Tarnung!
Nele verschlug es fast den Atem, als sie Lillys Windel löste. Puh, stank das! Das traute man einem so kleinen Wurm gar nicht zu, dass er so ein bestialisches Geschäft zustande brachte. Und so ein großes! Nele kämpfte mit dem Brechreiz und am liebsten hätte sie gar nicht hingeguckt. Mit spitzen Fingern rollte sie die Windel zusammen, warf sie in den Abfalleimer, den ihre Mutter neben die Kommode gestellt hatte, und rupfte eine Handvoll Öltücher aus der Box. Wo blieb bloß Anneli? Warum hielt sie sich so lange mit dem Essen auf? Nele war der Appetit sowieso vergangen.
Aber sie hielt tapfer durch, säuberte Lilly, bis ihr Popo wieder rosig glänzte, cremte sie sorgfältig ein, legte ihr eine neue Windel um und zog sie wieder an. Komplett, denn das Hemdchen hatte auch ein bisschen Kacke abbekommen. Sowie sie fertig war, brachte sie Lilly ins Bett. Was der gar nicht gefiel, sie beschwerte sich lauthals.
»Ich komme doch gleich wieder!«, rief Nele und rannte zurück in ihr Zimmer, riss die Fenster auf und den Müllbeutel aus dem Abfalleimer, raffte die schmutzige Babywäsche zusammen und warf alles in den Flur. Lillys Geschrei machte sie ganz krank, noch kränker als der Gestank.
»Schaffst du es?«, rief Anneli von unten.
»Ja, alles klar. So du kleines Mäuschen, nun komm mal her.« Sie nahm Lilly auf und wiegte sie sanft. Lilly kuschelte ihr Köpfchen an Neles Hals und hörte auf zu schreien.
Sofort war der Gestank vergessen. Lilly war so süß! Und klar kackten Babys. Sie konnten ja nichts dafür, dass sie ihren Kram nicht einfach in die Toilette fallen lassen und wegspülen konnten. Außerdem gewöhnte man sich wahrscheinlich an den Geruch. Vielleicht noch leichter, wenn es der von einem eigenen Baby wäre. Oder?
Timmi stocherte lustlos in seinem Essen herum. Nele dagegen hatte wieder großen Appetit.
«Wie war es denn in der Schule?«, fragte Anneli.
Ging so.« Nele nahm sich noch Soße nach. »Der Mathe-Meier ist total ausgeflippt, weil nur fünf die Hausaufgaben hatten. Aber er ist ja selbst schuld, warum gibt er uns auch was übers Wochenende auf? Das macht sonst keiner.« Über die Geschichte mit dem Diebstahl und ihren Verdacht gegen Vanessa mochte sie nicht reden, das alles bereitete ihr sowieso schon genug Kopfzerbrechen. »Wenigstens hatten wir heute keine Theaterprobe. Aber wir wollen heute Nachmittag wieder hier üben, ist das okay?«
»Natürlich!« Anneli lächelte. »Sollen wir zusammen Muffins backen, Timmi?«
»Nee.« Timmi schob eine kleine Kartoffel auf seinem Teller hin und her.
«Was ist denn los?«, fragte Nele. »Hast du keinen Hunger?«
»Nee.« Timmi hing an seinem Platz wie ein Bruchpilot.
Nele fasste nach seiner Hand. »Timmi? Was hast du denn? Fühlst du dich nicht gut?«
»Doch.«
»Und warum isst du nichts?«
»Keinen Hunger.«
»Du hast doch was! War heute irgendwas? Hattest du Ärger in der Schule? Hat Frau Ackermann mit dir geschimpft?« Frau Ackermann war Timmis Klassenlehrerin.
»Nee.«
Nele sah ihn ratlos an. Er saß ganz still. Aus dem Nebenzimmer hörte man das Klappern von Lillys Klimperball. Die Kleine lag in ihrem Laufstall, Nele hatte sie, bevor sie sich zum Mittagessen gesetzt hatte, mit Karottenbrei gefüttert. Eine ziemlich schmierige Angelegenheit war das gewesen.
»Bist du sauer wegen des Babys?«
»Nee.«
»Was ist es denn dann? Hast du Streit gehabt? Mit Akilah?«
»Nee.«
»Mit jemand anderem? Mit Jannik vielleicht?« Jannik war Timmis bester Freund.
»Nee.«
Nele verlegte sich aufs Bitten. »Timmi, willst du es uns nicht sagen?«
»Nee. Ist nichts.«
»Und warum isst du dann nichts?«, fragte Nele und merkte selbst, dass sie sich im Kreis drehten. »Wenn du möchtest, kannst du heute Nachmittag bei der Probe zugucken«, bot sie an. Timmi als Zuschauer würde sie nicht stören.
»Nee«, sagte er. »Ich gehe zu Jannik.«
»Aber erst machst du deine Hausaufgaben«, sagte Anneli. Auch sie betrachtete Timmi ratlos und warf Nele einen sorgenvollen Blick zu.
»So war er letzte Woche auch schon manchmal«, sagte sie, als Nele und sie zusammen die Spülmaschine einräumten. »Ich mache mir wirklich Sorgen, aber er rückt einfach nicht mit der Sprache heraus.«
»Ach, ich glaube, er ist doch sauer wegen Lilly«, meinte Nele. Aber er wird sich schon noch an sie gewöhnen.«
»Nein, das ist es nicht.« Anneli füllte die restlichen Bohnen in eine Plastikdose und stellte sie in den Kühlschrank. »Dass mit ihm etwas nicht stimmt, ist mir schon aufgefallen, bevor wir überhaupt wussten, dass Lilly zu uns kommt.«
»Stimmt«, sagte Nele und kramte nach einer Tablette für die Spülmaschine. Anneli hatte letzte Woche schon so etwas gesagt, aber dann war die Neuigkeit mit dem Baby dazwischengekommen und sie hatten es einfach vergessen. »Ich rede heute Abend noch mal mit ihm. Vielleicht sagt er mir dann ja was.«
Diesmal kam bei der Probe nicht richtig viel heraus. Die Mädchen konnten sich kaum von Lilly losreißen, die in ihrem Kinderwagen lag und zur Abwechslung einmal nicht schlief. Und nicht schrie. Sie war putzmunter und fand die vielen neuen Gesichter, die sich über sie beugten, anscheinend sehr interessant.
»Darf ich sie mal ein bisschen herumtragen?«, fragte Nadine.
Das wollte Lisa natürlich auch. Und Julia. Und Sara ebenfalls.
»Jetzt ich noch mal, bitte!« Nadine streckte die Arme aus.
Nele fand das prima. Wenn Lilly den ganzen Nachmittag wach blieb, würde sie heute Nacht bestimmt schlafen wie ein Murmeltier.
Joschi, Björn und Adi waren weniger fasziniert von Lilly. Dafür gefiel ihnen die Tischtennisplatte, die Ron hinten auf dem Rasen aufgestellt hatte, umso besser. »Habt ihr auch Schläger?«, fragte Adi.^
Nele spielte mit. Adi und sie schlugen Joschi und Björn 3 : 1.
»Ihr seid einfach zu gut für uns«, stellte Björn fest und ließ sich atemlos ins Gras fallen. »Spielt ihr doch mal gegeneinander, mal gucken, wer besser ist!«
»Gute Idee!« Joschi setzte sich neben ihn. Auch er war etwas außer Puste. »Ich setze auf Nele.«'
»Nee, Adi ist besser, wetten?«
»Um was?«
»'ne Currywurst? Nächste Woche ist Schützenfest.«
Sie schlugen ein.
Nele blitzte Adi an. »Wollen wir auch wetten?«
Adi grinste. »Um was?«
»Der Gewinner muss den Verlierer zum Eis einladen«, schlug Nele vor. »Bei Giulio.«
»Gebongt!« Adi streckte ihr die Hand entgegen.
Nele schlug ein. Genial! Egal, wer gewann, sie würden zusammen Eis essen gehen!
Aber es ging ja auch um die Ehre. Adi spielte verteufelt gut. Er tänzelte weit hinter der Platte, erwischte fast jeden Ball und schmetterte ihn mit Schmackes zurück. Doch Nele war auch nicht schlecht. Ron hatte ihr gezeigt, wie man dem Ball einen heimtückischen Drall geben konnte, sodass er nach dem Aufprall in eine ganz andere Richtung sprang, als der Gegner erwartet hatte. Dummerweise beherrschte Adi den Trick allerdings auch. Sie spielten eine halbe Stunde und immer noch stand es unentschieden. Doch plötzlich hatte Nele drei Punkte Vorsprung.
Jetzt gesellten sich auch die Mädchen dazu. »Lilly ist eingeschlafen«, erklärte Nadine etwas enttäuscht.
Nele passte einen Moment lang nicht auf und schlug den Ball ins Netz. Den nächsten erwischte sie erst gar nicht.
Björn klatschte.
»Nele, verdammt noch mal, konzentrier dich!«, schrie Joschi. »Es geht um meine Currywurst!«
Darüber musste Nele so lachen, dass sie auch den nächsten Ball verfehlte und es wieder unentschieden stand.
»Mann, so werdet ihr ja nie fertig«, rief Sara. »Wir wollen doch noch proben.«
»Ach, auf einmal?«, fragte Adi höhnisch, legte dann aber den Schläger auf die Platte und lächelte Nele an. »Weißt du was? Lassen wir es doch einfach beim Unentschieden. Und jeder von uns zahlt für ein Eis für zwei. Da können wir uns beide richtig große Becher leisten, mit Früchten und Soße und allem.«
Das war genialer als genial. An so einem Eisbecher konnte man Stunden löffeln – was in der Zeit alles passieren konnte!
»Okay.« Auch Nele legte den Schläger aus der Hand. »Aber irgendwann spielen wir das Spiel trotzdem zu Ende. Ich will es jetzt wissen!«
»Ich auch«, sagte Adi. »Und vorher wetten wir neu, einverstanden?«
»Wieder um Eis?«
»Wieder um Eis.«
»Also los, Leute, lasst uns proben!« Nele war plötzlich nicht mehr zu halten. Sie hatte Flügel. Die Welt war ihr Spielplatz. Sie würde mit Adi Eis essen gehen und mit ihm Tischtennis spielen und wieder Eis essen gehen. Sie hatte es gewusst – wenn man es nur wollte, wirklich wollte, dann bekam man auch, was man sich wünschte! Nele war überglücklich – und das mit dem echten Baby für die Familie würde bestimmt auch noch klappen.
Wenn man sich erst einmal daran gewöhnt hatte, stellte Nele an diesem Abend fest, war ein Baby überhaupt keine Belastung. Es passte sich ganz schnell an das Familienleben an. Heute wachte Lilly nämlich pünktlich eine halbe Stunde vor dem Abendessen auf, war in null Komma nichts gewickelt, trank gierig ihr Fläschchen aus und schlief schon fast an Neles Schulter wieder ein. »Aber du musst doch noch aufstoßen«, mahnte Nele und wiegte sie.
Lilly gehorchte beinahe sofort und Nele spürte, wie sich warme Flüssigkeit auf ihrem T-Shirt ausbreitete. Igitt! Warum hatte sie auch nicht daran gedacht, sich ein Tuch über die Schulter zu legen? Allmählich sollte sie es doch wissen! Lilly schlief sofort ein, als sie sie in ihr Bettchen legte, der lange Nachmittag an der Irischen Luft hatte ihr offensichtlich gutgetan. Was Mama und Ron nur hatten? Wenn man es richtig anstellte, machten Babys fast überhaupt keine Arbeit.
Nele zog sich ein frisches T-Shirt an und stopfte das alte in den Wäschekorb im Bad. Komisch, der Deckel ging kaum noch zu, dabei war doch erst Montag. Ob sie morgen mal die Waschmaschine anwerfen sollte, bevor ihre Mutter merkte, dass ein Baby ziemlich viel Dreckwäsche produzierte? Ein bisschen mehr zu tun war ja doch. Aber damit würde Nele schon fertig werden.
Als sie hinunterkam, erwartete sie eine Überraschung. Ihre Mutter hatte den Esstisch ausgezogen und für sieben Personen gedeckt. Aus dem Backofen duftete es nach Brot und Neles Mutter richtete eine Platte mit Obst und Käse an. Ron legte Räucherfisch auf einen Teller, auf dem Tisch stand schon eine Platte mit Aufschnitt.
»Wir bekommen Besuch?«, fragte Nele.
Kithongas kommen«, sagte Ron. »Ich habe endlich Dahomas Problem gelöst, darüber wollen wir heute Abend sprechen. Und ein bisschen feiern.«
Dahoma war Akilahs Vater. Er hatte so einen seltsamen Namen, weil er aus Afrika stammte. Er war Arzt, aber er arbeitete nicht direkt mit Patienten, sondern machte irgendwas in der Forschung, und da hatte er natürlich auch mit Computern zu tun. Seit Kithongas und Neles Eltern sich vor einem halben Jahr kennengelernt hatten, wandte er sich häufig an Ron, wenn er Computerprobleme hatte. Neles Mutter hatte sich mit seiner Frau angefreundet, die eine Deutsche war, »ein echtes Bleichgesicht«, wie Timmi sagte. Die Familien trafen sich oft, also war dieses gemeinsame Abendessen eigentlich keine sehr große Überraschung. Aber eine, die Nele doof fand. Wenn Kithongas kamen, war sie immer übrig. Die Väter fachsimpelten, die Mütter unterhielten sich auch, Timmi und Akilah verkrümelten sich, sobald es ging, und Nele blieb allein:
»Wo ist denn Anneli?«, fragte sie.
»Beim Doppelkopf. Heute ist doch Montag«, erinnerte sie Ron.
Ach ja. Blöd! Aber dann fiel Nele ein, dass sie ja Lilly hatte. Bestimmt würde sie am Abend noch einmal aufwachen und dann würde sie sich um sie kümmern, ganz allein. Ihre Mutter würde nichts davon merken, sie konnte ganz ungestört mit ihrer Freundin plaudern. Was wieder ein Beweis mehr wäre, dass Nele eine Superhilfe war.
Lilly meldete sich um zehn mit nasser Windel und großem Hunger. Nele rappelte sich schlaftrunken auf. Sie war gerade erst eingeschlafen und fühlte sich seltsam schwer, als sie aufstand. Blinzelnd tappte sie in Lillys Zimmer. Die Kleine musste schon eine ganze Weile geschrien haben, sie war krebsrot im Gesicht und fuchtelte wütend mit den Fäusten in der Luft.
Nele hob sie hoch. »Du armes Schätzchen, nun komm mal her«, murmelte sie, doch plötzlich wurde sie hellwach. Was war Lilly nass! Und nicht nur sie, auch das Bett! Was war denn da passiert?
Als sie Lillys Strampelhose auszog, kapierte sie: Die Windel war verrutscht, aber wie. Anscheinend hatte sie sie nicht richtig festgezurrt, jedenfalls war das ganze Bächlein danebengegangen. Ein ziemlich gewaltiges Bächlein, das man getrost auch als Fluss bezeichnen konnte. So ein Mist! Was nun? Lilly musste gewaschen werden und sie hatte anscheinend auch großen Hunger, denn sie schrie wie am Spieß. Und ihr Bett musste frisch bezogen werden. Aber wie sollte Nele das alles gleichzeitig schaffen? Vor allem, wo sollte sie Lilly lassen, während sie ihr Fläschchen holte oder das Bett bezog? Sie konnte sie doch nicht die ganze Zeit auf dem Arm behalten, dazu war sie zu schwer. Und zu laut.
Als Erstes steckte Nele ihr einen Schnuller in den Mund. Gut! Er funktionierte wie ein Aus-Knopf. Lilly nuckelte, sah Nele aus großen Augen erwartungsvoll an und reckte ihre nassen Beinchen in die Luft. Nele blickte sie hilflos an. Ob sie es wagen konnte, Lilly einen ganz kurzen Moment auf der Wickelkommode liegen zu lassen? Nur solange sie ins Bad flitzte? – Nein. Ihre Mutter hatte ihr zigmal eingeschärft, dass man das niemals tun dürfe, und Anneli hatte gleich noch eine schreckliche Geschichte von einem Baby beigesteuert, das von der Wickelkommode gefallen und furchtbar verletzt worden war. Nele hatte sich an die Stirn getippt und gesagt: »Das kann doch gar nicht passieren! Wenn man ein Baby wickelt, wickelt man es. Da läuft man doch nicht weg!«
Seufzend nahm sie Lilly wieder auf den Arm. »Also komm, ab ins Bad.«
Lilly schien das ganz vergnüglich zu finden. Sie lachte, ließ den Schnuller fallen und schrie.
Nele steckte ihn ihr schnell wieder in den Mund und stieg die Treppe hinab. Im Badezimmer legte sie Lilly auf den dicken Teppich, machte einen Waschlappen nass und wusch sie. Ging doch!
Dann schleppte sie Lilly wieder hinauf, legte ihr eine neue Windel an, wobei sie diesmal aber sehr gut aufpasste, dass sie fest saß, und zog sie wieder an. Und nun? Erst das Fläschchen oder erst das Bett?
Erst das Bett, entschied Nele. Lilly schien mit dem Schnuller noch ganz zufrieden zu sein und bestimmt war es besser, sie nach dem Füttern gleich in ein trockenes Bett legen zu können. Also breitete Nele kurzerhand ihre eigene Bettdecke auf dem Fußboden düs und legte Lilly darauf. Da konnte sie nicht tief fallen.
Zum Glück war nur das Laken nass, die Gummiunterlage darunter hatte Schlimmeres verhindert. Trotzdem, ein frisches Bettlaken um die Matratze zu spannen war nicht einfach, die blöden Gitter am Bett störten gewaltig. Aber schließlich hatte Nele auch das geschafft. Sie legte Lilly wieder in ihr Bett, was der allerdings überhaupt nicht zu gefallen schien. Sie spuckte den Schnuller aus und schrie.
Nele stopfte den Schnuller zurück. »Ich muss doch erst dein Fläschchen machen«, rief sie verzweifelt. »Nur fünf Minuten, okay?«
Lilly spuckte den Schnuller aus und schrie.
Nele steckte ihn zurück. »Mann, Lilly, ich kann doch nicht zaubern! Ich muss dein Fläschchen holen!«
Lilly spuckte den Schnuller aus und schrie.
Nele gab auf. »Da musst du jetzt durch, Lilly! Fünf Minuten, versprochen!« Sie spreizte die Finger der rechten Hand in der Luft, nickte Lilly entschlossen zu und ging. Die Tür machte sie hinter sich zu. Sanft, aber fest.
Aus dem Wohnzimmer war Lachen zu hören. Kithongas waren noch da. Nele schlich in die Küche und bereitete in Windeseile Lillys Fläschchen zu. Während die Milch in der Mikrowelle rotierte, trat sie ungeduldig von einem Fuß auf den anderen. Vierzig Sekunden konnten sehr lang sein.
Die Flasche wirkte Wunder. Sowie Nele mit dem Sauger Lillys Lippen berührte, trat himmlische Stille ein, gefolgt von heftigem Schmatzen. Nele sackte erleichtert über dem Bettgitter zusammen. Geschafft!
»Wie reizend! Du bist ja eine richtige kleine Mutti!«
Nele fuhr herum. Hinter ihr standen ihre Mutter und Regine, die Mutter von Akilah. Die beugte sich nun über das Kinderbett. »Ich wollte doch mal euer Baby sehen«, sagte sie leise. »Darf ich sie mal füttern?«
Nele rutschte zur Seite und überließ ihr das Fläschchen. Sie mochte Akilahs Mutter nicht besonders, die jammerte immer so viel. Sollte sie sich also ruhig den Rücken verrenken, dann hatte sie wenigstens einen Grund dazu. Außerdem war Nele ziemlich k. o.
Ihre Mutter hob das nasse Laken vom Boden auf und zog die Brauen hoch. »Wie ist denn das passiert?«
»Ach.« Nele nahm ihr das Laken aus der Hand und knüllte es zusammen »Ich wollte morgen sowieso waschen.«
Jetzt klebten die Augenbrauen ihrer Mutter am Haaransatz. Nele hasste Wäschewaschen, das wusste sie natürlich. Aber sie sagte nichts und stellte auch keine weiteren Fragen. Stattdessen griff sie nach Neles Hand. »Komm mal mit, ich muss dir etwas zeigen!« Sie zog Nele die Treppe hinab, öffnete die Tür zu Timmis Zimmer und legte einen Finger an die Lippen. »Guck mal!«
Nele steckte den Kopf durch den Türspalt. Das Flurlicht fiel genau auf Timmis Bett. Dort lagen Akilah und er auf der Bettdecke, beide eingerollt, einander zugewandt, und schliefen. Akilahs Jeans war ihr über die Waden gerutscht und Timmi hatte sich mit dem Kopfkissen zugedeckt. Sie hielten sich an den Händen.
Nele betrachtete die beiden gerührt. »Wie süß«, flüsterte sie.
Ihre Mutter nickte. Ihre Augen leuchteten.
Plötzlich wurde Nele ganz seltsam zumute. Sie tauchte in dieses Augenleuchten und da waren nur noch ihre Mama und sie. Wie früher, als sie noch zu zweit gewesen waren.
Ihre Mutter zwinkerte ihr zu.
Nele grinste. Und zwinkerte zurück.
Ihre Mutter gab ihr einen liebevollen Klaps und schloss behutsam die Zimmertür. »Jetzt aber ab ins Bett! Weißt du, wie spät es ist?«
Nele lachte. »Ich glaube, ich will es gar nicht wissen.«