10. Kapitel

Guck mal!« Nele zog Sara vom Kiosk weg und hielt ihr die Mausefalle unter die Nase. »Unser Köder!« Sie führte ihr vor, mit welcher Kraft die Falle zuschnappte. »Wenn da jemand reinfasst, hört man seinen Schrei durch die ganze Schule, wetten? Wir müssen uns nur überlegen, ob wir die Falle in deine oder in meine Jackentasche stecken.«

»In deine«, sagte Sara sofort. »Ist doch klar, dass ich kein Geld mehr in der Tasche vergesse, wenn ich meine Jacke irgendwo hängen lasse, das kann sich Vanessa ja wohl denken.«

»Stimmt.« Nele spielte immer noch versonnen mit der Falle. Sie war wirklich genau das Richtige!

»Nun pack sie schon weg«, sagte Sara, als sie sich der Schule näherten. »Soll doch keiner sehen!«

Nele steckte die Falle zurück in die Tasche. »Vielleicht sollte ich in der Klasse mal ein bisschen herumtönen, dass meine Oma mir zehn Euro mitgegeben hat«, sagte sie.

»Und wofür?«, fragte Sara. »Zehn Euro sind doch kein Grund, um damit groß anzugeben.«

»Wenn es aber eine Spende wäre?«, überlegte Nele. »Für Blindenhunde oder so?«

Sara tippte sich an die Stirn. »In der Schule?«

»Oder für ...«

»Sag doch gleich für Not leidende Diebe!«, höhnte Sara.

»Ich glaube, ich sag lieber gar nichts«, räumte Nele ein. »Vielleicht klappt's ja auch so.«

Sara schüttelte amüsiert den Kopf. »Du kommst auf Ideen!«

»Hast du eine bessere?«, fragte Nele.

Aber da waren sie schon in der Schule angelangt und in den lauten Gängen war jedes Gespräch unmöglich. Nele hängte ihre Jacke an einen Haken im Flur, rückte die Falle in der Tasche zurecht und drückte sie auf. Als sie endlich fertig war, klingelte es auch schon zur Stunde und die Schmalbach rückte an. Nele huschte schnell in die Klasse.

Es passte gut, dass sie gleich in der ersten Stunde bei ihr Unterricht hatten, denn Nele hoffte, dass die Schmalbach ihr alle Erklärungen abnehmen und die Neuigkeiten, was das Theaterstück anging, sofort selbst bekannt geben würde. Es war zwar eigentlich ihre Geschichtsstunde, aber Nele war überzeugt, dass die Schmalbach gern auf ein paar Schlachten der Punischen Kriege verzichtete, um als Erstes die Neubesetzung der Rollen zu klären. Die kostbaren Stunden, in denen sie die Aula zum Proben hatten, wollte sie bestimmt nicht damit verplempern.

Nele hatte richtig vermutet. Sara und Adi hatten anscheinend vorher niemandem etwas erzählt, denn Frau Schmalbachs Mitteilung, dass Sara Neles Rolle übernehmen würde, löste große Überraschung aus. Nadine, Lisa und Julia wollten Nele sofort mit Fragen bestürmen, doch das ließ die Schmalbach natürlich nicht zu. »Ruhe!«, donnerte sie und den Rest erledigten ihre Blicke. Die drei Freundinnen sanken verschüchtert auf ihre Plätze zurück. »Ich weiß, dass es euch nicht allen leicht fällt, auf der Bühne zu stehen«, sagte die Schmalbach nun wesentlich milder. »Aber ihr schlagt euch alle sehr gut und ich habe den Eindruck, dass es euch inzwischen auch Spaß macht, nachdem ihr eure erste Scheu überwunden habt. Nele aber konnte diese – verständliche – Scheu partout nicht ablegen, für sie wurden die Theaterproben von Mal zu Mal mehr zu einer Angstpartie. Wir haben uns gestern lange unterhalten und ich kann und will sie nicht zu etwas zwingen, was ihr absolut nicht liegt.«

In der Klasse hätte man eine Stecknadel fallen hören können. Alle starrten die Schmalbach an. Dass sie darauf verzichtete, jemanden zu etwas zu zwingen, hatten sie noch nicht erlebt.

»Ein solches Recht muss natürlich für alle gelten«, fuhr die Schmalbach nun fort. »Wenn also noch jemand von euch das Gefühl hat, dass er mit seiner Rolle überfordert ist, soll er es jetzt sagen.«

»Oder für immer schweigen«, murmelte Joschi von hinten.

Die Schmalbach schmunzelte. »Also?« Sie sah fragend von einem zum anderen.

Niemand meldete sich.

»Nun gut«, sagte die Schmalbach zufrieden. »Aber wir haben jetzt noch die Rolle neu zu besetzen, die Sara vorher hatte. Wer von denjenigen, die nur eine Statistenrolle haben, hätte denn Lust, Antons Mutter zu spielen?«

Wieder ging kein Finger in die Höhe. Einige Mädchen senkten die Köpfe und versuchten, sich hinter ihrem Vordermann zu verstecken.

»Wie wäre es denn mit dir, Vanessa?«, fragte die Schmalbach. »Nele meinte, du könntest das.«

»Ich?« Vanessa richtete sich überrascht auf und wurde über und über rot. »Ehrlich?«

»Ja!« Die Schmalbach nickte ihr freundlich zu. »Ich könnte mir das auch sehr gut vorstellen. Was meinst du, willst du es versuchen?«

»Ja ... ja ... gern«, stammelte Vanessa. Sie strahlte über das ganze Gesicht und sah überhaupt nicht mehr wie ein Pandabär aus, sondern einfach wie ein sehr glückliches Mädchen.

In der Pause schoss sie auf Nele zu. »Du hast die Schmalbach auf die Idee gebracht? Danke!« Sie fiel Nele fast um den Hals. »Genau die Rolle wollte ich so gern spielen! Hast du den Film gesehen? Wie die Mutter mit dem Hula-Hoop-Reifen tanzt? Das kann ich auch! Was meinst du, ob die Schmalbach das erlaubt?«

»Führ ihr doch mal vor, was du kannst«, schlug Nele vor. »In dem Theaterstück ist das zwar nicht vorgesehen, aber wenn du richtig gut bist, könnte man das ja vielleicht einbauen.«

»Ich hätte auch schon eine Idee, an welcher Stelle«, sagte Sara, die zugehört hatte. »Da müsste man nur ganz wenig Text ändern.«

»Was meint ihr, ob ich der Schmalbach das heute gleich zeigen soll?«, fragte Vanessa. »Frau Rosner leiht mir bestimmt einen Hula-Hoop-Reifen aus der Turnhalle!« Sie zappelte vor Begeisterung. »Mann, das wär so toll! Wenn es klappt, lade ich euch zum größten Eis eures Lebens ein!«

Von Saras Geld?, hätte Nele gern gefragt, aber das verkniff sie sich natürlich.

Nach der Mathestunde, als endlich große Pause war, bestürmten Nadine und Lisa Nele doch mit Fragen. »Nun lasst mich doch erst mal!«, wehrte Nele ab. »Zuerst muss ich mir was zu trinken kaufen!« Ihre Hand fuhr in ihre Tasche und sie schrie auf. Hölle und Teufel, tat das weh! Nele rannte, was das Zeug hielt, und schloss sich auf der Toilette ein. Schließlich konnte sie die Hand mit der Mausefalle daran nicht vor versammelter Mannschaft aus der Tasche ziehen!

Bei näherer Betrachtung war es aber gar nicht so schlimm. Es hatte nur Mittel- und Ringfinger erwischt und bewegen konnte sie beide noch. Allerdings liefen sie ein bisschen blau an und besonders angenehm war der Schmerz nicht. Aber da musste sie nun durch. Wenigstens war es die linke Hand, da fiel es nicht so auf. Sie ließ kaltes Wasser über die verletzten Finger laufen, aber das wurde ihr bald langweilig. Außerdem tat es schon gar nicht mehr so weh. Und an den vielen Erklärungen kam sie ja doch nicht vorbei, also war es besser, sie gleich hinter sich zu bringen. Nur über ihre Hand würde sie eisern schweigen. Wenn sie sie in der Tasche ließ, würde es ohnehin niemand bemerken. Und falls doch jemand fragte, was los gewesen sei, konnte sie immer noch behaupten, sie hätte in eine Stecknadel gegriffen. Konnte doch sein!

Aber es fragte niemand. Alle fanden Neles Rücktritt von der Hauptrolle viel aufregender.

Nach der Pause fand die nächste Theaterprobe statt. Nele richtete sich gemütlich in der letzten Reihe ein und legte die Beine hoch. War das ein Leben!

Vanessa hatte die Pause genutzt und tatsächlich einen Hula-Hoop-Reifen organisiert. Und damit legte sie eine Tanzeinlage aufs Parkett, dass Nele sogar das Pochen in ihren Fingern vergaß. Alle, sogar die Schmalbach, klatschten tosenden Applaus.

»Das muss unbedingt rein!«, rief Sara und kletterte auf die Bühne. »Ich weiß auch schon, wie!« Sie erklärte, wie eine Szene, die zu Hause bei Anton spielte, nur ganz wenig umgeschrieben werden musste, damit es passte. »Wenn Sie einverstanden sind, Frau Schmalbach, machen Nele und ich das.«

Die Schmalbach war einverstanden. »Aber nächste Woche muss die Szene stehen!«, verlangte sie.

»Das schaffen wir«, versprach Sara und Nele nickte vergnügt.

»Gut! Dann proben wir jetzt noch mal den Anfang«, beschloss die Schmalbach. »Sara, kannst du den Text schon ein bisschen?

Sie konnte ihn perfekt und sie spielte die Rolle so lustig und quirlig, dass sie ständig Zwischenapplaus erntete. Nele sah ihr fasziniert zu. So lebendig, so ausgelassen, so unbeschwert war Sara im wirklichen Leben selten. Das also hatte sie gemeint, als sie gesagt hatte, dass Theaterspielen einen frei machte. Bei ihr war es wirklich so. Sie war einfach gnadenlos gut.

»Nele, ich weiß gar nicht, wie ich dir danken soll!« Vanessa ließ sich auf den Platz neben ihr fallen. »Ich freu mich so!«, flüsterte sie aufgeregt.

Nele schüttelte belustigt den Kopf. »Ihr seid alle verrückt!«, gab sie zurück. »Aber jetzt glaube ich auch, dass das Stück ein großer Erfolg wird.«

Vanessa sah sie verständnislos an. »Bist du wirklich nicht traurig, dass du nicht mehr dabei bist?«

Nele lachte. »Traurig? Ich war noch nie in meinem Leben so froh!«

»Ich verstehe dich nicht. Sonst willst du immer die Hauptrolle spielen, aber hier?«

Nele stutzte. War das so? Wollte sie immer die Hauptrolle spielen? »Wie meinst du das?«, fragte sie verstört.

»Na, du spielst dich doch sonst ganz gern in den Vordergrund.«

»Das stimmt nicht!«, sagte Nele. Aber ganz sicher war sie sich nicht. »Das sagst du nur, weil du sauer auf mich bist. Wegen neulich, in der Eisdiele.«

»Quatsch!« Vanessa rutschte unbehaglich hin und her.

»Ruhe dahinten!«, rief die Schmalbach und machte ihrem Gespräch ein Ende.

Nele war ihr ganz dankbar. So hatte sie erst einmal Zeit zum Nachdenken. Aber das würde ihr wohl auch nicht helfen, aus Vanessa schlau zu werden.

Es war ein sonderbares Gefühl, das Nele beschlich, als sie am Mittag nach Hause kam. Keine Lilly. Kein Laufställchen mehr im Wohnzimmer, kein Kinderbettchen in dem kleinen Zimmer unter dem Dach. Ein leeres Regal, eine freie Kommode. Nele schwankte zwischen Erleichterung und Traurigkeit.

Was siegte, war erst einmal die Müdigkeit. Obwohl ihre Mutter in der letzten Nacht das Babyfon mit an ihr Bett genommen hatte, war Nele doch aufgewacht, als Lilly sich gemeldet hatte, fast als hätte sie darauf gewartet. Also hatte sie ihre Mutter wieder ins Bett geschickt. »Ich mache das schon«, hatte sie schlaftrunken gemurmelt. Sie wollte nicht in der letzten Nacht schlappmachen, so schwer es ihr auch gefallen war.

»Morgen hast du deine Mama wieder«, hatte sie Lilly getröstet, als sie sie wieder in ihr Bett gelegt hatte. »Die kümmert sich bestimmt besser um dich.« Zum Glück war Lilly gleich wieder eingeschlafen, sodass Neles Gewissen sich schnell beruhigt hatte. Vor allem aber war sie froh gewesen, dass Lilly in dieser Nacht nicht noch einmal aufgewacht war.

Trotzdem war sie heute Mittag schrecklich müde. Wenn es nicht gerade gebratenen Fisch mit neuen Kartoffeln und zum Nachtisch Erdbeeren mit Vanillesoße gegeben hätte, wäre sie bestimmt schon beim Mittagessen eingeschlafen. Jetzt aber hielt sie nichts mehr. Sie zog ihre Jeans und den Pulli aus und fiel in ihr Bett. Endlich!

Sie war kaum eingeschlafen, als Timmi sie an der Schulter rüttelte. »Nele! Wach auf! Du musst mir helfen!«

Nele richtete sich benommen auf und rieb sich die Augen. »Jetzt?«

»Ja!« Timmi schaute sie unglücklich an. »Da ... da sind so Jungs ... so große. Ich soll um vier am Spielplatz sein und ...«

»Und was?« Nele war plötzlich hellwach.

»Und ihnen Geld geben. Zehn Euro! Sonst ... sonst ...« Er schniefte.

»Was sonst?«

»Sonst verhauen die mich. Ganz doll!«

Nele schlug die Bettdecke zurück und griff nach ihrer Jeans. »Was für Jungs sind das denn?«

Timmi hob hilflos die Schultern. »Weiß nicht. So Große. Aus der vierten Klasse.«

»Wie viele?«, fragte Nele knapp, während sie sich den Pullover über den Kopf zog.

»Drei. Einer von denen ist richtig stark.« Timmi zitterte.

Nele zog ihn an sich und setzte sich mit ihm aufs Bett. »Die haben dich schon länger in der Mangel, stimmt's?«

Er nickte. »Schon richtig lange. Erst wollten sie nur einen Euro, jeden Tag. Und neulich fünf. Aber jetzt hab ich nichts mehr! Mein Sparschwein ist ganz leer!«

»Mensch, Timmi!« Nele drückte ihr Gesicht auf sein Haar. »Warum hast du mir nicht längst etwas gesagt?« Es war eine dumme Frage, das merkte sie selbst:

Und das sah auch Timmi so. »Weil du dich nur noch um das blöde Schreibaby gekümmert hast«, sagte er vorwurfsvoll.

»Aber Mama und Papa und Anneli waren doch auch noch da«, sagte Nele. Obwohl sie ein schlechtes Gewissen hatte, ganz sah sie nicht ein, dass sie für alles zuständig sein sollte.

»Ich durfte es doch keinem sagen«, schniefte Timmi. »Großen schon gar nicht. Dann hätten die mich richtig fertiggemacht.«

Das verstand Nele. Wenn ihre Eltern sich eingeschaltet hätten, wäre alles richtig kompliziert geworden. Weil Erwachsene mit vernünftigen Methoden kämpften, mit Anzeigen und lauter Maßnahmen, die sich endlos hinzogen. In der Zeit hätte Timmi grün und blau geschlagen werden können. Und das nicht nur einmal.

Nele warf einen Blick auf den Wecker auf ihrem Nachttisch. Es war halb drei, also noch Mittagsruhezeit. Keine gute Zeit, um Leute anzurufen, aber dies war ein Notfall. »Komm«, sagte sie, nahm Timmi bei der Hand und zog ihn mit sich die Treppe hinab. »Wir kriegen das schon hin.«

Als Erstes rief sie Adi an. Dann Björn und Leon und Joschi. Und Sara. Die würde stocksauer sein, wenn sie nicht dabei sein durfte. Ihre Mutter reagierte zwar sehr allergisch auf Anrufe vor drei, aber Nele behauptete einfach, es ginge um eine außerplanmäßige Theaterprobe. Da war sie sofort beschwichtigt.

Um drei saßen sie alle zusammen auf der Terrasse vor dem Gartenhaus und besprachen ihren Schlachtplan.

»Schaffst du das, Timmi?«, fragte Nele besorgt.

Er nickte unsicher. »Ihr helft mir ganz bestimmt?« Sein Blick wanderte von Björn zu Adi und weiter zu Leon und Joschi.

Die vier nickten ihm mit finsteren Mienen zu. »Du kannst dich auf uns verlassen«, versprach Adi.

»Hundertprozentig«, bekräftigte Joschi und ballte die Fäuste.

»Aber du darfst uns nicht verraten«, beschwor ihn Nele. »Du musst so tun, als ob du große Angst hättest, klar?«

»Ich hab auch große Angst«, sagte Timmi. »Wenn das man gut geht!«

»Es geht gut!« Nele boxte ihn liebevoll in die Seite. »Verlass dich auf uns!«

Timmi wirkte sehr klein und verletzlich, als er sich dem Spielplatz näherte. Die drei Jungen, die von der anderen Seite kamen, sahen dagegen richtig fies aus, fand Nele. Am liebsten wäre sie sofort auf sie zugestürzt, um sie nach Strich und Faden zu verprügeln. Adi, der neben ihr im Gebüsch kauerte, schien das zu spüren, er packte sie am Arm. »Warte«, raunte er.

Der Größte der drei stellte sich breitbeinig vor Timmi auf und streckte die Hand aus. »Na los, gib die Kohle her!«, sagte er mit einem hässlichen Grinsen.

»Ich hab nicht so viel Geld, das hab ich euch doch gesagt!« Nele sah, dass es Timmi große Kraft kostete, stehen zu bleiben und sich nicht umzuschauen.

»Und wir haben dir gesagt, was passiert, wenn du heute mit leeren Taschen hier aufkreuzt! Hast du das etwa vergessen?« Der Große machte einen Schritt auf Timmi zu.

Der wich zurück. »Aber ich hab's nicht!«

»Ach nee!« Jetzt näherten sich alle drei und der Schmächtigste von ihnen, ein blonder Junge mit einem Baseballcap, das er tief über die Augen gezogen hatte, drängte sich in den Vordergrund. »Aber Geld für Markensneakers hast du, was?« Er stieß Timmi in den Sandkasten und fiel über ihn her. Die beiden anderen Jungen stürzten dazu und versuchten, Timmi die neuen Turnschuhe von den Füßen zu ziehen.

»Jetzt!«, zischte Nele und Adi, Joschi, Björn und Leon brachen aus dem Gebüsch und warfen sich auf die raufenden Jungen im Sandkasten. Nach einem kurzen Handgemenge hatten Neles Freunde die drei Jungen im Schwitzkasten.

Timmi rappelte sich auf und lief zu Nele. Die legte beschützend den Arm um ihn und musterte seine Peiniger. Den Großen, Dicken nahm sie sich zuerst vor. Adi und Joschi hielten ihn gemeinsam fest. Er war wirklich ein ziemlicher Brocken und zappelte widerspenstig. »Wie heißt du?«, fragte Nele.

»Das werde ich dir gerade sagen!« Er spuckte vor ihr aus.

Joschi riss seine Arme noch ein Stück weiter nach hinten. »Du wirst es ihr sagen«, sagte er sehr ruhig. »Sonst brechen wir dir die Knochen. Alle.«

Der Brocken wurde bleich.

Joschi und Adi griffen noch ein wenig fester zu.

»Das war doch nur ein Scherz«, sagte der Brocken und verzog das Gesicht vor Schmerz. »Wir tun dem Kleinen nichts, versprochen.«

»Ich will deinen Namen wissen, du Scherzkeks!« Nele trat einen Schritt näher auf ihn zu.

Der Brocken funkelte sie feindselig an. »Deine Killer können mir gar nichts, du Schnepfe!«

Adi gab ihm einen Stoß zwischen die Rippen.

Der Brocken japste.

»Willst du noch einen?«, fragte Joschi und holte aus.

»Ihr könnt mich mal!«, rief der Brocken und versuchte, mit einem Tritt Adis Schienbein zu erwischen. Aber er trat ins Leere.

»Kristian Kohlhagen heißt er«, rief der dritte Junge, der sich bisher nicht sonderlich hervorgetan hatte. Er keuchte unter Björns hartem Griff. Anscheinend war er der Intelligenteste der drei, zumindest hatte er als Erster begriffen, dass jeder Widerstand zwecklos war.

»Kohlhagen?« Nele machte noch einen Schritt auf den Brocken zu. Ihre Nasenspitzen waren jetzt nur noch zehn Zentimeter voneinander entfernt. »Sag bloß, du bist der Bruder von Vanessa? Der Sohn von dem großen Auto-König in der Stadt? Na, dein Vater wird sich freuen, wenn er erfährt; was sein Sohn so treibt!«

Der Brocken sackte in sich zusammen. Als hätte man die Luft aus einem Ballon gelassen. »Ihr werdet uns doch wohl nicht verpetzen? Das war doch alles nur Spaß!«

»Toller Spaß!« Jetzt kam Sara aus dem Gebüsch und schwenkte triumphierend Joschis Handy. »Ich hab alles drauf!«, rief sie. »Mit Ton!«

Der Brocken tobte wieder. Er versuchte sich loszureißen, um an das Handy zu gelangen. Aber gegen Adi und Joschi hatte er keine Chance.

»Lauf du erst mal nach Hause und bring das Handy in Sicherheit«, rief Joschi Sara zu.

»Gleich«, sagte die seelenruhig. »Erst mache ich noch ein paar Aufnahmen von unseren Freunden hier. Damit keine Verwechslungen aufkommen.«

Der Brocken spuckte Gift und Galle. Aber es nützte ihm nichts. Adi und Joschi hatten ihn fest im Griff. »Ich zahle euch hundert Euro, wenn ihr nichts sagt!«, rief er verzweifelt.

Adi lockerte seinen Griff etwas. »Zweihundert«, sagte er und zwinkerte Nele zu.

»Dreihundert«, sagte die und sah den Brocken lauernd an.

»Von mir aus auch das!«, rief der.

»Ach ja?« Adi zog seinen Arm wieder wütend nach hinten. »Und woher hast du so viel Geld? Alles abgezogen, stimmt's?«

»Das kann euch doch egal sein«, schnaufte der Brocken. »Ich gebe euch auch mehr. Aber jetzt lasst mich endlich los!«

Adi und Joschi gehorchten aufs Wort. Sie ließen ihn so plötzlich los, dass der Brocken auf die Nase fiel. »Verschwinde«, rief Adi. »Und sieh zu, dass du uns nie wieder über den Weg läufst! Dein dreckiges Geld wollen wir nicht!«

Auch Björn und Leon gaben ihre Opfer frei.

Aber die wollten gar nicht weg. Genauso wenig wie der Brocken, der sich jetzt mühsam aufrappelte. »Hört mal, wir können uns doch einigen«, sagte er. »Wenn ihr uns nicht verratet ...«

»Haut ab!«, sagte Joschi. Seine Freunde und er rückten näher zusammen und gingen drohend auf die drei Jungs zu. Nele spürte Timmis Hand in ihrer. Siegen fühlte sich tausendmal besser an als aufgeben, stellte sie fest, während sie beobachtete, wie die drei Jungen den Rückzug antraten.

»Und nun?«, fragte Adi, als sie alle zusammen auf der Gartenhausterrasse saßen und ihren Sieg mit Apfelsaft begossen.

Timmi hockte zwischen Joschi und Björn und pulte in der Nase. »Denen habt ihr es gegeben!«, sagte er zufrieden.

»Ja, für den Moment«, sagte Leon. »Aber was ist morgen?«

Timmi zog erschrocken den Finger aus der Nase. »Morgen?«

»Ja, wenn sie sich an dir rächen«, erklärte Björn. »Das könnte doch sein.«

»Wir müssen es unseren Eltern sagen«, meinte Nele. »Sonst kann Timmi sich nie mehr sicher fühlen.«

»Glaubst du nicht, dass die Lektion heute reicht?«, fragte Sara. »Die hatten doch voll Schiss! Und sie wissen, dass wir sie auf Video haben. Die trauen sich jetzt nichts mehr.«

Adi wiegte bedächtig den Kopf. »Da wäre ich mir nicht so sicher. Außerdem, wer sagt dir, dass Timmi ihr einziges Opfer ist? Vielleicht machen sie sich jetzt schon über den Nächsten her.«

Nele sah Timmi an. »Könnte das sein? Weißt du was?«

»Nee. Nicht so genau.«

»Und ungenau?«

»Weiß ich auch nichts. Aber alle haben vor denen Angst. Der Große, dieser Kristian, ist der Stärkste in der ganzen Schule.«

»Wahrscheinlich weil er schon ein paar Ehrenrunden gedreht hat«, meinte Joschi abfällig. »Der war doch älter als zehn, oder?«

»Mindestens elf«, schätzte Adi. »Der hatte ganz schöne Muckis, hast du das gespürt?«

»Allerdings.« Joschi knetete seine Oberarme. »Ich bin noch ganz lahm. Kein Wunder, dass du vor dem Respekt hast«, sagte er zu Timmi.

Der strahlte ihn dankbar an.

»Und wie wäre es, wenn wir erst einmal mit Vanessa reden?«, überlegte Sara. »Vielleicht kriegt sie ihren Bruder ja in den Griff.«

»Vanessa?« Nele starrte ihre Freundin ungläubig an. »Die? Die ...«, klaut doch selber, hatte sie sagen wollen, hielt aber erschrocken inne. Bisher hatten sie niemandem von ihrer Beobachtung im Drogeriemarkt und ihrem Verdacht, was die Diebstähle in der Schule anging, erzählt.

»Die – was?«, hakte Björn nach.

Sara und Nele sahen sich an. Sollen wir es ihnen sagen?, fragten Neles Augen. Sara nickte unmerklich.

»Ich habe Vanessa und Jennifer neulich beim Klauen beobachtet«, erzählte Nele. Zusammen berichteten Sara und sie die ganze Geschichte. Auch von dem Diebstahl in der Schule erzählten sie und dass er genau in der Zeit stattgefunden haben konnte, als Vanessa aus dem Matheunterricht geflohen war.

»Sie könnte es wirklich gewesen sein«, sagte Adi. »Ich habe das auch schon gedacht. Erinnert ihr euch? An dem Tag kam ich zu spät, weil wir verschlafen hatten, und ich habe Vanessa gesehen. Sie war nicht an der frischen Luft, sondern stand auf dem Gang, ganz nah an den Kleiderhaken. Irgendwie kam mir das verdächtig vor.«

»Aber richtig gesehen hast du nichts?«, fragte Björn.

Adi schüttelte den Kopf. »Nee, leider.«

»Trotzdem, vielleicht sollten wir mit ihr reden«, meinte Sara. »Heute in der Schule war sie doch sehr nett.«

»Na ja«, sagte Nele. »Halb nett. Als ihr alle auf der Bühne wart, hat sie mich ziemlich fertiggemacht. Sie hat gemeint, dass ich mich immer in den Vordergrund dränge.« Sie sah die anderen unsicher an. »Stimmt das?«

»Nein«, sagte Leon. »Du drängst dich nicht in den Vordergrund. Aber du bist da immer.«

Nele sah ihn betreten an. »Aber das will ich gar nicht. Ich mache das nicht mit Absicht.«

»Es kommt, weil du immer zu allem was sagst«, erklärte Björn.

»Darum waren ja auch alle heute so überrascht, dass du die Hauptrolle nicht haben willst«, sagte Joschi.

»Was Vanessa sagt, ist doch egal«, meinte Adi. »Die ist nur neidisch auf dich.«

Nele stützte den Kopf in die Hände. »Kann es sein«, fragte sie, »dass sie ihren Bruder gezielt auf Timmi angesetzt hat? Um mir eins auszuwischen?«

»Das wäre aber wirklich sehr gemein«, sagte Sara. »Könnt ihr euch das vorstellen?«

Niemand gab ihr eine Antwort. Anscheinend konnten es sich alle vorstellen. Und auch wieder nicht.

»Wir sollten wirklich mit ihr reden«, sagte Nele entschlossen. »Wenn es nichts bringt, können wir immer noch unsere Eltern einschalten.«

Diese Idee fanden alle gut.

»Ich schlage vor, wir verabreden uns im Park mit ihr«, schlug Nele vor. Sie wusste auch schon genau, wo. Nicht unter der Rotbuche, da wollte sie Vanessa nicht sehen. Das war ihr Platz, dahin würde sie nur mit Sara gehen. Oder vielleicht einmal mit Adi.

»Okay, ich rufe sie an.« Sara stand auf.

»Sag ihr, sie soll zu dem Denkmal kommen«, sagte Nele. Da standen viele Bänke in einem großen Kreis und eine war immer frei.

»Muss ich mit?«, fragte Timmi. »Oder kann ich jetzt zu Jannik gehen?«

»Natürlich kannst du zu Jannik gehen«, sagte Nele. »Allerdings ...«

»Kannst du deinen Freund nicht anrufen und ihm sagen, dass er zu dir kommen soll?«, schlug Adi vor. Er hatte sofort begriffen, was Nele befürchtete.

Auch Timmi schaltete. »Ja, das ist gut! Das mache ich!«

»Aber lass erst Sara telefonieren!«, rief Nele hinter ihm her, als er ins Haus stürzen wollte.

Timmi blieb stehen und sah Sara ungeduldig an. »Dann mach auch!«

Heute waren so viele Bänke frei, dass sie sich eine aussuchen konnten. Sara, Nele und Leon ließen sich auf der Sitzfläche nieder, Joschi und Adi auf der Rücklehne und Björn blieb auf seinem Fahrrad hocken.

Vanessa ließ nicht lange auf sich warten. Sie kam auch mit dem Fahrrad und blieb lässig darauf sitzen. »Was gibt's?«

»Es geht um deinen Bruder«, erklärte Joschi von seiner erhobenen Position aus.

»Wir würden dir gern etwas zeigen«, sagte Sara und stand auf. Sie stellte sich neben Vanessa und ließ das Video auf dem Handy abspielen.

Nele beobachtete Vanessa gespannt. Auf deren Gesicht zeichnete sich pures Entsetzen ab. Und dann kroch nackte Angst in ihre Augen. Als der Film abgelaufen war und Sara das Handy zuklappte, ließ sie ihr Rad auf die Erde gleiten, ging langsam auf die Bank zu, setzte sich auf Saras Platz und schlug die Hände vor das Gesicht. »Und was habt ihr nun vor?«, fragte sie tonlos.

»Das wissen wir nicht«, sagte Nele. »Wir wollten erst mit dir reden.

»Und wenn das nichts bringt, sprechen wir mit Neles Eltern«, sagte Björn.

»Und die dann mit deinen, darauf kannst du dich verlassen«, ergänzte Adi.

»Ich wette, dann ist bei euch zu Hause die Hölle los«, fügte Sara mitleidlos hinzu.

»Das ist sie doch sowieso!«, stieß Vanessa hervor und brach in Tränen aus. »Wenn mein Vater das erfährt, schlägt er Kris zu Brei!«

»Dein Vater schlägt euch?«, fragte Adi entsetzt.

Vanessa schüttelte schluchzend den Kopf. »Das habe ich doch nur so gesagt.«

»Das hast du nicht«, sagte Joschi. »Er tut es, stimmt's?«

Vanessa schluchzte noch heftiger.

»Mein Vater war auch so«, sagte Joschi. »Da hilft nur weggehen.«

»Sag das mal meiner Mutter!«, heulte Vanessa auf. »Sie macht ja nichts!«

»Ihr müsst zum Jugendamt gehen«, riet Joschi. »Uns haben sie geholfen. Und seit wir alleine wohnen, ohne meinen Vater, ist alles gut.«

Vanessa sah auf. Ihr Augen-Make-up hatte sich aufgelöst und sie sah mehr denn je aus wie ein Pandabär. »Meinst du?«

»Klar!« Joschi legte eine Hand auf ihre Schulter. »Ich helfe dir, wenn du willst. Ich kenne da einen sehr netten Typen, zu dem können wir gehen.«

»Echt?« Vanessa wischte sich mit dem Handrücken die Tränen aus dem Gesicht. Jetzt sah sie aus wie ein Streifenhörnchen.

»Der sagt auch nichts, wenn du Mist gebaut hast. Oder dein Bruder«, fuhr Joschi fort. »Der versteht das.«

Nele reichte Vanessa ein Taschentuch. Die putzte sich gründlich die Nase, wischte sich die Augen, was die Sache nicht besser machte, und sagte: »Dann will ich mit dem reden. Geht das heute noch?«

Joschi nickte. »Wir können es versuchen. Ich habe seine Handynummer.« Wenige Minuten später war alles klar. Der Betreuer hatte zwar eigentlich schon Feierabend, aber die beiden sollten trotzdem noch kommen.

Die anderen saßen schweigend da, nachdem Vanessa und Joschi davongeradelt waren. »So ein Schock«, sagte Nele schließlich.

»Wenn es stimmt, was sie gesagt hat«, sagte Sara. »Vielleicht hat sie das alles ja auch nur erzählt, um abzulenken. Und damit wir Mitleid mit ihr haben und nichts sagen.«

»Nein«, sagte Nele. Sie zweifelte keinen Moment daran, dass Vanessa die Wahrheit gesagt hatte, ihr Ausbruch und ihre Verzweiflung waren absolut echt gewesen. »Ich glaube ihr.«

»Und wie bringt uns das jetzt weiter?«, fragte Adi. »Was machen wir denn nun mit Timmi?«

»Ich bringe ihn morgen früh zur Schule und hole ihn auch wieder ab«, sagte Nele. »Und dann warten wir mal ab, was Vanessa morgen sagt.«

»Und erzählen wir nun die ganze Geschichte irgendwem oder nicht?«, fragte Adi weiter.

»Nö«, meinte Sara. »Wem denn?«

»Doch«, sagte Nele. »Ich erzähle sie meinen Eltern. Ich halte das sonst gar nicht aus. Es geht doch um Timmi.«

»Ich möchte es meinen Großeltern auch gern erzählen«, sagte Adi.

»Na ja«, meinte Sara. »Wenn ihr unbedingt wollt ... Aber in der Schule reden wir nicht darüber, okay? Das wäre nicht fair.«

Damit waren Nele und Adi sofort einverstanden.

»Was ist? Wollen wir noch schwimmen gehen?«, fragte Leon. »Es ist doch noch gar nicht so spät.«

»Aber ich muss noch Schularbeiten machen«, wandte Nele ein.

Auch die anderen hatten keine rechte Lust. Die Begegnung mit Vanessa saß ihnen allen mehr in den Knochen, als sie zugeben wollten.