Was ist denn mit dir los? Bist du krank?«, fragte Sara, als Nele am nächsten Morgen am Kiosk eintraf.
»Wieso? Wie kommst du denn darauf?«, fragte Nele, obwohl sie es sich denken konnte.
»Du bist total blass.«
»Ich bin nur müde. Lilly hat mich heute Nacht ein bisschen auf Trab gehalten.« Ein bisschen war die Untertreibung des Jahres. Dreimal war Lilly wach geworden: einmal, weil sie frische Windeln brauchte, einmal, weil sie hungrig war, und einmal, weil sie ihr Bett vollgespuckt hatte. Mit der ganzen schönen Milch, die Nele mitten in der Nacht aufgewärmt hatte. Es war eine richtige Schweinerei gewesen und Nele hatte nicht nur das Bettzeug wechseln, sondern Lilly auch neu anziehen müssen. Zum Glück war sie darauf gekommen, das Federbett aus dem Kinderwagen zu holen, denn Lillys Oberbett war auch nass gewesen. Nele hatte sogar noch die Waschmaschine angeworfen, denn die Bettbezüge hatten nicht gerade angenehm gerochen. Sie fand, das sollte ihre Mutter lieber nicht mitbekommen, es war wirklich etwas abschreckend.
»Ich habe übrigens noch mal über deine Idee mit dem Köder nachgedacht«, sagte Sara. »Wie wäre es, wenn wir Juckpulver in unsere Taschen streuen? Wenn Vanessa sich dann immerzu die Hände kratzt ...«
»... wäre das höchstens ein Beweis dafür, dass sie die Krätze hat«, unterbrach Nele sie.
»Ja«, gab Sara zu, »ein echter Beweis wäre es natürlich nicht, aber wenigstens wären wir dann schon mal sicher. Und dann könnten wir immer noch überlegen, was wir machen.«
Nele dachte nach. »Keine schlechte Idee«, sagte sie schließlich. »Aber wo willst du im Mai Juckpulver hernehmen? Das gibt's doch nur im Herbst.« Plötzlich wurde ihr ganz weh zumute, als sie an die Juckpulver-Großproduktion dachte, die Jessica, Sara und sie vor zwei Jahren unternommen hatten. Es war Jessis Idee gewesen. Einen ganzen Sack voll Hagebutten hatten sie gesammelt und Latexhandschuhe aus der Hausapotheke von Jessis Eltern gemopst, um die Kerne aus den Früchten zu pulen. Sie hatten sie im Küchenmörser von Saras Mutter fein gestampft. Mit dem Pulver, das sie in einen Plastikbeutel gefüllt hatten, waren sie während einer Sportstunde in die Umkleidekabine der Jungen geschlichen und hatten es in die Schuhe gestreut. Es hatte gar nicht lange gedauert, bis es durch die Strümpfe gedrungen war. Alle Jungs aus der Klasse waren zwei Stunden später plötzlich sehr unruhig geworden. Am nächsten Tag hatte ihre Klassenlehrerin – das war noch in der Grundschule gewesen – Merkblätter über Fußpilz verteilt, weil anscheinend einige Mütter Alarm geschlagen hatten. Jessi, Sara und Nele hatten sich gekringelt vor Lachen.
»Wieso? So was kann man doch in jedem Scherzartikelladen kaufen.« Sara hielt sich offensichtlich nicht mit wehmütigen Erinnerungen auf.
»Und wo, bitte, ist der nächste Scherzartikelladen?«, fragte Nele. »In der Stadt! Da komme ich nur mit meiner Mutter oder Anneli hin. Und die würden mir Löcher in den Bauch fragen, wenn ich da Juckpulver kaufen wollte.«
»Hm«, machte Sara. Dann waren sie an der Schule angelangt und hatten Englisch. Wenigstens konnte Nele ihre Vokabeln. Im Schlaf. Sogar singen konnte sie sie im Schlaf. Aber das verlangte keiner.
In der letzten Stunde stand wieder eine Theaterprobe auf dem Stundenplan. Erst mussten nur Sara und Adi auf die Bühne, um eine Mutter-Sohn-Szene zu spielen. Sie machten es richtig gut, und als sie fertig waren, klatschten alle. Sogar die Schmalbach sah zufrieden aus.
»Und jetzt proben wir die Szene bei Pünktchen zu Hause!«, rief sie. »Lisa, Nadine, Julia, Nele und Björn!«
Nele spürte ihr Herz bis zum Hals klopfen. Wie benommen stieg sie die Stufen zur Bühne hinauf, und sowie sie da oben stand, wurde ihr Kopf leer. Einfach leer. Ihr Text war weg und sie hatte keine Ahnung, wo sie stehen und was sie tun sollte. Sie spürte, wie Nadine sie an die richtige Position stupste, und als Björn den ersten Satz sagte, fielen ihr wenigstens wieder die richtigen Worte ein. Aber sie klangen nicht richtig.
»Nele!«, dröhnte auch prompt Frau Schmalbachs Stimme von unten. »Das soll übermütig klingen, nicht als kämest du gerade von einer Beerdigung!«
Nele versuchte es noch einmal. Diesmal klang es, als käme sie von einem Massenbegräbnis. »Ich kann das einfach nicht!«, rief sie verzweifelt. »Und ich will es auch nicht!« Sie stürzte, ohne noch einen Moment nachzudenken, die paar Stufen von der Bühne hinab, lief quer durch die Aula und schlug die Tür hinter sich zu.
Und rannte. Hinaus aus der Schule, die Straße entlang, weiter und weiter, bis in den Park. Erst unter der Rotbuche machte sie halt, lehnte sich atemlos an den alten, dicken Stamm und ließ sich ins Gras sinken. Sie zog die Knie an, verschränkte die Arme darüber und legte den Kopf hinein. Ganz klein machte sie sich. Als sie endlich wieder zu Atem kam, begann sie zu weinen. Und wie.
Es war alles zu viel. Das Theaterstück. Lilly. Der Hundert-Tage-Waffenstillstand. Der Krach mit Timmi. Und sie war so müde. »Mensch, Rotbuche«, murmelte Nele und legte die Hände an den warmen, rauen Stamm, »was soll ich bloß machen?«
Die Rotbuche stand da und schwieg.
»Irgendwie ist alles falsch«, sagte Nele lauter.
Die Rotbuche stand da und schwieg.
»Mann, hilf mir doch!«, flehte Nele.
Die Rotbuche stand da und schwieg.
Nele lehnte den Kopf an den Stamm und blickte hinauf in die roten Blätter, die in der Sonne tanzten.
Als sie nach Hause kam, begegnete ihr Ron vor der Haustür. Er hatte seine Autoschlüssel in der Hand und wollte anscheinend gerade weg. »Nele! Du kommst spät! Wir haben uns schon ...« Er unterbrach sich und schaute sie genauer an. »Was ist denn mit dir los? Hast du geweint?«
Nele griff nach seiner Hand. »Kann ich mit dir reden?«, fragte sie und merkte selbst, wie klein ihre Stimme klang, richtig wimmerig. »Bitte.«
Ron sah auf seine Uhr. »Ich muss eigentlich ...«, er sah Nele an. »Nein, ich muss gar nichts! Komm!« Er fasste ihre Hand fester und führte sie um das Haus herum in den Garten. »Setz dich«, befahl er, als sie am Gartenhaus angelangt waren.
Nele setzte sich auf die Terrassenbohlen.
Ron zog sein Handy aus der Tasche und ging ein paar Schritte weg, ohne Nele aus den Augen zu lassen. »Herr Nettelmann! Hier Weferling. Ich muss Sie bitten, unseren Termin zu verschieben ...« Er lauschte einen Moment und seine Miene verfinsterte sich. »Wie – Sie wollten mich um das Gleiche bitten?« Wieder hörte er zu und dann lachte er. »So ein Zufall! Mir ist auch meine Tochter dazwischengekommen. Aber ich hoffe, sie will nicht heiraten!« Er sah Nele fragend an.
Die grinste und schüttelte heftig den Kopf. Plötzlich war ihr schon viel besser zumute.
»Lassen Sie uns heute Abend noch einmal telefonieren, dann machen wir einen neuen Termin aus«, sagte Ron. »Und richten Sie Ihrer Tochter meine herzlichsten Glückwünsche aus! Sie wissen ja, ich halte viel vom Heiraten.« Er lachte wieder und klappte sein Handy zu. Dann setzte er sich neben Nele und legte den Arm um sie. »Und nun erzähl.«
Nele wusste gar nicht, wo sie beginnen sollte. Sie verbarg ihr Gesicht an Rons Jackenärmel. »Es ist so viel.«
»Dann fang irgendwo an. Zum Beispiel damit, warum du so spät und ohne deinen Rucksack aus der Schule gekommen bist.«
»Wegen des Theaters! Ich kann das einfach nicht!« Jetzt sprudelte es nur so aus Nele hervor. Sie erzählte, wie sehr sie es hasste, auf der Bühne zu stehen, und wie steif und unbeholfen sie dort plötzlich wurde. »Ich fühle mich dann gar nicht mehr«, sagte sie, »ich habe irgendwie nur Angst. Und ich komme mir so doof vor. Ich bin nicht Pünktchen und ich schaffe es einfach nicht, mich selbst zu vergessen und so zu tun, als ob ich sie wäre. Ich komme mir dabei nur albern vor.«
Ron dachte eine Weile nach. »Hast du eine Ahnung, woran das liegen könnte?«
»Ich weiß es nicht«, sagte Nele unglücklich. »Ich finde die Rolle ja eigentlich toll und Pünktchen könnte echt mein Alter Ego sein, ich mag sie, aber wenn ich auf der Bühne stehe, dann ...«
»Dann stellst du dir vor, wie alle dich anstarren, stimmt's?«
»Ja, genau! Und das ... das macht mich wie gelähmt, ich werde ganz starr und dann geht gar nichts mehr.«
»Merkwürdig«, sagte Ron und drückte Nele enger an sich. »Das hätte ich nicht gedacht. Als du zum ersten Mal erzählt hast, dass du die Rolle spielen sollst, dachte ich, das wäre genau das Richtige für dich. Anscheinend habe ich mich getäuscht. Aber wenn ich darüber nachdenke, wundert es mich doch nicht so sehr. Du bist, glaube ich, ganz und gar kein exhibitionistischer Typ.«
»Kein exi... was?«
»Jemand, der sich gern zur Schau stellt. Du kennst doch das englische Wort exhibition, Ausstellung.«
»Jetzt verstehe ich, was du meinst.« Nele nickte aufgeregt. »Genau das ist es. Ich komme mir immer vor wie ein Ausstellungsstück, wenn ich auf der Bühne stehe. Gar nicht wie ich selbst. Und das kann ich einfach nicht.«
Ron lachte. »Nein. Weil du immer Nele bist.«
»Und was soll ich jetzt tun?«, fragte Nele.
»Aufgeben«, sagte Ron, als wäre das das Einfachste von der Welt. »Wenn man weiß, dass man etwas gar nicht gut kann und wenn das Herz nicht daran hängt, sollte man es lassen. Das gilt natürlich nicht für Mathe und Englisch«, fügte er schnell hinzu, »sondern nur für Hobbys. Die sollen schließlich Spaß machen und nicht zur Qual werden. Sieh mal, dieses Theaterspiel ist doch nur ein Angebot von Frau Schmalbach, damit ihr eure Interessen entdecken und eure Fähigkeiten ausloten könnt. Wenn du nun festgestellt hast, dass dies überhaupt nichts für dich ist, musst du es ihr sagen, Nele.«
»Aber dann wird sie bestimmt stinksauer.« Nele schauderte allein bei dem Gedanken an ein solches Gespräch. »Sie hat doch schon alles geplant.«
»Mein Gott, dann besetzt sie die Rolle eben neu!« Ron verstand nicht, dass das ein Problem sein könnte. »Ihr seid doch sowieso mehr Kinder in der Klasse, als Hauptrollen da sind.«
»Ja, aber von denen, die jetzt nur Statistenrollen bekommen haben, kann das bestimmt keiner.«
»Nele, du kannst es auch nicht. Es ist eine Quälerei für dich und du musst dich nicht opfern, nur um Frau Schmalbach einen Gefallen zu tun, das kann sie nicht von dir verlangen. Ich würde vorschlagen, du redest erst einmal mit ihr, und wenn sie Schwierigkeiten macht, kann ich ja mit ihr sprechen, okay?«
»Okay.« Nele seufzte.
»Probier es mal, du schaffst das schon!« Ron nickte ihr aufmunternd zu. »Aber das war noch nicht alles, was du auf dem Herzen hast, nicht wahr?«
»Nein«, sagte Nele kleinlaut. »Da ist noch die Sache mit ...« Sie wurde unterbrochen, weil Rons Handy klingelte.
Aber er schaute nur kurz auf das Display, dann schaltete er das Telefon aus. »Lilly?«
»Ja.« Sie kauerte sich ganz klein zusammen. »Irgendwie ist alles ganz anders, als ich mir das vorgestellt hatte. Aber vielleicht liegt es ja nur daran, dass sie nicht unser richtiges Baby ist.« Sie war schon wieder den Tränen nahe. »Sie bringt uns gar nicht näher zusammen. Im Gegenteil, gestern hat sie alles kaputt gemacht, als ich mit Timmi reden wollte.«
Ron sagte nichts. Er fragte auch nicht, worüber sie mit Timmi hatte sprechen wollen.
»Und Mama will auf keinen Fall mehr ein Baby, das habe ich jetzt begriffen«, fuhr sie fort. »Sie kümmert sich kein bisschen um Lilly und langsam verstehe ich das auch. Sie hat ja wirklich keine Zeit. Und ehrlich, ich glaube auch, dass ihr neuer Laden interessanter ist als Dreckwindeln und der ganze Kram.«
Ron lachte. »Das klingt ja so, als bedeutete ein Baby nur lästige Arbeit. So ist es natürlich nicht. Aber weißt du, Nele, es gibt für alles im Leben eine richtige Zeit, zu der man die Dinge dann auch genießen kann. Du aber bist zu jung für ein Baby und deine Mutter hat diese Zeit hinter sich und möchte etwas Neues anfangen. Ein Baby passt weder in ihr Leben noch in deins.« Nele nickte. Dann sah sie zu Ron auf. »Weißt du, irgendwie ist das mit Mama und mir genauso wie mit mir und der Schmalbach. Die wollte mir etwas aufzwingen, was ich total nicht will, und ich wollte das Gleiche mit Mama machen. So was ist gemein.«
»Nein, gemein ist es nicht«, sagte Ron nachdenklich. »Manchmal wünscht man sich eben etwas so sehr, dass man ganz übersieht, dass man andere Menschen damit ein wenig überfährt. Du hast es doch lieb gemeint.«
»Aber die Schmalbach doch nicht!«, fuhr Nele auf.
»Doch«, sagte Ron, »ich glaube, sie hat sich, ähnlich wie ich, vorgestellt, dass es für dich ein ganz tolles Erlebnis sein würde, so eine Theaterrolle zu spielen. Ich denke, so ein Irrtum ist verzeihlich. Schließlich tasten wir doch noch alle herum, um herauszufinden, was in dir steckt, Nele. Du selbst ja auch.«
»Na, dass keine Schauspielerin in mir steckt, wissen wir jetzt jedenfalls«, stellte Nele fest. »Und dass in Mama keine Babymama mehr steckt, hätte ich eigentlich gleich kapieren müssen, oder?«
»Nein, es war dein gutes Recht, das zu testen«, beruhigte sie Ron. »Schließlich hattest du ja sehr gewichtige Gründe, dir ein Geschwisterchen zu wünschen. Was ist denn nun mit deinen Bedenken, was unsere Familie angeht? Bleiben wir jetzt ein zusammengewürfelter Haufen?«
Nele starrte schweigend vor sich hin. Vor ihr auf dem Rasen krabbelte ein kleiner brauner Käfer, ziemlich schnell, als wüsste er genau, wohin er wollte in dem grünen Gestrüpp, das ihm doch völlig undurchschaubar sein musste. »Ich weiß nicht«, sagte sie und stand auf. »Ich muss darüber nachdenken.«
Auch Ron erhob sich. Er fuhr Nele mit der Hand durchs Haar. »Tu das. Aber vorher solltest du erst einmal etwas essen und dich vor allem gründlich ausschlafen.«
Nele sah zu ihm auf. »Danke«, sagte sie und streckte die Arme nach ihm aus.
Er beugte sich zu ihr herunter und drückte sie an sich. »Gern geschehen, Töchterchen.« Dann ließ er los und gab ihr einen Klaps. »Und nun lauf! Wir haben dein Essen warm gehalten. Und ich fahre jetzt und mache ein paar Besorgungen.«
Anneli setzte sich zu Nele an den Küchentisch und sah zu, wie sie den Rest der Lasagne verputzte. Er war etwas trocken an den Rändern und Nele merkte bald, dass sie keinen großen Hunger hatte. Sie war viel zu müde.
»Ich gehe heute Nachmittag mit Lilly in den Park«, sagte Anneli. »Timmi ist bei Akilah, also hast du deine Ruhe. Leg dich hin und schlaf.« Sie hatte Nele keine einzige Frage gestellt, weder, warum sie so spät nach Hause gekommen war, noch wo ihre Schulsachen abgeblieben waren. Wahrscheinlich hatte sie gesehen, dass Nele mit Ron geredet hatte, und fand, dass das fürs Erste reichte.
Nele nickte dankbar. »Ich bin wirklich hundemüde«, gab sie zu.
Aber an Schlaf war nicht zu denken. Gerade als Anneli mit Lilly und Fussel das Haus verlassen hatte, klingelte es Sturm. Vor der Tür stand Sara mit Neles Rucksack. »Ich kann nicht bleiben«, erklärte sie atemlos. »Ich muss zum Kieferorthopäden. Heute wird's ernst.« Sie zog eine Grimasse.
»Brackets?«
Sara nickte finster.
Nele grinste. »Lass dir doch Strasssteinchen drauf machen.«
»Bei dir piept's wohl!« Sara hatte bei diesem Thema gar keinen Sinn für Humor.
»War die Schmalbach sehr sauer?«, fragte Nele.
»Ich weiß nicht, so mittel. Irgendwie war sie auch erschrocken, schien mir.« Sara saß schon wieder auf ihrem Rad. »Ich rufe dich nachher an, okay?«
»Okay.« Nele schloss enttäuscht die Tür. Sie hätte gern mit Sara über alles geredet.
Gerade als sie wieder in ihr Zimmer gehen wollte, klingelte das Telefon. Es war Nadine. »Nele, was war denn los?«
Nele fiel nichts Besseres ein, als zu einer Notlüge zu greifen. »Ich kann jetzt nicht, Lilly schreit. Ich erkläre euch morgen alles, versprochen!« Solange sie das Gespräch mit der Schmalbach nicht hinter sich hatte, mochte sie sich mit niemand über ihre Probleme unterhalten. Jedenfalls mit niemandem außer Sara.
Aber sie hatte kaum den Fuß wieder auf die Treppe gesetzt, als das Telefon schon wieder schrillte. Diesmal war es Julia. »Mensch, Nele, was war denn? Du hast ja einen Abgang gemacht!« Sie kicherte.
»Julia, bitte, können wir morgen darüber reden? Lilly schreit sich die Seele aus dem Leib.« Nele kreuzte die Finger hinter dem Rücken. »Dann erzähle ich euch alles ganz genau.« Sie drückte auf den Aus-Knopf und stopfte das Telefon unter ein Sofakissen. Sie wollte schlafen, verdammt noch mal!
Doch mitten auf der Treppe machte sie wieder kehrt. Sie ging zurück ins Wohnzimmer, setzte sich auf die Kante eines Sessels und starrte das Kissen an, unter dem das Telefon lag. Sehr lange starrte sie es an.
Dann stand sie auf, holte das Telefonbuch aus der Flurkommode und blätterte bis zum S. Da war sie, oben in der mittleren Spalte: Schmalbach, Jutta und Gerd, Rosenweg 21. Mit klopfendem Herzen tippte Nele die Nummer ein. Dann zögerte sie. Sollte sie es wirklich wagen?
Ja. Sonst würde sie sowieso nicht schlafen können. Beherzt drückte sie auf die grüne Taste. Ihr Mund war trocken vor Aufregung.
Die Schmalbach nahm nach dem zweiten Klingeln ab.
»Hier ist Nele Bach. Frau Schmalbach, bitte, darf ich mit Ihnen reden?«
»Aber ja! Ich hatte auch schon überlegt, ob ich bei euch anrufen sollte, Nele. Ich glaube ...«
»Ich möchte das nicht am Telefon besprechen«, sagte Nele schnell. »Bitte, darf ich zu Ihnen kommen?«
Einen Moment herrschte Schweigen am anderen Ende. Dann sagte die Schmalbach: »Das ist eine gute Idee. Willst du gleich kommen? Weißt du, wo ich wohne?«
»Ja«, sagte Nele, »es ist gar nicht weit von hier. Mit dem Fahrrad bin ich in zehn Minuten da.«
»Dann komm«, sagte die Schmalbach. Es klang ziemlich freundlich.
Nele schnitt noch schnell eine Rose im Garten. Die erste, aber das würde sie ihrer Mutter schon erklären.
»Weil ich so hereinplatze«, sagte sie, als sie der Schmalbach die Blume überreichte.
»Danke! Komm erst mal herein. Wollen wir uns auf die Terrasse setzen?«
Nele folgte ihr durch das Haus. Es sah genau so aus, wie sie es sich vorgestellt hatte. Richtig spitzenkragenmäßig. Überall hingen kleine Stickbilder und die Möbel waren ziemlich verschnörkelt. Im Garten aber erlebte Nele eine Überraschung. Vor der Terrasse erstreckte sich ein großer Teich und dahinter befand sich ein wunderschöner Rosengarten. Er sah aus wie ein Foto aus Mamas Lieblingsgartenbuch.
»Mann!« Nele blieb wie angewurzelt stehen. »Das ist ja toll! Darf ich mal gucken gehen?«
»Sieh dich nur um«, sagte die Schmalbach. »Ich hole uns inzwischen etwas zu trinken. Magst du Apfelschorle?«
»Na klar.« Nele hatte nur Augen für den Garten. Wenn den ihre Mutter sähe!
»Machen Sie das alles alleine?«, fragte Nele, als sie schließlich auf den Terrassenstühlen Platz genommen hatten, und deutete auf den Garten.
Die Schmalbach lachte, richtig nett. »Hauptsächlich kümmert sich mein Mann darum. Ich darf nur Hilfsarbeiten machen.«
Nele schluckte. Die Schmalbach bei Hilfsarbeiten konnte sie sich gar nicht vorstellen.
»Aber warum interessiert dich das alles so? Normalerweise haben Kinder keinen Blick für Gärten.«
»Meine Mutter ist Gärtnerin«, sagte Nele. »Sie würde ausflippen, wenn sie das hier sähe.«
Die Schmalbach lachte wieder, mehr als nett diesmal. »Richtig, ich habe es in deiner Akte gelesen. Sie ist bei Neumanns angestellt, nicht wahr?«
»Sie führt die Gärtnerei jetzt«, sagte Nele stolz. »Und da wird sich einiges ändern.«
Diesmal fiel das Lächeln der Schmalbach etwas herablassend aus.
Nele ärgerte sich. »Meine Mutter will sich auf alte englische Rosen spezialisieren. Das wird Ihren Mann bestimmt interessieren. Er hat ja schon ein paar.«
Der Schmalbach fielen fast die Augen aus dem Kopf. »Das hast du bemerkt?«
»Ja, klar«, sagte Nele. »Aber jetzt möchte ich Ihnen erst mal sagen, warum ich gekommen bin.« Plötzlich zitterte ihre Hand so sehr, dass sie das Glas abstellen musste. Doch sie sah die Schmalbach fest an. »Ich kann Pünktchen nicht spielen. Und auch keine andere Rolle. Ich bin kein exi..., kein Ausstellungstyp.«
Die Schmalbach nippte mit schmalen Lippen an ihrem Glas.
»Ich weiß, dass das Ihre ganze Planung durcheinanderwirft«, sagte Nele hastig, »und dass Sie es gut gemeint haben, als Sie mir die Rolle gegeben haben. Aber ich kann es einfach nicht.«
»Ich weiß.« Die Schmalbach schaute traurig in ihr Glas. »Ich dachte, du wärst ideal für die Rolle. Für mich bist du Pünktchen. Du bist stark, du bist frech, du bist mutig, du bist selbstbewusst, du bist fantasievoll ...« Sie sah Nele nachdenklich an. »Aber wahrscheinlich bist du das alles nur im wirklichen Leben. Du kannst es nicht spielen.«
Nele blickte verlegen zu Boden. Hübsch gepflastert war er, viel hübscher als Rons langweilige Terrasse. Das also dachte die Schmalbach von ihr? Wenn die wüsste!
»Ja, Nele, das bist du alles«, sagte die unbeirrt. »Aber ich weiß, dass du auch schwach und ängstlich, schüchtern und unsicher bist. Jeder trägt beides in sich, Stärke und Schwäche, aber nur wenn wir unseren Begabungen folgen, kommen die positiven Seiten zum Vorschein. Das Theaterspielen ist offensichtlich nicht deine Begabung, es scheint nur deine Ängste hervorzukehren und deine Stärken zu blockieren. Schade.«
»Ich finde es nicht traurig«, widersprach Nele. »Es ist eben einfach so und mir macht es gar nichts aus, dass ich es nicht kann. Dafür kann ich in anderen Sachen trotzdem gut sein.«
»Ja. Ja, natürlich«, sagte die Schmalbach zerstreut. »Wen nehmen wir denn dann für die Rolle?«
Nele atmete auf. Das war ja ziemlich glimpflich abgegangen, viel harmloser, als sie befürchtet hatte. »Sara«, sagte sie. »Sara könnte das prima.«
»Sara?« Die Schmalbach sah Nele erstaunt an.
»Ja! Sie war furchtbar enttäuscht, als sie nur so eine kleine Rolle bekommen hat. Sie wäre genial als Pünktchen! Wenn wir nachmittags zusammen geübt haben, hat sie es mir ganz toll vorgemacht. Sie kann das, ehrlich!«
»Sara?« Die Schmalbach grübelte. »Und wer soll dann Antons Mutter spielen? Das könntest du doch wenigstens machen.«
»Nein«, sagte Nele. »Aber wie wäre es mit Vanessa? Dass die nur eine Statistenrolle bekommen hat, finde ich sowieso komisch. Die exi... die stellt sich gern aus, bestimmt. Und sie sieht fast so aus wie Antons Mutter im Film. Das würde doch passen.«
»Und du willst wirklich nur zwei-, dreimal über die Bühne huschen und nichts sagen?«, fragte die Schmalbach. Ganz konnte sie es anscheinend immer noch nicht glauben.
»Am liebsten würde ich nicht einmal das tun«, sagte Nele. »Am liebsten würde ich einfach nur helfen, die Kulissen zu malen.«
»Das kommt überhaupt nicht infrage! Jeder geht auf die Bühne«, sagte die Schmalbach energisch. Dann verfiel sie wieder ins Grübeln. »Ja, das könnte gehen. Hast du schon mit Sara darüber gesprochen?«
»Nein, ich wollte als Erstes mit Ihnen reden«, sagte Nele. »Und auf die Idee mit Sara bin ich eben erst gekommen. Aber sie ist gut, ganz bestimmt!«
»Vielleicht hast du recht«, sagte die Schmalbach und stand auf. »Trotzdem bedaure ich es sehr, dass du die Rolle nicht spielst, Nele. Aber gut, wir besprechen alles Weitere morgen in der Schule.«
Nele war entlassen. Und sehr erleichtert. »Danke, Frau Schmalbach«, sagte sie. »Ich dachte, Sie wären furchtbar böse auf mich.«
»Nein, Nele, ich bin nicht böse. Ich verstehe dich sogar. Ich könnte das auch nicht, so auf der Bühne spielen. Ich weiß zwar genau, wie es aussehen muss, aber selbst bringe ich das auch nicht fertig. Obwohl ich es mir manchmal wünsche.«
»Ich wünsche es mir nie!«, sagte Nele mit Nachdruck. »Es ist ein Albtraum!«