»Wenn es einen hellen Fleck im Sonnensystem gibt, ist dieser Ort am weitesten davon weg.«
»Das ist ein unkorrektes Zitat, Carson.«
»Ich weiß – aber wir sind ja auch nicht direkt in der ganzen Galaxie verteilt oder?«, erwiderte Carson Lusk. »Und wer hat dich überhaupt gefragt?«
»Niemand.« Die Antwort des Thunderhead war wie immer arglos und freundlich. »Ich liefere nur Aufklärung.«
Carson wartete auf eine ärgerliche Nachbemerkung, wie sie der Thunderhead häufig machte. Der heutige Tag bildete keine Ausnahme.
»Übrigens« , fügte er hinzu, »ist dieses spezielle falsche Zitat weder buchstäblich noch im übertragenen Sinne richtig. Denn erstens ist der Mars der vierte Planet von der Sonne und bekommt reichlich Sonnenlicht ab. Und zweitens entdecke ich hier statt einer Düsternis der Herzen sehr viel Freude. Manchmal sogar bei dir.«
Carson schleuderte einen Schraubenschlüssel auf den Lautsprecher seines Geländewagens. »Ist dir das buchstäblich genug?«
Aber der Thunderhead blieb natürlich gefasst. »Dafür könnte ich dir einen Widerling-Punkt geben, aber das werde ich nicht tun, weil ich weiß, dass du dich bloß melodramatisch aufführst.«
Der Geländewagen holperte über einen größeren Hubbel auf der unasphaltierten Straße – einen Hubbel, um den der Thunderhead ihn hätte herumsteuern können, wenn Carson die Lenkung nicht auf Handbedienung umgestellt hätte. Trotzdem hätte der Thunderhead ihn warnen können, aber nein. Was das betraf, war der Thunderhead passiv aggressiv, und das ärgerte Carson.
»Weißt du, was ich jetzt brauche?«, fragte er mit einem leichten Grinsen. »Ich muss herausfinden, was aktuell ein Pfund Tee in PanAsien kostet.«
»Wozu?« , fragte der Thunderhead.
»Das geht dich nichts an. Ich habe eine Anfrage gestellt; es ist dein Job, sie zu beantworten.«
»Natürlich« , sagte der Thunderhead, »in zehn Minuten und vier Sekunden habe ich eine Antwort für dich.«
Carson triumphierte nur ein kleines bisschen. Für schnelle Antworten und planetare Verwaltung hatte der Thunderhead zwar einen zerebralen Netzwerkknoten hier auf dem Mars, sein gesamtes Backbrain befand sich jedoch auf der Erde. Im Moment war die Erde etwas mehr als fünf Lichtminuten entfernt – deshalb würde es doppelt so lange dauern, bis der Thunderhead auf die Antwort zugegriffen und sie zurück zum Mars gesendet hatte. In dieser Zeit würde er Carson in Ruhe lassen. Carson könnte dem Thunderhead natürlich auch einfach sagen, dass er still sein sollte, aber worin bestand dann noch der Spaß? Da schickte er ihn doch viel lieber auf sinnlose Missionen. Ihm gefiel der Gedanke, dass der Thunderhead durch solche Aufträge daran erinnert wurde, dass er nur ein Diener war.
Im Gegensatz zu dem glücklosen Helden seines Lieblingsfilms aus der Sterblichkeitsära – der, den er falsch zitiert hatte – war Carson Lusk kein Feuchtfarmer. Die Abenteuer dieses Filmhelden hatten damit begonnen, dass sein Onkel und seine Tante von einem bösen Imperium gnadenlos ermordet worden waren. Carson hingegen war der Sohn eines Bergarbeiters, wenn auch auf einem ähnlich trockenen Planeten. Aber für ihn würde es keine solche Rettung geben, weil es keine bösen Imperien gab, bloß den Thunderhead und seine unerträgliche Fürsorge. Und wenn seine Eltern starben? Ausgeschlossen. Es gab nicht einmal Scythe auf dem Mars, und wahrscheinlich würde es auch tausend weitere Jahre keine geben. Die Marskolonie hatte eine Bevölkerung von etwa zehntausend Menschen, und es gab noch reichlich Raum für Wachstum.
Der Geländewagen holperte über den unebenen Boden, bis er die Kuppe eines Hügels erreichte. Von hier aus konnte Carson die Reihe von riesigen Bohrtürmen sehen, die in die Marsebene stachen wie Akkupunkturnadeln der Sterblichkeitsära. Sie hatten sogar einen ähnlichen Zweck, in gewisser Weise sollten auch diese Bohrtürme den Planeten heilen. Oder ihn zumindest verändern. Sie förderten endlos Kohlenerz an die Oberfläche, aus dem man in Verbindung mit Sauerstoff Kohlendioxid herstellen konnte – das magische Gas, das es dem Planeten irgendwann ermöglichen würde, sich zu erwärmen und eine dichtere Atmosphäre zu bilden.
Seine Eltern und der Thunderhead erinnerten ihn permanent daran, was für eine wichtige Arbeit sie leisteten – so viel wichtiger als das, was die meisten Menschen auf der Erde taten. Dafür waren sie schließlich Kolonisten geworden: um ihrem Leben einen Sinn zu geben. Aber Carson war erst neun Jahre alt gewesen, als sie die Reise angetreten hatten, und ihn hatte niemand gefragt. Er konnte sich noch an das Leben auf der Erde erinnern. An die grünen Felder und rollenden Hügel von MidMerica – oder zumindest des kleinen Teils von MidMerica, den er gesehen hatte, bevor er von dem Planeten gerissen wurde. Nun gab es Grün nur unter der Kuppel der Kolonie, die Hügel außerhalb davon waren zerklüftetes totes Gestein, das erst in Jahrhunderten Leben hervorbringen würde.
»Warum?«, hatte er den Thunderhead einmal gefragt. »Warum machen wir uns überhaupt die Mühe?«
Und mit seiner unendlichen Geduld hatte der Thunderhead geantwortet: »Es ist der biologische Auftrag jeder Spezies, sich zu vermehren und ihren Lebensraum auszudehnen. Ich ermögliche lediglich euren natürlichen Expansionsdrang über die Grenzen der Erde hinaus.«
Blablabla. Der Thunderhead war dermaßen eingebildet. Wenn er sich wirklich um Carson kümmern würde, wie er ständig behauptete, dann würde er einen Weg für ihn finden, von diesem Fels wegzukommen.
»Wenn du wirklich bereit bist, die Reise zurück auf die Erde anzutreten« , hatte ihm der Thunderhead mehr als einmal erklärt, »wird sich die Gelegenheit sicher ergeben.«
Noch mehr leere Versprechungen.
Carson folgte einem steilen Weg in das Tal und fuhr zu dem Bohrfeld. Insgesamt waren es zweiundfünfzig Fördertürme in vier Reihen à dreizehn Türmen, und jeder von ihnen nach einer Spielkarte benannt. Der kaputte Turm war der Pik-König – der letzte in der ersten Reihe. Als Carson näher kam, erkannte er das Problem. Der riesige Abbaumeißel war abgebrochen.
Er verständigte über Funk seinen Vater.
»Gute Arbeit, Carson«, sagte sein Vater. »Ich lasse einen neuen bestellen.«
Nun, immerhin war das Problem so offensichtlich, dass Carson nicht den Anzug anlegen und hinausgehen musste. Er verabscheute das erstickende Gefühl beim Tragen seines Raumanzugs. Er roch ständig nach seinem eigenen Schweiß und einem Hauch von Erbrochenem von dem Mal, als die Luft knapp geworden war und Carson sich übergeben hatte. Raumanzüge. Noch etwas, was man für ein Leben auf der Erde nicht brauchen würde.
»Null komma zwei-drei Kreditpunkte per Kilo« , verkündete der Thunderhead aus dem Nichts.
Carson zuckte zusammen. »Was?«
»Der Preis für einen typischen Oolong-Tee in PanAsien. Das ist der Grundpreis, bestimmte Teesorten können auch mehr kosten.«
Carson seufzte. »Hättest du das Problem mit dem Pik-König nicht allein diagnostizieren können?«, fragte er den Thunderhead. »Du weißt über alles Bescheid, was hier passiert, stimmt’s? Du hättest mir sagen können, dass der Bohrer abgebrochen ist, und es mir damit leichter machen können.«
»Ja« , antwortete der Thunderhead. »Aber es dient dir nicht, dir dein Leben leichter zu machen, Carson. Dadurch, dass du den Weg dorthinaus gemacht und das Problem erkannt hast, hast du nicht nur die Befriedigung eines gut erledigten Jobs erfahren, sondern auch das sehnlich gewünschte Lob deines Vaters bekommen.«
»Leck mich«, sagte Carson. »Und wenn du mir jetzt erklärst, dass du keine Zunge hast, werfe ich noch mal mit dem Schraubenschlüssel.«
»Verstanden«, sagte der Thunderhead und verstummte, ohne dass Carson ihn auf eine weitere sinnlose interplanetarische Wissensmission schicken musste.
Die terraformierenden Aktivitäten erstreckten sich zwar über mehr als hundert Marskilometer in alle Richtungen, doch alle Bewohner lebten unter der Kuppel des Mons Humanus. Von nahem wirkte er gewaltig, war jedoch kaum mehr als ein Ameisenhügel verglichen mit dem höchsten Vulkan auf dem Mars, dem Mons Olympus, der sich direkt dahinter erhob, obwohl sein Fuß eigentlich jenseits des Horizonts lag. Der Mons Olympus war so riesig, dass er die Krümmung des Planeten definierte.
Die Kuppel war das Zentrum aller Aktivitäten auf dem Mars. Im Norden wurde nicht weit von dem Bohrfeld von Carsons Familie entfernt ein Außenposten errichtet, der noch in Bau war. Carson sah der Fertigstellung mit Schrecken entgegen, weil er wusste, dass seine Eltern bestimmt dort leben wollen würden. Als ob man auf dem Mars nicht schon isoliert genug war, würde es sie direkt an die Grenze zur Wildnis ziehen, wo es praktisch niemanden in Carsons Alter geben würde.
Er hatte ohnehin nur eine Handvoll Freunde. Nicht dass er sich mit seinen Klassenkameraden nicht verstanden hätte – er ließ bloß nicht viele Menschen an sich heran. Sein enger Freundeskreis bestand im Grunde nur aus Acher, Devona und ihm.
»Wenn deine Eltern in den nördlichen Außenposten ziehen wollen, solltest du dich einfach weigern mitzukommen«, sagte Devona, als sie eines Tages nach der Schule zusammen einen Kaffee tranken.
»Ja«, sagte Acher. »Wenn es zum Äußersten kommt, kannst du bei mir wohnen. Meine Eltern haben bestimmt nichts dagegen. Sie denken, du bist ein guter Einfluss für mich.«
Sie saßen im 4th Planet Java , einem von zwei Cafés in der Kuppel. Es gab eine »Freiluft«-Terrasse, die natürlich nicht an der freien Luft lag, sondern lediglich einen Blick auf den Park in der Mitte der Kuppel bot.
»Deine Eltern lassen dich ohnehin schon zu hart arbeiten«, sagte Devona und schlürfte ihren Latte aus Hydrokultur-Bohnen, die angeblich genauso schmeckten wie die Espressobohnen auf der Erde. Carson hatte seine Zweifel.
»Devo hat recht«, sagte Acher und ergriff ihre Hand. »Du arbeitest ständig dort draußen.«
Acher und Devona waren ein Paar – zumindest heute. Sie trennten sich ständig und versöhnten sich dann wieder, wie zwei Sterne eines Doppelsterns, die sich der hormonalen Anziehungskraft des anderen nicht entziehen konnten. Jedes Mal, wenn Carson dachte, er könnte vielleicht doch eine Chance bei Devo haben, trieb Acher wieder in ihre Bahn wie ein himmlisches Uhrwerk.
»Kapiert ihr das nicht? Ich habe keine Wahl«, erklärte Carson ihnen.
»Natürlich hast du eine Wahl!«, entgegnete Acher, als ob das so leicht wäre. »Deine Eltern können dich nicht zwingen, in der Mine zu arbeiten, wenn du nicht möchtest, und sie können dich auch nicht zwingen, aus der Kuppel wegzuziehen.«
»Das können sie nicht? Wer soll sie aufhalten?«
»Der Thunderhead«, sagte Devona, nachdem sie noch einmal an ihrem Latte genippt hatte. An ihrer Oberlippe klebte ein schmaler Streifen Milchschaum, von dem Carson den Blick nicht wenden konnte.
»Soll das ein Witz sein? Der Thunderhead ist auf ihrer Seite«, erwiderte Carson. »Als meine Eltern mir zum letzten Mal wegen irgendwas Bescheuertem meine Privilegien gestrichen haben, habe ich mich beim Thunderhead beschwert – und ist mir Gerechtigkeit widerfahren? Nein. Er hat gesagt: ›Häusliche Bestrafung liegt in der Zuständigkeit der Menschen.‹ «
Carson wandte sich ab, weil er nicht wollte, dass seine Verbitterung seine Freunde traf. Er betrachtete das geschäftige nachmittägliche Treiben in der Kuppel. Von ihrem Tisch auf der Terrasse hatte er einen guten Blick über die Einkaufspassage und den Daedalia Park unter ihnen. Die Sonne wanderte allmählich zum Rand der Glaskuppel und hinterließ einen gebogenen Schatten, der langsam über die Bäume im Daedalia Park wanderte – benannt nach dem Ödland, auf dem die Kolonie errichtet worden war. Früher hatte Carson den Weg dieses gebogenen Schattens gerne beobachtet, weil er den Übergang von Tag zu Nacht markierte wie eine antike Sonnenuhr. Jetzt erinnerte er ihn nur noch an die endlose Folge immer gleicher neuer Tage.
Carson trank einen Schluck von seinem Kaffee – der immer noch so heiß war, dass er sich die Kehle verbrannte. Aber das war ihm egal. Immerhin spürte er noch etwas.
»Der Thunderhead wird nichts unternehmen, um mir zu helfen, solange meine Eltern mir nicht in irgendeiner Weise Schaden zufügen«, erklärte er seinen Freunden.
»Dann sorge dafür, dass sie das tun«, schlug Devona vor. »Mach deinen Dad so wütend, dass er dich schlägt oder irgendwas, bevor die Stimmungsnaniten seine Wut wieder runterfahren können.«
Carson dachte darüber nach. Vielleicht könnte er das schaffen – seinem Dad brannten schnell die Sicherungen durch. Früher hatte er es komisch gefunden, wie sein Vater erst vor Wut rot anlief und dann plötzlich ganz Zen-mäßig wurde, wenn seine Naniten zu wirken begannen und ihn beruhigten. Und wenn Carson einen Schraubenschlüssel auf seinen Geländewagen werfen konnte, dann konnte sein Vater auf jeden Fall wütend genug werden, um ihm eine zu verpassen. Aber was dann? Wenn sein Vater ihn schlug, würde er für eine ganze Saison als Widerling markiert werden. Carson und seine Mutter wären aufgeschmissen, bis die Herabstufung zurückgenommen wurde. Eingeschränkte Privilegien, sozialer Spott – denn auch wenn die Markierung als Widerling für Jugendliche als eine Art Kriegsnarbe galt, war sie für einen Erwachsenen – ein tatsächlich produktives Mitglied der Gesellschaft – nur peinlich.
Nein, seinen Vater zu provozieren würde rein gar nichts bringen. Außerdem hatte der Thunderhead recht: So ungern es Carson zugab, war ihm das Lob seines Vaters tatsächlich wichtig.
»So schlimm ist es auch nicht«, sagte Carson. »Sie können mich nur an den Wochenenden zur Arbeit in der Mine zwingen. Außerdem bezahlen sie mich dafür – und ich muss Geld sparen für meine Rückkehr zur Erde.«
»Alter, auf der Erde brauchst du kein Geld!«, sagte Acher. »Angeblich versorgt einen der Thunderhead mit allem, was man braucht.«
»Alles, was man braucht, aber nicht alles, was ich will.«
Devona schenkte ihm ein knappes schaumlippiges Lächeln. »Und was willst du?«
Carson grinste zurück. »Sehr viel mehr, als der Thunderhead mir zu geben bereit ist.«
Die Tage auf dem Mars waren beinahe exakt eine Stunde länger als auf der Erde. Aber anstatt hier einen Fünfundzwanzig-Stunden-Tag einzuführen, hatte der Thunderhead beschlossen, das Wesen der Zeit an sich zu verändern.
»Die Zeitmessung ist ein menschliches Konstrukt« , hatte er seine Entscheidung begründet, »deshalb kann ich sie auch gemäß planetarer Zweckmäßigkeit reformieren.«
So kam es, dass die Sekunden auf dem Mars nur ein winziges bisschen länger waren, ebenso wie die Minuten und die Stunden. Der Tag wurde immer noch in vierundzwanzig Stunden unterteilt, aber jede dieser Stunden war genau zweieinhalb Erdminuten länger. Das hatte Redensarten hervorgebracht wie die, dass etwas »eine Marsminute« dauere. Die Kolonisten fanden das beleidigend. Denn auch wenn die Minuten auf dem Mars länger waren, hatten die Menschen hier das Gefühl, sehr viel fleißiger zu sein als die Erdbewohner und in einer Marsminute mehr geschafft zu bekommen als die Erdgebundenen in einer ihrer Stunden.
Der Thunderhead vermutete, dass er irgendwann soziale Sicherheitsmaßnahmen gegen Vorurteile und Voreingenommenheit zwischen den beiden Planeten würde ergreifen müssen.
Carson Lusk hatte sein Leben auf der Erde begonnen, wo die Sekunden schneller und die Anziehungskraft stärker waren. Aber das hatte sein Körper im Lauf der Jahre auf dem Mars vergessen, deshalb würde die Rückkehr eine große Anpassung erfordern. Man brauchte zwei Wochen, um seinen Biorhythmus an den kürzeren Tag anzupassen, und Monate, um Muskeln, Knochen und Herz an die unbarmherzige Kraft der stärkeren Erdanziehung zu gewöhnen.
»Es würde dir elend gehen«, erklärten seine Eltern ihm. »Davor können dich nicht mal deine Naniten bewahren.«
Carson bemerkte, dass sie sagten, »es würde« und nicht »es wird«. Als ob seine Abreise vom Mars unter einem Vorbehalt stünde und keine ausgemachte Sache sei. Aber egal, welche Verbform seine Eltern benutzten, Carson war entschlossen, den Mars zu verlassen, koste es, was es wolle – und zwar bevor sie die Gelegenheit hatten, ihn in die noch tiefere Provinz des nördlichen Außenpostens zu verschleppen.
Der Thunderhead erlaubte nur minimalen Verkehr zwischen dem Mars und der Erde, was ein Problem werden könnte, aber Carson hatte einen Plan. Wer ein Stipendium für eine Universität auf der Erde errang, bekam vom Thunderhead eine freie Passage vom und nach dem Examen zurück zum Mars. Carson interessierte sich nur für die Hinfahrt. Er hatte sich in Harvard, Stanford, Oxford, Tsinghua und an einem Dutzend anderer Universitäten beworben. Seine Noten waren überdurchschnittlich, aber nicht herausragend. Trotzdem würde eine Bewerbung vom Mars besondere Beachtung finden, deshalb war er vorsichtig optimistisch.
»Vielleicht solltest du das Fell des Bären nicht verteilen, bevor er erlegt ist« , erklärte der Thunderhead ihm. »Man sollte immer auf alle Eventualitäten gefasst sein.«
Damals hatte Carson gedacht, dass der Thunderhead einfach nur der Thunderhead war. Aber die große empfindungsfähige KI wusste immer mehr, als sie mitteilte.
Für den Augenblick musste Carson sich darauf konzentrieren, durch die Highschool zu kommen und darauf zu achten, sich mit seinen Lehrern gut zu stellen, weil er vielleicht Empfehlungsschreiben brauchte. Carson verstand zwar nicht, warum man immer noch Lehrer brauchte, wo auch der Thunderhead einem alles beibringen könnte, was man wissen musste. Aber das war nur ein weiteres Beispiel dafür, wie der Thunderhead »die Integrität des menschlichen Daseins bewahrte«.
In der Regel kam Carson mit seinen Lehrern gut zurecht. Probleme gab es nur, wenn er über ein Thema offensichtlich mehr wusste als sie. So wie bei Mr. McGeary, seinem Lehrer für Geschichte und Kultur der Sterblichkeitsära. Der Mann bildete sich offenbar ein, in einem großen Vorlesungssaal vor Hunderten von Studenten zu dozieren statt vor einer kleinen Klasse von zwanzig Schülern.
»Goddard, von Braun, Musk«, deklamierte er und blies genug heiße Luft aus, um den Atmosphären-Alarm der Kuppel auszulösen. »Diese großen wissenschaftlichen Geister der Sterblichkeitsära haben es möglich gemacht, dass wir heute auf dem Mars sind.«
Das war für Carson nichts Neues – Raketentechnik und die Geschichte der Raumfahrt hatten ihn immer fasziniert, wobei diese Faszination kein Ausdruck von Liebe war. Tatsächlich grenzte sie eher an Hass. Es befriedigte ihn zu wissen, wer für seine aktuelle Misere verantwortlich war.
Mitten im Daedalia Park stand ein Denkmal für Goddard, eine hoch aufragende Bronzestatue des sogenannten Vaters der Raketenwissenschaft , die himmelwärts blickte wie Hühnchen Junior, das nach einem Riss in der Kuppel sucht. Im letzten Jahr hatte Carson die Statue wegen einer Wette angepinkelt. Der Thunderhead hatte ihm einen Widerling-Punkt gegeben, aber das war es wert gewesen.
»Sind Sie heute geistig anwesend, Mr. Lusk?«
Im weiteren Sinne war Carson tatsächlich mit dem Thema des Vortrags beschäftigt. Er kritzelte eine Rakete, die in der Abschussrampe explodierte – was in den frühen Tagen der Raumfahrt mehr als einmal passiert war. Man sollte meinen, die Leute hätten den Wink kapiert.
»Carson!«
»Goddard, von Braun, Musk«, leierte Carson für Mr. McGeary herunter, ohne von seiner Zeichnung aufzublicken. »Aber Sie irren sich. Musk war kein Wissenschaftler; er war bloß ein Geschäftsmann mit einem Haufen Geld.«
»Musk, Lusk«, rief Acher von der anderen Seite des Raumes. »Echt Pech, Carson, um einen Buchstaben an Größe vorbeigeschrammt.«
Das löste allgemeines Gelächter aus. Carson war verärgert, versuchte jedoch, sich nichts anmerken zu lassen.
»Sein gesamtes Kapital zu verpulvern, um eine Blechdose auf einen unbewohnbaren Planeten zu schicken, hat nichts mit Größe zu tun«, sagte er.
»Nun, wir bewohnen ihn«, bemerkte Mr. McGeary.
»Wenn Sie das sagen«, erwiderte Carson, der dem Mann nicht das letzte Wort lassen wollte. »Aber ›leben‹ und ›bewohnen‹ sind zwei verschiedene Dinge. Es wird noch Hunderte von Jahren dauern, bis wir den Mars wirklich bewohnen . Und das würde ich ehrlich gesagt auch noch nicht als ›leben‹ bezeichnen.«
Mr. McGeary seufzte und schwenkte metaphorisch eine weiße Flagge. »Können wir jetzt zum Unterrichtsstoff zurückkehren?«
»Von mir aus gerne«, sagte Carson.
McGeary fuhr fort, Tatsachen über berühmte Tote vorzutragen, schien dabei jedoch nicht mehr ganz so viel heiße Luft zu verströmen wie vorher, weil Carson sie ihm abgelassen hatte.
Raumschiffe von der Erde trafen nur ein, wenn der Mars in Opposition zu ihr stand, also auf derselben Seite der Sonne – was nur einmal alle zwei Erdjahre der Fall war. Die »Raumfahrtsaison« dauerte acht Wochen, in denen beinahe täglich Schiffe eintrafen und aufbrachen. Die meisten waren Drohnen für den Transport von Produkten und Mineralien, die auf dem Mars nicht hergestellt oder abgebaut werden konnten. Aber es gab auch einige Passagierschiffe, die neue verwirrte Kolonisten mit aufgerissenen Augen brachten und auf dem Rückflug die Marsbewohner mitnahmen, die sich einen Trip zur Erde leisten konnten – oder denen der Thunderhead in seiner unendlichen Weisheit eine kostenlose Passage zugebilligt hatte.
Touristen gab es auf dem Mars keine. Niemand kam mit einem Rückflugticket, wenn der Thunderhead nicht einen besonderen Grund dafür hatte. Schließlich wäre »Weltraum-Tourismus« ein Hobby für Superreiche gewesen, und es gab keine Superreichen mehr. Ebenso wie die Armut war auch absurder Reichtum überwunden worden. Der persönliche Wohlstand rangierte jetzt in einer schmalen Skala von komfortabel bis ein wenig komfortabler.
Mit einer Ausnahme.
Das Scythetum.
Für Scythe war Geld kein Thema, es war bedeutungslos. Sie machten einfach, was sie wollten, wann sie wollten. Deshalb hätte es niemanden überraschen sollen, dass ein Scythe irgendwann ein Raumschiff des Thunderhead requirieren würde, um dem Mars einen Besuch abzustatten.
»Ich hab seinen Namen vergessen«, sagte Carsons Vater eines Abends beim Essen. »Ich glaube, er fängt mit einem X an. Er kommt mit dem ersten eintreffenden Schiff der Saison.«
»Ein Scythe? Warum?«, fragte Carson unwillkürlich.
Sein Vater zuckte die Schultern. »Er sagt, er ist neugierig. Er sagt, er würde niemanden nachlesen – er will bloß der erste Scythe sein, der den Mars persönlich besucht.«
»Er wird nicht bleiben«, verkündete Carsons Mutter. »Die Kolonie ist zu klein und zu provinziell für jemanden wie einen Scythe.«
Carson konnte seine Faszination nicht leugnen. »Habt ihr eigentlich je einen Scythe gesehen?«, fragte er. »Auf der Erde, meine ich.«
»Ja, ein paarmal«, antwortete sein Dad, als wäre es nichts.
Seine Mutter hob die Schultern und erschauderte leicht. »Weißt du noch das eine Mal an dem Strand?«
Sein Vater nickte und legte die Gabel ab, als könne er unmöglich gleichzeitig essen und sich erinnern. »Das war ein Ding«, sagte er. »Wir hatten alle Badekleidung an – aber sie schritt in einer wehenden lavendelblauen Robe und mit dem spitzesten Messer, das ich je gesehen habe, an der Wasserkante entlang. Was für ein Anblick!«
»Es war, als würde sie ein paar Zentimeter über dem Boden schweben – fast so, als könnte sie übers Wasser laufen«, fügte seine Mutter hinzu.
»Ich wünschte, das hätte ich sehen können.«
»Nein, Carson, das wünschst du dir nicht«, sagte seine Mutter, sah ihm kurz in die Augen und wandte dann den Blick ab.
»Sie hat ein Stück weiter den Strand hinunter jemanden nachgelesen«, erklärte sein Vater. »Wir haben es nicht gesehen, aber wir haben die Schreie gehört.«
»Es war schrecklich. Es hätte uns fast den Tag ruiniert.«
Schweigen. Alle aßen weiter. Aber kurz darauf sprach Carsons Vater ein letztes Wort in der Sache.
»Wenn der Scythe kommt, halten wir uns am besten alle bedeckt und gehen ihm aus dem Weg.«
»Aber du hast doch gesagt, er würde nicht herkommen, um jemanden nachzulesen.«
Für einen Moment betrachtete Carsons Vater sein Steakmesser.
»Scythe lügen«, sagte er dann.
Es gab eine alte Redensart – Carson hatte keine Ahnung, woher sie stammte. »Männer sind vom Mars, Frauen von der Venus.« Aber wenn beide vom Mars stammen, musste man mit allem rechnen.
Acher und Devona hatten einen weiteren Streit. Wie üblich hatten sie sich wieder irgendwie sozusagen getrennt. Und wie üblich stand Carson bereit, um Devona zu trösten.
»Acher kann so ein Arschloch sein!«, sagte Devona.
»Ich weiß.«
»Er glaubt, er könne mich für selbstverständlich nehmen.«
»Ich weiß.«
»Irgendwann wird er lernen, dass er nicht der einzige Typ auf dem Planeten ist.«
Carson kannte die Einzelheiten noch nicht, doch Devona würde sie ihm bestimmt detailliert schildern. Es würde um irgendetwas empörend Unsensibles gehen, das Acher getan hatte, weil er ständig empörend unsensible Dinge tat, ohne sich dessen auch nur bewusst zu sein. Wann würde Devona erkennen, dass er sich nie ändern würde? Nach ihrem letzten Streit hatte es so ausgesehen, als wäre ihre Trennung von Dauer. Aber dann hatte Acher einen Unfall. Er hatte eine Spritztour mit ein paar Widerlingen unternommen. Solche Sachen machte er manchmal – und wusste dabei immer, wie man fragwürdige Dinge unternahm, ohne selbst als Widerling markiert zu werden. Aber wie es nun mal die Gewohnheit von Widerlingen ist, hatten sie es übertrieben und waren mit ihrem Geländewagen über eine Klippe gerast. Acher erlitt einen Schädelbruch. Er war fast vier Tage totenähnlich – und als er schließlich wiederbelebt wurde, war Devona ganz zerknirscht und reuevoll –, als wäre ihr Streit irgendwie Ursache seines Unfalls gewesen. Das Komische war, dass Acher sich gar nicht an den Streit erinnerte, weil der Thunderhead auf dem Mars nur einmal täglich Gedächtnis-Backups machte. Achers wiederhergestelltes Gehirn hatte keine Erinnerungen an die Trennung oder sonst etwas, das am Tag des Unfalls passiert war. Also hatten er und Devo einfach weitergemacht, als wäre nichts geschehen.
»Ich schwöre, wenn ich ihn noch einmal dabei erwische, wie er mit Sakari Hernandez flirtet …«
»Ich bin sicher, er wird einsehen, was für ein Idiot er war«, sagte Carson, obwohl er wusste, dass Acher nie wirklich begreifen würde, was für ein Idiot er sein konnte. »Und wenn nicht …« Carson legte seine Hand auf Devonas und fasste sie sanft.
Sie blickte zu ihm auf, und Carson sah ihr direkt in die Augen. Der Augenblick lag gewichtig in der Luft … hielt noch einen Moment …
… und fiel dann mit einer Schwerkraft zu Boden, die stärker war als alles, was der Mars aufzubieten hatte.
Devona zog behutsam ihre Hand weg.
»Danke, Carson. Du bist ein guter Freund. Du bist immer für mich da und hörst mir zu, und ich möchte, dass du weißt, wie viel mir das bedeutet.« Dann stand sie auf und ging.
Acher war Carsons bester Freund, aber manchmal konnte Carson die Phantasie nicht unterdrücken, wie es wäre, dabei zuzusehen, wie Acher aus einer Luftschleuse gesaugt wurde.
Das erste Raumschiff der Saison war immer ein Passagiertransport, seine Ankunft ein bedeutender Anlass. Es war erst die vierte Raumfahrtsaison seit Gründung der Kolonie, weil sie nur alle zwei Erdjahre möglich war, doch es hatte sich bereits eine Tradition etabliert. Die »Erste Ankunft« war ein kolonieweiter Feiertag. Zur Begrüßung der Neuankömmlinge wurde im Daedalia Park ein Fest gefeiert, mit Musik und Ständen, an denen Snacks und Kunsthandwerk angeboten wurden. Auch in diesem Jahr waren die Vorbereitungen von der üblichen Aufregung geprägt, doch man konnte auch eine unterschwellige Sorge spüren. Weil ein Scythe kam.
Aber während die anderen beklommen waren, empfand Carson eine seltsame Aufregung. Nie zuvor war jemand so Bedeutendes wie ein Scythe auf den Mars gekommen. Hin und wieder weltliche Würdenträger – doch die hatten wie der Gouverneur der Kolonie keine wirkliche Macht. Der Thunderhead leitete und organisierte alle wichtigen Angelegenheiten – der Gouverneur war lediglich dazu da, bei öffentlichen Anlässen schwungvolle Reden zu halten und als Gastgeber von Partys zu fungieren. Aber ein Scythe! Das war wahre Macht, unabhängig von der Herrschaft des Thunderhead. Die Macht, Leben zu nehmen oder zu verschonen, die Macht des persönlichen Besitzes . Scythe konnten alles haben – alles ! Was immer Scythe wollten, gehörte ihnen – sie mussten nicht einmal fragen, sie konnten es sich einfach nehmen –, so wie dieser Scythe ein paar kostbare Plätze in dem ersten Raumschiff der Saison requiriert hatte – ohne dass der Thunderhead etwas dagegen sagen konnte.
Carson war entschlossen, den Weg dieses Scythe zumindest zu streifen. Seine Robe zu berühren – als ob dadurch etwas von dessen reuelosen Privilegien auf ihn abfärben könnte. Aber wie sich herausstellte, gab es einen besseren Weg zur ehrenvollen Gesellschaft des Scythe.
»Die Kolonie hat Grüße des ankommenden Raumschiffs erhalten«, erklärte Mr. Geary seiner Klasse zwei Wochen vor dessen Eintreffen. »Für alle, die sich Sorgen gemacht haben, wollte Scythe Xenocrates uns seiner friedlichen Absichten versichern.«
»Unter scythe Xenocrates«, verbesserte Carson ihn.
»Was – heißt das, er ist wichtig?«, fragte Acher.
Carson hatte seine Hausaufgaben zu dem Thema gemacht. »Er ist der zweite Unterscythe von MidMerica – also ja, er ist ziemlich wichtig.«
McGeary räusperte sich, um ihre Aufmerksamkeit zurückzugewinnen. »Ja, also, da ist noch etwas. Unterscythe Xenocrates möchte einem unserer Schüler eine große Ehre erweisen. Offenbar braucht er für die Dauer seines Aufenthaltes einen Diener.«
Bei der bloßen Vorstellung begannen Carsons Mitschüler sich auf ihren Stühlen zu winden. Einige lachten, doch es war ein erkennbar nervöses Lachen. Carson war erstaunt, dass nicht alle begierig waren, die Gelegenheit zu ergreifen.
»Jeder, der den Job haben möchte, wird in Betracht gezogen«, ermunterte McGreary sie.
»Wer trifft die Auswahl?«, fragte Carson.
»Wahrscheinlich der Thunderhead«, murmelte jemand, aber McGreary schüttelte den Kopf.
»Nein – da es sich um eine Scythe-Angelegenheit handelt, ist eine Beteiligung des Thunderhead unmöglich. Jeder, der Interesse an der Position hat, kann einen Aufsatz einreichen, der vom Lehrkörper der Schule beurteilt wird.«
Carson blickte erneut auf und fragte sich, ob die Reaktion in den anderen Klassen genauso zurückhaltend war. Das würde seine Chancen begünstigen. Er hob die Hand. »Ich möchte mich bewerben.«
McGeary lächelte, ausnahmsweise einmal anerkennend und nicht müde. »Sehr gut, Carson. Es bleibt nicht viel Zeit, also machst du dich am besten sofort an die Arbeit – Abgabeschluss ist Ende der Woche.«
Da ging auf der anderen Seite des Raumes eine zweite Hand nach oben.
»Ja, klar, warum nicht?«, sagte Acher. »Ich probier’s auch.«
Carson biss die Zähne zusammen. Es war so typisch für Acher, sich um etwas zu bemühen, bloß weil ein anderer es wollte.
»Acheron Yost! Nun, das ist eine Überraschung!«, sagte McGeary.
Acher grinste Carson an – als würden sie gemeinsam in dieser Sache stecken. Als wäre es eine Verschwörung und kein Wettbewerb.
»Wie viele Schüler reichen einen Aufsatz ein?«, fragte Carson den Thunderhead. Es war spät – er lernte für eine besonders schwierige Mathearbeit, konnte sich jedoch nicht konzentrieren, weil in seinem Kopf mehr Variablen herumschwirrten als auf dem Bildschirm.
»Du weißt, dass ich das nicht beantworten kann« , erwiderte der Thunderhead. »Ich kann zu Scythe-Angelegenheiten weder etwas sagen noch Ratschläge geben.«
»Du bist nutzlos!«
»In Bezug auf Scythe bin ich in der Tat vollkommen nutzlos.«
Carson musste unwillkürlich lächeln. Er mochte den Thunderhead, wenn er bescheiden war. In solchen Momenten wirkte er beinahe menschlich.
Da er nicht auf die Hilfe des Thunderhead rechnen konnte, musste Carson selbst Detektivarbeit leisten. In den nächsten Tagen sprach er mit anderen Schülern und Lehrern, mit denen er sich gut verstand. Alle sagten mehr oder weniger das Gleiche. In jeder Klasse hatten sich höchstens zwei Schüler für die Dienerposition gemeldet. Insgesamt würden also nicht mehr als dreißig Aufsätze eingereicht werden, mit denen sein eigener konkurrierte. Und das war nichts – denn niemand konnte mit Worten umgehen wie Carson. Er war seit drei Jahren Kapitän des Debattierteams, und wenn es um überzeugende Argumente ging, konnte er einem Schmutzläufer den Raumanzug abschwatzen und ihn nackt in der dünnen kalten Marsluft stehen lassen. Nicht dass er so etwas machen würde – aber er könnte.
»Du hättest in der Sterblichkeitsära geboren werden sollen«, hatte seine Mutter nach einem heftigen Streit einmal zu ihm gesagt. »Du wärst ein guter Anwalt geworden.«
Carson musste nachschlagen, was das Wort Anwalt bedeutete, aber nachdem er es recherchiert hatte, musste er ihr recht geben.
Und wie ein Anwalt hatte er eine Strategie. Einen Plan. Genauer gesagt eine Reihe von Plänen. Räder, die ineinandergriffen – denn er wusste, dass man für einen Erfolg nicht nur mehrere Züge vorausdenken, sondern auch verstehen musste, was zwischen den einzelnen Zügen geschah.
Er würde an einer Reihe von Universitäten angenommen werden – zumindest in dem Punkt war er ziemlich zuversichtlich. Aber ein Stipendium, das eine Rückfahrkarte zum Mars einschloss? Dafür bräuchte er vielleicht ein spezielles Empfehlungsschreiben. Wie zum Beispiel von einem Scythe – und nicht bloß irgendeinem Scythe, sondern dem zweiten Unterscythe von MidMerica. Es gab keine Uni, wo man nicht strammstehen würde, wenn ein solcher Brief einging. Carson musste nur den Wettbewerb gewinnen und den Mann beeindrucken – und auch wenn Unterwürfigkeit nicht in seinem Wesen lag, konnte er alles schaffen, was er sich vornahm. Wenn also ein demütiger Kammerdiener gefragt war, würde er so demütig und unterwürfig sein wie nötig.
Acher war auch nicht besonders demütig, aber er war ein eher hausbackener und marsverbundener Typ. Die Menschen mochten ihn. Nicht dass Carson nicht beliebt gewesen wäre, aber er war nicht in dem gleichen Maße jedermanns Freund wie Acher. Es war ein Unterschied, ob man Kapitän des Debattierteams oder wie Acher Kapitän des Basketballteams war. Es gab zwar keine anderen Schulen, gegen die seine Mannschaft antreten konnte, trotzdem trug es zu Achers gesellschaftlichem Status bei. Im Gegensatz zu Carson hegte er auch keine Träume von der Erde – er genoss es, ein großer Fisch in einem kleinen Teich zu sein. Achers Eltern leiteten die Metallfabrik des Planeten, die Produkte herstellte wie das Bohrstück, das Carson wahrscheinlich demnächst in dem kaputten Förderturm einbauen musste. Achers Zukunft war in schlichtem Schwarz-Weiß vor ihm ausgebreitet. Er würde auf die Mars Agricultural & Mechanical University gehen – kaum mehr als ein paar Seminarräume auf den obersten Ebenen der Kuppel –, einen Abschluss in Metallurgie machen und ein Rädchen im Familienbetrieb werden. Für ihn war es längst nicht so dringend, den Wettbewerb zu gewinnen wie für Carson.
Devona wiederum könnte Perspektiven haben, wenn sie wollte. Sie war intelligent und hatte sich auf Carsons Drängen an einigen Universitäten auf der Erde beworben. Sie hatte weniger hohe Ziele anvisiert als Carson, doch wenn sie einen Studienplatz bekam und ihre Familie die Mittel für den Flug aufbrachte, würde sie ebenfalls auf der Erde sein. Dann würde Carson vielleicht endlich seine Chance bei ihr bekommen – denn die Erde war schließlich die Erde. Wie weit voneinander entfernt konnte man dort tatsächlich sein?
Aber das waren Tagträumereien. Der Zuckerguss auf dem Kuchen, den er sorgfältig backte.
Carson schrieb drei verschiedene Aufsätze, schliff sie gründlich glatt, wählte dann den besten der drei aus und gab ihn ab. Um einen solchen Wettbewerb zu gewinnen, brauchte man ein waches Verständnis der menschlichen Psyche und der begrenzten Aufmerksamkeitsspanne eines Lehrkörpers, der wahrscheinlich ohnehin schon verärgert darüber war, diese Mehrarbeit aufgebürdet zu bekommen. Der eingereichte Text musste eine fesselnde Erzählung anbieten, mit Carson als benachteiligtem Helden. Er musste angemessene Verehrung für das Scythetum zum Ausdruck bringen sowie eine stolze Huldigung des Mars sein. Darüber hinaus sollte er eine Prise Humor enthalten – nicht genug, um ein lautes Lachen zu provozieren, aber vielleicht ein angedeutetes Lächeln. Und er musste gerade genug gezügelten Ehrgeiz vermitteln, um durchblicken zu lassen, dass Carson seine Aufgabe wirklich sorgfältig erfüllen würde.
»Kann ich es lesen?«, fragte Acher an dem Morgen, als sie die Aufsätze abgeben mussten.
»Nein«, antwortete Carson.
»Komm schon. Ich lass dich auch meinen lesen.«
»Wozu? Soll ich deine Fehler korrigieren?«
Die Frage war als Stichelei gedacht, aber Acher nahm sie wörtlich. »Nee, dabei hat Devo mir schon geholfen.«
Es ärgerte Carson maßlos, dass Acher das Ganze so locker nahm. »Warum willst du das überhaupt machen?«, fragte Carson.
Acher zuckte die Schultern. »Es ist mal was anderes. Wie viele Menschen können schon von sich behaupten, dass sie persönlicher Diener eines Scythe waren?« Carson musste wohl eine ziemlich saure Miene gezogen haben, denn Acher lachte laut auf. »Ich liebe es, wenn du zappelst«, sagte er und klopfte Carson auf die Schulter.
Acher gewann.
Unglaublich! Unbegreiflich! Acheron Yost, dessen gesamtes rhetorisches Überzeugungsrepertoire auf ein »Hey, warum nicht, Alter?« hinauslief, wurde ausgewählt, gegenüber Unterscythe Xenocrates die Jugend des Mars zu repräsentieren.
Neid war Carson nicht fremd. Es war ein Gefühl, das er bisher immer für sich zu nutzen gewusst hatte, auf dem er hatte herumkauen können wie auf einem dicken grünen Karamellbonbon. Aber dieses Mal war er ratlos.
»Falls es ein Trost ist, Carson, du bist Zweiter geworden«, erklärte Mr. McGeary ihm – was noch schlimmer war, fast so, als wäre er Letzter geworden. Zweiter bedeutete erster Verlierer.
»Ich möchte den Essay lesen«, verlangte Carson und wünschte, er hätte Achers Angebot gleich angenommen. »Ich möchte sehen, was er geschrieben hat, womit er Sie alle so überzeugt hat.«
»Wozu? Danach würdest du dich noch mieser fühlen. Und du solltest dich für Acheron freuen – er ist dein bester Freund, oder nicht?«
»Ja – und ich freue mich auch für ihn, aber …«
McGeary überlegte einen Moment, rief den Aufsatz dann auf seinem Tablet auf und gab ihn Carson zu lesen.
Carson nahm sich Zeit für die Lektüre. McGeary hatte recht – der Essay war gut. Einer Belohnung wert. Er berührte alle notwendigen Punkte, war ernst und einnehmend. Aber je länger Carson las, desto klarer wurde ihm, dass das überhaupt nicht Achers Worte waren. Acher hatte gesagt, dass Devona ihm geholfen hatte – aber sie hatte offensichtlich weit mehr getan als das. Sie hatten den Aufsatz für ihn geschrieben.
Carson blickte auf und sah McGeary an, der auf eine Reaktion wartete.
»Siehst du«, sagte er, »dein Freund hat einen ausgezeichneten Aufsatz abgegeben.«
Abgegeben . Ja, das war alles, was er getan hatte – er hatte ihn abgegeben. Aber das konnte Carson nicht sagen. Nicht nur weil er damit einen Freund verraten würden, er hatte auch keinen Beweis. Und selbst wenn er sich so weit erniedrigen würde, eine Anschuldigung zu erheben, würde man darin nur den kleinlichen Einwand des Zweitplatzierten sehen. Also biss er sich auf die Zunge und hielt alles zurück, was er hätte sagen können und wollen.
»Es ist ein guter Aufsatz«, erwiderte er nur
McGeary lächelte, als ob die Sache damit geklärt wäre. »Freut mich, dass du das auch so siehst.«
»Es ist ein guter Aufsatz«, wiederholte Carson, »aber meiner war besser.«
McGeary erwiderte seinen Blick und leugnete den Vorwurf zu Carsons Überraschung nicht ab. Stattdessen sagte er etwas, das er wahrscheinlich schon in dem Moment bereute, in dem die Worte über seine Lippen kamen.
»Es ging um mehr als um einen Aufsatz, Carson.«
Und plötzlich wusste Carson es.
Er verstand alles.
McGeary musste nichts weiter sagen, denn es lag alles offen ausgebreitet vor ihnen, ganze Bände zwischen diesen wenigen Worten.
Carson hatte nie eine Chance gehabt, diesen Wettbewerb zu gewinnen. Denn auch wenn er vielleicht auf dem Mars war, war er nicht vom Mars. Er verströmte nicht die Aura eines zünftigen glücklichen Kolonisten. Er war intelligent, er war charismatisch – aber eben nicht durch und durch ein Junge vom Mars wie Acher. Man wollte nicht, dass Carson das Gesicht der Jugend des Planeten war. Nicht wenn man ein Gesicht wie Achers hatte.
Das Wohnquartier der Lusks lag am äußeren Rand der Kuppel mit Blick auf das Ödland des Mars statt auf das Einkaufszentrum und das Grün des Daedalia Parks. Alle Bergarbeiterfamilien hatten Wohnungen mit einem Blick nach außen, wie um sie zu erinnern, worauf sie sich konzentrieren sollten.
Weil es kaum Wolken gab, waren die Sonnenuntergänge auf dem Mars nie besonders spektakulär. Ein blasser, sich verdunkelnder Himmel über verunstalteten Felsen und ihren noch zerklüfteteren pechschwarzen Schatten. Beeindruckend am Marshimmel waren allein die Nächte; denn bei der dünnen Atmosphäre war der Sternennebel atemberaubend. Aber für Carson war er nur eine Erinnerung an alles, was für ihn hoffnungslos unerreichbar war.
»Ich weiß, das Leben ist nicht gerecht«, sagte er an dem Abend zum Thunderhead. »Aber kann es nicht hin und wieder mal zu jemand anderem ungerecht sein?«
»Du weißt, dass ich nicht über den Wettbewerb sprechen kann« , erinnerte der Thunderhead ihn.
»Hast du nicht wenigstens ein paar gute Nachrichten für mich? Kannst du mir sagen, wann ich eine Antwort von den Universitäten erwarten kann, bei denen ich mich beworben habe?«
Tatsächlich hatten die ersten anderen Jugendlichen bereits eine Antwort erhalten. Bisher hatte Carson noch von keinem Vollstipendium in dieser Saison gehört – aber es gab jedes Mal ein oder zwei. Die Uhr tickte, denn alle Ab- und Zusagen kamen meist früh in der Raumfahrtsaison, damit den abreisenden Schülern Zeit für Vorbereitungen und Abschiede blieb. In dem letzten Passagierschiff zurück zur Erde war dann Platz für die angehenden Studenten vorgesehen.
Da anschließend für fast zwei Jahre keine weiteren Raumschiffe auf dem Mars ankommen würden, musste Carson in dieser Saison aufbrechen und die Highschool auf der Erde beenden. Währenddessen konnte er sich an die Zeitveränderung und die Schwerkraft gewöhnen, bevor er sein Studium an der Universität begann, die ihm die Passage komplett bezahlte. Und er würde einen Platz bekommen. Daran musste er glauben, denn die Alternative mochte er nicht einmal in Erwägung ziehen.
»Kannst du mir nicht wenigstens etwas Hoffnung machen?«, bettelte Carson den Thunderhead an. »Selbst wenn du keine Neuigkeiten hast, kannst du mir nicht zumindest sagen, dass Neuigkeiten unterwegs sind?«
Der Thunderhead verstummte.
Zunächst glaubte Carson, er habe eine Anfrage zur Erde geschickt und würde auf die Antwort warten.
Aber dann sagte der Thunderhead: »Das ist eine Diskussion zwischen dir und deinen Eltern.«
Und wie jeder wusste, verhieß es auf keiner Ebene etwas Gutes, wenn der Thunderhead anregte, dass man ein Gespräch mit seinen Eltern führen sollte.
An jenem Freitag fand die große Bergbaugala statt. Einmal in jedem Marsjahr erhoben die Menschen, die ihr Leben damit verbrachten, im Dreck zu wühlen, das Haupt und klopften sich gegenseitig auf die Schultern. In diesem Jahr wurden Carsons Eltern geehrt und mit dem »Mineral-Mogul-Preis« für die größte Fördermenge ausgezeichnet. Wie die Eltern seines Freundes Acher waren auch Carsons Eltern damit zufrieden, große Fische in einem kleinen und ziemlich unbelebten Teich zu sein.
»Bist du schon fertig angezogen?«, fragte seine Mutter, als Carson in seinem Zimmer saß und versuchte, die spätesten Antworttermine diverser Universitäten zu recherchieren.
»Das dauert nur eine Sekunde«, antwortete er.
Im Gegensatz zu seinen Eltern, die sich außer für die Gala nie schick machten, gehörte ein Anzug für Carson zur Grundausstattung für seine Debatten. Seine Eltern waren hingegen dermaßen an den blauen Overall gewohnt, den alle Bergarbeiter unter ihrem Raumanzug trugen, dass es für sie ein mühevolles und offenbar stundenlanges Unterfangen war, sich besonders herauszuputzen.
»Das ist ein großer Abend für sie« , erinnerte der Thunderhead ihn. »Sei geduldig mit ihnen.«
Als ob Carson das Elternteil wäre und nicht umgekehrt.
Als er am Bad vorbeikam, sah er, wie seine Mutter an der zu kurzen und schiefen Krawatte seines Vaters herumnestelte. Sein Vater blickte ihn an.
»Du siehst ernst aus«, bemerkte er.
»Wann sieht er mal nicht ernst aus?«, entgegnete seine Mutter.
»Ach, es sind bloß die Unis«, antwortete Carson. »Alle Universitäten in den Mericas sagen, dass sie ihre Antworten bereits abgeschickt haben. Aber ich habe noch keine bekommen.«
Carson bemerkte den verstohlenen Blick, den seine Eltern wechselten. Sein Instinkt oder vielleicht auch sein Selbsterhaltungstrieb rieten ihm, diesen Blick zu ignorieren … doch der Thunderhead hatte gesagt, dass ein Gespräch mit seinen Eltern anstand. Und der Thunderhead irrte sich nie.
»Was ist?«, fragte Carson. »Was verschweigt ihr mir?«
Seine Eltern mieden seinen Blick. Und in diesem Moment wusste Carson, dass sie sich gegen ihn verschworen hatten. Er hatte keine Ahnung, was sie getan hatten, er wusste nur, dass sie sich schuldig gemacht hatten.
»Was verschweigt ihr mir?«, wiederholte er nachdrücklicher, um klarzumachen, dass er sich nicht abwimmeln lassen würde.
»Wir können nach der Gala darüber reden«, sagte sein Vater.
»Nein, wir können jetzt darüber reden«, beharrte Carson.
Seine Mutter seufzte. Sein Vater wandte sich ihm direkt zu. »Erdbewohner sind faul. Sie denken rückständig oder – schlimmer noch – überhaupt nicht. Das sind nicht die Werte, nach denen wir dich erzogen haben.«
»Ihr wart bis vor acht Jahren selbst Erdbewohner! Ihr habt kein Recht, das zu sagen.«
»Die Zukunft unserer Familie ist hier auf dem Mars.«
Das war ein Witz, denn beide hatten vorherige Familien auf der Erde zurückgelassen, bevor sie Carson bekommen hatten. Sie hatten erwachsene Kinder, Enkel – vielleicht sogar Urenkel, soweit er wusste. Zwar hatten sie ihm ihr wahres Alter nie verraten, doch sie mussten auf die Hundert zugehen. Aber wenn man über den Berg kommt und sein Alter resetten lässt, neigt man dazu, eine Menge hinter sich zu lassen. Sie hatten ein volles Leben auf der Erde gelebt, bevor sie sie verlassen hatten. Wie konnten sie es wagen, ihm diese Chance zu verwehren?
»Ihr könnt mich nicht daran hindern!«
»Du hast noch dein ganzes Leben lang Zeit, zur Erde zurückzukehren«, schaltete seine Mutter sich ein. »Wann werden wir dich wiedersehen, wenn du jetzt gehst?«
Das war eine Frage, deren Antwort alle kannten. Carson würde nie hierher zurückkehren, und er wusste, dass seine Eltern nie auf die Erde zurückkommen würden. Er hatte bereits seinen Frieden damit gemacht. Aber seine Eltern offensichtlich nicht.
»Alle Jugendlichen träumen davon, zur Erde zu gehen, Carson, aber wir sind aus einem Grund hier«, dozierte sein Vater. »Aus einem noblen Grund. Das erkennst du vielleicht jetzt noch nicht, aber eines Tages wirst du stolz darauf sein, was wir hier leisten.«
»Und wenn nicht?«
Wieder dieser schreckliche verstohlene Blick zwischen den beiden, verschwörerisch und schuldbewusst.
Dann wandte sein Vater sich ihm direkt zu. »Wir haben deine Bewerbungen zurückgezogen«, sagte er.
Carson hörte die Worte, ohne sie verarbeiten zu können, als würde der Druck in seinem Kopf schlagartig absacken. »Ihr … Was habt ihr getan? Das könnt ihr nicht machen!«
»Wir sind deine Eltern, natürlich können wir das.«
Zum ersten Mal, solange er sich erinnern konnte, fehlten Carson die Worte. All die Zeit des Wartens und Hoffens. Ohne zu ahnen, dass man ihm schon den Teppich unter den Füßen weggezogen hatte. Was sein Vater getan hatte, war mehr als schrecklich. Es war unverzeihlich. Carson würde nie darüber hinwegkommen. Seine Beziehung zu seinen Eltern war nie die beste gewesen, doch nun war sie irreparabel zerrüttet. Das wussten seine Eltern nur noch nicht. Sie begriffen nicht, was sie getan hatten. Sie glaubten, seine Wut wäre vorübergehend. Aber das war sie nicht.
»Wenn du achtzehn wirst, kannst du machen, was dir gefällt«, sagte sein Vater. »Wenn du dann immer noch wegwillst, kannst du dich in der nächsten Raumfahrtsaison an jeder beliebigen Uni bewerben.«
»Bis dahin sind es noch mehr als zwei Jahre!«
Sein Vater lachte. »Du könntest hier tausend Jahre leben, ohne Angst, nachgelesen zu werden. Zwei Jahre sind nichts!«
»Nein, sie sind nicht nichts! Weil ich eine Million Jahre leben kann, aber ich werde nie wieder siebzehn sein!«
»Oh, Schatz, mach dir keine Sorgen«, sagte seine Mutter. »Ich bin sicher, eines Tages wird der Thunderhead einen Weg finden, wie man die Menschen auch auf siebzehn resetten kann.«
Wenn im Leben ein Rädchen ins andere greift, und man macht einen falschen Schritt, kann man in dem langsam mahlenden Getriebe zerrieben werden. Aber genau wie Neid konnten auch Schmerz oder Enttäuschung ein Rohstoff sein. Carson war schließlich Spross einer Bergbaufamilie – er konnte tief in sich graben und die ranzigen Gefühle zu einer nützlichen Ressource verfeinern.
»Hey, nimm es nicht so schwer«, erklärte Acher ihm, den Arm fest um Devona gelegt, die ihm seine jüngste bescheuerte Aktion längst vergeben hatte, was immer es gewesen war. »Wenn Zenocrates ankommt, stelle ich ihn dir vor.«
»Er heißt Xenocrates wie Sokrates«, sagte Carson. »Wenigstens seinen richtigen Namen solltest du dir merken.«
»Ja, sonst könnte er dich nachlesen«, sagte Devona.
»Seinen getreuen Diener nachlesen?«, sagte Acher. »Niemals!«
Carson hatte ihnen nichts von den zurückgezogenen Bewerbungen erzählt. Er wollte weder Devonas Mitleid noch Achers Kommentare hören, wie toll es war, dass sie nun zusammen auf die Mars-A&M-University gehen konnten.
»Wir sollten ein paar ›Trankopfer‹ mit zum Tholus-Kamm nehmen und feiern.«
»Ich kann nicht«, erwiderte Carson. »Ich muss morgen zum Nordfeld, ein neues Bohrerteil einbauen.«
»Du solltest mitfahren, Acher«, schlug Devona vor. »Das ist bestimmt ein Job für zwei.«
»Klar!«, sagte Acher ohne Zögern – als wäre es keine Tortur, mit dem Geländewagen drei Stunden über Land zu kriechen. »Ich meine, wahrscheinlich hat meine Familie das Ding gebaut, oder? Da kann ich dir ja zumindest helfen, es einzusetzen.«
Und obwohl Carson eigentlich keine Lust auf Achers Gesellschaft hatte, musste er Devona recht geben – es war ein Job für zwei. Die Alternative wäre gewesen, mit seinem Vater oder seiner Mutter rauszufahren, was noch schlimmer gewesen wäre.
Und dann kam Carson der Gedanke, dass es auch aus anderen Gründen vorteilhaft sein könnte, Acher dabeizuhaben, Gründe, über die er gerade erst nachzudenken begann.
»So ein richtiger altmodischer Roadtrip!«, sagte Acher. »Nur ohne Straße.«
»Deal«, sagte Carson. »Am Samstag bei Anbruch der Dämmerung – an der nördlichen Laderampe.«
»Ich werde da sein!«, sagte Acher.
Und die Rädchen in Carsons Kopf fingen an zu rotieren.
Der Weg, der von der Kuppel nach Norden führte, war von Geländewagen und Transportern zwar gründlich planiert, aber noch nicht asphaltiert. Der Thunderhead hatte andere Prioritäten und würde wahrscheinlich eher eine Hochgeschwindigkeitsbahnstrecke als eine Straße bauen. Im Moment jedoch musste jeder, der nach Norden wollte, den rauen Tharsis Trail nehmen.
Carson hätte den Geländewagen auf Autopilot stellen können, doch er genoss die Kontrolle, die er beim Fahren hatte. Manchmal wich er absichtlich von der Strecke ab, um sich zu verirren, was natürlich unmöglich war, weil zu jeder Zeit genau im Norden der Mons Olympus aufragte. Und selbst wenn man es schaffte, die Orientierung zu verlieren, wusste der Thunderhead immer, wo man sich befand, was ebenso ärgerlich wie beruhigend war.
Heute jedoch hielt sich Carson an den Weg, weil er eine Mission hatte, und je eher die erledigt war, umso besser.
Acher saß neben ihm und wählte immer neue Musiktitel aus, ohne einen Song zu Ende zu spielen, bevor er schon nach dem nächsten suchte.
»Wie machst du das jedes Wochenende?«, fragte er. »Ich würde mich zu Tode langweilen.«
»Man gewöhnt sich dran«, antwortete Carson.
Wie für viele andere in der Kolonie bestand auch für Acher keine Notwendigkeit, sich je weit von der Kuppel zu entfernen. Vielleicht gefiel ihm die Idee eines Roadtrips, doch er hatte keine Vorstellung von der Realität.
»Hey, guck mal!«, sagte er und blickte zu dem Kameraauge des Thunderhead am Armaturenbrett. »Thunderhead, wie viel ist zwei plus zwei?«
Sie warteten, doch der Thunderhead antwortete nicht.
Acher schien sehr zufrieden mit sich. Carson war hingegen verblüfft, dass der Thunderhead die Antwort verweigerte.
»Siehst du? Ich arbeite jetzt offiziell für einen Scythe«, sagte Acher stolz. »Das heißt, der Thunderhead kann nicht mehr mit mir reden, bis der Scythe wieder abreist.«
»Xenocrates ist doch noch gar nicht hier.«
»Das ist egal«, sagte Acher. »Ich bin schon damit betraut, sein Quartier vorzubereiten und Sachen für ihn einzukaufen, deshalb ist es für den Thunderhead offiziell!«
Nur um sich zu vergewissern, dass es nicht an einem Empfangsproblem lag, versuchte Carson es selbst.
»Thunderhead, wie viel ist zwei plus zwei?«
»Vier, Carson« , antwortete der Thunderhead ohne jedes Zögern. »Aber das wusstest du schon.«
Carson hätte schwören können, einen spöttischen Unterton gehört zu haben. Eine künstliche Intelligenz lachte ihn aus.
»Thunderhead. Privatsphäre«, sagte Carson.
»Selbstverständlich« , erwiderte der Thunderhead. Das Licht der Kamera sowie diverse Sensoren in dem Geländewagen gingen aus.
»So«, sagte Carson. »Wenn er nicht mit dir reden kann, dann lasse ich ihn auch nicht mit mir reden.«
Zwei Stunden später erreichten sie die Rohbauten des nördlichen Außenpostens. Sein zukünftiges Zuhause, wenn seine Eltern es zu bestimmen hatten.
»Du wirst nicht allein sein«, hatten sie ihm erklärt. »Dort gibt es Quartiere für mindestens hundert Siedler.« Und das bedeutete was? Vielleicht fünf Leute in seinem Alter? Carson sehnte sich danach, dass seine Welt sich erweiterte und nicht noch enger wurde.
Eine halbe Stunde später erreichten sie die Kuppe eines Hügels, von dem man normalerweise einen Panoramablick über das gesamte Bohrfeld hatte, doch über die Ebene fegte ein Sandsturm, der alles verhüllte. Das ließ beide stutzen – wenn auch aus vollkommen unterschiedlichen Gründen.
»Mann, das ist ja beschissen«, sagte Acher. »Sollen wir warten?«
»So schlimm ist es nicht«, erklärte Carson ihm. »Ich habe schon unter übleren Bedingungen hier gearbeitet.«
Carson steuerte den Geländewagen zu der Anlage hinunter. Sobald sie direkt in den Sandsturm gerieten, konnten sie kaum noch etwas erkennen. Die Sonne verdunkelte sich, und der Himmel verfärbte sich tiefrot. So hatte Carson sich den Mars früher immer vorgestellt, bevor er hergekommen war und feststellen musste, wie blass und blutleer der Planet war. Nach wenigen Metern in dem Sturm war ihre Sicht auf null reduziert, und in den Sensoren des Geländewagens ertönte nur Rauschen.
»Vielleicht sollten wir ein bisschen langsamer fahren«, sagte Acher, der bei all seiner lässigen Großtuerei ein Kind der Kuppel und nicht an die Gegebenheiten auf den entlegenen Bohrfeldern gewöhnt war.
»Alles gut«, erklärte Carson. »Ich brauche nichts zu sehen, um zu wissen, wohin wir fahren.«
Als sie in den breiten Mittelgang des Bohrfelds bogen, waren zu beiden Seiten die blassen Schatten der Bohrtürme auszumachen. Das reichte Carson, um sie zum Pik-König zu navigieren.
»Sollen wir nicht doch warten?«, fragte Acher wieder, als sie anhielten. »Man kann kaum einen halben Meter weit sehen.«
»Ein halber Meter reicht«, antwortete Carson.
Sie zogen ihre Raumanzüge an und traten hinaus in den Mahlstrom. Das Bohrerteil in dem Anhänger des Geländewagens war so dick wie ein Baumstamm, mit scharfen industrietauglichen Schneiden. Selbst bei der geringeren Anziehungskraft des Mars wog es knapp vier Zentner. Ihre kraftunterstützenden Raumanzüge erleichterten zwar das Anheben, schränkten jedoch ihre Bewegungsfreiheit massiv ein.
Sie stapften durch den tobenden Sandsturm. In einer dichteren Atmosphäre wäre jedes Vorankommen vermutlich unmöglich gewesen, auf dem Mars jedoch war es kaum mehr als eine Lästigkeit.
Der Geländewagen hinter ihnen verschwand aus ihrer Sicht. »Wir hätten näher parken sollen«, sagte Acher.
Nach weiteren zwanzig Metern erreichten sie den Bohrturm. Während die anderen Bohrer stetig vor sich hin stampften und pulverisiertes Marserz in ihre Trichter spuckten, stand der Pik-König da wie ein stummer Wächter.
Es dauerte eine Weile, das alte zerbrochene Bohrerstück zu entfernen. Das größte Teil plumpste mit einem dumpfen Aufprall zu Boden, den sie mehr spürten als hörten. Anschließend richteten sie das Ersatzteil aus und befestigten es. Carson stieg zu dem Steg mit dem Kontrollpult hoch, während Acher am Boden blieb, um sich zu vergewissern, dass das neu eingesetzte Bohrerstück gerade in den Schaft eingepasst war.
»Okay, schalte ihn ein«, sagte Acher.
Ein paar Sekunden verstrichen.
Nichts.
»Das ist merkwürdig«, sagte Carson. »Er packt nicht.« Er beugte sich über den Rand des Wartungsstegs und blickte in den Bohrschacht. »Ah, ich erkenne das Problem, im Futterrohr hat sich ein Felsbrocken verklemmt. Er ist auf deiner Seite – kannst du ihn lösen?«
Acher zwängte sich in den Bohrschacht und blickte nach oben. »Ich sehe nichts.«
»Auf der anderen Seite, noch ein Stück weiter – gleich bist du da.«
Im selben Augenblick setzte der Bohrer sich plötzlich in Bewegung und packte Acher mit seinen scharfen Zähnen.
»Ah, Scheiße! Schalt aus! Schalt aus!«
Carson drückte auf den Notstopp und eilte auf die Seite, wo Acher eingeklemmt war. Die Schneiden des Bohrers hatten seinen Raumanzug aufgerissen. Er keuchte mit verzerrtem Gesicht.
»Schnell, hol Flickzeug. Aus dem Geländewagen. Ich verliere Sauerstoff! Beeil dich!«
Aber Carson stand nur da.
»Du musst den Bohrer rückwärtslaufen lassen, damit er mich wieder rausdrückt.«
Aber Carson rührte sich nach wie vor nicht.
»Es tut mir wirklich leid, Acher.«
»Entschuldige dich nicht, mach einfach!«
»Nein, ich meine, es tut mir leid – aber ich kann nicht.«
Acher rang in der dünner werdenden Luft um Atem. »Was … was soll das heißen?«
Carsons schwieg weiter, was seine Antwort kristallklar machte.
»Verdammt, Carson! Willst du mich sterben lassen? Dafür verpass ich dir eine Abreibung, wenn ich wiederbelebt bin!« Acher versuchte, sich aus seiner Lage zu befreien, doch er war zu fest in dem Gewinde eingeklemmt.
Darüber musste Carson grinsen. »Ich liebe es, wenn du zappelst.«
Dann stieg er zu dem Kontrollpult hoch, schaltete den Bohrer wieder ein und drehte ihn auf volle Kraft.
Es gibt eine alte Geschichte von Poe, die Carson gelesen hatte. Nicht Scythe Poe, sondern der ursprüngliche Wortschmied der Sterblichkeitsära. Darin führt ein Mann seinen Erzfeind in ein uraltes Gewölbe und mauert ihn lebendig ein. Ja, diese Sterblichen waren brutal!
Acher war nicht Carsons Feind – aber er war sein Rivale. Seine Tötung als Sterblicher wäre verwerflich gewesen, ihn totenähnlich zu machen war dagegen nicht mehr als eine schmutzige Unbequemlichkeit.
Carson war sich nicht einmal sicher gewesen, ob er in der Lage sein würde, es durchzuziehen. Es gab so viele Variablen, so viele Hindernisse. Der Privatsphäremodus schloss den Thunderhead nur aus persönlichen Räumen wie dem Geländewagen aus – aber er hatte Sensoren und Kameras auf jedem Bohrturm. Ihrem Blick zu entgehen wäre schwierig geworden, doch der Sandsturm hatte alles geändert! Der Thunderhead konnte nichts sehen! Wie hätte Carson eine Gelegenheit, die ihm so offensichtlich von der universellen Vorsehung präsentiert worden war, nicht ergreifen können!
Anders als auf der Erde gab es auf dem Mars noch kein Netzwerk von Drohnen, um Menschen zu bergen, die auf dem Bohrgelände starben, also musste Carson Acher persönlich zurückbringen. Drei Stunden später fuhr er direkt durch die Notfalleinfahrt der Kuppel, wo ein Krisenteam Achers zerquetschen Körper entgegennahm, in Eis packte und in das Revival-Zentrum der Kolonie transportierte.
Carson gab sich aufgewühlt und reuevoll. »Es gab einen Sandsturm – wir hatten den Bohrer gerade eingeschaltet, aber er ist von einer Böe zurück in den Schacht geweht worden. Es war meine Schuld – ich hätte den Bohrer nicht anmachen dürfen, bevor ich wusste, dass Acher in Sicherheit war!«
»Mach dir keine Vorwürfe«, sagte ein Mitarbeiter des Krisenzentrums. »Bloß schade um seinen Raumanzug; der ist irreparabel ruiniert.«
Und weil der Thunderhead den Zwischenfall nicht gesehen hatte, wurde Carsons Schilderung zum offiziellen Bericht.
Nun musste Carson nur noch warten, dass die notwendigen Rädchen sich drehten.
»Carson« , sagte der Thunderhead, »ich wollte dich etwas fragen.«
Es war am selben Abend. Carson war allein in seinem Zimmer, ließ den Tag Revue passieren und rechtfertigte seine Tat erneut vor sich selbst, denn in rationaler Logik war er schwer zu überbieten. Seit dem Zwischenfall hatte der Thunderhead nicht mit ihm gesprochen, und Carson hatte keine Lust, sich jetzt mit ihm auseinanderzusetzen.
»Carson?«
»Lass gut sein, ich bin nicht in der Stimmung.«
»Ich glaube nicht, dass ich es ›gut sein lassen‹ kann« , sagte der Thunderhead. »Ich muss dich fragen, solange ich noch kann.«
»Okay, aber mach es kurz.«
»Es geht um Achers Unfall.«
»Was ist damit?«
»Kommt ziemlich gelegen, meinst du nicht?«
»Nicht für ihn.«
»Aber für dich.«
Carson richtete sich auf. »Was willst du andeuten?«
»Ich kann zwar nicht mit dir über den Ausgang des Aufsatzwettbewerbs sprechen, aber ich weiß, dass du Zweiter geworden bist. Was mich zu der Frage führt … hast du Acher mit Absicht totenähnlich gemacht, um seinen Platz einzunehmen?«
Carson stieß ein kurzes Lachen aus. Er konnte nicht anders. Der Thunderhead versuchte erst gar nicht, um den heißen Brei herumzureden, sondern kam direkt zur Sache.
»Wie kannst du es wagen, mich zu beschuldigen!«
»Es ist keine Beschuldigung, es ist bloß eine Frage.«
»Eine beleidigende Frage!«
»Und trotzdem fällt mir auf, dass du sie immer noch nicht beantwortet hast.«
»Thunderhead, Privatsphäremodus.«
»Selbstverständlich, Carson.«
Die Kameras des Thunderhead schalteten sich gehorsam ab, und er verstummte.
Carson wusste, dass der Thunderhead versuchte, ihn zu überlisten. Die KI konnte eine Lüge mit hundertprozentiger Genauigkeit erkennen, an der Stimme sowie an minimalen Veränderungen in der Physiologie einer Person. Aber solange Carson die Frage nicht beantwortete, würde es eine Frage bleiben. Ohne Beweise konnte der Thunderhead ihn nicht anklagen und bestrafen – und Carsons Bericht war jetzt der offizielle Bericht, den der Thunderhead nicht in Frage stellen oder widerlegen konnte.
Sollte er grübeln. Carson wäre glücklich, wenn er nie wieder mit dem Thunderhead sprechen müsste.
An dem Tag, als der Scythe eintreffen sollte, lag Acher immer noch im Revival-Zentrum. Seine Verletzungen waren so schwer, dass die Rekonstruktion und Zellreparatur vier, vielleicht sogar fünf Tage dauern würde.
»Gut, dass er sich nicht an den Unfall erinnern wird«, hatte Achers Mutter zu Carson gesagt. »Ich fürchte, du musst die Hauptlast des Traumas allein tragen.«
»Das ist schon okay«, hatte Carson ihr versichert. »Aber danke.«
Er fand es erstaunlich, dass Achers Eltern ihn nicht verdächtigten. Oder vielleicht hatten sie einen Verdacht, waren jedoch der Meinung, dass Carson ihrem Sohn einen Gefallen getan hatte. Sie waren offensichtlich nicht begeistert davon gewesen, dass Acher Zeit mit einem Scythe verbringen sollte. Jedenfalls hegten sie keinen Groll gegen Carson – und das würde Acher auch nicht tun, wenn er zurück unter den Lebenden war. Sein Gehirn war so massiv verletzt worden, dass seine Erinnerungen vom Thunderhead komplett wiederhergestellt werden mussten – das Letzte, woran er sich erinnern würde, war der Abend vor dem Morgen, als sie zu dem Bohrfeld gefahren waren. Acher würde Carsons Geschichte genauso glauben wie alle anderen. Alle bis auf den Thunderhead.
Und so wurde Carson mangels Alternative zu Xenocrates’ persönlichem Diener für die Dauer von dessen Aufenthalt auf dem Mars berufen. Unvermittelt fand er sich in Besprechungen mit den Einflussreichen und Mächtigen der Kolonie wieder.
»Es gibt keinen Zeitrahmen für seine Abreise«, erklärte Gouverneur Vallerin ihm. »Womöglich bleibt er Tage, vielleicht auch Wochen. Soweit wir wissen, könnte er bis zum letzten Schiff der Raumfahrtsaison warten – er hat sich zu nichts präzise geäußert.«
Vallerin wirkte verzweifelt. Er war ein Mann, der für Terminkalender und Tagesstruktur lebte – was wahrscheinlich genau der Grund dafür war, dass Xenocrates ihm weder Plan noch Struktur gab, nach denen er sich richten konnte. Es war eine Machtdemonstration. Scythe wussten in jeder gegebenen Situation, wie man als Alphatier agierte.
»Du wirst uns alles mitteilen, was er braucht«, erklärte der Gouverneur Carson, »und wenn er an irgendetwas Anstoß nimmt, muss ich das auch erfahren, damit wir jedes potenzielle Problem im Keim ersticken können.«
»Jawohl, Sir.«
»Du bist unsere erste Verteidigungslinie«, fuhr Vallerin fort. »Wir wollen, dass er einen durchweg positiven Eindruck von unserer Kolonie bekommt, und da du dich permanent in seiner Gegenwart aufhalten wirst, repräsentierst du uns alle. Bitte enttäusche uns nicht.«
Carson hatte nicht die Absicht, irgendjemanden zu enttäuschen. Er war gekränkt, dass der Gouverneur offenbar so wenig Vertrauen in ihn hatte, doch es wäre undiplomatisch gewesen, das zu zeigen.
Carsons Eltern waren sich unsicher, was sie von alldem halten sollten.
»Ich nehme an, es ist eine Ehre«, sagte seine Mutter hörbar skeptisch.
»Du solltest ihm das Bohrfeld zeigen«, schlug sein Vater vor. »Zeige ihm die Arbeit, die wir hier leisten.«
»Ich glaube nicht, dass er sich so für den Mars interessiert«, erklärte Carson ihm.
»Warum kommt er dann hierher?«
Das war die Frage, nicht wahr? Denn trotz der offiziellen Erklärung des Scythetums hatte Carson den Verdacht, dass diese Reise einen anderen Grund hatte als reine Neugier.
Die Ankunft des ersten Schiffes wurde noch größer gefeiert als in der vergangenen Raumfahrtsaison – denn mit einem Scythe an Bord gab es jemanden, den zu beeindrucken sich lohnte. Die Leute waren kribbelig, aber auch ängstlich. Es gab Gerüchte, dass Xenocrates während der sechswöchigen Reise von der Erde an Bord mehrere Personen nachgelesen hatte, um »den Impuls loszuwerden«. Aber niemand wusste, ob das stimmte. Und wenn ja, ob es reichte, den Nachlese-Drang des Scythe für längere Zeit zu stillen.
Fast die gesamte Bevölkerung der Kolonie hatte sich im Daedalia-Park versammelt. Die Landeplattform war nur von der Aussichtsterrasse einsehbar, aber beim Touchdown eines Raumschiffs bebte der Boden so heftig, dass alle es mitbekamen. Als das Raumschiff landete, senkte sich Stille über den Park, und die Menschen warteten auf ihren ersten Blick auf den ersten Scythe, der je einen Fuß auf den Mars gesetzt hatte.
Das Ankunfts-Gate war abgesperrt, außer für geladene Gäste. Der Gouverneur, hochrangige Mitglieder seines Stabs, Reporter, ein Kinderchor, der das angebliche Lieblingslied des Unterscythe vortragen sollte, und Carson in seinem besten Debattierteamanzug.
Er musste zugeben, dass er nervös war. Er hatte zwar keine Angst, nachgelesen zu werden, aber dies war seine erste Begegnung mit einem Individuum, das mit einem Fingerschnippen oder Wink so ziemlich alles bewirken konnte, außer die Sonne auszuknipsen. Die bloße Vorstellung einer solchen Person war einschüchternd. Ob der Mann selbst es auch war, musste man sehen.
Xenocrates reiste mit einem überraschend kleinen Gefolge. Eine Frau, die sich als seine Stabschefin vorstellte, ein Koch und zwei stoische Mitglieder der Bladeguard, die offenbar hauptsächlich dazu da waren, Symmetrie herzustellen, indem sie sich zu beiden Seiten der Gangway postierten. Die Stabschefin rechtfertigte ihre Existenz, indem sie den Ankunftsbereich umorganisierte und auf mehr Platz bestand, bevor Xenocrates das Raumschiff verließ. Die Kinder wurden weiter nach hinten verlegt. Fast alle Fotografen und Reporter wurden weggeschickt, nur jeweils einer wurde als Vertreter der Presse zugelassen. Als schließlich alles zu ihrer Zufriedenheit geregelt war, hob sie die Stimme zu einer offiziellen Vorstellung.
»Meine Damen und Herren, Seine Ehren, Xenocrates, zweiter Unterscythe von MidMerica.« Und wie aufs Stichwort trat er auf die Gangway.
Er war ein stämmiger Mann. Kein Koloss, aber auch nicht schlank. Er trug eine schlammig ockerfarbene Robe, die Farbe von Senfsamen. Er wirkte weder zufrieden noch unzufrieden, sein Gebaren weder ernst noch amüsiert. Es war unmöglich, in seinem Gesicht zu lesen, was der Mann fühlte und dachte. Die meisten hätten das irritierend gefunden, aber Carson war beeindruckt. Xenocrates’ Miene war die Maske wahrer Macht.
»Euer Ehren!«, sagte der Gouverneur. »Welche Freude, dass Sie unsere kleine Kolonie mit Ihrem Besuch beehren.« Der Gouverneur streckte die Hand aus, doch der Unterscythe reagierte nicht, so dass die Hand des Gouverneurs als einsamer partnerloser Körperfortsatz in der Luft stehen blieb, was Vallerin noch verlegener machte.
»Ich bitte um Erlaubnis, Ihren schönen Planeten zu betreten, Sir«, sagte Xenocrates.
Einen Moment lang war der Gouverneur verwirrt. »Euer Ehren, als Scythe brauchen Sie keine Erlaubnis. Meine Welt ist Ihre Welt.« Er machte dem Chorleiter ein Zeichen, und die Kinder begannen zu singen.
Xenocrates lächelte gezwungen, wobei seine Miene eher aussah wie das Gesicht eines Mannes, der sich hinhockt, um seinen Darm zu entleeren. »Famos«, sagte er. »Wirklich famos.«
Dabei erkannte Carson, dass der Scythe den Gesang bestenfalls erduldete. Als das Lied endlich zu Ende war, wies der Gouverneur auf Carson.
»Euer Ehren – wir haben wie erbeten einen der unseren als Diener für Ihre Zeit auf dem Mars ausgewählt. Das ist Carson Lusk.«
Zu Carsons Überraschung streckte der Unterscythe die Hand aus. Carson hatte beinahe Angst, sie zu schütteln, doch dann erkannte er, dass Xenocrates’ Hand ihn eine Stufe über den Gouverneur und seine absurde Pantomime stellen würde, und er griff beherzt zu.
»Es ist eine beispiellose Freude, Ihre Bekanntschaft zu machen, Euer Ehren.«
Xenocrates kicherte leise. »Redet der Junge immer so?«, fragte er den Gouverneur, der bei der Antwort sichtlich auf der Leitung stand.
»Ich bemühe mich nur, respektvoll zu sein«, sagte Carson.
»Nun, es gibt respektvoll, und es gibt unterwürfig. Und unterwürfig hat Ihr Gouverneur schon abgedeckt.«
Die stoischen Wachen gaben glucksend zu erkennen, dass sie auch als Chor des Unterscythe dienten.
Gouverneur Vallerin hüstelte und würgte erkennbar an dem Stolz, den er gerade herunterschlucken musste. »Wir haben in unserem prachtvollen Park einen Empfang für Sie vorbereitet, Euer Ehren«, sagte er und versuchte mit einer Geste, alle Anwesenden aus dem Ankunftsbereich in den offenen Bereich der Kuppel zu lotsen.
»Vielleicht später«, sagte Xenocrates. »Es war ein beengter und grässlicher Flug. Ich brauche ein wenig Zeit, um meine Marsbeine zu entwickeln, sozusagen.«
Wieder wirkte Vallerin konfus. »Ja, aber … aber die ganze Kolonie wartet, um Sie zu begrüßen.«
»Ich sagte, vielleicht später«, wiederholte Xenocrates in perfekt dosiertem Befehlston.
Der Gouverneur ruderte zurück. »Wie es Ihnen lieber ist, Euer Ehren. Wir werden die Festlichkeiten nach Ihrem Belieben neu terminieren. Als deine erste Aufgabe, Carson, bringe unseren geschätzten Gast und sein Gefolge bitte zu ihren Quartieren.«
Um der Menschenmenge auszuweichen, die einen Blick auf Unterscythe erhaschen wollte, nahm Carson einen Weg, der sie um den offenen Bereich in der Mitte der Kuppel herumführte.
»Ich kann es Ihnen nicht verdenken, dass Sie nach einer so langen Reise ein wenig Zeit für sich haben möchten«, sagte Carson.
»Ja, und ich kann es absolut nicht ausstehen, wenn jemand wie euer Gouverneur annimmt, er könne über meine Zeit verfügen.«
»Ich auch nicht«, sagte Carson und dachte an seine Eltern und deren ungelenke Versuche, sein Leben zu steuern.
»Dann hoffe ich, dass wir in vielen Dingen einer Meinung sein werden«, sagte Xenocrates.
»Das ist auch mein Wunsch, Euer Ehren.«
Carson hatte recherchiert, worin die Pflichten eines persönlichen Dieners bestanden. Das war durchaus mühsam gewesen, weil er von dem Moment an, in dem man ihm den Posten übertragen hatte, nicht mehr auf die Hilfe des Thunderhead zurückgreifen konnte. Deshalb musste er alle Informationen selbst ausgraben. Es ging offenbar hauptsächlich um die Pflege der Garderobe, was leicht gewesen wäre, weil Xenocrates nur vier identische Roben besaß, aber in der Realität umfasste sein Job sehr viel mehr.
Der Unterscythe hatte viele, viele Wünsche. Bestimmte Getränke zu bestimmten Tageszeiten. Einige mit Eis, aber nur einen Würfel von angemessener Größe. Außerdem musste Carson jederzeit eine Auswahl von Snacks mit sich führen, dazu ein Tablet, um die ausführlichen Bemerkungen zu notieren, die der Unterscythe schneller äußerte, als Carson sie eingeben konnte. Und wann immer es eine unangenehme Nachricht gab, war Carson jedes Mal der Überbringer. Wie zum Beispiel, als Xenocrates ein Verlangen nach Kirschen hatte.
»Es tut mir leid, Euer Ehren, aber es gibt hier kein Kern- oder Steinobst – die Bäume sind noch nicht genug gewachsen, um Früchte abzuwerfen.«
»Dann einen Pfirsich«, sagte Xenocrates.
»Ähm … das ist auch Kernobst«, sagte Carson, doch Xenocrates’ trockenes Lächeln machte deutlich, dass er Carson neckte.
»Aber unsere Zitrusbäume haben zum ersten Mal Früchte getragen. Wie wäre es mit einer Orange?«, schlug Carson vor. »Und wir haben jede Menge Strauchobst. Beeren, Weintrauben, sogar Wassermelonen.«
Am Ende begnügte Xenocrates sich mit einer Schale Erdbeeren und tadelte den Vorsitzenden der Landwirtschaftsgilde dafür, dass man neben künstlichem Fleisch im Labor nicht auch Obst züchtete.
Die ersten Tage waren ein Wirbelsturm aus Partys und Vorführungen zu Ehren des Scythe, außerdem Besichtigungen zu jedem Aspekt der Kolonie. Für Carson, der für Xenocrates bei alldem auf Abruf bereitstehen musste, war es ein unerwartetes Abenteuer. Er bekam Zutritt zu Orten, die ihm normalerweise versperrt blieben, von den Nahrungsmittellaboren bis zum Computerkern. Er konnte überallhin gehen, solange er im Windschatten des Scythe segelte – und auch wenn Carson nicht gern im Schatten von irgendjemandem stand, war dies ein Schatten, den er allzu gerne ertrug.
Am fünften Tag war Carson mehr als erschöpft, aber es war, wie der Thunderhead es einmal ausgedrückt hatte, die Erschöpfung nach einem gut erledigten Job. Normalerweise ging er nach Hause, wenn Xenocrates sich für den Abend in sein Quartier zurückgezogen hatte, doch an diesem Abend rief der Unterscythe ihn in sein Arbeitszimmer.
»Setz dich«, sagte er. »Trink einen Tee mit mir – du warst den ganzen Tag auf den Beinen.«
Sie nahmen auf den bequemen Sesseln vor dem holographischen Kamin Platz, der Schatten in den Raum warf.
»Ich muss sagen, dass ich dieses Holo-Feuer ziemlich fade finde.«
»Richtiges Feuer ist verboten, Euer Ehren«, erklärte Carson ihm. »Sauerstoff ist zu wichtig, um ihn zu verbrennen.«
»Ja, nun, das ist vermutlich sinnvoll. Erzähl mir etwas von dir, Carson, damit sich das Gespräch ausnahmsweise einmal nicht um mich dreht.«
Carson räusperte sich. »Nun, ich gehöre zu den besten Schülern meiner Klasse. Ich bin nicht der Beste, aber ziemlich nah dran. Ich bin Kapitän des Debattierclubs und –«
»Das meinte ich nicht. Erzähl mir, was dich an diesem Job so gereizt hat, dass du dich beworben hast. Und komm mir bitte nicht mit dem Gewäsch aus deinem Aufsatz.«
»Sie haben meinen Aufsatz gelesen?«
»Er wurde mir zur Verfügung gestellt. Dein Aufsatz war auf den Punkt. Perfekt im Ton. Langweilig.« Er trank einen großen Schluck Tee. »Soweit ich weiß, hat der junge Mann, der für diesen Job vorgesehen war, einen unerwarteten Unfall erlitten.«
»Nun, Euer Ehren, es wäre kein Unfall, wenn es nicht unerwartet gewesen wäre.«
Er hatte gehofft, Xenocrates ein Lächeln zu entlocken, aber vergeblich.
»Du bist mit deiner Familie seit Gründung der Kolonie hier, nicht wahr?«
»Ja, Euer Ehren. Seit acht Jahren.«
»Und wie findest du den Mars?«
Carson dachte unwillkürlich, dass es sich um eine Fangfrage handeln musste. Aber er wusste nicht, wo die Fallstricke lagen.
»Es ist mein Zuhause.«
Der Scythe runzelte die Stirn. »Das sagt mir gar nichts.«
»Ich habe die Erde mit neun verlassen – ich kann mich kaum erinnern.«
»Noch mehr nichts.«
Carson seufzte. Er war heute Abend zu müde für Spielchen. »Sagen Sie mir einfach, welche Antwort Sie erwarten, Euer Ehren, dann gebe ich sie Ihnen.«
»Die Wahrheit«, sagte Xenocrates. »Egal, welche Konsequenzen du fürchtest.«
Carson sah den Scythe lange an und gehorchte dann wider besseres Wissen. Er sagte Xenocrates die Wahrheit.
»Ich hasse es hier«, gab er zu. »Mehr als hassen.«
Xenocrates lächelte – kein aufgesetztes, sondern ein aufrichtiges Lächeln – und lehnte sich zurück. »Weiter.«
»Ich hatte gehofft, ein Stipendium für eine Uni auf der Erde zu bekommen, aber … aber das hat nicht geklappt.«
Xenocrates nickte, mühelos zwischen Carsons Zeilen lesend. »Und du dachtest, wenn du meine Gunst gewinnst, könnte ich vielleicht Türen für dich öffnen.«
Carson konnte dem Scythe nicht in die Augen sehen. Dies war der einzige Mensch, den er je getroffen hatte, dessen Blick er nicht standhielt.
»Der Gedanke … ist mir gekommen.«
»Lüg mich nicht an, mein Sohn – er ist dir nicht nur gekommen, er stand im Zentrum aller anderen Gedanken.«
»Ja, Euer Ehren. Entschuldigen Sie.«
Das tat Xenocrates mit einer Handbewegung ab. »Entschuldige dich nie für deinen Ehrgeiz. Es ist keine Schande, aufsteigen zu wollen.«
Dann wandelte die Miene des Mannes sich zu jener undurchsichtigen, unergründlichen Maske der Macht.
»Vielleicht gibt es Möglichkeiten, die du noch gar nicht in Betracht gezogen hast.«
Mehr sagte Xenocrates nicht, sondern ließ den Gedanken im Flackern des künstlichen Feuers in der Luft hängen.
Als Carson an jenem Abend nach Hause ging, wusste er, dass der Unterscythe Pläne mit ihm hatte, doch er konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, wie diese Pläne aussehen sollten.
»Und wie ist er so?«, fragte Acher.
»Schwer zu beschreiben. Es ist, als wäre er der Mittelpunkt des Universums und wüsste es auch, deshalb muss er es niemandem beweisen. Zum Beispiel wenn er geht – dann ist es nicht so, als würde er sich bewegen, sondern als würde die Luft ihm ausweichen und er würde von dem Vakuum vorwärtsgezogen.«
Carson saß mit Devona in Achers Revival-Zimmer. Acher war erst seit wenigen Stunden wach und noch ein bisschen benommen, klang jedoch schon wieder ganz wie sein altes Ich.
»So sind Scythe halt«, sagte Devona. »Sie saugen durch ihre bloße Anwesenheit sämtliche Luft aus einem Raum.«
»Wollt ihr Eiscreme?«, fragte Acher und bot seinen Löffel an. »Sie ist ziemlich phantastisch.«
Aber beide lehnte das Angebot dankend ab. Als ob es sie den Totenähnlichen einen Schritt näherbringen würde, wenn sie in einem Revival-Zentrum etwas aßen.
»Was auf dem Bohrfeld passiert ist, tut mir leid«, sagte Carson.
Acher fiel es leicht, etwas, woran er sich nicht erinnerte, mit einem Achselzucken abzutun. »Shit happens«, sagte er. »Und so müde, wie du aussiehst, habe ich wohl eher Schwein gehabt. Ich bin froh, dass du den Job am Ende bekommen hast. Ich wäre bestimmt nicht gern der Diener dieses aufgeblasenen Fatzkes gewesen.«
»Gefällt es dir, Carson?«, fragte Devona.
»Es ist sehr anstrengend«, antwortete er, »und er ist schwer zufriedenzustellen, aber am Ende des Tages ist es bereichernd.«
Das mit dem Ende des Tages meinte Carson ganz wörtlich, denn Xenocrates rief ihn mittlerweile jeden Abend in sein Arbeitszimmer. Sie plauderten über Philosophie und aktuelle Themen. Sie sprachen über Geschichte und die Rolle des Scythetums im großen Plan der Menschheit. Carson fühlte sich wichtig in dem Wissen, dass seinen Gedanken durch eine so bedeutende Persönlichkeit Glaubwürdigkeit verliehen wurde.
»Hat er dir seine Waffen gezeigt?«, fragte Acher. »Ich habe gehört, Scythe haben ein ganzes Arsenal von Dingen, die normale Menschen nicht besitzen dürfen.«
»Er hat keine mitgebracht«, erwiderte Carson. »Er hat gesagt, er ist nicht gekommen, um nachzulesen, und bis jetzt scheint das zu stimmen.«
»Trotzdem«, meinte Devona mit leichtem Schaudern, »würde ich ihn nicht gern dabei ertappen, wie er mich ansieht.«
»Also … dann wollt ihr ihn vermutlich nicht kennenlernen?«
Acher und Devona blickten sich ein wenig unbehaglich an.
»Nein«, sagte Acher, »vielleicht lieber nicht.«
Carson freute sich auf seine abendlichen Gespräche. Xenocrates war offenbar ein Experte bei allen Themen, und seine Argumente waren vielschichtig. Es war eine Herausforderung, mit ihm mitzuhalten, und Carson genoss es. Xenocrates’ Einsichten zum Zustand der Menschheit gaben ihm viel Stoff zum Nachdenken.
»Unsterblichkeit ist ein zweischneidiges Schwert«, sagte er eines Abends. »Umso notweniger ist es, eins bei sich zu tragen.« Er lachte so begeistert über seinen eigenen Witz, dass Carson angesteckt wurde. Dann senkte Xenocrates die Stimme. »Du sagst, es gefällt dir hier nicht. Würdest du dir wünschen, diese Kolonie hätte nie existiert?«
Carson spürte, dass in der Frage mehr mitschwang, weshalb ein einfaches Ja oder Nein als Antwort nicht reichen würde.
»Ich glaube … die Menschheit wurde auf der Erde geboren und sollte deshalb auch auf der Erde bleiben.«
»Aber der Thunderhead hat beschlossen, diese Kolonie zu gründen«, übernahm Xenocrates die Rolle des Advocatus diaboli, »und der Thunderhead kann sich nicht irren, oder?«
»Es war auch kein Irrtum«, erwiderte Carson. »Es war eine Entscheidung.« Er machte eine Pause und überlegte. »Ich … hätte anders entschieden.«
Xenocrates schien mehr als zufrieden mit Carsons Antwort. Dann beugte er sich vor und flüsterte, als hätten die Wände Ohren.
»Vielleicht können wir das noch.«
Jeden Tag wurde der Unterscythe mit allen möglichen Luxusgütern überhäuft, die die Kolonie zu bieten hatte. Speisen und Getränke, dazu Geschenke in erdrückender Menge, die er unmöglich alle mit zurück zur Erde nehmen konnte. Bei alldem war Carson an Xenocrates’ Seite – nur bei den Fotos war er gnädigerweise ausgenommen.
»Ich ertrage das alles nicht um meinetwillen«, erklärte Xenocrates ihm, »sondern für die Bewohner des Mars. Sie haben nicht jeden Tag Gelegenheit, jemanden zu beeindrucken.«
»Und sind Sie beeindruckt?«, fragte Carson.
Xenocrates tat den Gedanken mit seiner typischen Geste und einem Schnauben ab. »Das ist unwichtig. Entscheidend ist, dass ich die Rolle spiele.«
Dabei musste er als Scythe eigentlich gar keine Rolle spielen, was umso mehr vermuten ließ, dass das Ganze Teil eines größeren Plans war. So viel hatte der Mann schon durchblicken lassen – und sogar angedeutet, dass Carson ein Element dabei sein könnte. Wenn Carson sein Blatt richtig ausspielte, würde vielleicht nie wieder in seinen Karten stehen, dass er Bohrerteile am Pik-König auszutauschen hatte.
Nach zwei Wochen hatte Xenocrates alles gesehen, was es zu sehen gab, und jeden getroffen, den er in der Kolonie treffen wollte. Während Carson sich um den Scythe kümmerte, hatte er keine Zeit für Hausaufgaben gehabt, und der Scythe hatte seine Lehrer aufmerksamerweise angewiesen, alle verpassten Arbeiten mit sehr gut zu bewerten. Seine Mathelehrerin hatte getobt, doch angesichts eines Scythe-Befehls war ihr Einwand so dünn gewesen wie die Marsluft.
»Alles ist möglich«, erklärte Xenocrates ihr, als sie sich widersetzte, und ging ohne ein weiteres Wort weg. Am Ende erhielt Carson eine Eins, der Beweis dafür, dass Xenocrates recht hatte. Alles war möglich, wenn man genug Macht hatte, um die Lehrsätze der Mathematik nach seiner Laune zu verbiegen. Deshalb wartete Carson ab, bis Xenocrates ein wenig mehr von dieser Macht in seine Richtung schnippte.
»Wenn du dir wirklich eine helle und glorreiche Zukunft auf der Erde wünschst, kann ich dir das ermöglichen«, erklärte Xenocrates ihm. »Aber du musst sie dir verdienen.«
Es war bei einem abendlichen Tee vor dem künstlichen Kamin. Carsons Herz setzte für einen langen Schlag aus, als der Scythe ihm das Angebot unterbreitete, auch wenn er versuchte, sich nichts anmerken zu lassen. Er wusste nicht genau, ob er aufgeregt war oder Angst hatte. Wahrscheinlich ein bisschen von beidem.
»Was soll ich tun?«
Xenocrates räusperte sich, trank einen Schluck Tee und dann noch einen. Carson erkannte, dass die Worte, die der Scythe äußern würde, wohlüberlegt waren. Trotzdem nahm der Mann sich die Zeit, sie noch weiter abzuwägen, bis er schließlich sprach.
»Ich würde dich bitten, einen heiligen Dienst für die Menschheit zu leisten. Etwas, das den Thunderhead auf seinen Platz verweisen und damit unsere Lebensart bewahren würde.«
Carson hatte nach wie vor keine Ahnung, worauf der Unterscythe hinauswollte. ›Unsere Lebensart bewahren‹ klang wie eine große Aufgabe für einen Jungen auf dem Mars, der schließlich nur ein Unbekannter im großen Plan der Dinge war, auch wenn er davon träumte, sehr viel mehr zu sein. Andererseits suchte der Unterscythe vielleicht gerade eine unbekannte Größe.
»Es muss einen ›Zwischenfall‹ auf dem Mars geben«, fuhr Xenocrates fort. »Einen Zwischenfall, den weder die Menschheit noch der Thunderhead je vergessen werden. Ich brauche jemanden, der einen solchen Zwischenfall verursacht.«
Carson atmete tief durch. »Das kann ich machen«, sagte er.
Am nächsten Tag verkündete Xenocrates, dass seine Zeit auf dem Mars sich dem Ende zuneigen würde.
»Die Gastfreundschaft des roten Planeten ist einzigartig«, verkündete er. »Ich werde die guten Menschen des Mars nicht so schnell vergessen.«
Die Wichtigen und Mächtigen der Kolonie kamen zu einem letzten Empfang zusammen, diesmal, um dem Scythe Lebewohl zu wünschen. Cocktails und Crudités wurden nervös in zitternden Händen gehalten, weil die Menschen immer noch fürchteten, ihr Gast könnte beim Abgang noch jemanden nachlesen.
Die Direktorin von Carsons Schule kam durch die Menge auf ihn zu – eine makellos gekleidete Frau, die ihr Quäntchen Macht beinahe so gut ausübte wie der Scythe. Sie hob das Glas zu einem spöttischen Prosit und fragte Xenocrates, wie Carson sich gemacht habe. Carson hatte Lobeshymnen erwartet, doch das Lob des Scythe – wenn man es überhaupt als solches bezeichnen konnte – fiel zurückhaltend aus. »Nun, er ist unbedingt enthusiastisch«, sagte Xenocrates. »Ich glaube, Diener zu sein, ist nicht seine größte Stärke, aber für seine Mühe würde ich ihm eine Eins geben.«
Die Direktorin verzog ihre Miene zu einer Mischung aus einem Lächeln und einer Grimasse.
Carson versuchte, einen neutralen oder vielleicht sogar leicht zerknirschten Gesichtsausdruck zu wahren. Die Bemerkung hatte ihn getroffen, doch er wusste, dass alles, was der Scythe sagte, einem Zweck diente.
»Wussten Sie, dass Carson sich sehr für Physik interessiert?«, fragte Xenocrates die Direktorin. »Er hat unaufhörlich davon gesprochen.«
»Physik, wirklich?«
Das war auch für Carson eine Neuigkeit, doch er war klug genug, dem Scythe nicht zu widersprechen. Besser, er schwamm mit dem Strom.
»Ja – tut mir leid, wenn ich Sie mit meinem Gerede über Naturwissenschaft gelangweilt habe«, sagte er.
»Unsinn, es ist ein gesundes Interesse. Der Junge braucht ein Praktikum, in dem er seine Vorliebe nützlich einbringen kann!« Dann machte er eine Pause, um deutlich zu machen, dass das nicht nur eine beiläufige Bemerkung war. Der Unterscythe erwartete eine Antwort.
»Nun … ich nehme an, Carson könnte ein Praktikum bei einem der Kuppel-Ingenieure machen«, schlug die Direktorin vor. »Oder vielleicht bei dem Architektenteam für den nördlichen Außenposten.«
»Ja, vielleicht«, sagte Xenocrates, der offensichtlich etwas Besseres hören wollte.
»Oder ein Praktikum im Energiekern …«, schlug sie vor.
»Ja«, sagte Xenocrates. »Was für eine perfekte Idee! Wie hört sich das für dich an, Carson?«
»Es ist … mehr, als ich mir hätte erhoffen können.«
Xenocrates klatschte in die Hände. »Dann ist es abgemacht.«
»Nun, ich muss erst mit den Verantwortlichen für die Energieversorgung sprechen …«, sagte die Direktorin zögernd.
»Wäre es Ihnen lieber, wenn ich mit ihnen sprechen?«, fragte Xenocrates.
Die Direktorin hätte beinahe ihren Drink verschüttet. »Nein, Sie haben bereits mehr als genug getan, Euer Ehren. Wir werden es veranlassen.«
Dann tappte sie reichlich verwirrt von dannen.
Carson schüttelte den Kopf. »In der Lage zu sein, etwas einfach zu sagen, und dann ist es so …«
»Solche Macht hat einen Preis«, erklärte Xenocrates ihm. »Ich werde ihn dir verraten, wenn ich herausgefunden habe, was es ist.« Dann lachte er laut und lange.
In jener Nacht lag Carson wach und rang mit der ihm gestellten Aufgabe. Je länger er darüber nachdachte, desto logischer erschien es ihm, dass man ihn für diese ernste Pflicht ausgewählt hatte. Das Scythetum wollte jede Beteiligung glaubhaft bestreiten können. Man brauchte einen geheimen Agenten, der unter dem Radar flog – jemanden, dem man die Schuld zuschieben konnte, wenn dieser »Zwischenfall« schiefging. Carson wusste, dass das Scythetum ihn benutzte, aber statt mit Verbitterung erfüllte ihn das mit einem Gefühl der Bestimmung. Denn benutzte er nicht umgekehrt auch das Scythetum?
»Von jetzt an arbeitest du in meinem Auftrag«, erklärte Xenocrates ihm am nächsten Morgen. »Das wird dir überall in der Kolonie unbeschränkten Zutritt verschaffen. Keine Tür wird für dich verschlossen sein. Du kannst gehen, wohin du willst, und machen, was du willst, aber achte darauf, dass niemand weiß, was du vorhast.« Dann lächelte er Carson strahlend und stolz an, so wie seine Eltern es nie taten.
»Wenn du das richtig machst, wird dir auch auf der Erde keine Tür verschlossen bleiben.«
»Gut, dass er weg ist«, sagte Carsons Mutter, nachdem Xenocrates den Rückflug zur Erde angetreten hatte.
»Amen«, pflichtete sein Vater bei.
Und sie waren nicht die Einzigen. So höflich und respektvoll sich alle in Xenocrates’ Gegenwart benommen hatten, so tat die gesamte Kolonie nun, da er weg war, einen Seufzer der Erleichterung. Es dauerte nicht lange, bis die Dinge wieder ihren normalen Lauf nahmen. Carson dagegen lebte in einer vollkommen neuen Normalität. Einer Normalität, in der er an Wochenenden keine Reparaturen auf dem Bohrfeld mehr vornehmen musste. Er hatte angenommen, seine Eltern würden über sein Praktikum klagen und versuchen, es zu vereiteln. Aber stattdessen waren sie offensichtlich froh, dass er auf dem Mars etwas gefunden hatte, das ihn interessierte.
Der Energiekern war ein geschütztes Silo tief unter der Kuppel, zu dem niemand ohne besondere Sicherheitsprüfung Zutritt erhielt. Aber wie Xenocrates gesagt hatte, standen Carson nun alle Türen offen – seine Biometrik konnte jedes Schloss öffnen. Er musste nur die Handfläche auf ein Kontrollpanel legen oder in einen Netzhautscanner blicken. Aber das behielt er für sich – und ließ, als er am ersten Tag zu einem Rundgang in den Energiekern eingeladen wurde, andere die Türen für sich öffnen.
Der Kontrollraum war eine einschüchternd komplexe Anlage voller Bildschirme, Schalter, Knöpfe und blinkender Lichter. Es gab ein riesiges Bleiglasfenster mit einem atemberaubenden Blick auf die Kernfusionsreaktion, die die gesamte Kolonie mit Energie versorgte: eine glühende Kugel von der Größe eines Golfballs, die von einem magnetischen Sicherheitsfeld in ihrer Position gehalten wurde. Schwer zu glauben, dass etwas so Kleines eine solche Leistung erbringen konnte.
»Wie funktioniert das?«, fragte Carson den Techniker, der ihn durch die Anlage führte.
»Ich will verdammt sein, wenn ich das wüsste – es funktioniert einfach.«
Carson brauchte nicht lange, um zu begreifen, wie wenig die Mitarbeiter der Energieversorgung über Nuklearphysik und die komplexen Funktionen eines Fusionsreaktors wussten.
»Und wenn etwas schiefgeht?«, fragte er einen Ingenieur, der in der Nahrungskette offenbar weiter oben stand, in der ersten Woche. Der Ingenieur sah ihn an, als hätte Carson den Verstand verloren.
»Es geht nichts schief.«
»Ja, aber was ist, wenn doch?«
Daraufhin schickte der Mann Carson zum Kaffee holen – denn in diesem »Praktikum« war er mehr Laufbursche, als er es als Diener je gewesen war. Und die Leute behandelten ihn nicht halb so respektvoll wie Xenocrates. Sie betrachteten ihn offenkundig als einen unerwünschten Störenfried bei ihren Kreuzworträtseln, oder was sie sonst machten, während sie ein System kontrollierten, das schon vom Thunderhead kontrolliert wurde.
»Warte den richtigen Augenblick ab«, hatte Xenocrates ihm erklärt. »Täusche Interesse vor, lerne so viel, wie du kannst, und lauere auf deine Gelegenheit. Du bist ein intelligenter junger Mann, ich bin sicher, du wirst den perfekten Moment für die perfekte Störung finden.«
Wie immer hatte Xenocrates seine Worte genau gewählt. Er hatte von einer Störung gesprochen, um die Realität abzumildern. Aber Carson wusste, worum es eigentlich ging. Sabotage.
Carson kam jeden Tag nach der Schule und an den Wochenenden in den Energiekern, erduldete die herablassende Behandlung, machte Erledigungen und lernte, so viel er konnte.
»Man sieht dich gar nicht mehr«, sagte Devona, als sie ihn eines Tages nach der Schule erwischte.
»Ja«, stimmte Acher ihr zu. »Schwänz mal einen Tag im Energiekern und mach was mit uns.«
Aber Carson erklärte ihnen, dass er schlicht keine Zeit hatte. Denn wer würde sich damit zufriedengeben, drittes Rad zu sein, wo er jetzt eine heimliche Triebfeder war?
In nur einer Woche hatte Carson begriffen, worum es sich bei den komplizierten Bedienungsfeldern im Kontrollraum tatsächlich handelte.
»Es ist ein Busy-Board«, erklärte er Dr. Riojas, der leitenden Ingenieurin, die Carson von allen dort arbeitenden Menschen am meisten bewunderte. Sie tat seine Fragen nie ab und schien auch nicht genervt, sie beantworten zu müssen.
»Verzeihung?«
»Ein Spielzeug für Kleinkinder, verstehen Sie?«, erklärte er. »Knöpfe und Schalter, Lichter und Regler. So ein Die-Kuh-macht-Muh-Gimmick.«
Sie lächelte trocken und erzählte ihm, wie der Thunderhead nur zur Unterhaltung der Belegschaft hin und wieder eine Pseudokrise inszenierte, die sie reparieren konnten.
Carson grinste zurück. »Haben Sie je versucht, eine echte Krise zu verursachen? Ich meine, nur um zu sehen, was passieren würde?«
Sie schüttelte den Kopf. »Soll das ein Witz sein? Weißt du, wie viele Fehlersicherungen es gibt?«
Carson zuckte mit den Schultern. »Zeigen Sie es mir.«
Sie sah ihn an, vielleicht ein wenig verschmitzt.
Dann streckte sie die Hand zur Primärkonsole aus und wischte mit dem Finger über den Bildschirm, um der Reaktion mehr Wasserstoff zuzuführen. Die Temperatur im Zellkern stieg langsam aus dem grünen in den gelben Bereich.
Nach fünf Sekunden ertönte im Kontrollraum ein überaus höflicher Alarm, gefolgt von einer sehr höflichen und vertrauten Stimme.
»Dr. Riojas, Sie haben die Reaktion auf ein potenziell gefährliches Level hochgefahren« , sagte der Thunderhead. »Ich würde Ihnen empfehlen, eine Kühlsequenz einzuleiten.«
»Die Empfehlung wurde gebührend zur Kenntnis genommen«, erwiderte sie. Die Anzeige wanderte langsam weiter vom gelben in Richtung des roten Bereichs.
»Dr. Riojas, ich muss darauf bestehen, dass Sie sich um diese Sache kümmern« , sagte der Thunderhead nach einigen weiteren Sekunden.
»Mir ist im Moment wirklich nicht danach«, sagte sie so blasiert wie möglich.
Selbst Carson wurde mulmig, als er beobachtete, wie die Anzeige weiter anstieg und der Alarm weniger höflich wurde.
»Lisa, bitte …« , versuchte der Thunderhead es mit persönlicher Ansprache. »In wenigen Sekunden wird das Ganze zum Problem.«
»Das ist mir klar«, sagte Dr. Riojas.
Die Anzeige überschritt die Linie zwischen Gelb und Rot.
»Willst du das nicht stoppen?«
»Nein, will ich nicht.«
»Also gut« , sagte der Thunderhead und leitete mit etwas, das einem leidgeprüften Seufzer am nächsten kam, die Kühlsequenz selbst ein. Die Anzeige sank vom roten wieder in den gelben und zurück in den grünen Bereich. Nach nicht einmal einer Minute verstummte der Alarm, und alle Anzeigen bewegten sich wieder innerhalb akzeptabler Parameter.
»Wenn Sie sich gestresst fühlen, Dr. Riojas, sollten Sie vielleicht den Rest des Tages freinehmen und Ihre Stimmungsnaniten überprüfen lassen« , schlug der Thunderhead vor.
»Nein, mir geht es gut«, sagte sie und zwinkerte Carson zu. »Die Kuh macht Muh.«
Nach einem Monat gehörte Carson zum festen Inventar des Kontrollraums. Er fegte, holte Kaffee und machte wahllose Besorgungen, um plötzliche Launen der Mitarbeiter zu befriedigen. Aber … manchmal ließ man ihn auch im Kontrollraum allein. Er konnte schließlich keinen Schaden anrichten, wie Dr. Riojas so eindrucksvoll demonstriert hatte.
Carson wusste, dass es nicht um Vertrauen ging, sondern darum, dass seine Anwesenheit so selbstverständlich war, dass er für alle sichtbar sein konnte, ohne dass man Notiz von ihm nahm. Auf diese Weise würde man, wenn es für ihn Zeit zum Handeln wurde, nicht einmal auf den Gedanken kommen, dass er der Urheber sein könnte.
Und die ganze Zeit beobachtete der Thunderhead ihn mit seinen starren Augen, ohne etwas zu sagen. Wusste er, womit man Carson beauftragt hatte? Was er plante? Die Vorstellung, dass der Thunderhead ihn nicht aufhalten oder auch nur über das sprechen konnte, was er wusste, war für Carson der halbe Spaß.
Nur einmal wäre seine Tarnung beinahe aufgedeckt worden – und das ausgerechnet von seinen Eltern.
Es war eine der dummen kleinen Streitereien, die er ständig mit einem der beiden führte. Er war spät vom Energiekern nach Hause gekommen. Der dritte Ingenieur hatte seinen hundertsten Geburtstag begangen, der eigentlich nicht groß hätte gefeiert werden dürfen, weil der Mann gerade über den Berg gekommen war und sich auf sechsundzwanzig hatte resetten lassen. Trotzdem gab es einen Schokoladenkuchen mit hundert holographischen Kerzen, die man nicht auspusten konnte. Fast die komplette Belegschaft des Energiekerns war anwesend, und Carson wollte nicht durch Abwesenheit auffallen. Der Kuchen hatte ihm den Appetit verdorben, so dass er zu Hause das Abendessen ausließ. Zum dritten Mal hintereinander, wie seine Mutter bemerkte. Sie schimpfte mit ihm, sein Vater blickte lange genug von seinem Tablet auf, um den Tadel zu unterstützen. Und als Carson die Dreistigkeit hatte zu verlangen, dass ihn alle verdammt nochmal in Ruhe lassen sollten, blickte seine Mutter zu der Kamera in der Ecke des Wohnzimmers.
»Thunderhead, könntest du meinem Sohn bitte erklären, warum es wichtig ist, keine Mahlzeiten auszulassen?«
Es war eine altehrwürdige Tradition in ihrer Familie, den Thunderhead dazu zu bringen, sich auf die Seite zu schlagen, die auf jeden Fall nicht Carsons war. Aber diesmal kam der Thunderhead seinen Eltern mit der Antwort nicht entgegen.
»Es tut mir leid, aber dem kann ich nicht nachkommen.«
Das reichte, um Carsons Vater endgültig von seinem Tablet aufblicken zu lassen.
»Was soll das heißen, du kannst dem nicht nachkommen?«, fragte Carsons Mutter.
Noch bevor der Thunderhead zu seiner Erklärung ansetzte, geriet Carson innerlich in Panik.
»Euer Sohn ist bei einem Scythe in Anstellung« , informierte der Thunderhead seine Eltern zu Carsons absolutem Entsetzen. »Deshalb darf ich keinen Kontakt mit ihm haben.«
Seine Eltern sahen sich verblüfft an, als wäre der Esstisch zwischen ihnen plötzlich und unerwartet verschwunden.
»Aber … der Scythe ist abgereist«, sagte Carsons Mutter.
»Ja, das ist richtig« , sagte der Thunderhead. »Aber euer Sohn ist immer noch bei ihm angestellt.«
Sie schüttelte abschätzig den Kopf. »Du irrst dich.«
»Der Thunderhead kann sich nicht irren, Liebes«, sagte Carsons Vater.
Und obwohl ihr inneres Räderwerk permanent darauf konzentriert war, Marserde auszubuddeln, erkannte Carson, dass sie nun in ganz anderen Gefilden schürften.
Er schaltete so schnell wie möglich auf Schadensbegrenzung. »Ich weiß, was es ist«, sagte er. »Bevor Unterscythe Xenocrates abgereist ist, hat er mich aufgefordert, in Kontakt zu bleiben und ihm hin und wieder Berichte vom Mars zu schicken. Vermutlich bedeutet das für den Thunderhead, dass ich immer noch für ihn arbeite.«
Sein Vater wandte sich grunzend wieder seinem Tablet zu.
Seine Mutter runzelte die Stirn. »Wie egoistisch von ihm! Hat er überhaupt darüber nachgedacht, was das für deine Beziehung zum Thunderhead bedeutet?«
Carson zuckte mit den Schultern. »Keine große Sache.«
Und obwohl es durchaus eine große Sache war, konnte der Thunderhead ihm nicht widersprechen.
Es gab einen Aberglauben in der Kolonie. Wenn die Raumfahrtsaison zu Ende ging, sollte man nicht zusehen, wie das letzte Schiff abhob. Angeblich ging es auf den alten Seefahrerglauben zurück, dass es Unglück bringt, einem Menschen, der in See sticht, auf Wiedersehen zu sagen, weshalb die Leute sich meistens mit »Lebewohl« oder »Bon Voyage« behalfen. Am letzten Tag der Raumfahrtsaison, wenn das letzte Schiff sich zum Abheben bereitmachte, war die Aussichtsplattform mit Blick auf die Startrampe deshalb immer menschenleer.
Aber Carson hatte in einer kleinen Geste des Trotzes jedes Mal ohne ein Blinzeln den Start und die Flugbahn des Schiffes verfolgt, so lange, bis sein Blickfeld von Kreiseln getrübt und die Flamme des Triebwerks am Himmel verschwunden war. Acher und Devona hatten ihm dabei immer Gesellschaft geleistet, und er war fest entschlossen, dass das heute nicht anders sein sollte … obwohl in Wahrheit alles ganz anders werden würde.
An jenem Tag verließ Carson die Schule früher – allerdings nicht ohne Devona und Acher vorher ausdrücklich eine Nachricht geschrieben zu haben.
»Letztes Schiff heute«, erinnerte er sie ausdrücklich. »Halb vier? Wie immer?«
Aber Acher schickte ihm ein Basketball-Emoji. »Ich hab Training, Alter.«
Einen Moment lang überlegte Carson, es dabei zu belassen. Aber er war nicht völlig gewissenlos. Und er hatte Acher schon einmal getötet.
»Vergiss das Training«, schrieb er zurück. »Versprich mir, dass du dort sein wirst. Es ist Tradition!«
»Gut, ich probier’s«, antwortete Acher.
Zufrieden brach Carson zum letzten Tag seines Praktikums auf.
Im vergangenen Monat hatte er sich jedes Mal am Eingang der Energieversorgung gemeldet und von irgendjemandem hereinholen lassen – weil er die Anlage theoretisch nur betreten konnte, wenn ein Mitarbeiter ihn hereinließ. Aber heute legte er die Hand auf das Sicherheitspanel zum Öffnen der Explosionsschutztür, die den Energiekern vom Rest der Kolonie trennte. Das wiederholte er beim Fahrstuhl, der ihn zum unterirdischen Kontrollraum brachte. Er blickte zur Kamera in der Ecke der Kabine auf und lächelte, als würde er für ein Foto posieren. So oft in seinem Leben hatte Carson sich hilflos gefühlt. Zum Beispiel als seine Eltern ihm erzählt hatten, dass sie ihn von der Erde wegreißen würden, um Siedler auf dem Mars zu werden. Oder als sein Vater all seine Bewerbungen bei Universitäten zurückgezogen hatte. Er fragte sich, ob der Thunderhead sich auch hilflos fühlen konnte. Wenn, musste er in diesem Moment seine Ohnmacht spüren.
Carson betrat den Kontrollraum, wo heute Otto, der unsympathische Ingenieur, der Carson gleich bei ihrer ersten Begegnung zum Kaffee holen geschickt hatte, der Babysitter für den Computer war.
»Bist du zu früh oder habe ich einfach die Zeit vergessen?«, fragte Otto.
Carson war nicht in der Stimmung für Smalltalk, also benutzte er seinen Elektroschocker. Otto sank bewusstlos von seinem Stuhl und plumpste mit einem befriedigenden Geräusch auf den Boden.
Die Kuh macht Muh , dachte Carson, als er zu der Steuerungskonsole im Kontrollraum blickte. Das Schwein macht Oink. Der Reaktor macht Bumm .
Mittlerweile kannte er alle Bedienungsfelder in- und auswendig. Er hatte sich jeden Hebel, jedes Lämpchen und jeden Knopf gemerkt. Er kannte jede Schnittstelle, jeden Bildschirm und jedes Fenster, das sich öffnen konnte.
Er zog den Regler nach unten, der den Energiekern auf manuellen Betrieb umstellte – wie er es bei Dr. Riojas beobachtet hatte. Dann rief er den Bildschirm zur Steuerung der Wasserstoffzufuhr auf und erhöhte sie. Die Anzeige bewegte sich langsam in den roten Bereich. Aber Carson wusste, dass die Beschleunigung der Fusion allein nicht ausreichen würde. Der Zellkern würde beschädigt werden, ja, aber um ihn wirklich auszuschalten, bedurfte es eines Doppelschlags.
Erneut musste er unwillkürlich zur Kamera des Thunderhead in der Ecke des Raumes zu blicken. »Guckst du zu?«, fragte er.
Aber der Thunderhead konnte natürlich nichts sagen. Ebenso wenig, wie er irgendeine von Carson eingeleitete Maßnahme außer Kraft setzen konnte, weil dieser für einen Scythe arbeitete.
»Gut. Dann guck zu!«
Er ging zu der Konsole auf der anderen Seite des Raumes, mit der das magnetische Sicherheitsfeld gesteuert wurde, und stellte die Parameter so schief und asymmetrisch wie möglich ein.
Das Magnetfeld begann zu schwanken und wurde instabil. Die kleine Plasmakugel wuchs von der Größe eines Golfballs zu der eines Baseballs, dehnte sich in die Länge, wurde nierenförmig und dann völlig formlos. Und während all dessen ertönte kein einziger Alarm. Der Thunderhead war gewissermaßen gesetzlich verpflichtet, Carsons Komplize zu sein, ohnmächtig, jemanden zu alarmieren, bis der Ausgang nicht mehr zu ändern war.
Aber Otto war nicht der Einzige, der heute in der Energieversorgung arbeitete. Jeder dort unten, der ein Auge auf den Reaktor hatte, konnte sehen, dass irgendetwas schrecklich verkehrt gelaufen war.
Carson hörte Schritte nahen, kniete sich rasch neben Otto, der gerade wieder zu sich kam, und verpasste ihm einen weiteren Stoß mit dem Elektroschocker. Als die Tür aufging und Dr. Riojas mit zwei panischen Ingenieuren hereinkam, sah sie Carson, der sich offenbar bemühte, den bewusstlosen Mann zu reanimieren.
»Carson, was ist passiert?«, fragte sie.
»Ich weiß es nicht! Als ich hereingekommen bin, lag Otto einfach da.«
Dr. Riojas und ihr Team gingen direkt zu den Steuerungskonsolen, aber Carson hatte ihren Zugang zum System gesperrt. Heute war das Busy-Board wirklich nur ein Spielzeug.
»Wie konnte das passieren?«, fragte einer der Ingenieure, während er vergeblich versuchte, die »Zugriff verweigert«-Meldung zu umgehen.
»Thunderhead! Leite die Kühlsequenz ein!«, befahl Dr. Riojas. »Und stabilisiere das Sicherheitsfeld!«
Darauf erwiderte der Thunderhead: »Es tut mir leid, Dr. Riojas. Dem kann ich nicht nachkommen.«
Dr. Riojas geriet leicht ins Stottern. »W… Was soll das heißen, dem kannst du nicht nachkommen? Das gesamte System steht vor dem Kollaps! Sofort kühlen und stabilisieren!«
»Noch einmal, Dr. Riojas« , sagte der Thunderhead ruhig. »Ich bedauere, dass ich die Anweisung nicht befolgen kann. Aber das wäre eine Einmischung in eine Scythe-Aktion.«
In Dr. Riojas’ Gesicht spiegelten sich mehr Gefühle wider, als Carson mit einem Blick erfassen konnte. Sie drehte sich mit zusammengekniffenen Augen zu ihm um und fragte:
»Carson … hast du hier unten irgendjemanden gesehen? Jemanden, der das getan haben könnte?«
»Nein«, antwortete Carson. »Ich meine, in der Nähe des Eingangs zur Energieversorgung hingen ein paar Widerlinge rum, die ein bisschen suspekt aussahen – aber Widerlinge sehen immer suspekt aus.«
Mehr brauchte Dr. Riojas nicht zu hören. »Geh zu deiner Familie, Carson«, sagte sie. »Entferne dich so weit wie möglich vom Reaktor.«
»Aber was ist mit Ihnen, Dr. Riojas?«
»Geh einfach!«, befahl sie.
Und Carson gehorchte. Er verließ den Energiekern. Und als er die Explosionsschutztür von außen schloss, verriegelte er sie, so dass niemand in den Reaktor gelangen konnte. Oder heraus.
Erst als die Explosionsschutztür verriegelt war und eine Kernschmelze unabwendbar wurde, löste der Thunderhead in der gesamten Kuppel der Kolonie Alarm aus. Nicht, um die Krise abzuwenden, sondern um die knapp zehntausend Seelen der Kolonie darauf vorzubereiten, was ihnen bevorstand. Und mit dem ersten Ton des Alarms begann auf jeder Uhr, jedem Tablet, jedem Gerät, das die Zeit anzeigte, ein Countdown. Denn auch wenn der Thunderhead die Katastrophe nicht abwenden konnte, wusste er genau, wann sie sich ereignen würden. In acht Marsminuten.
Carson war kein Fachmann für Kernphysik, doch er hatte eine ziemlich gute Vorstellung davon, wie das Ganze ablaufen würde. Die Explosionsschutztür und die dicke Bleibetonhülle würden die größte Wucht der Explosion eindämmen. Dafür waren sie schließlich konstruiert worden. Die Ingenieure und Arbeiter innerhalb der Hülle würden verbrennen. Kollateralschaden für ein größeres Wohl. Die Kolonie darüber würde einen Blackout erleiden. Die lebenserhaltenden Systeme würden zusammenbrechen. Jeder innerhalb der Kuppel würde binnen Stunden totenähnlich werden. Nur die erfinderischsten und tatkräftigsten Kolonisten würden einen Weg finden zu überleben.
So wie Carsons Eltern.
Er hatte sich vergewissert, dass sie weit von der Kuppel entfernt waren. Er war am Tag zuvor extra zum Bohrfeld gefahren und hatte ein halbes Dutzend Bohrer beschädigt, mit deren Reparatur seine Eltern mehrere Tage lang auf der Anlage beschäftigt sein würden. Carson hatte alles genau geplant. Ihr Geländewagen würde sie mit den lebenserhaltenden Funktionen versorgen, und sie waren weit genug im Norden, um den Pol zu erreichen, wo es reichlich Eis gab, das man zu Trinkwasser schmelzen konnte. Außerdem hatte Carson vor ihrem Aufbruch jede Lagerzelle des Geländewagens mit dehydrierten Mahlzeiten vollgepackt – genug, um sie durchzubringen, bis eine Rettungsmission ausgesandt werden würde. Sie wollten als Vorposten an der äußersten Grenze der Zivilisation auf dem Mars überleben? Nun, sie sollten exakt das bekommen, was sie sich gewünscht hatten.
Was die Toten der Kolonie betraf, würde der Thunderhead jeden, der nicht im Reaktorkern verbrannt war, bergen und wiederbeleben. Dies war schließlich keine Mondkatastrophe – der Mars hatte eine Atmosphäre, so dünn sie auch sein mochte. Dadurch blieben die Toten lebensfähig, weil ihre Leichen nicht durch das Vakuum des Weltraums verdorren und durch stechende Sonneneinstrahlung verbrennen würden. Der Thunderhead würde wahrscheinlich nicht bis zur nächsten Raumfahrtsaison warten, sondern eine Sondermission zur Wiederbelebung der Toten losschicken.
Aber Carson und seine Freunde würden nicht dazugehören.
Carson brauchte fast fünf Minuten, um vom Reaktorkern zur Aussichtsplattform zu gelangen. Die Leute auf den Wegen und Kreuzungen der Kuppel begannen gerade, von Verwirrung und Leugnung auf Panik umzuschalten. Kolonisten rannten kreuz und quer, jeder auf seiner eigenen vergeblichen Mission. Außerhalb der Kuppel rasten Geländewagen in alle Richtungen, um so weit weg wie möglich von der Kuppel zu kommen.
Als Carson die Aussichtsplattform erreichte, sah er erleichtert, dass Devona wie versprochen schon da war und hektisch auf und ab lief. Aber wo war Acher?
»Carson, was ist los? Es ist etwas mit dem Reaktorkern, oder? Du arbeitest doch dort, du musst es wissen!«
»Es hat ein katastrophales Systemversagen gegeben«, erklärte er ihr. »Wir müssen so weit weg von hier wie möglich.« Er blickte aus dem Fenster zu dem letzten Raumschiff, auf dem man immer noch mit den Starvorbereitungen beschäftigt war.
»Der Energiekern kann nicht kaputtgehen! Das würde der Thunderhead nicht zulassen.«
»Der Thunderhead kann es nicht verhindern. Ich habe keine Zeit, es zu erklären. Du, ich und Acher müssen an Bord dieses Raumschiffs, bevor es zu spät ist.«
Devona schüttelte bloß den Kopf. »Acher … er ist nicht gekommen. Er ist beim Training.«
Carson ballte die Fäuste. Verdammt nochmal, Acher! Warum musste er so unzuverlässig sein?
»Meine Familie …«, sagte Devona, als die Realität der Situation sie schließlich traf wie ein Schlag. »Sie müssen mit uns kommen.«
»Nein!«, beharrte Carson. »Sie sind auf der anderen Seite der Kuppel – wir haben keine Zeit!«
»Ich kann sie … und Acher nicht einfach zurücklassen.«
»Sie kommen schon heil hier raus!«
Selbst in ihrer Panik hätte Devona beinahe gelacht. »Du hast gesagt ›katastrophal‹ – wie sollen sie heil hier rauskommen?«
»Ich meine irgendwann «, erklärte er ihr.
In diesem Moment erregte ein Geräusch unterhalb von ihnen ihre Aufmerksamkeit. Menschen standen dicht gedrängt auf dem Flugsteig aus Stahl und Glas, weil sie begriffen hatten, dass das Raumschiff ihr letzter Ausweg war. Das Ächzen des Stahls machte deutlich, dass er das Gewicht nicht mehr lange tragen würde. Der Flugsteig war druckversiegelt, aber wenn er brach, würden alle, die sich bemühten, an Bord des Raumschiffes zu gelangen, der dünnen Marsluft ausgesetzt und ersticken. Und Carson und Devona wäre der Weg auf das Schiff abgeschnitten.
»Komm mit mir, Devona«, sagte er und streckte die Hand aus. »Lass mich dich aus alldem retten. Das würden auch deine Eltern wollen, oder? Sie wären glücklich, wenn sie wüssten, dass du entkommen bist.«
Sie schaute auf die Menge, die sich in dem Schlauch des Flugsteigs drängelte, und wandte ihren besorgten Blick wieder Carson zu, immer noch unfähig, sich zu rühren.
»Verstehst du das nicht? Ich bin deine Rettung«, erklärte er ihr. »Ich bin deine Erlösung. Lass dich von mir hier rausbringen, Devona …«
Einen Moment lang schien es, als würde sie seine Hand ergreifen. Sie würden sich einen Weg durch die Menge bis an Bord des Raumschiffs bahnen. Sie würden die Reise zur Erde gemeinsam antreten. Er würde sie trösten und für sie da sein. Und wenn Acher und ihre Eltern irgendwann wiederbelebt wurden, wäre all das Teil ihrer Vergangenheit. Devonas Zukunft, das würden die Erde und Carson sein. Das glaubte er so fest, dass es wahr werden musste.
Aber Devona machte einen Schritt zurück. »Ich gehe meine Familie holen«, sagte sie. »Warte auf mich.«
Und dann drehte sie sich um, kämpfte gegen den Strom panischer Kolonisten an und verschwand in der Menge.
»Devona!«
Aber sie war weg.
Er hätte mit ihr gehen können. Diese Wahl hätte er treffen können. Aber das tat er nicht. Stattdessen entschied er sich für das, was vor ihm lag. Schweren Herzens wandte er sich ab, stürzte sich in das Gedränge und konzentrierte seine gesamte Energie auf das Einzige, was er noch tun konnte. Sich selbst retten. Er fuhr die Ellbogen aus, brachte andere ins Straucheln und drängelte sich rücksichtslos bis zur Luke des Raumschiffs vor. Dort erkannte er das Problem. Die Luke war geschlossen. Das Schiff wollte gerade die Startsequenz beginnen – die Mannschaft hatte beschlossen, sich schleunigst aus dem Staub dieses Planeten zu machen und das eigene Fortkommen nicht dadurch zu gefährden, dass man eine Horde Flüchtlinge an Bord ließ.
»Es ist zwecklos!«, jammerte irgendjemand. »Wir werden alle sterben.«
Das wäre unter normalen Umständen wahr gewesen – aber dieselbe Sicherheitsfreigabe auf Scythe-Level, die Carson jede Tür in der Kolonie geöffnet hatte, erlaubte ihm jetzt auch Zugriff auf die Luke. Er legte die Hand auf das biometrische Kontrollfeld, und die Luke ging auf. Niemand hatte mitbekommen, dass er derjenige war, der sie geöffnet hatte, und es war ihnen auch egal. Wichtig war nur, dass sie jetzt offen war. Carson wurde von dem Menschenstrom mitgerissen, der in das Raumschiff drängte.
Es war ein Frachtschiff, das seine Fracht entladen hatte und nun zurück zur Erde fliegen sollte. Der Frachtraum war eine düstere schmutzige Höhle, doch für die Marsflüchtlinge fühlte er sich an wie der Himmel.
Eine Minute vor dem Zusammenbruch des Reaktorkerns riss der Strom von Menschen, die über den Flugsteig an Bord drängten, immer noch nicht ab. Vom Flugdeck ertönte die körperlose Stimme des Kapitäns, der die Menschen dringend aufforderte, den Steig zu räumen, damit das Schiff starten konnte, aber niemand auf der falschen Seite der Luke wollte auf ihn hören. Also übernahm Carson die Sache persönlich. Wieder legte er seine Hand auf das Kontrollfeld und drängte, als sich die Luke zu schließen begann, die auf der Schwelle Stehenden mit Tritten zurück. Eine einzelne Hand klammerte sich an die Kante der sich schließenden Luke, aber Stahl war härter als Knochen. Die Hand wurde zermalmt, die Luke fiel zu, und im selben Moment gab der Flugsteig nach und krachte mit allen noch darauf Stehenden auf die Anlegestelle.
Dann schien die Welt zu explodieren, und die Menschen heulten vor Schreck auf. Aber nach einer Sekunde begriff Carson, dass dies nicht die Explosion des Reaktorkerns gewesen war – die würde erst in einer Minute erfolgen. Es waren nur die Triebwerke des Raumschiffs.
Weil niemand angeschnallt war und es nicht einmal Sitze gab, an denen man sich festhalten konnte, wurden alle Passagiere im Frachtraum – etwa einhundert Personen – von den G-Kräften des Raketenstarts zu Boden geschleudert. Die markerschütternde Vibration, der Druck der Beschleunigung und der Lärm waren beinahe unerträglich.
Etwa dreißig Sekunden nach dem Abheben explodierte der Kern der Kolonie. Die Schockwelle traf das Raumschiff mit solcher Wucht, dass die Hülle sich beinahe verbog. Das Schiff wurde fast vom Himmel gerissen. Aber es hielt, und nicht einmal eine Minute später waren sie der Anziehungskraft des Mars entkommen.
Als die Haupttriebwerke abgeschaltet wurden, begannen die von ihrem Kampf um einen Platz an Bord und dem brutalen Start erschöpften Flüchtlinge in der Schwerelosigkeit des Alls im Raum zu schweben, auf sich zurückgeworfen in der surrealen Stille des freien Falls.
Carson drängte durch die Menge, die durch den Frachtraum des Raumschiffs driftete, bis zu einem kleinen Fenster. Sie waren mittlerweile so weit aufgestiegen, dass er die Krümmung des Planeten erkennen konnte – und die Folgen seiner Tat.
Er war sich sicher gewesen, dass die verstärkte Hülle des Kerns die Explosion eindämmen würde. Aber zu seinem Entsetzen erkannte er, dass nicht nur die Explosion nicht eingedämmt worden war. Die gesamte Kuppel und ihre Umgebung waren zerstört worden. Zurückgeblieben war ein riesiger, weiß glühender Krater, der sich immer noch ausbreitete. Es war unmöglich, seine Größe zu schätzen. Hatte er einen Durchmesser von zehn Kilometern? Zwanzig? Er hatte auf jeden Fall alle Geländewagen auf der Flucht verschluckt, aber würde er sich auch bis zum nördlichen Bohrfeld ausdehnen?
Carson stieß sich von dem Fenster ab. Ihm war speiübel, und das lag nicht nur an der plötzlichen Schwerelosigkeit.
»Wir brauchen einen Zwischenfall, der nie vergessen werden wird«, hatte Xenocrates ihm aufgetragen.
Und wie immer hatte Carson seine Aufgabe übererfüllt.
»Hier spricht Kapitän Quarry … Ich nehme an, ich sollte Sie alle an Bord willkommen heißen. Aber unter den gegebenen Umständen … nun, ich weiß nicht, was ich sagen soll. Wir haben bloß Glück gehabt, dass wir da weggekommen sind, bevor … na ja, vor was auch immer. Das Raumschiff wurde beschädigt, ist jedoch funktionsfähig. Wir werden es zurück bis zur Erde schaffen … aber die Sache ist die … Dies ist ein Frachtschiff. Es gibt nicht genug Nahrung, Wasser oder auch nur Luft an Bord für eine sechswöchige Reise mit so vielen Menschen. Ich habe mich mit der Mannschaft besprochen, und wir haben beschlossen, dass es für alle das Beste ist, Sie für den Flug totenähnlich zu machen. Für Sie ist es auf jeden Fall besser – dann müssen Sie während des wochenlangen Transits nicht Däumchen drehen. Also nur, um sie zu warnen: In wenigen Sekunden werde ich sämtliche Luft aus dem Frachtraum ablassen. Ich möchte ehrlich zu Ihnen sein. Die Dekompression wird schmerzhaft sein, und Ihre Naniten werden nicht schnell genug reagieren können, um etwas dagegen zu tun. Aber es wird nicht lange weh tun. Sie werden ziemlich schnell das Bewusstsein verlieren und wenig später totenähnlich werden. Der beste Rat, den ich Ihnen geben kann, ist, einfach bis zehn zu zählen, wenn es losgeht.«
Es war, wie der Kapitän versprochen hatte, schmerzhaft. Es begann mit einem lauten Zischen. Carsons Trommefelle rissen. Es fühlte sich an, als würden seine Lungen aus seiner Brust gesaugt. Der Schmerz in den Augäpfeln war unerträglich. Er versuchte zu schreien, doch er hatte keine Luft mehr, die er herauspressen konnte.
Einen langen schrecklichen Moment lang glaubte er, es würde für immer so weitergehen. Dies wäre die Strafe für das, was er getan hatte. Er konzentrierte sich darauf, bis zehn zu zählen. Doch er kam nur bis drei.
Carson hatte den Tod noch nie selbst erlebt. Man sagt, jeder mache seine ganz eigene Erfahrung. Aber wie erfährt man einen Zustand, der durch die Abwesenheit allen Körperempfindens definiert ist?
Für Carson kehrte das Bewusstsein langsam zurück. Wie ein Neugeborenes hatte er anfangs kein Gefühl für sich selbst. Er war gleichzeitig alle Dinge im Universum und nichts. Er hörte Stimmen und wusste, dass man ihm Fragen stellte – und obwohl er die Worte verstand, waren diese Worte, kaum dass sie geäußert waren, schon wieder vergessen. Er konnte sich eine Frage nicht lange genug merken, um eine Antwort zu formulieren oder sich auch nur daran zu erinnern, was gefragt worden war. Und er spürte einen dumpfen Schmerz im ganzen Körper, der mit noch so viel Naniten nicht zu lindern war. Er schloss die Augen, zu erschöpft, um irgendetwas zu verstehen.
Als er sie wieder aufschlug, war er sich bewusst, dass Zeit verstrichen war. Er war jetzt mehr bei sich. Nach ein paar Sekunden fiel ihm sein Name wieder ein – und mit seiner Identität kam eine Flut von Erinnerungen wie der Donner nach einem Blitz.
»Endlich wach!«, sagte eine vertraute Stimme neben ihm. Ein Verwandter? Ein Lehrer? Ein Freund? Nein, keiner der Genannten.
»Mach dich langsam wieder mit dem Leben vertraut«, sagte die Stimme. »Lass es gemächlich angehen.«
Carson blickte sich um und sah, dass er in einem in heiteren, aber in gedeckten Pastellfarben gehaltenem Zimmer mit indirekter Beleuchtung lag, das auf eine nichtssagende Art beruhigend wirken sollte. Er räusperte sich und schmeckte, was der gallig bittere Geschmack des Todes sein musste. Er fühlte sich ungewöhnlich schwer. Den Kopf oder nur einen Finger zu heben war eine Anstrengung. Das lag nicht nur an den Nachwirkungen der Wiederbelebung. Es war eine fundamentale Veränderung der himmlischen Kräfte um ihn herum.
Der Besucher, der auf einem Stuhl neben seinem Bett saß, war Xenocrates.
»Bin ich auf der Erde?«, fragte Carson.
»Im besten Revival-Zentrum von Fulcrum City«, sagte Xenocrates.
Carson kämpfte gegen die Schwerkraft der Erde an und richtete sich auf. Vor seinen Augen drehte sich alles, doch er ertrug es. Nach einer Weile legte sich seine Desorientierung.
»An wie viel erinnerst du dich?«, fragte Xenocrates.
Carson atmete tief ein. »An alles.«
»Gut für dich!«, sagte Xenocrates fröhlich. »Einige der anderen berichten, dass sie den kompletten Tag der Katastrophe verloren haben, so wie die Erinnerungs-Back-ups vom Mars eben sind. Oder waren , sollte ich besser sagen. Du hast auf jeden Fall Glück, dass dein Originalgedächtnis vollkommen intakt ist.«
Carson fand das nicht besonders glückhaft. Und obwohl er die Antwort bereits ahnte, musste er trotzdem fragen.
»Meine Eltern?«
Xenocrates schüttelte traurig den Kopf. »Die einzigen Überlebenden waren die Passagiere des mutigen kleinen Frachtschiffs. Siebenundneunzig.«
Carson biss die Zähne so fest zusammen, dass es schmerzte.
»Kapitän Quarry wird als Held gefeiert«, sagte Xenocrates.
»Er hat einen Scheißdreck gemacht«, sagte Carson. »Er wollte niemanden an Bord lassen. Ich war derjenige, der die Frachtluke geöffnet hat.«
»Hmm. Das behalten wir wohl besser für uns.«
»Was ich auf dem Mars gemacht habe … So schlimm sollte es nicht werden«, sagte Carson.
Aber darüber schien der Unterscythe nicht übermäßig bekümmert zu sein. »Der Kern war so konstruiert, dass er einer Schmelze oder einer Störung des magnetischen Sicherheitsfelds standhalten sollte – aber nicht beidem«, sagte er. »Es war, als hätte man auf der Sonne ein Fenster geöffnet.«
Es sollte noch eine Weile dauern, bis Carson sämtliche Einzelheiten erfuhr, doch der Riss im Kern hatte eine Kettenreaktion ausgelöst – einen Hitzepunkt, der sich mehr als einhundert Meilen in alle Richtungen ausgebreitet hatte und erst jetzt nach sechs Wochen langsam abkühlte.
»Man nennt es ›das Auge des Mars‹«, berichtete Xenocrates. »Schlimmer als irgendjemand von uns erwartet hatte, nehme ich an, aber sehr effektiv. Soweit die Menschen es wissen, war es ein tragischer Unfall – und da es sich um eine Scythe-Aktion gehandelt hat, kann der Thunderhead nichts dazu sagen. Deshalb ist diese Fiktion während der Wochen deiner Passage schnell zur akzeptierten Wahrheit geworden.«
Carson schloss die Augen. Devona, Acher, seine eigenen Eltern – jeder, den er kannte, war weg. Nicht totenähnlich, sondern tot. Verbrannt von seiner Hand. Reue, Schuld und Kummer stiegen in ihm auf – doch er weigerte sich, diese Gefühle herauszulassen. Er würde Xenocrates seine Schwäche nicht zeigen.
Und die Wahrheit war, dass er versucht hatte, seine Eltern zu retten, oder nicht? Aber er hatte sich verrechnet. Er hatte sich auch bemüht, seine Freunde zu retten – Devona und Acher hätten mit ihm in dem Raumschiff sein können –, doch sie hatten sich dagegen entschieden. Das bedeutete, dass Carson sein Bestes getan hatte. Es gab nichts, wofür er sich schämen musste – er konnte vielmehr stolz sein. Er hatte ein nobles Opfer für das größere Wohl geleistet: die Erhaltung ihrer Lebensart.
Als Xenocrates auf seinem Stuhl hin und her rutschte, erregte etwas Glänzendes in seiner Robe Carsons Aufmerksamkeit. Breite Streifen am Rand seiner weiten Ärmel, die das Licht widerspiegelten.
»Ihre Robe sieht anders aus …«
Xenocrates lächelte selbstzufrieden. »Ich bin zum ersten Unterscythe befördert worden«, sagte er, »deshalb musste ich mit meiner Robe ein optisches Zeichen setzen. Fäden aus vierundzwanzigkarätigem Gold. Im Moment habe ich es bloß an den Ärmeln, aber ich überlege, sie überall einweben zu lassen.«
»Das wird schwer werden«, bemerkte Carson.
Aber Xenocrates wirkte unbesorgt. »Eine Kleinigkeit. Es ist schließlich nicht so, als würde ich damit schwimmen gehen.«
Das Schweigen wurde unbehaglich. Und dann kam Carson ein Gedanke. Er hatte getan, womit man ihn beauftragt hatte. Das bedeutete, dass das Scythetum ihn nicht mehr brauchte. Er war ein loses Ende.
»Werden Sie mich nachlesen?«, fragte er den Unterscythe.
»Wohl kaum«, erwiderte Xenocrates. Die Andeutung schien ihn regelrecht zu kränken. »Du hast alle unsere Erwartungen übertroffen. Damit hast du dir wohl eher eine Belohnung als eine Verurteilung verdient.«
»Und … was passiert jetzt?«
»Für dich wird wie versprochen jede Tür auf der Erde offen stehen. Wenn du so weit bist, erhältst du ein Vollstipendium an einer Universität deiner Wahl, um ein Fach deiner Neigung zu studieren.«
Carson dachte darüber nach. So lange war genau das sein Ziel gewesen … aber nach allem, was er durchgemacht hatte – was er getan hatte –, war es schlicht nicht genug. Er wollte mehr als nur offene Türen. Er wollte alles, was jenseits dieser Türen lag.
»Ich möchte ein Scythe werden«, sagte er. »Sie können das ermöglichen, oder? Das ist es, was ich will.«
Er hatte angenommen, Xenocrates wäre geschockt von der Kühnheit seiner Bitte. Doch stattdessen lehnte der Mann sich lächelnd zurück. »Ich dachte mir, dass du das sagen könntest. Und mit der Beihilfe zur Nachlese einer ganzen Kolonie hast du einen ziemlichen Vorsprung, würde ich sagen.« Er betrachtete Carson noch einen Moment länger. Die unergründlichen Rädchen in seinem Kopf rotierten. »Sag mir eins, Carson. Wie hat es sich angefühlt zu tun, was du auf dem Mars getan hast?«
Wie hatte es sich angefühlt? Im Augenblick kämpften so viele Gefühle in ihm, aber einige waren gewichtiger als andere. Trauer und Reue – das waren die zarten zerbrechlichen Emotionen. Sehr viel solider war sein Gefühl von Errungenschaft.
»Es hat sich … folgenschwer angefühlt«, sagte er. »Es hat sich wichtig angefühlt. Es – ich habe mich von einem wundervollen Ziel erfüllt gefühlt. Dieses Gefühl möchte ich noch einmal erleben.«
Das war offenbar eine akzeptable Antwort, denn Xenocrates sagte: »Ich werde dich als meinen Lehrling annehmen. Aber sei gewarnt. Die Ausbildung ist intensiv und ein harter Wettbewerb. Nicht alle Lehrlinge werden zum Scythe berufen. Aber ich glaube, du hast das Zeug, erfolgreich zu sein.«
»Ich verspreche, ich werde Sie nicht enttäuschen, Euer Ehren.«
»Das glaube ich. Dein Selbstvertrauen wird dich über viele Hürden tragen. An deiner Stelle würde ich schon einmal anfangen, darüber nachzudenken, wen du als Historischen Patron auswählen möchtest.«
Die Antwort kam Carson blitzartig. »Ich weiß bereits, wen ich auswählen möchte.«
Als er Xenocrates den Namen nannte, lachte der Scythe herzlich und reumütig.
»Bemerkenswert!«, sagte Xenocrates. »Die meisten Leute wählen eine Gestalt aus der Geschichte, die sie bewundern, aber du nicht. Du hast auf jeden Fall einen scharfen Sinn für Ironie.«
Carson zuckte die Schultern. »Ohne den ›Vater der Raketenwissenschaft‹ wäre ich nicht auf dem Mars gewesen und nicht Ihr Diener geworden, und dann wäre ich jetzt nicht hier.«
Darüber dachte Xenocrates nach. »Ja, alles hängt mit allem zusammen. Gut gemacht, Carson.«
»Nein … nennen Sie mich nicht so. Carson Lusk ist auf dem Mars gestorben. Von jetzt an können Sie mich mit meinem Scythe-Namen ansprechen.«
»Wie du möchtest. Wir können anfangen, sobald du bereit bist.«
»Ich bin jetzt bereit.« Und trotz des hartnäckigen Griffs der irdischen Anziehungskraft stand er aus dem Bett auf und setzte seine Füße zum ersten Mal seit seiner Ankunft fest auf den Boden. »Lehren Sie mich die Weisen des Scythetums.«
Xenocrates betrachtete ihn mit Bewunderung und vielleicht einem Hauch von Sorge. »Nun gut. Ich prophezeie dem Ehrenwerten Scythe Robert Goddard eine große Zukunft.«
Der junge Mann, der Carson Lusk gewesen war, lächelte. Eine große Zukunft fürwahr. Die Welt hatte keine Ahnung, was ihr bevorstand.