Die Nimbus-Agentin hatte einen weltüberdrüssigen Gesichtsausdruck, als hätte sie sich hundertmal die Kehle aufgeschlitzt, nur um wiederbelebt und für ihre Mühen nicht einmal mit einer Narbe belohnt wieder in ihr erbärmliches Büro gesteckt zu werden. Kila fragte sich, wie viele gemeine kleine Widerlinge wie sie selbst diese Frau täglich treffen musste.
Außerdem hatte die Agentin einen speziell grimmigen Blick, den sie offenbar im Laufe der Jahre gepflegt hatte. Ein Blick, der sagte: Ich kann den ganzen Tag hinter meinem Schreibtisch sitzen und dich stumm mustern, weil ich buchstäblich nichts Besseres zu tun habe. Er war nicht wirklich einschüchternd, aber deprimierend. Genau wie das Ticken der Uhr an der Wand. Uhren tickten eigentlich nicht mehr, aber diese war programmiert worden, die Stille absichtlich zu betonen.
Das strategische Starren der Frau funktionierte. Kila fühlte sich gedrängt, etwas zu sagen, und es ärgerte sie, dass sie so leicht manipulierbar war.
»Ich habe es nicht getan. Das war ich nicht.«
»Natürlich hast du es getan«, erwiderte die Agentin. »Natürlich warst du es.«
Kila unterdrückte den Impuls, ein Gesicht zu ziehen. Das wäre einfach zu unreif.
Laut dem Schild auf ihrem Schreibtisch hieß die Agentin Gooley. Das passte irgendwie. Kila hatte eine Freundin, die fest daran glaubte, dass alle Nimbus-Agenten Ghule waren, die gemeinsam in einer trüben Höhle unter den Büros der Interface-Behörde lebten und an den Zehen von der Decke hängend schliefen. Wenn Kila sich all diese Nimbos vorstellte, die wie Fledermäuse in einer unterirdischen Höhle verkehrt herum im Gestank ihres eigenen Guanos schlummerten, kriegte sie jedes Mal bessere Laune.
»Und wie du siehst, hast du mit deinem kleinen ›Streich‹ nichts erreicht«, sagte Agentin Gooley.
Kila zuckte die Schultern. »Er hat mir immerhin ein persönliches Treffen unter vier Augen mit Ihnen eingebracht, oder?«
Die Agentin starrte noch ein bisschen grimmiger. »In die Zuständigkeit der Helion-Verwaltung hochgestuft zu werden ist kein Grund, stolz zu sein.«
Jetzt war sie also offiziell ein Helion. Kila war ehrlich gesagt doch stolz. Sie hatte sich seit Monaten um diese Auszeichnung bemüht. Es gab vier Stufen des Widerling-Status. Gemeiner Widerling war bloß das Basislevel. Dann kamen Helion, Pandæmon und schließlich Apokalyt. Davon war Kila noch immer weit entfernt, doch es war unbedingt ein erstrebenswertes Ziel.
»Was um alles in der Welt hat dich veranlasst, eine Tasche voller unmarkierter schwarzer Mambas im Amt für Widerling-Angelegenheiten loszulassen?«, fragte Agentin Gooley.
Kila blieb gelassen. »Ich hatte die Nummer sechsundachtzig, und sie waren erst bei Nummer zwölf. Ich dachte, die Schlangen würden die Agenten motivieren, ein bisschen schneller zu arbeiten.«
»Sechs Menschen wurden totenähnlich gemacht, und wir finden immer noch Schlangen in den Lüftungsschächten.«
»Bloß sechs?«, fragte Kila. »Verdammt. Ich habe mit einem Freund gewettet, es würden acht werden.«
Auch wenn Agentin Gooley das wahrscheinlich nicht zu würdigen gewusst hätte, war die Besorgung dieser Schlangen tatsächlich eine ziemliche Meisterleistung gewesen. Der Thunderhead hatte die gesamte Tierwelt mit Naniten markiert, um sie zu überwachen und ihr Verhalten wenn nötig zu kontrollieren. Markierte Schlangen hätten nie irgendjemanden angegriffen; sie hätten sich fröhlich aufgereiht, um wieder eingefangen zu werden. Wahrscheinlich nach Größe geordnet. Um an so viele unmarkierte Giftschlangen zu kommen, musste man sie von dem Moment, in dem sie geschlüpft waren, unter dem Radar halten. Eine schwierige Aufgabe – aber Kila kannte einen Typen, der einen Typen kannte.
»Nun, anstatt für die Kosten von sechs Wiederbelebungen aufzukommen, haben deine Eltern die Verantwortung für dich an uns übertragen«, verkündete Agentin Gooley. »Bis zu deinem 18. Geburtstag stehst du ab sofort unter der Vormundschaft der Interface-Behörde. Ich bin jetzt im Prinzip dein vom Thunderhead ernanntes Elternteil.«
Kila hatte geahnt, dass es so kommen würde. Eigentlich war sie überrascht, dass ihre Eltern so lange dafür gebraucht hatten. Trotzdem tat es weh.
Vielleicht erkannte Agentin Gooley die Verletzung in Kilas Gesicht, denn sie faltete sanft die Hände auf dem Schreibtisch und gab sich mitfühlend. »Kila, wir verweigern dir nicht das Recht, ein Widerling zu sein – und es ist auch nicht meine Aufgabe, dich davon abzuhalten, dieses Recht wahrzunehmen … aber es ist meine Aufgabe, die Konsequenzen für Widerlingtum durchzusetzen.«
Kila atmete tief ein. »Gut. Und was sind die Konsequenzen, abgesehen davon, dass ich jetzt ein Mündel der Behörde bin?«
Agentin Gooley scrollte sich durch Kilas ziemlich umfangreiche Akte und warf eine Arbeitsanweisung an die große Leinwand des Raumes.
»Du wirst in den früheren District of Columbia verlegt, wo man dir einen Sozialdienstjob bei der Müllentsorgung anbietet.«
»Können das nicht Maschinen erledigen?«
»Maschinen können die meisten Dinge erledigen, aber das bedeutet nicht, dass sie das auch tun sollten. Manchmal ist der menschliche Faktor wichtiger als die Automatisierung. Das heißt, wichtiger für den Menschen.«
»Und wenn ich den Job verweigere?«
»Du kannst dich auch jederzeit für eine Transplantation entscheiden«, bot Gooley an. »Ich kann das beinahe unverzüglich arrangieren.«
Kila wusste, dass das immer eine Option für Widerlinge war. Sie musste zugeben, dass die Vorstellung, all ihre Erinnerungen auszulöschen und eine andere zu werden, an ihren schlimmsten Tagen durchaus verlockend war. Aber an ihren schlimmsten Tagen war das auch die Option, sich mit einem Löffel die Augen auszukratzen.
»Ich nehm den Job«, erklärte sie Agentin Gooley, die sich so selbstzufrieden zurücklehnte, dass Kila wünschte, eine entkommene Schlange würde ihren Weg durch den Luftschacht finden und sie augenblicklich angreifen.
Kila Whitlock war nicht das, was man einen natürlich Widerling nennen würde. Sie war nicht mit nonkonformistischen Neigungen geboren worden. Tatsächlich war sie bis vor einem halben Jahr eine Musterschülerin gewesen, Cheerleaderin mit Hoffnungen, eines Tages Captain der gesamten Truppe zu werden.
Dann wurde ihr Bruder nachgelesen.
Die Nachlese von Kohl Whitlock war eine Tragödie für ihre Familie und für die ganze Schule. Doch in ihrem Schmerz war Kila auch wütend auf ihre Klassenkameraden – nicht weil sie ebenfalls um Kohl trauerten, sondern wegen der Gründe für ihre Trauer. Kohl war der Starquarterback der Schule gewesen, ohne ihn hatte das Footballteam keine Chance, in dem Jahr noch ein Spiel zu gewinnen. Das bedeutete, sie trauerten nicht um Kohl, sie trauerten um sich selbst und ihren kostbaren Status in der Liga. Kila begann, sie insgeheim zu verachten.
»Warum musste es Kohl sein?«, wollte sie vom Thunderhead wissen. »Mein Bruder hatte es nicht verdient zu sterben.«
»Nur wenige Menschen haben es verdient nachgelesen zu werden, und trotzdem muss es sein« , erklärte der Thunderhead ihr. »Darüber hinaus kann ich zu Scythe-Angelegenheiten nichts sagen.«
Als sie weinte, gab der Thunderhead sich alle Mühe, sie zu trösten, weil Kilas Eltern zu beschäftigt mit ihrem eigenen Schmerz waren, um sich um den ihrer Tochter zu kümmern.
»Ich könnte deine Stimmungsnaniten rekalibrieren, um dein Leid zu lindern« , bot der Thunderhead an. »Aber es ist viel gesünder für dich, jetzt zu trauern.«
Sie hasste den Thunderhead. Beinahe so sehr wie den Jungen, der diesem Scythe geholfen hatte, ihren Bruder zu töten. Seither war Rowan Damish vom Rest der Schule gemieden worden, aber welche Rolle spielte das? Er war jetzt Lehrling eines Scythe und würde wahrscheinlich selbst Scythe werden – als Belohnung dafür, dass er geholfen hatte, das Leben ihres Bruders zu beenden. Nun, an ihm konnte sie ihre Wut nicht auslassen, aber an allen anderen.
Sie begann, Gefallen daran zu finden, andere Schüler auf der Treppe »versehentlich« ins Straucheln zu bringen oder ihre Telefone, Brieftaschen und andere Wertgegenstände zu stehlen und dann wegzuwerfen. Sie verbreitete mutwillig Unheil, während sie nach außen weiter das brave Mädchen spielte.
Aber der Thunderhead wusste es. Er sah alles, was sie tat. »Vielleicht könntest du ein nützlicheres Ventil für deine Frustration und deinen Groll finden« , schlug er vor, doch Kila weigerte sich, ihm zuzuhören. Stattdessen sah sie zu, wie sich ihre Widerling-Punkte ansammelten, bis sie genug angehäuft hatte, um den vollen Widerling-Status zu erlangen. Danach musste sie sich die Vorschläge des Thunderhead nicht mehr anhören, denn sobald sie ein Widerling war, konnte er nicht mehr mit ihr sprechen. Auf Nimmerwiedersehen.
Das hässliche rote W tauchte nicht nur in ihrer Ident auf – es war überall. Sie konnte in dem Café an der Ecke nicht mehr auf Kredit konsumieren, weil Widerlinge nirgendwo Kredit hatten. Sie durfte nicht mehr mit der Cheerleadertruppe trainieren, weil Widerlinge vom Schulsport ausgeschlossen waren. Alle ihre persönlichen Seiten in den sozialen Medien wurden mit dem großen fetten W markiert, das deutlich machte, dass die Welt ihr die Gunst entzogen hatte.
Es dauerte keinen Tag, bis es alle an ihrer Schule wussten. Sie dachte, dass sie sich verleumdet und erniedrigt fühlen würde, aber stattdessen fühlte sie sich bestätigt.
»Mach dir keine Sorgen«, sagte ihre Freundin Shayla. »Was immer dazu geführt hat, dass du Widerling geworden bist, ich bin sicher, es ist bloß vorübergehend. In ein paar Monaten wird dein Status wieder hochgestuft – du wirst schon sehen.«
Kila lächelte und erwiderte. »Danke, Shayla. Mit deinem ausgestopften BH machst du übrigens niemandem etwas vor, und Zack betrügt dich mit Regina Sisk.«
Zwei Wochen später brach Kila die Schule ab und schaute nie mehr zurück.
In ihrer neuen Widerling-Höhle hatte Kila ein eigenes Zimmer. Da sie das neueste Mitglied der Truppe war, hatte man ihr das kleinste und dunkelste Zimmer zugeteilt, das nicht einmal über den Luxus eines Fensters verfügte. Eigentlich handelte es sich bei der Unterkunft um eine normale Wohnung, die nur »Höhle« genannt wurde, um sie für Widerlinge attraktiver zu machen.
»Willkommen in unserer Höhle«, sagte ein bulliger Widerling mit schiefen Zähnen eher spöttisch als begeistert. »Ich würde ja sagen, freut mich, dich kennenzulernen, aber warum so tun als ob?«
»Achte gar nicht auf Sterox«, sagte eine Frau mit dem derbsten Tattoo auf der Wange, das Kila je gesehen hatte. »Er hasst alle. Es ist sein Ding.«
Sie stellte sich als SpiderMaw vor. »Aber du kannst mich einfach Maw nennen – das machen alle.« Dabei wirkte sie ehrlich gesagt nicht besonders mütterlich. Sie führte Kila durch die geräumige Wohnung, in der jeder der insgesamt fünf Bewohner ein eigenes Zimmer hatte. Neben Maw und Sterox gab es noch Thrash, der praktisch mit einer altmodischen VR -Gaming-Brille verwachsen war und nur grunzte, als Maw versuchte, sie einander vorzustellen. Und schließlich Slinko, der in seinem Zimmer Dart spielte, mit Bildern von hübschen, lächelnden, glücklichen Menschen, die in hübschen Häusern wohnten, als Zielscheiben.
»Wenn der Thunderhead mir bloß erlauben würde, Pfeile auf echte Menschen zu werfen, wäre mein Leben so viel lebenswerter«, sagte Slinko.
Offenbar hatte er sich Hoffnungen gemacht, Scythe zu werden, aber wie jeder wusste, wurden Menschen, die hofften, Scythe zu werden, nie ausgewählt. Außer ein Scythe der Neuen Ordnung nahm einen als Lehrling an – doch selbst die bevorzugten Musterschüler, weil sie es genossen, deren Willen zu brechen.
»Widerlinge dürfen nie jemanden wirklich töten«, knurrte Slinko. »Das Universum ist so ungerecht.«
»Und hast du einen Namen?«, fragte Sterox. »Oder nennen wir dich einfach Nutzlos?«
»So haben wir das Mädchen genannt, das vorher in deinem Zimmer gewohnt hat«, erklärte Maw. »Sie wollte kein Widerling mehr sein und ist so nervig superbrav geworden. Wir haben sie rausgeschmissen, sobald der Thunderhead ihren Status hochgestuft hat. Für Konformisten ist hier kein Platz.«
Die Truppe arbeitete gemeinsam in einem alten Lagerhaus am Ufer des Pontomac. Es war ein einziges Chaos – alles darin war bis zur Unkenntlichkeit zertrümmert und verbrannt worden. Verkohlte Ruinen, die niemandem etwas nützten.
»Unser Job ist es, den Laden auszuräumen«, erklärte Maw Kila.
»Das ist ja wohl nicht so schwer.«
»Nein … aber wir sind nur zu fünft, und als Werkzeug haben wir bloß Schaufeln.«
»Ja, wir sind schon seit Monaten zugange und haben noch nicht mal ein Drittel geschafft«, sagte Sterox. »Mein Nimbo sagt, dass wir noch mindestens sechs Monate an dem Job sitzen.«
Kila zuckte die Schultern. »Na und? Wir sind Helions, oder? Sie können von uns schließlich nicht erwarten, dass wir effizient arbeiten.«
»Na ja«, erwiderte Slinko grinsend, »die meisten von uns sind Helions.«
Wie sich herausstellte, war Maw vollwertige Apokalytin. Der absolute Bodensatz, soweit es den Rest der Welt betraf, aber ganz oben in der Nahrungskette der Widerlinge! Kila war noch nie einer Apokalytin begegnet und hatte erst recht noch nie mit einer zusammengelebt. Als sie an ihrem ersten Tag von der Arbeit nach Hause kamen, wühlte sie im Backbrain herum, um herauszufinden, was die berühmte SpiderMaw angestellt hatte, um die Auszeichnung Apokalyt zu verdienen – doch sie fand nur Gerüchte, die Leute in den sozialen Medien gepostet hatten. Einige behaupteten, sie sei eine Jägerin, die vorsätzlich eine komplette Gattung ausgelöscht hatte, so dass der Thunderhead die Spezies künstlich neu erschaffen musste. Andere sagten, sie habe ein Luxus-U-Boot geflutet und hundert Leute mit sich in die Tiefe gerissen, nur um zu erleben, wie es sich anfühlte zu ertrinken. Aber was immer sie verbrochen hatte, Maw behielt es für sich und schien die Spekulationen darüber zu genießen. Kila konnte nicht leugnen, dass sie mehr als nur ein bisschen neidisch war. Sicher, zu Hause hatten die Leute angefangen, sie zu fürchten, doch das war nicht dasselbe gewesen. Skepsis und Misstrauen waren etwas anderes als Ehrfurcht.
Kilas Vermutung, dass es niemanden kümmerte, wie effektiv Widerlinge ihrem Job nachgingen, war durchaus zutreffend gewesen. Das bestätigten auch ihre wöchentlichen Treffen mit Nimbus-Agentin Gooley. Solange Kila vier Stunden am Tag und fünf Tage die Woche zu ihrem Arbeitseinsatz erschien, hätte es Gooley nicht gleichgültiger sein können, wie viel tatsächlich geschafft wurde. Im Grunde war es eine Arbeitsbeschäftigungsmaßnahme, doch zumindest erwartete niemand, dass man sie umsonst machte. Sie wurde vielmehr gut bezahlt, was ärgerlich war, weil man den Thunderhead eigentlich hassen wollte.
»Halt dich bloß aus allem Ärger raus«, sagte Gooley und verbesserte sich sofort. »Oder halte den Ärger in akzeptablen Grenzen, sollte ich vielleicht besser sagen.«
Aber einem Widerling Grenzen zu setzen war lediglich eine Herausforderung für ihn, diese zu durchbrechen.
Nach der ersten Woche nahmen die Kollegen ihrer Truppe Kila mit auf die Straße der Widerlinge – ein von neonbeleuchteten Clubs und Bars gesäumter Straßenzug voller regelloser Rowdys, die sich amüsierten.
»Dies ist die Straße, die die Grande Dame of Death hinuntergegangen ist, bevor sie ihr schmutziges Geschäft erledigt hat«, erklärte Slinko Kila.
»Ja, aber da war sie noch nicht die Grande Dame of Death«, bemerkte Maw. »Man braucht Zeit, um sich einen solchen Titel verdienen. Und heute Abend wirst du vielleicht anfangen, dir einen Namen zu machen.«
Kila konnte es kaum fassen, wie viele Clubs es auf der Straße der Widerlinge gab. Darunter ein Restaurant, in dem man die Kellner schlecht behandeln konnte, ein Geschäft mit überteuerter Kleidung, das zum Ladendiebstahl einlud, und ein Fight Club, aus dem jede Nacht ein paar Leute ins nächste Revival-Zentrum geschickt wurden. Und es gab Partys! Alle möglichen Partys für alle möglichen Leute mit allen möglichen Vorlieben. Wenn irgendetwas gemein und grenzlegal war, gab es in der Straße der Widerlinge einen Ort dafür.
Kila war noch nie in einem Widerling-Club gewesen und ebenso skeptisch wie neugierig.
»Du musst nichts annehmen, bloß weil es angeboten wird«, riet Maw ihr. »Mach dein Ding, Kila.«
Aber im Glanz der blinkenden Neonlichter fühlte Kila sich untypisch ängstlich, was Maw offenbar bemerkte.
Sie blieb mit ihrer Truppe mitten auf der Straße stehen und wandte sich ihrer neuen Mitbewohnerin zu. »Finden wir heraus, worauf du stehst«, sagte sie. »Machst du gern was kaputt, tust du gern jemandem weh oder siehst du lieber zu?«
»Ähm … kaputt machen?«
»Okay – und magst du es, Menschen Leid zuzufügen , sie leiden zu sehen, oder ist es dir scheißegal, was andere Leute fühlen?«
»Scheißegal«, sagte Kila.
»Okay. Letzte Frage: Bist du lieber allein, mit jemand anderem zusammen oder in einer Gruppe Widerlinge?«
Darüber hatte Kila ehrlich gesagt noch nie nachgedacht. Bis jetzt war sie als Widerling immer mehr oder weniger allein gewesen. Das gefiel ihr – aber war es das, was sie mehr als alles andere wollte? Wollte sie ein einsamer Widerling inmitten von Konformen sein?
»In einer Gruppe«, antwortete sie. »Ich möchte Widerling in einer Gruppe sein.«
Maw grinste. »Dann weiß ich genau, wohin wir heute Abend gehen sollten!«
Maw führte sie zu einem Ort, der auf der Straße der Widerlinge völlig fehl am Platz wirkte. Keine flackernden grellen Lichter, keine davor herumlungernden Schlägertypen, die auf Ärger aus waren. Es war ein Steingebäude mit weißen Säulen, die einen Bogen stützten, in den das Wort »Museum« gemeißelt war, wobei die u wie v aussahen.
»Gute Idee«, sagte Sterox und ließ die Fingerknöchel knacken. »Ein bisschen Kultur kann ich gerade gut gebrauchen.«
Direkt hinter dem Eingang befand sich ein Vorraum, in dem sie von einer Frau begrüßt wurden, die für ein Widerling-Lokal viel zu anständig aussah. »Willkommen in der Galerie de Bäsch . Uns ist bewusst, dass Sie bei der Suche nach hochwertigen Freizeiterlebnissen eine große Auswahl haben, und wir können Ihnen nicht genug für die Gunst Ihres Besuches danken.«
Maw zahlte für alle, und die Frau führte sie in einen Raum, in dem diverse Gegenstände an der Wand hingen. Stahlrohre, Baseballschläger, schwere Hämmer, Schlegel und Golfschläger. Und das nicht zur Dekoration.
»Wähle klug«, riet Maw Kila. »Du bekommst nur eins.«
Kila entschied sich für einen Knüppel aus Aluminium, was offenbar Maws Billigung fand. »Damit kriegst du was für dein Geld!«
Dann führte die Frau sie durch einen Flur in einen leeren Raum. »Ich hoffe, Sie amüsieren sich. Und wenn, sagen Sie es bitte Ihren Freunden weiter!«
Sie schloss die Tür hinter ihnen. Ein paar Augenblicke lang war es still, dann öffnete sich die Wand vor ihnen zu einer riesigen Galerie mit mehreren Ebenen. Ausgestellt waren Bronze- und Marmorstatuen sowie Vitrinen mit Keramiken und zierlichem Kristall. Es war wunderschön.
Thrash stieß einen Kriegsruf aus und drosch mit seinem Golfschläger in eine Vitrine mit Glasfiguren, die mit einem einzigen Schlag zersplitterte. Es war wie der Startschuss zu einem Rennen – Sterox, Slinko und Maw stiegen mit ein und begannen, alles in Sichtweite zu zertrümmern.
Kila war perplex. Und aufgeregt. Noch nie hatte sie so viel umfassende mutwillige Zerstörung mit angesehen, und sie wusste nicht, was sie empfinden sollte.
Sterox stieg eine Treppe zur nächsten Ebene hinauf, sprang hoch und brach mit einem kräftigen Hieb seines Schlegels die Hand von Michelangelos David ab. Sie schlug auf dem Boden auf, Finger flogen in alle Richtungen, und Sterox johlte laut.
»Worauf wartest du?«, rief Maw, während sie Julius Caesars Nase abbrach. »Dafür sind wir hier!«
»Aber … sind die echt?«, fragte Kila.
»Ist mir doch egal!«, schrie Maw und stürzte den großen römischen Herrscher von seinem Podest, so dass er auf dem Boden zu Schutt zerbröselte.
Kila begann langsam. Mit ein paar Tontöpfen. Sie nahm einen und warf ihn auf den Boden. Dann noch einen. Schließlich holte sie mit ihrem Schläger aus und zertrümmerte ein ganzes Regal. Danach war es leicht. Vitrine für Vitrine. Tongeschirr ging scheppernd zu Bruch, bis Kila entdeckte, dass zerbrechendes feines Porzellan ein noch befriedigenderes Geräusch machte.
In diesem Moment öffnete sich eine Tür mit dem Schild MUSEUMSKONSERVATOR ; ein Mann mit einem bleistiftdünnen Schnurrbart kam mit entsetztem Gesichtsausdruck heraus.
»Was machen Sie da?«, klagte er laut. »Hören Sie sofort auf! Das sind unschätzbare Kunstwerke! Unschätzbar! «
Maw wandte sich an Sterox. »Möchtest du die Honneurs machen?«
»Mit Vergnügen«, sagte Sterox, ließ seinen Schlegel fallen und begann, auf den Mann einzuprügeln, bis dieser nur noch ein zitterndes, um Gnade winselndes Häufchen am Boden war. Wieder war Kila unschlüssig, wie sie das finden sollte.
»Sollten wir nicht besser aufhören?«, fragte sie Maw, doch Maw schüttelte den Kopf.
»Erst wenn es läutet!« Dann holte sie mit ihrem Eisenrohr aus, visierte eine Statue an, von der Kila wusste, dass sie Der Denker hieß, und enthauptete sie sauber mit einem Schlag. Der Kopf fiel zu Boden und blickte zu Kila auf, aus Augen, die ohne jeden Gedanken waren.
In diesem Moment entdeckte Kila das Fenster im hintersten Teil der Galerie, ein phantastisches Buntglasgemälde von einem Bergpanorama mit einem See, violetten Blumen und schlanken Bäumen. Aber man konnte es nur erreichen, wenn man alles zertrümmerte, was im Weg stand.
Den Knüppel mit beiden Händen gepackt begann Kila, um sich zu schlagen. Splitter und Scherben stoben in alle Richtungen und schnitten in ihre Haut, doch das war Kila egal. Schnell hatte sie ihren Rhythmus gefunden und jede Hemmung abgelegt. Jeder Schlag hatte etwas Kathartisches.
Das ist für den Scythe, der meinen Bruder nachgelesen hat.
Und das ist für den Jungen, der ihm geholfen hat!
Und das ist für meine Klassenkameraden, die so getan haben, als würde es ihnen wirklich nahegehen!
Und das ist für meine Eltern, die sich heimlich gewünscht haben, dass es mich getroffen hätte.
Schließlich hatte sie das Fenster erreicht. So farbenprächtig. So schön. So zerbrechlich. Sie zertrümmerte das Glas mit einem einzigen satten Schlag, und als die letzten Scherben zu Boden regneten, ertönte eine Glocke.
»Boah!«, sagte Thrash. »Ich habe noch nie gesehen, dass jemand es bis zum Fenster geschafft hat!« Es war wahrscheinlich der erste vollständige Satz, den Kila je aus seinem Mund gehört hatte.
»Anfängerglück«, brummte Sterox.
»Kila? Wohl eher Killa «, sagte Slinko. »Ich glaube, wir haben einen Namen für dich gefunden!«
»Killa …«, sagte Maw nachdenklich. »Das gefällt mir … aber noch nicht. Sie muss sich ihren Namen erst noch verdienen. Das macht man nicht an einem Abend.«
Maw und die anderen schlüpften durch eine Tür mit der Aufschrift NOTAUSGANG , doch Kila war noch nicht bereit zu gehen. Sie wollte sich in ihrer Zertrümmerungsorgie suhlen und ihr Werk bewundern. Aber als sie sich umsah, bemerkte sie den Konservator, der immer noch in einem Haufen pulverisiertem Marmor lag. Sie ging zu ihm und half ihm auf. Sie hatte keinen Dank erwartet, aber auf seine Reaktion war sie dann doch nicht gefasst.
Als der Mann sah, wer sie war, wich er zurück. »Was machst du noch hier?«, fauchte er sie an. »Deine Session ist vorbei. Los, raus mit dir.«
»Ich … ich wollte bloß … Alles okay?«
An seiner Nase klebte Blut, das er abwischte. »Natürlich. Oder spätestens in ein oder zwei Minuten. Jetzt musst du bitte gehen – wir haben nur zehn Minuten für den Wiederaufbau.«
Kila sah, dass die Schwellung von den Schlägen, die Sterox ihm verpasst hatte, bereits abklang. So schnell konnten nur hochaufgeladene Naniten wirken.
Wie Würmer aus dem Gebälk tauchte im selben Moment ein Trupp von mindestens einem Dutzend Arbeiter auf, die die Trümmer wegräumten. Andere rollten neue Vitrinen mit Porzellan, Glas und Keramik herein.
»Also … war es doch nicht echt.«
»Hat es sich echt angefühlt?«
»Ja … irgendwie schon.«
»Das ist das Einzige, worauf es ankommt, oder?«
Als der Konservator Kilas verwirrte Miene sah, beugte er sich ein wenig näher und sprach leiser weiter. »Hör mal, glaubst du wirklich, der Thunderhead würde zulassen, dass ihr kostbare Originale zerstört? Junge Dame, die Welt ist übervoll mit Künstlern, die nichts als Kopien alter Kunst herstellen. Damit muss man ja irgendwas machen. Ihr leistet ehrlich gesagt einen nützlichen Dienst.«
Kila sah, wie im vorderen Teil der Galerie ein brandneuer David hereingerollt wurde, um den zu ersetzen, den Sterox zertrümmert hatte.
»Und jetzt ab mit dir, damit wir wiederaufbauen können«, sagte der Konservator. »Und besuch uns gern wieder!«
Nach ihrer Heimkehr sah Maw noch einmal nach Kila.
»Ich bin froh, dass du bei uns bist«, sagte sie. »Du passt gut rein. Manchmal machen die Nimbos doch was richtig.«
Vielleicht lag es daran, dass Kila nach dem Abend sozial sanktionierten Vandalismus noch ein bisschen aufgekratzt war, vielleicht sah sie in Maw auch so etwas wie eine Seelenverwandte, jedenfalls wagte sie es, die Frage zu stellen, die zu stellen sich sonst niemand traute.
»Maw … was hast du getan, um Apokalyt zu werden?«
Man muss Maw lassen, dass sie die Frage nicht einfach abtat oder ein paar der gängigen Gerüchte nachplapperte. Stattdessen setzte sie sich ans Fußende von Kilas Bett und erzählte ihr die Wahrheit.
»Sterox träumt davon, Lehrling eines Scythe zu werden. Aber er weiß nicht – keiner von den anderen weiß –, dass ich das einmal war«, sagte Maw. »Nur etwa einer von fünf Lehrlingen wird tatsächlich zum Scythe berufen, aber niemand denkt an die anderen vier. Wir verschwinden einfach wieder in der Normalität – aber nachdem man Lehrling eines Scythe war, gibt es kein normales Leben mehr.
Jedenfalls gab es einen Scythe, der ein Auge auf mich geworfen hatte. Scythe Chandler. Er war im Auswahlkomitee und hat mir eine Sonderbehandlung versprochen, wenn ich ihn besonders behandeln würde. Ich habe abgelehnt. Die Abschlussprüfung habe ich ohne Problem bestanden. Aber ich wurde trotzdem nicht ausgewählt. Ich habe das Scythetum um eine Stimme verfehlt. Seine Stimme.«
»Das tut mir leid.«
»Das sollte es nicht. Ich wäre eine schreckliche Scythe gewesen. Ich hätte nie mein Leben lang bei ein und demselben Ding bleiben können.« Maw dachte eine Weile darüber nach. »Jedenfalls habe ich mich danach für ein Leben als Widerling entschieden. Ich bin SpiderMaw geworden, und das passte mir gut. Das Gerücht mit dem U-Boot stimmt übrigens – aber ich war die Einzige, die ertrunken ist. Immerhin bin ich dafür vom Helion zum Pandæmon hochgestuft worden.
Das hätte das Ende der Geschichte sein können … aber ein paar Jahre später bin ich Scythe Chandler in einer Widerling-Bar wiederbegegnet. Er suchte nach dem, wonach Männer wie er suchen, und dachte wohl, er könnte es unter Widerlingen finden. Er hat mich angebaggert und mich nicht mal wiedererkannt. Kannst du das glauben? Ich habe ihm so wenig bedeutet, dass er völlig ahnungslos war. Da habe ich beschlossen, mir das zunutze zu machen. Anstatt sein Spiel zu spielen, spielte ich mein eigenes. Ich gab ihm nie, was er wollte … und deswegen begehrte er mich umso mehr. Ich spielte mit ihm, hielt ihn hin und brachte ihn am Ende dazu, sich in mich zu verlieben. Das dürfen Scythe nicht – sich verlieben –, aber er hat es getan. Und als ich wusste, dass ich ihn hatte, habe ich ihm erzählt, dass das Ganze ein Schwindel war. Dass er mich anwiderte. Dass ich ihn verabscheute.« Maw machte eine Pause und ließ die Geschichte nachklingen.
»Am nächsten Tag hat er sich selbst nachgelesen.«
»Er … Was hat er getan?«
»Es war perfekt. Ich konnte nicht zur Verantwortung gezogen werden für etwas, das er mit eigener Hand getan hatte. Und niemand wusste es. Niemand außer dem Thunderhead. Am übernächsten Tag wurde ich in die Interface-Behörde bestellt, wo man mir erklärte, dass ich so tief gesunken sei, wie man als Widerling nur sinken könne. Ich war ein Apokalyt.«
Kila wusste nicht, was sie sagen sollte. Sie spürte sowohl Verbitterung als auch Stolz in Maw. Erfolg und Scheitern. So viel Ambivalenz. Also schwieg sie aus Respekt, dass Maw ihr die Wahrheit anvertraut hatte.
»Behalte es für dich«, sagte Maw und erhob sich zum Gehen. »Wenn du das machst, werden wir Freundinnen. Wenn nicht … dann nicht.«
Kila lief es eiskalt den Rücken herunter. Sie konnte sich nichts Schlimmeres vorstellen, als sich Maw zur Feindin zu machen.
Jeden Freitagabend besuchten Kila und ihre Truppe die Straße der Widerlinge. Sie unternahmen jedes Mal etwas anderes, aber kein Club und keine Party beeindruckten Kila so wie die Galerie de Bäsch . Vielleicht lag es daran, dass sie bei ihrem Besuch dort noch nicht gewusst hatte, dass alle Attraktionen der Amüsiermeile eine Inszenierung waren. Es hätte ihr klar sein müssen, dass in einer Welt unter der Zuständigkeit des Thunderhead kein Club völlig außerhalb seiner Kontrolle existieren konnte. Der Thunderhead war der Kurator sämtlicher Widerling-Attraktionen – und das bedeutete, egal wie widerlingmäßig es auch scheinen mochte, am Ende war es bloß eine Simulation von schlechtem Benehmen.
»Du denkst zu viel«, erklärte Maw, als Kila ihr Unbehagen äußerte. »Mach einfach mit – dann wirst du sehr viel glücklicher sein.«
Aber Kila konnte nicht loslassen. Stattdessen startete sie eine entschlossene Suche nach dem echten Bösen.
»Was guckst du dir da an?«
Maw musste immer wissen, was alle anderen gerade machten. Kila überlegte kurz, sie anzulügen, entschied jedoch, dass Maw es erfahren sollte – denn wenn Kila recht hatte, würde sie Maw brauchen. Sie würde all ihre Mitbewohner brauchen. Also drehte sie den Bildschirm so, dass Maw ihn sehen konnte.
Kila hatte eine Luftaufnahme betrachtet, die sie in einer lokalen geographischen Datenbank gefunden hatte. Sie zeigte ein gewöhnlich aussehendes Gebäude, das von einer Reihe von Toren und Zäunen umgeben war – so wie Gebäude in der Sterblichkeitsära, die etwas enthielten, das dort bleiben sollte oder von dem die Leute ferngehalten werden mussten.
»Hmm«, sagte Maw. »Weißt du, was das ist?«
»Ich bin darauf aufmerksam geworden, weil es keine Bezeichnung hat. Ich meine, auf Karten wird doch immer alles bezeichnet, oder?«
»Normalerweise schon.«
»Also habe ich ein bisschen im Backbrain gegraben und ein Bild des Hinterausgangs gefunden.«
Kila vergrößerte es auf dem Bildschirm. Auf einem Schild konnte man deutlich lesen. ZEREBRALER NETZWERKKNOTEN 207.
»Wow!«, sagte Maw. »Die Mutterader!«
Es war allgemein bekannt, dass der Thunderhead auf der ganzen Welt verteilt Server unterhielt, die zerebrale Netzwerkknoten genannt wurden. Darauf waren der Schatz des Wissens der Menschheit sowie der gigantische eigene Verstand des Thunderhead gespeichert. Niemand wusste genau, wo sie sich befanden, und nur wenige interessierten sich dafür. Der Thunderhead wartete sich selbst.
»Kila, denkst du, was ich denke, dass du es denkst?«
Kila lächelte. »Warum sollen wir uns mit der Straße der Widerlinge zufriedengeben, wenn wir etwas Echtes zerstören können?«
Maw rieb sich die Hände wie die gierige Intrigantin, die sie war. »Das«, sagte sie, »ist eine Idee, die eines Helions würdig ist!«
Sterox kannte jemanden, der einen unmarkierten Lkw besaß, mit dem man die Tore durchbrechen konnte. Thrash programmierte eine Malware, die vorübergehend ein paar entscheidende Kameras in dem Server-Komplex lahmlegen sollte. Doch es war Maw, die die wahren Schätze lieferte. Als Apokalyt hatte sie Widerling-Beziehungen, über die man nur staunen konnte. Binnen weniger Stunden hatte sie Kontakt zu einem alten Freund aufgenommen, der mit Sprengstoff »herumpfuschte«.
»Aber wir müssen vorsichtig sein«, warnte sie. »Wenn wir irgendjemanden totenähnlich machen, lösen sie unsere Truppe auf und verlegen uns in andere Städte. Und wenn wir so weit gehen, jemanden unwiederbelebbar zu machen …« Sie brauchte den Satz nicht zu beenden. Für eine solche Tat wurde man sofort dem Scythetum übergeben – und mit der Begründung nachgelesen, dass das Beenden einer Existenz dem Verbrechen gleichkam, sich als Scythe auszugegeben.
Der Plan nahm schnell Gestalt an. »Es fühlt sich so an, als sollte es sein!«, verkündete Maw.
Alle in der Truppe übernahmen abwechselnd die Beobachtung des Objekts und verfolgten das Kommen und Gehen auf dem bewachten Gelände. Das meiste lief automatisiert, doch es gab einen menschlichen Faktor. Zwei Wachen am Haupttor sowie die Teams von Thunderhead-Technikern oder Cloudtechs, wie sie schon vor der Bewusstwerdung des Thunderhead geheißen hatten. Alle trugen graue Thermouniformen, weil die Umgebung des Servers auf frische minus zwanzig Grad Celsius heruntergekühlt war. Die Cloudtechs arbeiteten in Sechs-Stunden-Schichten, die wechselten, wenn der Zeiger der Uhr ganz oben oder ganz unten stand, und es waren nie mehr als zehn Personen gleichzeitig im Dienst.
»Wir können zwar nicht durch Mauern gucken, aber ich habe Baupläne von alten zerebralen Netzwerkknoten besorgt, die diesem Gebäude von der Größe her entsprechen«, erklärte Kila den anderen. »Wahrscheinlich gibt es eine äußere Überwachungsplattform mit Blick in den Kern, Durchmesser circa fünfzig Meter. Die Laufwerke stehen zu Türmen gestapelt in dem Kern – und so nahe beieinander, dass man sie mit nur wenigen Sprengladungen alle in die Luft jagen kann.«
»Das wird ein Spaß«, sagte Slinko. »Zusehen, wie ein Hirnaneurysma des Thunderhead platzt!«
»Na ja, guck bloß nicht zu genau hin«, warnte Maw ihn, »sonst schaffst du es nicht mehr raus.«
Sie planten ihren Angriff für einen Sonntag um vier Uhr morgens, eine Zeit, zu der keiner der Diensthabenden topfit sein würde. Als sie das Gelände erreichten, startete Thrash seine Schadsoftware, die das Bild sämtlicher Kameras in dem Komplex einfrieren lassen sollte.
»Der Thunderhead braucht Minimum fünf Minuten, um sie zu knacken«, erklärte er.
»Wir müssen uns beeilen«, sagte Maw. »Jetzt gibt es kein Zurück mehr!« Als ob einer von ihnen hätte kneifen wollen.
Die Wachen am äußeren Tor waren kein Problem. Als sie den Lkw kommen sahen, traten sie aus ihrem Häuschen und boten ein leichtes Ziel. Zusätzlich zu dem Sprengstoff hatte Maw auch ein Fläschchen mit einem hochwirksamen Betäubungsmittel besorgt, und Slinko wusste genau, wie er seine Pfeile zu platzieren hatte. Noch bevor sie mit dem Lkw das Tor durchbrachen, lagen die beiden Wachen am Boden. Am zweiten Tor gab es keine menschlichen Wachen, nur die vorübergehend geblendeten Kameras. Dafür war das Tor selbst kräftiger, fiel jedoch schließlich unter der Wucht ihres unmarkierten 500-PS -Trucks.
Die Mauern des Gebäudes, das den zerebralen Netzwerkknoten 207 beherbergte, waren aus Beton – dick und undurchdringlich, doch jedes Gebäude ist nur so sicher wie sein Eingang – und in diesem Fall bestand der Eingang aus zwei Glasschiebetüren mit einer kleinen digitalen Tastatur. Thrash machte sich daran, das Pad zu dekodieren, aber so lange wollte Sterox nicht warten.
»Zum Teufel damit.« Er trat eine der Türen ein. Das Sicherheitsglas zersplitterte in tausend Scherben wie eine Windschutzscheibe. »Da. Kinderspiel.«
Sie schlüpften durch die Tür und trafen die Cloudtechs unvorbereitet an. Die Techniker trugen zwar ihre dicken Thermoanzüge, aber Slinko hatte seine Pfeile so gut angespitzt, dass sie durch den Stoff drangen. Die Arbeiter erstarrten vor Schreck und gingen getroffen zu Boden, so dass Kilas Truppe ungestört zum Rechnerkern vordringen konnte.
Die in Racks übereinander gestapelten Server sahen aus wie kristallene Stalagmiten, die sich in der Mitte des Raumes erhoben, mit bunten, glänzenden und blinkenden Lichtern wie ein kleiner Wald von Geschenk-Saison-Bäumen.
»Hübsch«, sagte Kila.
»Ja, echt schade, dass wir sie in die Luft jagen müssen«, sagte Sterox und lachte.
Eine abschüssige Rampe führte zu dem gekühlten Kern, und mit jedem Schritt hinab wurde es kälter. Aus der Nähe überragten die Türme aus gestapelten Servern sie um eine Körperlänge.
»Vielleicht brauchen wir weniger Sprengkraft als gedacht«, sagte Maw. »Die Türme sehen ziemlich kopflastig aus. Mit ein paar strategisch platzierten Ladungen könnten sie fallen wie Dominosteine.«
Sie teilten sich auf, jeder ausgerüstet mit einer Ladung Sprengstoff. Maw, Sterox, Slinko und Thrash übernahmen die vier Himmelsrichtungen, Kila betrat den Kern – die Belohnung dafür, dass sie diesen Ort entdeckt hatte. Sie fand es schwer vorstellbar, dass die knetartige Masse verkabelt mit einem Zünder wirklich über genug Sprengkraft verfügte, um die gesamte Anlage zum Einsturz zu bringen, aber nachdem die Ladung installiert und scharf geschaltet war, wirkte sie schon viel einschüchternder.
Als sie sich gerade wieder am Fuß der Rampe trafen, ging auf einmal im ganzen Gelände ein Alarm los.
»Unsere Zeit ist um!«, rief Maw. »Sprengen und türmen!«
Aber die Alarmsirenen hatten Slinko, der die Fernbedienung in der Hand hielt, so erschreckt, dass er die Detonation auslöste, während alle noch am Fuß der Rampe standen.
Alle Ladungen explodierten gleichzeitig.
Kila wurde halb die Rampe hinaufgeschleudert und mit Scherben übersät. Sie war schlagartig taub. Ihr Kopf dröhnte. In dem Qualm sah sie, wie Sterox sich aufrappelte und sich eine große Scherbe aus dem Arm zog. Thrash stolperte bereits die Rampe hinauf, ohne einen Gedanken an die anderen zu verschwenden. Typisch.
Aber dann sah Kila Maw. Sie war unter einem großen Server-Rack eingeklemmt. Slinko versuchte, es anzuheben, war jedoch alleine nicht kräftig genug.
»Du Idiot!«, brüllte Maw ihn an. »Fünf Sekunden und wir wären alle in Sicherheit gewesen!«
»Tut mir leid!«, sagte Slinko. »War keine Absicht, dass ich die Zündung so früh ausgelöst habe!«
Kila eilte ihm zur Hilfe, und gemeinsam konnten sie Maw befreien. Sie hatte ein paar Blutergüsse abbekommen, sich jedoch offenbar nichts gebrochen.
»Okay, los, los, los!«, befahl sie.
Das musste man Slinko nicht zweimal sagen. Er ließ Maw stehen und folgte eilig Thrash und Sterox. Maw hinkte mühsam hinterher.
Aber Kila blieb noch.
Sie drehte sich zu den Trümmern um und betrachtete ihr Werk. Der Staub setzte sich allmählich, und es wurde deutlich, wie erstaunlich effektiv ihr Zerstörungsfeldzug gewesen war. Nur ein Server war stehen geblieben, einer von etwa hundert. Aber so befriedigend das Ganze auch war, irgendetwas daran wirkte irritierend. Irritierend und merkwürdig vertraut.
Um sie herum schrillte immer noch der Alarm, doch niemand kam – nicht einmal Drohnen, um den Schaden zu begutachten. Hätte der Thunderhead bei einer so schweren Verletzung der Schutzsysteme nicht längst alle möglichen Maßnahmen in die Wege geleitet? Hatte eine einzelne Truppe von Widerlingen ihn tatsächlich überrumpelt? Konnte er so verwundbar sein?
Anstatt den anderen bei ihrer ebenso eiligen wie triumphalen Flucht zu folgen, kehrte Kila um und wühlte in den Trümmern, ohne zu wissen, wonach sie suchte. Schließlich kam sie zu dem einzigen noch intakten kristallinen Rack, das wie ein Monolith aus den Ruinen hervorragte.
Die bunten Lichter blinkten unverdrossen, als wüssten sie nicht einmal, dass alle anderen Server-Türme zerstört worden waren. Kila stemmte sich mit ihrem ganzen Gewicht dagegen, bis auch der letzte Turm umkippte und krachend zu Boden schlug.
Er war weder in seinem Betonsockel verankert, noch per Kabel, Leitungen oder sonst wie mit den anderen Racks verbunden. Das Gehirn des Thunderhead funktionierte möglicherweise drahtlos, trotzdem musste jedes einzelne Rack doch mit einer Stromquelle verbunden sein, oder?
Dann entdeckte Kila die Stromquelle. Auf der Unterseite des umgekippten Server-Racks gab es ein kleines Plastikfach. Sie öffnete die Klappe. Es enthielt …
Batterien.
Drei Stück.
Klein genug, um in ihre Handfläche zu passen – so wie die Batterien in Kinderspielzeugen. Sie hatten nicht annähernd genug Volt, um ein Server-Rack zu betreiben, aber für ein paar blinkende Lichter reichte es. Und mit genug Batterien konnte man einen ganzen Raum blinken und leuchten lassen.
»Kila! Was machst du? Wir müssen hier raus!«
Sie drehte sich um und sah, dass Maw ihr gefolgt war.
»Wir haben erledigt, wofür wir gekommen sind«, brüllte Maw. »Nun lass uns hier abhauen, bevor wir erwischt werden!«
Aber Kila rührte sich nicht. Sie sah sich um und erkannte plötzlich, warum die Trümmer so vertraut wirkten. Sie waren wie der Schutt, den sie in der Galerie de Bäsch hinterlassen hatten – aber noch mehr sah es aus wie das Geröll, das sie Tag für Tag aus dem Lagerhaus schaufelten. Genauso . Kila hatte sich gefragt, um was für Trümmer es sich handelte, sich jedoch nie genug dafür interessiert, um eine Antwort zu suchen.
»Kila! Was ist los mit dir? Wir müssen hier weg!«
Der Alarm dröhnte immer noch, doch es kam niemand. Kila stand wie erstarrt da. Nicht vor Kälte, sondern wegen der Erkenntnisse, die nacheinander auf sie einprasselten und ihr durch den Kopf schossen. Weitere Dominosteine, die umkippten.
»Du hast so aufgeregt getan, als ich dieses Gebäude entdeckt habe«, sagte Kila. »Aber warst du das wirklich? Du wusstest, dass ich ein Ziel suchte – und plötzlich habe ich eins gefunden.«
»Wovon zum Teufel redest du?«
Kila betrachtete die Zerstörung um sie herum. »Wie lange führst du uns schon an der Nase herum, Maw? Bist du überhaupt ein Widerling?«
Maw wirkte tief gekränkt. »Ich bin Apokalyt!«
»Und trotzdem arbeitest du für den Thunderhead. Das heißt, du bist ein Nimbus-Agent!«
Maw zögerte. Womöglich erwog sie, ob es sich lohnte, noch weiterzuleugnen. Dann sagte sie: »Das sind alle Apokalyten.«
Da war sie. Die Wahrheit hinter dem letzten Dominostein. Jetzt ergab alles einen Sinn. Wie war es möglich, dass Kila die Scharade nicht durchschaut hatte? Hatte sie wirklich geglaubt, dass Thrash eine Malware programmieren konnte, die die Kameras des Thunderhead lahmlegte? Thrash – der keine zwei schlüssigen Gedanken zusammenbringen konnte, ohne dass einer davon dabei auf der Strecke blieb? Aber wenn man etwas glauben wollte, bedurfte es noch weniger als einer Handvoll Batterien, um diesen Glauben anzutreiben.
»Ist irgendetwas von alldem echt, Maw?«
Maw blickte ihr direkt in die Augen. »So echt, wie es sein muss.«
Plötzlich tauchte hinter ihr einer der grau gekleideten Arbeiter auf. Ein Cloudtech. Slinko hatte die Cloudtechs mit den in Betäubungsmittel getunkten Pfeilen ausgeschaltet – aber hatte er das wirklich? Schließlich hatte Maw das Betäubungsmittel besorgt.
»Wir können sie nicht gehen lassen«, sagte der Cloudtech.
»Natürlich können wir das«, erklärte Maw ihm. »Killa wird es keinem erzählen.«
»Das weiß man nie«, sagte der Aufseher.
Killa … Heißt das, ich habe mir den Namen verdient ?, dachte Kila.
Maw lächelte. »Killa ist wie ich, oder Killa? Sie wird nichts erzählen, weil sie ab sofort vom Status eines Helion … zum Pandæmon hochgestuft ist.«
Pandæmon , dachte Kila. Nur noch eine Stufe vor Apokalyt . Sie würde die Ehrfurcht und den Respekt der anderen Widerlinge genießen. Killa würde ihn genießen. Das brachte sie ernsthaft ins Grübeln.
In diesem Moment hörten sie Sterox von weitem rufen.
»Gehen Sie«, erklärte Maw dem Cloudtech. »Bevor er Sie sieht.«
Der Cloudtech verzog sich gehorsam und schlich geduckt durch die Trümmer davon.
Maw kam noch näher. »Ich kenne dich, Killa. Ich weiß, was du willst. Du sehnst dich nach der Macht, die mit der Zerstörung einhergeht – aber fast nichts ist so mächtig wie der Blick hinter den Schleier der Realität. Und nun habe ich dir sogar noch mehr gezeigt! Die Macht, den Akt der Zerstörung als solchen zu zerstören. Weiche nicht davor zurück, Killa. Nimm sie an!«
In diesem Moment wusste Killa, was sie zu tun hatte. Sie überlegte nicht einmal; sie machte es einfach. Sie bückte sich, hob eine scharfe Scherbe des sogenannten zerebralen Netzwerkknotens auf und rammte sie tief in Maws Bauch.
Kurz darauf sahen Sterox und die anderen Killa mit Maw in den Armen aus den Trümmern kommen.
»Helft mir«, sagte Killa. »Einer der Cloudtechs hat sie erwischt!«
Sie halfen ihr, Maw zum Lkw zu tragen.
»Die Wunde ist tief«, sagte Slinko nach näherer Begutachtung, während der Lkw losraste, »aber ich glaube nicht, dass sie totenähnlich wird.« Tatsächlich hatte die Blutung bereits aufgehört, und Heilnaniten kauterisierten die Wunde. Auch ohne weitere Behandlung würde sie in ein oder zwei Tagen verheilt sein.
Killa blieb bei Maw und bettete deren Kopf während der Fahrt in ihren Schoß. Maws Blick war trüb, doch sie war noch bei Bewusstsein.
»War das wirklich nötig?«, fragte sie.
»Nein«, gab Killa zu, »aber wirkt es so nicht viel realistischer?«
Maw lächelte dünn. »Verdammt, du hast recht. Eines Tages wirst du eine großartige Apokalytin sein.«
Und Killa stimmte ihr zu. Genau genommen zählte sie sogar darauf.