»Es braucht Zeit, Susan«, hatte Michael ihr erklärt. »Bald wird das Mädchen, das du einmal warst, in der Erinnerung verblassen. Du wirst komplett und vollständig in deiner neuen Identität leben.«
Er hatte gut reden – Michael war schon seit fünf Jahren Scythe. Sie fragte sich, wie lange er gebraucht hatte, um in sich selbst »zu leben«. Er war so durch und durch Faraday, dass sie sich ihn nicht als jemand anderen vorstellen konnte.
Ich bin Marie. Ich bin nicht Susan , erinnerte sie sich immer wieder. Denn sie musste die Scythe Marie Curie nicht nur darstellen, sondern anfangen, sich selbst so zu sehen. Sie musste es real spüren. Die öffentliche Person war eine Sache, aber diese Person in die eigenen Gedanken zu integrieren war eine ganz andere. Es fühlte sich an, als würde man in einer fremden Sprache denken.
»Irgendwann ist es keine Rolle mehr, die du spielst, sondern die Person, die du bist«, hatte Faraday ihr versichert. »Und ich habe so ein Gefühl, dass du, wenn es so weit ist, formidabel sein wirst!«
Im Moment fühlte sie sich allerdings kein bisschen formidabel. In den ersten Monaten waren ihre Nachlesen eher unauffällig gewesen. Zweckmäßig. Nützlich. Sie erledigte ihren Job, suchte jedoch noch nach einem Stil, der sie definieren würde. Ohne fühlte sie sich nachlässig. Ziellos.
In dieser Geistesverfassung kam Susan – nein, Marie – zum Herbstkonklave im Jahr des Marlins, ihrem ersten Konklave als offiziell berufene Scythe. Sie hatte naiverweise angenommen, die große Versammlung der Scythe würde leichter durchzustehen sein, wenn sie kein Lehrling mehr war, aber weit gefehlt …
Während die meisten Scythe in führerlosen Fahrzeugen, Publicars oder – die pompöseren Vertreter der Zunft – in Scythe-Limousinen eintrafen, fuhr Marie in einem Porsche aus der Sterblichkeitsära vor, den ihr der Sohn eines Mannes geschenkt hatte, den sie nachgelesen hatte. Anstatt den Wagen beim Aussteigen einem Mitglied der Bladeguard zu überlassen, wandte sie sich an die versammelte Menge.
»Kann irgendjemand einen nicht autonomen unregistrierten Schaltwagen fahren?«
Ein paar Hände reckten sich in die Höhe. Sie entschied sich für einen jungen Mann in ihrem Alter. Um die neunzehn. Als ihm klar wurde, dass er ausgewählt worden war, trat er eifrig wie ein junges Hündchen vor.
»Vorsicht«, warnte sie ihn. »Der Wagen hat es in sich.«
»Ja, Euer Ehren. Danke, Euer Ehren. Ich werde vorsichtig sein, Euer Ehren.«
Sie gab ihm die Schlüssel und hielt ihm ihre andere Hand hin. Er kniete nieder, um ihren Ring zu küssen; der Anblick ließ ein kleines Mädchen im Publikum entzückt aufjuchzen.
»Geben Sie die Schlüssel bei einem Mitglied der Bladeguard ab, dann landen sie schon wieder bei mir«, wies sie ihn an.
Er verbeugte sich vor ihr. Er verbeugte sich wirklich. In alter Zeit war die Verbeugung ein Zeichen der Lehenstreue gewesen – man bot einer königlichen Hoheit seinen Kopf zur Enthauptung an. Manche Scythe genossen diese kriecherische Unterwürfigkeit, doch Marie fand sie lächerlich und peinlich. Sie fragte sich, ob es Scythe gab, die Menschen, die sich vor ihnen verbeugten, wirklich enthaupteten.
»Es ist das Privileg eines Scythe, wahllos Menschen willkürliche Aufgaben aufzutragen«, hatte Michael ihr erklärt. »Genauso wie es das Privileg eines Scythe ist, sie für diese Dienste zu belohnen.«
Sie hatte gelernt, dass es nicht darum ging, sich überlegen zu fühlen – es war nur ein Weg, die Erteilung von Immunität zu rechtfertigen. So hatte Michael sie gelehrt, etwas, das man auch als Anspruch betrachten könnte, in eine freundliche Geste zu verwandeln.
Der junge Mann fuhr mit ihrem Wagen davon, und Marie schloss sich dem prunkvollen Umzug an – denn genau das war es: ein absichtsvolles Spektakel von Scythe, die in ihren bunten Roben die Marmortreppe zum Kapitol von Fulcrum City hinaufstiegen. Die festliche Ankunft war ebenso wichtig wie alle Angelegenheiten, die in dem Gebäude verhandelt wurden, denn es erinnerte die Öffentlichkeit daran, wie Ehrfurcht gebietend das Scythetum war.
Hinter einem Kordon der Bladeguard drängten sich auf beiden Seiten der Treppe jedes Mal Horden von Menschen, die hofften, einen Blick auf ihre Lieblingsscythe zu erhaschen. Einige Scythe produzierten sich für ihr Publikum, andere wahrten Distanz. Aber egal ob sie lächelten, winkten oder abschreckend finstere Mienen zogen, der Eindruck, den sie hinterließen, war wesentlich für das öffentliche Bild des Scythetums.
Als Marie die Stufen hinaufstieg, reagierte sie nicht auf die Menge. Sie wollte diesen Teil der Veranstaltung nur möglichst schnell hinter sich bringen und in das Gebäude gelangen. Und obwohl sie den Weg die Treppe hinauf zusammen mit anderen Scythe zurücklegte, fühlte sie sich mit einem Mal sehr allein. Sie hatte nicht geahnt, wie sehr ihr diese gefühlte Isolation zusetzen würde. Bei ihren vorherigen Konklaven war sie als Lehrling immer in Begleitung von Faraday gekommen. Aber heute zeigte sich kein einziger Scythe in ihrer Nähe gesellig oder umgänglich.
Beim Frühlingskonklave vor vier Monaten hatten fünf Lehrlinge die Abschlussprüfung absolviert. Marie war die Einzige, die bestanden hatte, die Einzige, die zur Scythe berufen worden war. Deshalb blieb ihr nicht einmal die Kameraderie mit anderen Debütanten. Und natürlich konnte sie sich nicht mit den Nachwuchslehrlingen zusammensetzen, weil das unter ihrer Würde als Scythe war und ein schlechtes Licht auf sie werfen würde.
Die übrigen Scythe waren entweder zu beschäftigt damit, die Verehrung der Menge entgegenzunehmen, oder zu ichbezogen, um Maries Einsamkeit zu bemerken. Oder sie bemerkten sie doch und ergötzten sich daran. Nicht weil sie Marie persönlich nicht mochten, sie mochten bloß das Prinzip nicht, das sie verkörperte. Sie waren empört, dass ein so junger Scythe wie Faraday nur wenige Jahre nach seiner Berufung überhaupt einen Lehrling angenommen hatte. Und den Großteil ihrer Missbilligung bekam Marie ab.
Viele Scythe zelebrierten diese Missbilligung regelrecht. Sie behandelten Marie mit Verachtung und musterten sie mit geringschätzigen Seitenblicken, die erkennen ließen, dass ihnen die Farbe von Maries leuchtend violetter Robe missfiel. Für eine so knallige Farbe hatte Marie sich nur aus Trotz gegen ihre Tonisten-Eltern entschieden, die alle Farben außer gedeckten Erdtönen verabscheuten. Aber nun bereute sie ihre Wahl, weil sie unerwünschte Aufmerksamkeit auf ihre Person lenkte.
Sie hatte sogar mit dem Gedanken gespielt, auch ihr Haar in demselben Ton zu färben – doch ihr Friseur hatte das Gesicht verzogen und erklärt, dass ihr wunderschöner geflochtener Zopf vor dem Hintergrund des Stoffes verblassen würde. »Silber!«, hatte er vorgeschlagen. »Oh, das wäre wirklich markant.«
Marie hatte seinen Rat angenommen. Ihr silberner, geflochtener Zopf fiel bis zur Taille auf den Rücken ihrer Robe. Sie hatte gedacht, diese Aufmachung würde ihr helfen, sich neu zu definieren und sich von einem Schützling Faradays zu einer eigenständigen Scythe zu emanzipieren, doch nun erkannte sie, dass der Plan nach hinten losgegangen war. Sie hörte Feixen und Kichern und wurde rot – was sie noch verlegener machte, weil sie den anderen damit zeigte, dass sie ihr zugesetzt hatten.
In dem Vorraum, wo für die Blicke und den Appetit aller Anwesenden das traditionelle üppige Frühstücksbuffet aufgebaut war, sprach sie endlich jemand an. Scythe Vonnegut kam auf sie zu, in seiner säuregebleichten Jeansrobe, die aussah wie die Mondoberfläche und an eine Zeit erinnerte, an die sich niemand recht erinnern konnte.
»Nun, wenn das nicht unsere ›Kleine Miss Tunichtgut‹ ist«, begrüßte er sie grinsend. Er hatte die Art Lächeln, bei dem sie sich immer unsicher war, ob es falsch oder aufrichtig war. Was den Spitznamen betraf, hatte Marie keine Ahnung, wer ihn geprägt hatte, doch er hatte sich durchgesetzt und noch vor ihrer Berufung im midMerikanischen Scythetum verbreitet. Die kleine Miss Tunichtgut. Es war bloß eine weitere Unfreundlichkeit, schließlich war sie weder klein noch besonders mutwillig. Sie war eine hochgewachsene junge Frau, schlank und schlaksig und kein bisschen schelmisch oder übermütig, eher mürrisch und immer viel zu ernst, um irgendwelchen Unfug auszuhecken.
»Es wäre mir lieber, wenn Sie mich nicht so nennen würden, Scythe Vonnegut.«
Er lächelte wieder zweideutig. »Es ist nur ein Kosename«, sagte er und wechselte das Thema. »Wirklich toll, was Sie mit Ihrem Haar gemacht haben!«
Wieder wusste Marie nicht, ob er sie verspottete oder ob er es ernst meinte. Sie würde lernen müssen, diese Leute besser zu durchschauen, auch wenn Scythe überaus versiert darin waren, unergründlich zu bleiben.
Sie entdeckte Faraday auf der anderen Seite des Raumes. Er hatte sie noch nicht gesehen. Oder vielleicht tat er nur so. Nun, was kümmerte es sie? Sie war jetzt selbst eine Scythe und keine unterwürfige Schülerin mehr – Herzensangelegenheiten hatten in ihrem Leben keinen Platz.
»Sie müssen lernen, weniger offensichtlich zu sein«, flüsterte Scythe Vonnegut ihr zu. »Man könnte Ihre Schwärmerei genauso gut an die Wände projizieren.«
»Was spielt das für eine Rolle? Scythe Faraday hegt keine Gefühle für mich.«
Wieder dieses Grinsen. »Wenn Sie das sagen.«
Ein Gong kündigte an, dass sie noch eine Viertelstunde Zeit hatten, sich den Bauch vollzuschlagen.
»Ich wünsche Ihnen ein gutes Konklave«, sagte Vonnegut und wandte sich zum Gehen. »Und essen Sie, bevor die Vielfraße nur noch Ruinen des Buffets übrig gelassen haben.«
Erst kurz bevor sie in den Plenarsaal gebeten wurden, sprach Michael sie in dem Vorraum an, doch ihre Unterhaltung war gestelzt. Beide waren sich allzu bewusst, dass man sie beobachtete, beurteilte und über sie tuschelte.
»Du siehst gut aus, Marie«, sagte er. »Ich gehe davon aus, dass du eine gute erste Saison hattest.«
»Ich habe meine Quote erfüllt.«
»Daran habe ich nicht gezweifelt.«
Sie dachte, er würde vielleicht für ein paar persönliche Worte nähertreten, doch stattdessen wandte er sich ab. »Schön, dich zu sehen, Marie.«
Sie fragte sich, ob er spüren konnte, wie ihr Mut sank.
Das Ritual des Konklavevormittags war öde bis quälend. Das Läuten der Namen. Zehn für jeden Scythe, ausgewählt aus den Dutzenden, die sie nachgelesen hatten. Maries Favoriten waren Taylor Vega gewesen, der ihr mit seinen letzten Atemzügen dafür gedankt hatte, dass sie ihn nicht vor den Augen seiner Familie nachgelesen hatte, und Toosdai Riggle, weil sie den Klang seines Namens mochte.
Schließlich widmete sich die Versammlung den anstehenden Themen. Die aktuelle, chaotische Debatte drehte sich um die Frage, was man wegen der Unruhestifter in der alten Hauptstadt unternehmen sollte. Aber eigentlich war es weniger eine Debatte als vielmehr eine Gelegenheit, sich zu beklagen.
»Die Windbeutel aus Washington rühren weiter in einem zunehmend ranzigen Gebräu«, sagte Scythe Douglass.
»Ja, aber das ist nicht unser Problem«, bemerkte High Blade Ginsburg. »Die alte Hauptstadt ist in EastMerica. Sollen die sich darum kümmern.« Als High Blade erinnerte sie die midMerikanischen Scythe beständig daran, sich aus Angelegenheiten herauszuhalten, die sie nichts angingen – aber dieses Mal irrte sie. Es war mehr als ein rein ostMerikanisches Problem.
Marie schnaubte, als die High Blade das Thema abtat. Eigentlich hatte es niemand hören sollen, aber irgendjemand neben ihr – sie glaubte, dass es Scythe Streisand war – stieß sie an.
»Wenn Sie eine Meinung haben, äußern Sie sie«, sagte sie. »Sie sind jetzt eine Scythe. Es wird Zeit, dass Sie lernen, rechthaberisch und von sich selbst überzeugt zu sein.«
»Niemand will hören, was ich zu sagen habe.«
»Ha! Niemand will hören, was irgendjemand zu sagen hat, aber man sagt es trotzdem. So läuft das hier.«
Also erhob sich Marie und wartete, bis High Blade Ginsburg sie bemerkte und einen Moment lang betrachtete, bevor sie sprach.
»Möchte unser neuestes Mitglied eine Meinung zu dem Thema äußern?«
»Ja, Eure Exzellenz«, sagte Marie. »Meinem Eindruck nach ist die alte Regierung aus der Zeit vor dem Thunderhead auch das Problem von MidMerica – weil sie nach wie vor die Herrschaft nicht nur über EastMerica, sondern auch über MidMerica und Texas beansprucht.«
Ohne darauf zu warten, das Wort erteilt zu bekommen, rief ein anderer Scythe: »Die läppischen Ansprüche der Washingtoner sind in der Realität bedeutungslos! Ein Ärgernis, mehr nicht.«
»Aber solange sie Ärger machen«, entgegnete Marie, »schwächen sie alles, wofür wir stehen.«
»Sie wettern gegen den Thunderhead«, sagte der Scythe, der unaufgefordert gesprochen hatte, »soll der Thunderhead das regeln.«
»Das ist kurzsichtig!«, wagte Marie zu widersprechen. »Wir können nicht leugnen, dass das Scythetum und der Thunderhead zwei Seiten einer Medaille sind. Wenn eins bedroht wird, ist auch der andere angegriffen.«
Darauf reagierte das übrige Konklave mit einem leisen Grummeln. Marie wusste nicht, ob das gut oder schlecht war.
»Sollen die Politiker der alten Welt ihren bitteren Zorn verbreiten«, rief ein anderer. »Wenn der Thunderhead es zulässt, sollten wir es auch tun.«
»Der Thunderhead ist verpflichtet, ihre Freiheit zu akzeptieren – einschließlich ihrer Freiheit, die Ordnung zu stören«, erwiderte Marie. »Aber wir haben diese Verpflichtung nicht. Das heißt, dass wir in der Sache tatsächlich handeln können.«
High Blade Ginsburg verschränkte die Arme. »Und was schlägt die Ehrenwerte Scythe Curie vor, was wir tun sollten?«
Alle Blicke richteten sich auf sie. Marie wurde unvermittelt von großer Verlegenheit erfasst wie von einem rauen Herbstwind.
»Wir … wir können machen, was der Thunderhead nicht machen kann. Wir lösen das Problem …«
Schweigen. Dann rief von der anderen Seite des Raumes ein anderer Scythe mit volltönender Stimme. »Könnte es sein, dass die ›Kleine Miss Tunichtgut‹ ihrem Namen endlich alle Ehre macht?«
Das löste ein herzliches Gelächter in der Versammlung aus, das in der gesamten Kammer widerhallte. Marie versuchte, es mit Würde zu ertragen, doch sie spürte, wie ihr Mut und ihre Entschlossenheit bröckelten.
Nachdem die Heiterkeit sich gelegt hatte, wandte High Blade Ginsburg sich immer noch glucksend in ihrem gönnerhaftesten Ton an Marie: »Mein liebes Nachwuchsflorett, die Stabilität des Scythetums gründet sich auf Beständigkeit und ruhige Erwägung. Sie wären gut beraten, nicht so … rückwärtsgewandt zu sein, Scythe Curie.«
»Hört, hört!«, pflichtete jemand bei.
Und das war’s. Die High Blade rief einen anderen Tagesordnungspunkt auf, und die Debatte wandte sich der Frage zu, ob es Scythe verboten werden sollte, denselben Nachnamen wie ein anderer lebender Scythe anzunehmen, weil es aktuell permanente Verwechslungen zwischen den Scythe Armstrong, Armstrong und Armstrong gab.
Marie stieß zwischen zusammengebissenen Zähnen ihren Atem aus, und es klang wie ein Zischen. »Na, das war sinnlos.«
»Stimmt«, bestätigte Scythe Streisand, »aber es war unterhaltsam.«
Das verärgerte Marie nur noch mehr. »Ich bin nicht zur Unterhaltung von irgendjemandem hier.«
Scythe Streisand bedachte sie mit einem abschätzigen Blick. »Ehrlich, Kindchen, wenn Sie nicht mit einer kleinen Klatsche klarkommen, haben Sie hier als Scythe nichts zu suchen.«
Darauf biss Marie sich auf die Lippe und schluckte alle Erwiderungen hinunter. Sie schaute zu Faraday auf der anderen Seite der Kammer. Er würdigte sie keines Blickes. War ihm ihr Auftritt peinlich? War er zufrieden, dass sie eine Meinung geäußert hatte? Sie konnte es unmöglich sagen. Er hatte jedenfalls keinen Finger gerührt, um sie zu unterstützen. Aber war das so überraschend? So ungern Marie es zugab, es war richtig, dass Michael sich von ihr distanzierte – nicht nur wegen der Gerüchte und des Klatsches, sondern auch weil Marie sich ohne ihn beweisen musste. Aber wie konnte sie bei dieser Meute je etwas leisten, worauf die anderen nicht mit Feixen, Kichern oder verschränkten Armen reagieren würden?
»Scythe sind Figuren der Aktion«, hatte Farady ihr während der Lehre erklärt und mit einem spitzbübischen Grinsen hinzugefügt: »nicht nur weil man Actionfiguren von uns macht.«
Er hatte recht. Ein Scythe musste entschlossen und ohne Zögern handeln – selbst wenn es schwierig war. Wenn Marie sich beweisen wollte, musste sie etwas so Atemberaubendes tun, dass dem Scythetum keine Luft mehr zum Lachen übrigblieb.
Marie lebte allein. Wie die meisten Scythe. Es gab kein Gebot, dass die Einsamkeit vorschrieb. »Du sollst haben weder Ehepartner noch Nachwuchs« bedeutete nicht, dass man keinen Geliebten oder Gefährten haben durfte. Aber Marie hatte schnell herausgefunden, was die meisten Scythe bereits wussten: Jeder, der sich für das Zusammenleben mit einem oder einer Scythe entschied, war kein Gefährte, mit dem man sein Zuhause teilen wollte.
Einige junge Scythe kehrten in ihr Elternhaus zurück, doch das hielt nie lange. Marie könnte niemals wieder zu ihren Eltern ziehen, selbst wenn diese nicht Mitglieder dieses absurden Tonisten-Kults wären. Sie konnte sich nicht vorstellen, nach einer Nachlese nach Hause zu kommen und ihnen gegenüberzutreten. Nachlesen waren zwar ein lebenswichtiger, beinahe heiliger Dienst an der Menschheit, aber Tod blieb Tod, und Blut blieb Blut.
Marie hatte ein recht großes Haus im Wald bezogen, mit hohen Decken und riesigen Fenstern mit Blick auf die Berge und einen murmelnden Bach. Sie hatte festgestellt, dass das Geräusch von fließendem Wasser sie beruhigte und innerlich reinigte. Sie hatte gehört, dass es irgendwo eine berühmte Residenz gab, durch die tatsächlich ein Fluss floss. Das war irgendwann eine Erkundung wert, doch für den Moment war sie zufrieden mit ihrem rustikalen Heim. Sie hatte es mit Mitteln des Scythetums gekauft, anstatt es dem Besitzer einfach wegzunehmen, wie es manche Scythe machten. Nach vier Monaten war das Haus nach wie vor kaum möbliert. Ein weiterer Aspekt der Tatsache, dass sie nicht in ihrer Identität »lebte«.
Am Tag nach ihrer Rückkehr von dem Konklave machte sie einen Spaziergang durch den Wald, weil sie hoffte, dass die klare erdige Luft das üble Gefühl vertreiben würde, das das Konklave bei ihr hinterlassen hatte. Aber dann traf sie auf ihrem Weg auf zwei Joggerinnen, die laut darüber tratschten, wer seinen Ehepartner in virtuellen Bordellen betrog, wer für ausgefallene Körperveränderungen nach Tasmanien geflogen war und wer sich ohne guten Grund resetten ließ. Es erinnerte Marie an die kleinlichen Intrigen auf dem Konklave.
Marie las beide Joggerinnen nach und bereute es augenblicklich. War es nicht ebenso kleinlich, sie wegen ihres Klatsches zum Tode zu verurteilen? Außerdem waren es keine sauberen Nachlesen. Hätte Marie ihre Arbeit korrekt erledigt, hätten die Herzen der beiden schnell aufhören sollen zu schlagen, und die Sauerei wäre minimal geblieben. Aber dieses Mal nicht. In ihrem Kopf hörte sie Michaels Stimme, der sie tadelte und ermahnte, die Kunst des Tötens zu trainieren.
Als Marie heimkehrte, strich ihre Katze Sierra um ihre Knöchel. Marie hatte eine teilzeitbeschäftigte Haushälterin – der einzige Luxus, den sie sich gönnte –, die beim Anblick von Maries blutbespritzter Robe erschrocken die Luft anhielt. Das tat sie jedes Mal und entschuldigte sich dann stets dafür, aber Marie war dankbar für ihre ehrliche Reaktion. Die Folgen einer Nachlese sollten schockierend sein. Wenn sie das irgendwann nicht mehr sein würden, wäre etwas verkehrt.
»Debora, könntest du diese Robe bitte in die Reinigung bringen?«, fragte Marie. »Sag ihnen, es ist nicht eilig, ich habe noch zwei andere.«
»Ja, Euer Ehren.«
Die Reinigung bewirkte bei den Roben immer wahre Wunder … obwohl Marie manchmal den Verdacht hatte, dass man ihr einfach neue gab.
Nachdem Debora gegangen war, ließ Marie sich ein Bad ein, um die Spuren des Tages abzuwaschen, und machte den Fehler, die Nachrichten einzuschalten, während sie sich in dem heißen Wasser durchweichen ließ.
Präsident Hinton von Alt-Amerika hatte einem Armeecorps von Ingenieuren, das aus irgendeinem seltsamen Grund noch existierte, den Befehl erteilt, die zerebralen Netzknoten des Thunderhead zu demontieren.
»Es ist unsere moralische Pflicht, diese große Nation aus dem Würgegriff der großen dunklen Wolke zu befreien«, sagte Hinton in seinem typisch salbadernden Tonfall – aber es waren nicht mehr als Worte in einem Whirlpool. Die öffentliche Meinung stand nicht auf Hintons Seite. Tatsächlich hatte nicht einmal jeder Zwanzigste überhaupt noch gewählt. So gut wie jeder wusste, dass das Konzept einer Regierung an sich obsolet war, nur eine verschwindende Minderheit teilte Hintons negative Ansichten über den Thunderhead. Aber Hinton und seine Spießgesellen hatten natürlich behauptet, dass die Umfragen des Thunderheads allesamt gefälscht waren. Hinton war so in seiner eigenen Blase giftiger Unwahrheiten gefangen, dass er sich eine Wesenheit, die unfähig war zu lügen, gar nicht vorstellen konnte.
Es war allseits bekannt, dass der Thunderhead Hinton das Gleiche angeboten hatte, was er Präsidenten seit Jahren schmackhaft zu machen versuchte: einen ehrenhaften Rücktritt, Exil an einem beliebigen Ort auf der Welt für ihn und sein Kabinett samt ihren Familien. Man würde ihnen eine neue Zukunft schenken, in der sie frei waren, jeder beliebigen Tätigkeit nachzugehen, solange es sich nicht um eine Position politischer Macht handelte. Hinton war bloß einer in einer Reihe von Präsidenten, die sich rundweg geweigert hatten.
»Ich mache Mr. Hinton keinen Vorwurf«, hatte der Thunderhead wie immer großmütig erklärt. »Niemand gibt freiwillig Macht ab. Widerstand ist eine natürliche und erwartbare Reaktion.«
Nach ihrem Bad saß Marie vor einem knisternden Feuer, nippte an einem Kakao und versuchte, in diesen einfachen Freuden Trost zu finden, doch ihr Unbehagen blieb. Als würde Sierra es spüren, sprang sie so behutsam auf Maries Schoß, dass der Kakao sich nicht einmal kräuselte. Dies war das dritte Leben der Katze. Marie hatte beschlossen, ihr neun Leben zu gönnen. Es fühlte sich poetisch an. Es fühlte sich gerecht an. Aber nicht immer war Gerechtigkeit so gefällig …
Seit dem Konklave hielt sich hartnäckig ein Gedanke in Maries Hinterkopf. Ein erschreckender, vielleicht sogar gefährlicher Gedanke. Sie hatte ihn nicht an die Oberfläche steigen lassen, hatte versucht, ihn zu unterdrücken, hatte sich mit hundert anderen Dingen beschäftigt. Aber während sie jetzt Sierra kraulte, wusste sie, dass dieser Augenblick sanften schnurrenden Wohlbehagens nicht von Dauer sein würde.
Sie wusste, dass es nur eine Frage der Zeit war, bis sie eine Reise nach Washington unternehmen würde.
Der beunruhigende Zustand des District of Columbia machte deutlich, dass der Thunderhead bei all seiner Vollkommenheit einen passiv-aggressiven Zug hatte. Der als Washington Mall bekannte ausgedehnte Grüngürtel war weitgehend von der Natur zurückerobert worden. Eigenartig, weil der Thunderhead sonst akribisch für die Pflege von Parks und Gärten sorgte – doch die Grünanlagen von Washington wurden komplett ignoriert. Und nicht nur das, der Thunderhead hatte auch beschlossen, keinerlei Anstrengungen für den Erhalt der Infrastruktur der Region zu unternehmen. Er hatte aufgehört, sich um die Reparatur von Straßen und Brücken zu kümmern, und schon vor langer Zeit alle Museen der Smithonian Institution umgesiedelt, so dass nur die leeren Hüllen der alten Gebäude übrig geblieben waren.
Irgendwann hatte der Thunderhead zudem die komplette Beschilderung der Stadt ausgetauscht, die jetzt offiziell als »Washington Ruins« bekannt war.
Und als ob all das noch nicht reichte, hatte der Thunderhead Clubs und Orte für Widerlinge geschaffen, so dass mit der Zeit fast alle Bewohner ohne Widerling-Status fortgezogen waren.
All das folgte einem Plan – der ehrwürdige Ort sollte nicht diskreditiert, sondern in der Vergangenheit versiegelt werden, genau wie die Ruinen uralter Weltreiche. Washington sollte nach wie vor respektiert werden, aber nur auf die Art, wie man die verfallenden Zeugnisse der Antike bewundert.
Trotzdem hielten sich Reste der alten amerikanischen Regierung. Politiker, die sich als letzte Bastion einer besseren Zeit verstanden. Besser für sie vielleicht, aber genau wie alle anderen Regierungen vor der Herrschaft des Thunderhead keineswegs besser für alle anderen. Diese Politiker hatte keine reale Macht mehr – sie konnten nur poltern und versuchen, eine lose Naht im silbernen Gewebe des Thunderhead zu finden.
Ungeachtet all ihrer verbalen Attacken setzte der Thunderhead seine Kampagne wohlwollender Vernachlässigung fort und behandelte die Politiker innerhalb der maroden Stadtumgehung wie ein Vermieter der Sterblichkeitsära vielleicht einen Mietnomaden behandelt hätte. Er vertrieb sie nicht, sondern machte das Bleiben nur zunehmend beschwerlich.
Die meisten verstanden den Wink und machten sich auf zu angenehmeren Ufern. Der Kongress hatte sich aufgelöst, als der Thunderhead die Vereinigten Staaten von Amerika in die verschiedenen merikanischen Regionen aufgeteilt hatte. Die Justiz existierte nur noch, um sein unfehlbares Urteil abzunicken. Mit dem Verschwinden der Idee von »Nationen« war auch die Landesverteidigung überflüssig geworden – die letztendlich ein Hauptzweck dieser Nationen gewesen war.
Nun war nur noch die Exekutive übrig, der Präsident und sein Kabinett, die sich an ihre Posten klammerten wie störrisches Herbstlaub, das sich weigert zu fallen …
Marie traf an einem kühlen Novembertag zwei Monate nach dem Herbstkonklave ein. Sie hatte niemandem erzählt, was sie vorhatte. Dann konnte auch niemand über sie spotten, wenn es nicht gut lief.
Weil die Straßen nicht mehr instand gehalten wurden, war ihr in einem üblen Schlagloch in der Constitution Avenue ein Reifen geplatzt, so dass sie die letzte Meile zu Fuß zurücklegen musste.
Widerlinge lungerten in Gruppen herum, wie Widerlinge es zu tun pflegen, soffen sich blöde und zerstörten, was zu zerstören übrig geblieben war. Komisch, dass sie nie kapierten, dass sie dabei eigentlich dem Plan des Thunderhead Folge leisteten. Sie bauten die alte Stadt ab wie Bakterien die Überreste einer Leiche.
»Hey, Süße«, neckte einer von ihnen sie. »Ich hab deine Immunität gleich hier.« Als wäre es ein Zeichen von Mut, eine Scythe zu verspotten, und nicht hemmungslose Dummheit.
Marie ignorierte ihn sowie die Pfiffe und zotigen Bemerkungen, die aus dem Schatten entlang des Weges an ihr Ohr drangen. Es lohnte die Energie nicht, sich davon verstimmen zu lassen. Widerlinge machten, was sie so machten, nämlich eigentlich gar nichts, weil der Thunderhead ihnen nichts erlaubte, was wirklich widerlich war.
Das Weiße Haus samt umliegendem Grundstück war das einzige gut erhaltene Gebäude in der Umgebung, eine Oase hinter einem hohen Zaun, der rund um die Uhr bewacht wurde. Aber das war natürlich nur Theater.
Am Haupttor standen zwei Wachen in Tarnkleidung mit einschüchternden automatischen Waffen. Marie musste ein Lachen unterdrücken. Tarnkleidung? Im Ernst? Sie hätten eine mittelalterliche Rüstung tragen sollen, das wäre hübscher gewesen.
»Lassen Sie mich durch«, befahl sie.
Die beiden fassten ihre Waffen fester. »Das können wir nicht machen, Ma’am«, sagte einer von ihnen.
»Sie werden mich mit ›Euer Ehren‹ ansprechen und Sie werden zur Seite treten.«
Ihre Blicke wurden hart, und sie rührten sich nicht, doch Marie erkannte, dass sie Angst hatten.
»Was wollen Sie machen, mich erschießen?«, fragte sie. »Ihre Waffen sind nicht mal geladen.«
»Das wissen Sie nicht.«
»Natürlich weiß ich das. Der Thunderhead erlaubt es nicht, dass irgendjemand eine geladene Waffe besitzt. Mit Ausnahme von Scythe. Sie haben Glück, dass der Thunderhead Sie überhaupt mit diesen Spielzeugen herumhantieren lässt.«
»Euer Ehren«, sagte die andere Wache mit einem Hauch von Verzweiflung in der Stimme, »wir machen bloß unseren Job.«
Nein, sie vergeudeten bloß ihre Zeit. »Ich möchte eine Unterhaltung mit Ihrem Boss führen«, erklärte Marie. »Wenn ich Sie dafür nachlesen muss, werde ich das tun. Also, was machen wir nun?«
Sie wartete. Die beiden blieben stur auf der Stelle stehen. Marie griff unter ihren Umhang, um einen Dolch zu ziehen –
Sofort senkte der Wachmann zur Linken die Waffe und trat zur Seite. Sein Kollege folgte seinem Beispiel umgehend.
»Weise Entscheidung«, sagte Marie, schritt durch das Tor und über die Rasenfläche auf der Südseite des Gebäudes, ohne sich noch einmal umzudrehen, um zu sehen, ob die Wachen ihre Waffen weggeworfen hatten und gegangen waren oder ob sie auf ihrem sinnlosen Posten verharrten.
Die Wachen am Vordereingang mussten irgendwie erfahren haben, dass eine Scythe auf dem Gelände war, denn die Tür war unbesetzt. Entweder sie hatten den Befehl zum Rückzug erhalten oder waren desertiert.
Im Innern des Gebäudes sah es genauso aus, wie Marie es sich vorgestellt hatte. Der beige-weiß geflieste Fußboden, die mit rotem Teppich ausgelegten Treppen. Ein Ort, an dem die Zeit stehengeblieben war, so dass er sich seit der Sterblichkeitsära kein bisschen verändert hatte. Porträts lange verstorbener Präsidenten blickten wehmütig von den Wänden, zwischen erhebenden Kunstwerken, die die Vorzüge demokratischer Herrschaft durch das Volk für das Volk feierten. Ein wundervoller Traum, der manchmal sogar funktionierte, doch solange Menschen fehlbar waren, konnte diese Herrschaft nie vollkommen sein. Für Perfektion brauchte es den Thunderhead. Und Scythe.
Auf ihrem Weg begegnete Marie einigen weiteren Wachen, jedoch längst nicht so vielen, wie sie erwartet hatte. Alle legten ihr ihre ungeladenen Waffen zu Füßen. Nur als sie den West Wing betreten wollte, stieß sie auf Widerstand. Ein einzelner Soldat hielt seinen Posten am Fuß der Treppe.
»Bitte zwingen Sie mich nicht, ihn zu verraten, Euer Ehren«, sagte er.
Er schien sich innerlich dafür zu wappnen, nachgelesen zu werden, was Marie jedoch nicht tat. Darauf entspannte er sich minimal. Er ließ Marie nicht ausdrücklich passieren, er tat vielmehr so, als wäre die Scythe gar nicht da. Er hielt seine Stellung, aber nur so, wie ein Fels in einem Fluss die Stellung hält. Marie floss an ihm vorbei und die prachtvolle Treppe hiauf.
Der sogenannte Präsident war weder in seiner Residenz, dem Oval Office, noch an einem der anderen üblichen Orte in dem weitläufigen Gebäude. Dann spielen wir eben verstecken , dachte Marie.
Sie steckte ein Sicherheits-Pad ein, das ihr, so verlangte es das Gesetz, den Zugriff erlaubte, und verschaffte sich damit Zutritt zu einem von mehreren geheimen Fluren. Vielleicht waren diese Gänge der Öffentlichkeit unbekannt, doch es gab keine Information, die sich Scythe nicht beschaffen konnten, und Scythe Curie hatte ihre Hausaufgaben gründlich erledigt. Sie stieg mehrere Treppen hinunter bis zu einem Betonbunker unter dem altehrwürdigen Gebäude, der konstruiert war, Angriffen jeder Art standzuhalten.
Niemand hielt sie auf, als sie sich der Tür der hoch gesicherten Stahlkammer näherte. Das Sicherheits-Pad las ihre biometrischen Daten, das massive Verriegelungssystem löste sich, und die Tür ging schwerfällig auf.
Dahinter hatte sich eine Gruppe von Männern und Frauen in einer Art Kommandozentrale versammelt. An den Wänden hingen Karten und Bildschirme, dazwischen eine gerahmte Flagge aus der Zeit, als solche Banner noch als Unterscheidung zwischen verschiedenen Ländern und Regionen dienten.
Als die Anwesenden Scythe Curie in ihrer leuchtend violetten Robe mit einem Dolch in der Hand erblickten, hielten sie entsetzt die Luft an und begannen zu wimmern. Marie erkannte jedes Gesicht. Dies war das Kabinett des Präsidenten und darunter auch Präsident Hinton persönlich.
Einige wandten sich von Marie ab und ließen unterwürfig kapitulierend die Köpfe sinken, andere bedeckten die Augen in der Hoffnung, noch für ein paar kostbare Momente leugnen zu können, was diese Augen ihnen sagten. Nur der Präsident blickte sie mit loderndem Trotz direkt an.
»Ich bin Scythe Marie Curie«, sagte sie. »Ich bin sicher, Sie wissen, warum ich hier bin.«
»Sie sind kaum mehr als ein Kind«, höhnte Hinton. »Und Sie sind nicht einmal aus dieser Region.«
»Ich dachte, Sie erkennen die Regionen des Thunderhead nicht an«, entgegnete sie. »Aber das spielt auch keine Rolle. Scythe sind nicht an ihre Regionen gebunden. Wir können nachlesen, wo immer es uns beliebt.«
»Sie haben kein Recht, herzukommen und mich zu bedrohen.«
»Natürlich habe ich das, Mr. President«, antwortete sie. »Die Menschheit hat mir das Recht gegeben zu tun, was mir gefällt. Das ist das Gesetz, unter dem wir jetzt leben – oder hatten Sie das vergessen?«
»Sie werden jetzt sofort gehen!«, befahl Hinton. »Und ich werde dieses Eindringen vielleicht vergessen.«
Marie gluckste. »Wir wissen beide, dass es nur einen Weg gibt, wie ich diesen Ort verlassen werde«, erklärte sie ihm.
Der Außenminister beugte sich vor und flüsterte Hinton ins Ohr: »Scythe sind für ihre Verhandlungsbereitschaft bekannt. Ich könnte einen Deal aushandeln.«
»So eine Scythe bin ich nicht«, sagte Marie.
»Nein«, stimmte Hinton ihr mit triefender Abscheu zu. »Sie sind die schlimmste Sorte von Scythe. Jung, idealistisch und starrköpfig. Sie glauben, Ihre Sache ist so rein und glänzend wie Ihre Klinge.«
»Vielleicht bin ich all das«, räumte Marie ein, »aber ich bin auch unausweichlich.«
In diesem Moment versuchte einer der Minister, zur Tür zu stürzen. Und es begann.
Marie war flink mit dem Dolch. Ihre Meisterschaft war ein staunenswerter Anblick – und bald würde die Welt sie in der Tat zu sehen bekommen, weil in jeder Ecke des Raumes Kameras montiert waren. Das wusste Marie, doch sie bot keine Vorstellung. Sie erledigte einfach nur zweckmäßig und würdevoll ihre Pflicht. Einer nach dem anderen fiel, bis nur noch Hinton selbst übrig war. Er kauerte in einer Ecke, all seine Großspurigkeit war verflogen.
Marie wusste instinktiv, dass dies ein Wendepunkt war. Nicht nur für sie, sondern für die ganze Welt, die gesamte Menschheit. Spürte Hinton das auch? Zitterten seine Hände deswegen?
»Es gibt keinen Platz mehr für Sie«, erklärte sie ihm. »Die Zivilisation ist vorangeschritten.«
»Na gut, ich trete ab«, bettelte er. »Ich gehe ins Exil. Sie werden mich nie wiedersehen.«
Aber Marie schüttelte den Kopf. »Damit wäre der Thunderhead zufrieden gewesen. Und wenn Sie seinem Angebot vor dem heutigen Tag zugestimmt hätten, wäre ich nicht hier. Aber Sie wollten das Exil nicht annehmen. Und ich arbeite nicht für den Thunderhead!«
»Das werden Sie noch bereuen«, sagte Hinton. »Merken Sie sich meine Worte: Sie werden den Tag, an dem Sie diese Entscheidung getroffen haben, gewiss bitter bereuen. Und dann –«
Aber jeder Monolog, den er womöglich geplant hatte, wurde mit einem einzigen Hieb an der Wurzel gekappt.
Marie ging die Treppe hinauf, zurück in das eigentliche Weiße Haus, und versuchte zu begreifen, was sie getan hatte. Sie hatte den Weg für die ungestörte Herrschaft des Thunderhead frei gemacht. Außerdem hatte sie die Macht und Souveränität des Scythetums in einer Weise gefestigt wie kein Mensch vor ihr. Sie fragte sich, ob sie gegen das Zweite Scythe-Gebot verstoßen hatte. Würde man die Nachlese der letzten lästigen Gestalten sterblicher Herrschaft als Voreingenommenheit betrachten? Und wenn, was konnte das Scythetum ihr schlimmstenfalls antun? Sie zensieren? Ihr für ein oder zwei Jahre das Recht zur Nachlese aberkennen? Die Welt von der Vergangenheit zu befreien war gewiss jeden Preis wert.
In der Residenz des Präsidenten fand sie ein Badezimmer und ließ sich ein heißes Bad einlaufen. Das Ganze war eine schmutzige Angelegenheit gewesen – das Blut an ihren Händen konnte sie abwaschen, aber ihre von Spritzern bedeckte und getränkte Robe blieb ein furchterregender Anblick.
Deshalb wendete sie den dicken Stoff nach innen, um das Blut zu verbergen. Sie hatte vermutet, dass es merkwürdig aussehen würde, aber das Futter ihrer Robe war aus lavendelfarbener Seide, ein dezenter, gedämpfter Farbton, der ihr, wie sie feststellte, eigentlich viel besser gefiel als das grelle Violett.
Entscheidende Wendepunkte der Geschichte entwickeln ihre eigene Anziehungskraft, deshalb sah Marie sich, als sie ins Freie trat, einer kleinen, aber wachsenden Menschenmenge gegenüber. Das Tor war geöffnet, die Wachen waren verschwunden. Und fast jeder in der Menge hatte irgendein Gerät in der Hand, mit dem er diesen Moment als neuen Fixpunkt für die Nachwelt aufnahm, streamte und festhielt.
Marie wurde bewusst, dass sie sich keine Rede zurechtgelegt hatte, aber irgendwas musste sie sagen. Deshalb kamen die Worte, die sie sprach – Worte, die bald auf der ganzen Welt bekannt sein würden –, wirklich von Herzen.
»Was ich heute getan habe, ist meine Last und mein Geschenk«, erklärte sie der Menge. »Die Zukunft ist uneingeschränkt offen. Es könnte keinen helleren Tag geben. Lang leben wir alle!«
Vielleicht wäre der Thunderhead in der Lage gewesen vorauszusagen, was in der Folge geschah, Marie jedoch war es gewiss nicht. In den Wochen nach der Nachlese wurde ihre Tat überall auf der Welt kopiert. Monarchen, Diktatoren und Staatsoberhäupter von Nationen, die größtenteils nicht mehr existierten, wurden einer nach dem anderen nachgelesen, bis kein Einziger mehr übrig war. Nationen waren offiziell aufgelöst, die einzige Trennung war jetzt die nach Regionen. Alle waren gleich, niemand stand im Wettbewerb mit anderen. Kein »die« mehr, nur noch »wir«. Und bei jeder politischen Nachlese wurden dieselben Worte gesprochen.
»Die Zukunft ist uneingeschränkt offen. Lang leben wir alle!«
Der Thunderhead, der die Mechanismen von Leben und Tod grundsätzlich nicht kommentierte, hatte in typischer Untertreibung nur dies zu sagen: »Ich habe nicht darum gebeten, doch es wird meine Verwaltung des Planeten ein wenig leichter machen.«
Trotzdem konnte Marie die letzten Worte des Präsidenten nicht vergessen. Dass sie den Tag bereuen würde, an dem sie diese Entscheidung getroffen hatte. Sie fragte sich, wann der Moment kommen würde.
Bei Maries Ankunft zum Winterkonklave wartete derselbe junge Mann wie beim letzten Mal auf sie, um ihren Porsche zu parken. Offenbar hatte er entschieden, dass dies seine dauerhafte Berufung war. Als sie die Marmortreppe vor dem Kapitol von Fulcrum City erreichte, wandten sich alle Blicke in der Menge, die die Scythe-Prozession verfolgte, ihr zu, und die Menschen begannen zu flüstern. Das Getuschel erstarb jedoch schnell wieder. Andere Scythe bemerkten Marie, traten zur Seite und ließen ihr den Vortritt.
»Die neue Robe steht Ihnen, Scythe Curie«, sagte Scythe Vonnegut ohne Feixen und jeden Hauch von Ironie. Sie bedankte sich mit einem Nicken. Dann drehte sie sich zum ersten Mal auf den Stufen um, wandte sich der Menge zu beiden Seiten der Treppe zu und winkte den Menschen knapp zu, die sich offenbar bereitwillig von ihr verzücken ließen. Sie hatte gehört, dass man sie jetzt die »kleine Miss Mord« nannte, was sie sehr viel weniger ärgerte, als sie gedacht hätte. Es verlieh ihr eine Persönlichkeit, die sie motivierte, ihr zu entwachsen.
Es war seltsam, doch auch die anderen Scythe wirkten nicht mehr einschüchternd. Marie brannte darauf zu sehen, wie Michael sich ihr gegenüber verhalten würde. Vielleicht betrachtete er sie jetzt weniger als Schülerin und mehr als seinesgleichen. Ein Zusatzbonus ihrer berüchtigten Nachlese.
Als sie den äußeren Vorraum des Plenarsaals betrat, wo das üppige Konklavenfrühstück wartete, hörte sie, wie eine Scythe, die sie gar nicht kannte, zu einer anderen sagte:
»Ich habe keine Zweifel, dass sie eines Tages High Blade werden wird. Das Mädchen ist formidabel.«
Marie lächelte, denn endlich war auch ihre eigene Zukunft uneingeschränkt offen.