Kapitel 7: Der letzte Tag der Sterblichkeitsära

Co-Autor David Yoon

»Kunst bedeutet, sein Herz in den Händen zu halten und sich zu fragen, wie zum Teufel es dort hingekommen ist«, sagte Ms. Cappellino. Sie richtete ihr Schultertuch, spannte es dabei einen Moment lang breit aus, als könne sie alle ihre vier Schüler darin einwickeln, und zog es dann wieder eng um ihren Körper. Das tat sie immer, wenn sie für ihren Kurs zu solchen Erklärungen anhob. Deshalb stellten ihre Schüler sich stets darauf ein, genau mitzuschreiben, was sie sagte, wenn sie ihr Schultertuch zurechtrückte. Nicht weil das Gesagte abgeprüft werden würde, sondern weil es ein Stück Weisheit war, das zu merken sich auf jeden Fall lohnte.

Mortimer Ong strich nachdenklich mit den Fingerspitzen über seinen Bürstenschnitt. Er musste es ehrlich gesagt gar nicht aufschreiben, weil er sich sicher war, dass er sich daran erinnern würde. Er spürte, was sie meinte, so wie er die Gemälde im EastMerican Regional Museum of Art spürte: Er nahm ihre Botschaft unter Umgehung aller Schichten von Interpretation einfach in sich auf.

Morty liebte Ms. Cappellinos Kurs. Erstens hatte er nur vier Teilnehmer, so dass die Atmosphäre vertraut und persönlich war. Zweitens war Ms. Cappellino wahrhaftig eine Lehrerin alter Schule – und in der Kunst war die alte Schule das Einzige von Wert. Das fand zumindest Morty. Er blickte zu seiner Freundin Trina an ihrem Arbeitstisch, und an dem Grinsen, das sie zurückwarf, erkannte er, dass sie den Kurs genauso liebte wie er. Aber nicht alle verstanden Ms. Cappellino so intuitiv wie Morty und Trina.

»Das kapier ich nicht«, sagte Wyatt hinter Morty, ohne auch nur von dem Unsinn aufzublicken, an dem er gerade auf seinem blinkenden Tablet herumdaddelte.

Wynter – Wyatts Zwillingsschwester – schnippte ihm einen Radiergummi an den Kopf. »Sie meint, dass Kunst Dinge ausdrücken kann, die man mit Worten nicht sagen kann.«

Wyatt stieß ein angewidertes Schnauben aus, als hätte er die Innereien gerochen, die diesen Ort einmal gefüllt hatten – denn ihr vornehmes Kunstinternat war früher ein ziemlich unvornehmes Schlachthaus gewesen. Man stelle sich vor, ein ganzes Gebäude voller toter Tiere … Geschichte war nichts als eine Folge sonderbarer Gewohnheiten, die für andere sonderbare Gewohnheiten aufgegeben wurden.

Ms. Cappellino war achtundsiebzig Jahre alt – um Jahrzehnte die älteste Lehrerin an der Mischler Art Academy. Alt genug, um in der Zeit vor Naniten und Ambudrohnen aufgewachsen zu sein, als der Thunderhead noch nicht mehr war als die »Cloud«. Wie war es wohl, noch enge Freunde und Verwandte gehabt zu haben, die an Krebs oder Autounfällen gestorben waren? Die Frau hatte Dinge gesehen, die niemand je wieder sehen würde. Zugegeben, auch Mortys Eltern waren noch sterblich geboren, doch das hatte der Thunderhead korrigiert, als sie noch jung waren. Trotzdem fand Morty es immer schwieriger, sich mit seinen Eltern zu identifizieren. Seinen Freunden ging es ähnlich. Schließlich war Mortys Generation die erste, die unsterblich geboren war. Das war mehr als eine Kluft zwischen Generationen, es war die Trennlinie zwischen zwei Epochen.

Morty erwartete, dass Ms. C jeden Moment ihr verstaubtes Schultertuch ablegen, über den Berg kommen und sich auf vierzig resetten lassen würde. Das machten dieser Tage alle – aber sie nicht. Morty hatte sie einmal gefragt, warum nicht.

»Man spannt die Leinwand nur so weit, wie das Werk es verlangt«, hatte sie mit einem entschlossenen Zurechtrücken ihres Schultertuchs erklärt.

Ms. Cappellino war die unbeliebteste Lehrerin an der Mischler Art Academy. Sie galt als schwierig. Aufsässig , hatte Morty einen der anderen Lehrer einmal über sie sagen hören. Aber diese anderen Lehrer hätten genauso gut Roboter sein können. Sie konnten einem Schritt für Schritt zeigen, wie man einen perfekten Rothko schuf: Fülle die Leinwand mit Farbe, füge zwei andersfarbige Rechtecke hinzu, lass sie an den Seiten ausfransen und voilà. Aber einen solchen Rothko würde Ms. Cappellino zerreißen. Sie verlangte von ihren Schülern zu malen, was Rothko als Nächstes gemalt hätte, wenn er noch leben würde.

An dem Punkt wählten die meisten ihren Kurs ab.

Der Thunderhead empfahl das Kunstinternat gern als erfüllende Beschäftigung, aber die Empfehlungen für den Lehrkörper basierten ausschließlich auf Bewertungen der Schüler – und da die meisten von ihnen mit echter Kreativität nichts anfangen konnten, wurde Ms. Cappellinos Name immer seltener genannt.

Für das kommende Semester wurde sie exakt null Studenten empfohlen. Das bedeutete, Mortys Kurs würde ihr letzter sein. Am Ende des Semesters würden er und die anderen ihren Abschluss machen, Ms. Cappellino würde nach fünfundfünfzigjähriger Lehrzeit in den Ruhestand gehen. Und die Mischler Art Academy samt ihrer Fabrik von Rothko-Kopien würde nach vorn schauen.

Morty wollte sein wie Ms. Cappellino, wenn er alt war. Falls er alt werden würde. Eins von Ms. Cs Gemälden hing im Guggenheim; und sie lehrte ihre Schüler, nichts weniger als diese Art von Unsterblichkeit anzustreben.

Aber insgeheim fürchtete Morty, dass er es nicht in sich hatte. Auch wenn er theoretisch eine grenzenlose Lebensspanne Zeit hatte, seine Technik zu verfeinern, war er sich nicht sicher, ob er ein solches Niveau erreichen konnte. Ja, die Menschheit hatte ein Heilmittel gegen den Tod erfunden, doch das bedeutete nur, dass er eine Ewigkeit Zeit hatte, an diesem Anspruch zu scheitern. Was würde das mit ihm machen? Würde ihn seine Leidenschaft verlassen? Würde die Flamme seiner eigenen Kreativität ersticken ohne einen Wind, der sie anfachte? Ms. C beklagte häufig, dass Kunst mehr und mehr von immer weniger handelte. Was würde passieren, wenn es um gar nichts mehr ging?

 

»Wir kommen zu eurer Abschlussarbeit«, erklärte Ms. Cappellino ihrem Kurs zwei Wochen vor Ende des Schuljahres. »Denkt sorgfältig darüber nach, denn sie wird den stärksten Ausschlag für die Festlegung eurer Endnote haben.«

»Jetzt kommt’s«, sagte Trina und wappnete sich innerlich.

»Ich kann den Kurs jederzeit im Sommer wiederholen«, murmelte Wyatt. Alle wussten, was er eigentlich meinte: Er konnte den Kurs bei einem weniger strengen Dozenten wiederholen.

»Das ist keine Ausrede dafür, es nicht zu versuchen«, erklärte Wynter. »Es ist schließlich nicht so, als wäre dieser Kurs nur zum Spaß.«

Aber war es das nicht eigentlich doch?

Wenn man alle Zeit der Welt hatte zu lernen, was immer man wollte – wie es die Menschen jetzt taten –, verlor das Wissen dann nicht seinen Sinn? Und wenn alles nur noch zum Spaß war, war dann irgendetwas ernst?

»Wynter hat recht«, sagte eine Stimme von der Tür. »Du musst dich trotzdem anstrengen, Wyatt.«

Alle blickten auf.

In der Tür stand eine Scythe.

Eine Scythe!

Sie hatte langes dunkles, lockiges Haar und trug eine gesteppte Robe mit wiederkehrenden fraktalen Mustern in Rot und Himmelblau.

»Ihr müsst euch alle vier für eure Kunst anstrengen. Von euch wird nichts weniger als das Beste erwartet«, sagte sie und blickte jedem von ihnen nacheinander in die Augen.

Allen stockte der Atem. Morty bemerkte unwillkürlich ein Blitzen von Stahl in einem Halfter unter ihrer Robe. Wie die meisten Menschen war er noch nie einer Scythe begegnet. Ihr Orden – ja, ihre gesamte Mission – war noch ziemlich neu für die Welt. Das Scythetum hatte erst vor dreißig Jahren seine Herrschaft über den Tod erklärt. Angefangen hatte es mit den zwölf Gründerscythe, aber inzwischen gab es Hunderte Scythe auf der ganzen Welt verteilt, und täglich wurden neue berufen. Nach den Gesetzen der Logik war es nur eine Frage der Zeit, bis man einem von ihnen begegnete – aber bedeutete eine Begegnung auch, dass sie hier war, um jemanden zu töten? Nein – nicht töten. Wie hieß noch das Wort, mit dem Scythe das Beenden eines Lebens bezeichneten? Nachlesen .

»Es ist eine wahre Ehre, Sie kennenzulernen, Ms. Cappellino«, schnurrte die furchteinflößende Frau und betrat den Raum. »Ich bin Scythe Af Klint.«

Ms. C richtete ihr Schultertuch. »Af Klint«, wiederholte sie. »Nach der schwedischen theosophischen Künstlerin, nehme ich an.«

Die Scythe schien schwer beeindruckt von der Antwort. »Freut mich, dass sie Ihnen ein Begriff ist. Offenbar erinnern sich nur noch wenige Menschen an das Genie von Hilma Af Klint. Ich habe sie als meine Historische Patronin ausgewählt, um sie davor zu bewahren, in Vergessenheit zu geraten.«

»›Historische Patronin‹«, sagte Ms. Cappellino. »Der Ausdruck gefällt mir. So viel eleganter als ›Namensgeberin‹.«

Morty spürte, wie sein Bewusstsein sich zu einem unendlich langen und unendlich dünnen Faden spannte. War heute der letzte Tag seiner Existenz? Würden sie alle nachgelesen werden? Er blickte zu Trina. Sie drückte sich an ihren Arbeitstisch, wie er selbst auch, bemerkte Morty, als er nach unten blickte. Trinas Hand war nur Zentimeter entfernt. Er sehnte sich danach, sie zu ergreifen, und es war viel schlimmer als sein übliches Verlangen, Trinas Hand zu halten.

Ms. Cappellino hingegen wirkte kein bisschen beunruhigt.

»Darf ich Ihnen einen Tee anbieten, Euer Ehren?«, fragte sie. »Oder vielleicht etwas Kaltes?«

Scythe Af Klint lehnte das Angebot mit einem Flattern ihrer Finger ab und blickte dann über Mortys Schulter auf den Bildschirm seines Tablets. »Darf ich?«, fragte sie.

»Ähm … ja … sicher.« Morty trat zur Seite, und sie begann, sich durch sein gesamtes Portfolio zu wischen.

Zuzusehen, wie eine Scythe das eigene Werk betrachtete, war ein unbeschreibliches Gefühl – als würde man von einem Scheinwerfer erfasst, der so hell leuchtete, dass er einem die Haut vom Körper brennen konnte. Morty wollte seine Kunst verleugnen, seinen Namen ändern und in einer Mauerritze verschwinden.

Der Blick der Scythe war streng. Sie ging weiter und betrachtete auch Trinas, Wynters und Wyatts Arbeiten.

»Ihr bemüht euch alle, aber ihr habt es noch nicht begriffen«, sagte sie und verzog mürrisch das Gesicht. »Diese Akademie widert mich an. Alle haben vergessen, was echte Kunst ist.«

In diesem Moment schob Morty seine Finger zwischen Trinas, die schwer atmete. Er sah sie an.

»Alle machen nette kleine digitale Zeichnungen«, fuhr Af Klint fort. »Die Richtung, in die diese neue Welt sich bewegt, ist offensichtlich: direkt ins Reich des ›Gefälligen‹ und niemals darüber hinaus. Nie wieder wird die Kunst das Erhabene erreichen.«

»Nicht alle haben es vergessen«, wagte Ms. Cappellino es, der Scythe zu widersprechen.

Aber anstatt wütend aufzubrausen, lächelte Af Klint. »Nun, alle außer Ihnen, Belinda.« Die Scythe ging langsam auf ihre Lehrerin zu. »Außer Ihnen, die Sie Ihre Schüler nicht nur auf Leinwand arbeiten, sondern diese Leinwände auch noch selbst spannen und grundieren lassen. Sie, die Sie die Feindschaft all Ihrer Kollegen auf sich gezogen haben, weil Sie wider alle Vernunft nicht das Zweckmäßige, sondern das Schwierige tun. Sie, die Sie einen ehrenwerten Kampf kämpfen, um an etwas festzuhalten, das vielleicht schon verloren ist.«

Ms. Cappellino atmete tief ein und schloss die Augen. »Sagen Sie uns einfach, für wen Sie gekommen sind.«

Scythe Af Klint trat bedrohlich nahe an Ms. Cappellino heran und berührte ihr Schultertuch. »Selbst gehäkelt.«

»Von einer ehemaligen Schülerin«, erwiderte Ms. Cappellino.

Af Klint nickte stoisch und machte einen Schritt zurück. »Ich glaube nicht, dass ich heute irgendjemanden nachlesen werde, Belinda. Sehen Sie, ich habe Sie und Ihre Studenten beobachtet. Ihr Kurs ist der Einzige an dieser ganzen lächerlichen Akademie, der ein wenig Hoffnung macht. Überwiegend jedenfalls.«

Sie warf einen verächtlichen Blick auf Wyatts Tablet und dann zu Wyatt selbst, der – ungeachtet seiner dichten grünen Locken, seiner Elektrojacke und all seiner Coolness – wimmerte, wie es jedes menschliche Wesen tun würde. Hektisch schaltete er sein Tablet aus, als würde damit auch ihr Fadenkreuz verschwinden.

Aber Scythe Af Klints Blick schien ins Leere abzuschweifen.

»Ich war nie eine Künstlerin«, sagte sie. »Ich hatte keinen Funken Talent – aber eine geschulte Wahrnehmung. Kunst hat mich seit meiner Kindheit bewegt, wie nichts sonst es vermochte. Aber es ist beinahe unmöglich, neue Kunst zu entdecken, die mich so bewegt.«

»Deshalb sind Sie hier!«, platzte Morty heraus. »Sie wollen sehen, ob unsere Kunst Sie berührt. Sie sind auf der Suche nach einer Künstlerin oder einem Künstler, die das noch können.«

Die Scythe lächelte und zeigte mit dem Finger auf ihn.

Trina zog instinktiv ihre Hand zurück.

»Mortimer Ong, ich muss dich im Auge behalten«, sagte sie. »Du bist einsichtsvoller, als gut für dich ist.«

Mortys leere Handfläche kühlte rapide ab. »Vielen Dank, Euer Ehren«, sagte er unsinnigerweise.

Er dachte immer noch an Trina. Er machte ihr keine Vorwürfe, dass sie ihre Hand weggezogen hatte. Angst mochte ein kaltes Gefühl sein, aber bei Berührung war sie glühend heiß.

Scythe Af Klint richtete sich gerader auf und zupfte am Saum ihrer Robe. »Ich bin hier, weil ich möchte, dass ihr mir eine Freude macht. Ich möchte aus eurer Abschlussarbeit einen kleinen Wettbewerb machen. Am Ende dieser letzten zwei Wochen wird der Künstlerin oder dem Künstler, die oder der am besten bewertet wird, ein Jahr Immunität von Nachlese gewährt.« Sie drehte nachdenklich ihren Ring. »Wie klingt das?«

Wie das klang? Es klang wie ein Albtraum im Wachzustand. Morty hatte das Gefühl, dringend eine Frage stellen zu müssen. Er ballte die Fäuste und löste sie wieder. »Verzeihung, Euer Ehren, aber was meinen Sie mit am besten

Die Scythe lächelte kryptisch wie eine düstere Mona Lisa. »Ich meine ein Kunstwerk, das der vorangegangenen Meister würdig ist.«

Wynter – deren Anwesenheit Morty fast vergessen hatte – fing an zu stammeln. »Aber … aber …«

»Wynter!«, zischte Ms. Cappellino und faltete besänftigend die Hände. »Euer Ehren, wir nehmen selbstverständlich mit dem größten Vergnügen teil.«

Nun brachen bei Wynter alle Dämme. »Aber was passiert mit denjenigen, die nicht gewinnen? Und was passiert, wenn keiner gewinnt?«

Scythe Af Klint ging entschlossenen Schrittes zur Tür. »Du stellst sehr gute Fragen. Das ist das Kennzeichen einer echten Künstlerin. Die falschen Künstler glauben, dass sie schon alle Antworten kennen.«

Und damit war sie verschwunden. Der Raum atmete aus.

Und Wyatt fing an zu brüllen. »Wynter hat recht! Scythe tauchen nicht einfach so zum Spaß auf! Sie erscheinen nur aus einem Grund! Einer von uns wird nachgelesen werden!«

»Oder wir alle«, stöhnte Trina und brachte den Raum zum Schweigen. Denn sie hatte recht.

»In traditionellen Medien bin ich beschissen«, sagte Wyatt. »Meine Leinwände sind schief, meine Aquarellfarben bluten aus. Ich bin so was von tot!«

»Nun seid mal alle still«, sagte Ms. Cappellino.

Der Raum kam plötzlich zum Stehen, als wären die Rädchen in allen Gehirnen blockiert worden.

»Wir müssen tun, was sie verlangt«, sagte Morty schließlich. »Ihr wisst, was passiert, wenn wir es nicht tun.«

Ms. Cappellino spannte die Lippen und nickte. »Euch bleibt keine Wahl«, sagte sie. »Ihr müsst alle euer bestes Werk schaffen … und dann auf das Beste hoffen.«

 

»In Anbetracht der … Situation«, erklärte der Direktor ihnen später am selben Tag, »seid ihr vier von euren übrigen Kursen entschuldigt, bis euer Projekt fertig ist.«

Das konnte Morty als Letztes brauchen. Die anderen Kurse waren eine dringend benötigte Ablenkung von dem Stress der Aufgabenstellung. Und als seine Eltern davon erfuhren – natürlich erfuhren sie es –, riefen sie ihn in kontrollierter Panik an. Sie quollen über vor Schuldgefühlen und Reue, weil sie ihn auf ein Internat geschickt hatten, außerdem vor Angst um sein Leben. Er musste sie beruhigen und ihnen versichern, dass schon alles okay werden würde. Er war derjenige, dessen Leben womöglich in Gefahr war, doch er musste sie trösten.

Am nächsten Morgen wusste jeder in der Schule von dem Wettbewerb. Morty stellte fest, dass ihre Mitschüler sie mieden, als wären sie nicht nur todgeweiht, sondern als könnte das auch irgendwie ansteckend sein.

»So viel zur Unsterblichkeit«, murmelte Wyatt, als sie sich an die Planung ihrer Projekte machten, und Wynter gab ihm _einen härteren Klaps als üblich.

»Mach es nicht noch unnötig schwieriger«, sagte sie.

Morty kramte in den verschiedenen Boxen mit Pinseln, Schwämmen und Farben. Es gab Pastellkreide, Bleistifte und Tusche. Filzstifte in allen erdenklichen Farben, die allerdings wegen Nichtbenutzung ausgetrocknet waren. Schließlich griff er nach den vertrauten Tuben mit Ölfarben und kippte dabei die ganze Kiste aus.

Trina bückte sich, um ihm zu helfen, die Tuben wieder einzusammeln. Dabei stießen sie mit den Schultern zusammen.

»Ich bin so ein Tollpatsch«, sagte Morty.

»Warum wohl?«, sagte Trina.

Erst als sie seine Hände fasste, merkte Morty, wie heftig sie gezittert hatten.

»Wir kommen da irgendwie durch.«

Morty blickte sie an. »Wie kannst du dir da sicher sein?«

Sie grinste ihn schräg an und flötete: »Ich fühle es einfach.«

Ich fühle es einfach war eine Phrase, auf die sie zurückgriffen, wenn sie zu faul (oder zu dumm) waren, um zu erklären, warum sie sich für eine bestimmte Bildkomposition, Farbe oder Technik entschieden hatten. Die Lehrer – inklusive Ms. Cappellino – verdrehten darüber verlässlich die Augen, und im Laufe der Jahre war es ihr kleiner Insiderwitz geworden. Und selbst kleine Witze werden Klassiker, wenn man lange genug über sie lacht.

Derweil klammerte Wyatt sich an sein Tablet wie an eine Rettungsdecke. Er durchsuchte hektisch die Kunstdatenbanken des Thunderhead. Dabei bot ihm der Thunderhead selbst keinerlei Unterstützung an, weil es sich jetzt um eine Scythe-Angelegenheit handelte.

»Ich bin so was von am Arsch«, murmelte Wyatt. »Ich finde nichts, was ich zeichnen kann.«

Ms. Cappellino beobachtete ihn eine volle Minute, bevor er es bemerkte.

»Was?«, fragte er mit gespielter Naivität. Er wusste genau, was bei Ms. Cappellino was war.

Sie starrte ungehalten auf den Bildschirm seines Tablets.

»Dies wäre vielleicht ein guter Zeitpunkt, deine Äffchenspiegel, Blindenbrillen und anderen digitalen Keulen der Konformität beiseitezulegen.«

Aber Wyatt war nicht zu besänftigen.

»Warum versuchst du nicht etwas mit Ölfarben?«, schlug sie vor.

»Ich habe Öl- und Wasserfarben hier«, sagte Wyatt und wies auf sein Tablet. »Das sollte für die Scythe genauso zählen.«

Wynter schüttelte den Kopf. »Bildschirme strahlen Licht aus. Farbe reflektiert das Licht. Das ist etwas anderes.«

»Und«, fügte Trina hinzu, »Sachen aus dem Thunderhead aufzurufen ist nicht direkt originell, oder?«

»Ich benutze den Thunderhead nur zur Inspiration«, sagte Wyatt übertrieben verzweifelt. »Am Ende wird schon ein Original dabei herauskommen.«

»Aber noch öfter enden deine ›Starts‹ mit ›Bruchlandungen‹«, sagte Wynter.

Wyatt und Wynter begannen eins ihrer erbitterten wortlosen Blickduelle, die offenbar eine Eigenart von Zwillingen war.

»Können wir bitte einfach arbeiten?«, sagte Morty. »Ihr beiden stresst mich.«

Ms. Cappellino klatschte zweimal in die Hände. »Ja. Konzentration! Dies muss nicht an einem Tag erledigt werden. Findet euer Thema, wählt euer Medium. Beschäftigt euch heute nur mit den Vorbereitungen. Der Rest wird schon kommen.«

Aber Morty konnte sich nicht konzentrieren. Zwei Wochen Zeit, um irgendein nicht näher bestimmtes Meisterwerk für eine Scythe zu schaffen? Es war unmöglich.

Er blickte über die Schulter zu Trina. Sie bastelte emsig etwas aus Pappe – eine große Kiste – und wirkte dabei seltsam ruhig und präzise. Ihre Sorgfältigkeit war eins der Dinge, die Morty am meisten an ihr mochte. Er fand es schon beruhigend, ihr nur zuzusehen. Als sie seinen Blick bemerkte, wandte er sich ab.

Die Stunden verstrichen so langsam wie der Regenschauer, der gegen die jahrhundertealten Fensterscheiben prasselte. Angeblich lernte der Thunderhead, das Wetter zu beeinflussen, um Gefahren und Schäden durch extreme Wetterbedingungen zu minimieren – was mit den Gefahren auch das Drama eliminieren würde –, aber bis auf weiteres lieferte der Sturm einen düsteren Hintergrund, der das verworrene Gewebe ihrer Gefühle noch dichter machte.

Am Ende des Tages kam Ms. Cappellino, die sie den Tag über meist in Ruhe arbeiten ließ, um die Arbeiten ihrer Schüler zu betrachten, bevor sie in ihre Schlafräume gingen.

Sie begann bei Wynter, deren Tisch mit zerschnittenen Papierbögen übersät war.

»Ich schaffe die beliebtesten Werke der im Thunderhead archivierten Kunst neu, aber von Hand und in einem überdimensionalen Maßstab«, sagte Wynter mit ihrer charakteristischen, weit ausholenden Geste.

Ms. Cappellino zögerte. »Erkläre mir, inwiefern das nicht nur die Imitation von Kunst ist.«

»Es ist eine Aussage darüber, dass der kreative Instinkt nie auf einen Algorithmus reduziert werden kann. Oder so ähnlich.«

Ms. C wirkte weiter skeptisch, ließ es jedoch auf sich beruhen. »Ich freue mich darauf, mich von der Ausführung deiner Idee begeistern zu lassen.«

Als Nächstes ging Ms. C zu Trina, die sie durch ihren großen Karton anblickte.

»Das wird eine Camera obscura, die ein Bild dieses Raumes auf Pergamentpapier wirft, das ich nachzeichnen kann.«

»Klingt phantastisch«, sagte Morty.

Trina warf ihm ein kurzes Lächeln zu, das ihn beinahe rot werden ließ.

»Will irgendjemand wissen, woran ich arbeite?«, fragte Wyatt.

»Nein«, sagte Wynter.

»Ich probiere InstaKahlo aus«, sagte er.

Ms. Cappellino kniff sich mit tiefem Überdruss in den Nasenrücken. »Will ich überhaupt wissen, was InstaKahlo ist?«

»Das ist dieser Knopf hier«, sagte Wynter und zeigte auf die Kunst-App auf seinem Tablet. »Ich habe auch PicassoFace und Pointillist Pro installiert und Banksify …«

»Fein. Das ist wundervoll«, bemerkte Ms. Cappellino ausdruckslos, die offenbar nicht wieder gegen die Wand rennen wollte, gegen die sie bei Wyatt immer rannte.

Trina reckte den Hals in Richtung Mortys Arbeitstisch. »Und woran arbeitest du

Morty beugte sich schützend über seinen Skizzenblock. »Ich bin noch nicht bereit, es zu zeigen.«

»Nur einen kurzen Blick?«

Sein Herz geriet kurz aus dem Takt, weil er ihr natürlich alles zeigen wollte. Doch er kauerte weiter über seinen Entwürfen. »Ich meine, ich habe noch gar nicht richtig angefangen.«

Ms. Cappellino war derweil auf die andere Seite gegangen, wo sie einen freien Blick auf seinen Skizzenblock hatte. Kurven und Linien. Die minimale Andeutung von Zügen und Konturen. Kaum mehr als Studien der menschlichen Gestalt. Aber Ms. Cappellino hatte darin offenbar irgendetwas gesehen, denn sie nickte zustimmend und legte sanft ihre Hand auf Mortys Schulter.

»Weiter so«, sagte sie.

 

In den nächsten Tagen blieb es kalt und regnerisch. Morgens standen sie draußen in der eiskalten Feuchtigkeit und warteten, dass Ms. C ihnen das Atelier aufschloss, das sie vor diesem hochwichtigen Projekt nie verriegelt hatte.

»Warum? Glauben Sie, wir werden unsere Arbeiten gegenseitig sabotieren?«, fragte Wyatt.

»Dir würde ich das glatt zutrauen«, sagte seine Schwester.

Ms. Cappellino seufzte. »Die Presse hat Wind von dem Wettbewerb bekommen. Wir wollen nicht, dass Fotografen heimlich Bilder von euren Arbeiten schießen, bevor sie fertig sind.«

»Die Presse?«, fragte Trina ungläubig.

Morty hatte schon vermutet, dass diese Sache einen Medienrummel auslösen könnte. »Eine Scythe, die einen Wettbewerb veranstaltet, ist eine große Geschichte. Jeder will wissen, wer gewinnt.«

»Und wer nachgelesen wird«, fügte Wyatt hinzu.

Ms. C fummelte mit ihren Schlüsseln und schnaubte gereizt. »Nichts deutet darauf hin, dass überhaupt jemand nachgelesen wird.«

Dann öffnete sie die Tür, und alle stürmten in das Atelier.

Für Morty fühlte es sich an wie ein Rennen nach nirgendwo. Er füllte hektisch ein Skizzenblatt nach dem anderen und verwarf seine Entwürfe noch schneller wieder. Die Farbtuben hatte er noch nicht einmal angerührt. Aber er hatte eine Idee. Ein Akt. Etwas, das er schon oft gemalt hatte. Morty mochte Aktgemälde, aber nicht so, wie manche vielleicht erwarten würden. Ein vulgärer Geist könnte darin vielleicht etwas Fragwürdiges sehen, aber für Morty hatte der Akt etwas Reines. Er war fasziniert von der Eleganz und Schönheit des menschlichen Körpers in allen Variationen. Jung, alt, schlank oder füllig, männlich oder weiblich, das spielte keine Rolle. Aber was war daran originell? Vermutlich wäre er besser dran, wenn er nach dem Infinite-Monkey-Theorem eine Horde Affen Farbe auf eine Leinwand werfen lassen würde, bis eine erkennbare Gestalt sichtbar wurde.

Er stellte sich vor, wie Scythe Af Klint nach Beendigung ihres Wettbewerbs mit einem langsam breiter werdenden Grinsen unter ihrer Kapuze und blitzendem Stahl in der Hand vor seiner leeren Leinwand stehen würde.

Er sah sich in dem Atelier um. Für einen ahnungslosen Beobachter sahen die Schüler aus wie vier junge leidenschaftliche Künstler. Vielleicht waren sie das auch, aber getrieben wurden sie von Angst.

Fürchte dich nicht vor dem Tod , hatte Morty einmal gelesen, denn ist er nicht einfach dasselbe Nichts, aus dem wir einst herausgetreten sind?

Früher fand er diesen Satz logisch. Jetzt nicht mehr.

Wynter schnitt für ihr mysteriöses Assemblage-Projekt hyperlogisch und zwanghaft wie immer identische geometrische Formen aus schwerem Papier aus. Sie hatte ihren Arbeitsbereich sogar mit einem Laken verhängt.

Trina blieb hinter ihrem großen Karton versteckt und fummelte mit einer Pinselspitze darin herum, die nicht größer war als ein Reiskorn. Eine provisorische Blende verdeckte Morty die Sicht auf ihr Werk. Aber Trina trank Kakao aus einer Flasche und sah beinahe so aus, als hätte sie Gefallen an ihrer Arbeit.

Wyatt schlug sich alle zehn Minuten mit dem Tablet an die Stirn wie eine Art mittelalterlicher Flagellant. Irgendwann brach seine coole Fassade komplett zusammen, er fing an zu weinen und verschmierte Mascara auf seinem Ärmel. »All diese Filter sind zu nichts zu gebrauchen«, jammerte er. »Ich habe buchstäblich nichts.«

Wynter stoppte ihre Ausschneidearbeiten. Sie wirkte seltsam mitfühlend, und Morty begriff plötzlich, dass die beiden eine gemeinsame Kindheitsgeschichte hatten, die tiefer ging als bloße Feindseligkeit und Rivalität.

»Wechsle das Medium«, riet sie ihm leise.

»Aber das ist mein Medium«, beharrte Wyatt. »In etwas anderem bin ich nicht gut.«

Wynter verzog ihr Gesicht. »Ich hasse es, wenn du diese Trotzhaltung aufsetzt.«

»Was für eine Trotzhaltung?«

»Als gäbe es nichts, was du noch lernen musst.«

Morty presste die Hände an die Schläfen. »Leute, bitte.«

Wyatt starrte ihn wütend an. »Tut uns leid, wenn wir deine wichtige Arbeit stören! Was soll das überhaupt sein?«

Morty blickte auf seinen Skizzenblock. Er hatte nichts weiter gezeichnet als zwei große Kreise, wieder und wieder.

Wyatt lachte. »Vielleicht habe ich doch eine Chance, diese Sache zu überleben.«

Morty knüllte das Blatt zu einer kleinen Kugel zusammen. »Was soll das heißen?«

Wyatt öffnete den Mund zu einer vernichtenden Bemerkung, doch Morty stoppte ihn, indem er ihm die Papierkugel ins Gesicht warf und gegen Wyatts Arbeitstisch stieß.

»Aufhören!«, brüllte Ms. Cappellino. »Alle sofort aufhören.«

Dichte angespannte Stille senkte sich über den Raum.

»Ich bestelle uns ein Publicar. Wir fahren ins Museum. Zur Inspiration.«

»Ich muss arbeiten«, sagte Morty.

»Du brauchst Inspiration«, sagte Ms. C. »Die braucht ihr alle.«

Schließlich brach Trina das nachfolgende Schweigen. »Ich habe gehört, im Museumscafé soll es den leckersten Kuchen geben.«

Morty blickte zu Wyatt und ließ die Schultern hängen. Er musste sich daran erinnern, dass nicht Wyatt der Feind war.

Er ging zu ihm und hielt ihm eine Faust hin. Wyatt nahm die Entschuldigung mit einem Fistbump an, zeigte aber gleichzeitig mit dem Finger auf Morty. Pass auf .

 

Das stupsnasige Vehikel gondelte über breite feuchte Straßen, über endlose grüne Hügel. Das Gras war platt gedrückt und dunkel vom Sturm und dem unablässigen Regen. Die Landschaft war wunderschön, weil es kaum Spuren menschlichen Lebens gab. Morty dachte an all die Pflanzen, die vor den Menschen existiert hatten, ohne dass jemand sie klassifiziert oder gegessen hatte. Eine Vorstellung, die sich wie Leere oder Fülle anfühlte, wie alles und nichts.

Angenommen, er überlebte diesen lächerlichen Wettbewerb. Angenommen, irgendwie überwand er seine Blockade und gewann. Dann würde ihm ein Jahr Immunität gewährt werden, ein rares Geschenk.

Aber was würde er damit anfangen?

Würde er das Jahr mit Malen verbringen?

Würde er überhaupt mit der Kunst weitermachen oder jedes Interesse daran verlieren?

Würde er auf endlosen grünen Hügeln liegen und zwölf Monate lang dem Rascheln der Grashalme lauschen? Morty gehörte zu den Ersten einer neuen Generation, die bis in alle Ewigkeit im Gras liegen konnten, wenn sie wollten.

Aber wahre Unsterblichkeit gab es immer noch nicht, wenn man darüber nachdachte. Denn solange Scythe existierten, existierte auch der Tod. Deswegen wünschte sich jeder ein Jahr Immunität. Denn tief im Innern wussten die Menschen, dass noch erschreckender als der Tod selbst die Angst vor ihm war. In einer Welt, in der der Thunderhead so ziemlich alles wusste, was es zu wissen gab, war der Tod eine der wenigen verbliebenen Unbekannten. Vielleicht hatte der Thunderhead sich auch deswegen von dem Konzept als solchem losgesagt und zugelassen, dass der Tod eine Domäne der Menschen blieb, die von den Scythe gepflegt und erhalten wurde. Die sogenannte Unsterblichkeit der Menschheit hatte lediglich eine unmögliche Frage – Was mache ich mit meiner kurzen Zeit auf der Erde?  – durch eine andere genauso unmögliche Frage ersetzt:

Was mache ich mit mehr Zeit, als ich je brauchen werde?

 

Im EastMerican Regional Museum of Art – einem mit Wandgärten abgemilderten, imposanten Triumph neobrutalistischer Architektur – herrschte wie immer an ruhigen Wochentagen eine heitere Stille.

»Nehmt euch eine Stunde Zeit, dann treffen wir uns im Café«, sagte Ms. Cappellino. »Bis dahin werft euren Geist aus wie ein Netz und lasst ihn so viel wie möglich einfangen.«

Damit überließ sie ihre Schüler sich selbst.

Wyatt war der Einzige, der sein Tablet mitgebracht hatte. »Vor dem ShapeVerse ist keine Schlange!«, rief er und trieb sie zu einer zimmergroßen weißen Box.

Die Box erkannte sie sofort und bot ihnen alle möglichen Tools zum Anklicken an. Übertriebene ätherische Streifen, die den Kosmos (oder was auch immer) evozieren sollten, hingen in der Luft. Die ShapeVerse-Installation erinnerte Morty an einen Kindergarten, in einer maßstabsgerecht vergrößerten Version, die auch Erwachsenen erlaubte, ihren Spaß zu haben.

»Wir sollen nach Inspiration suchen, nicht nach Ablenkung«, sagte Wynter.

»Kannst du nicht einfach mal lockerlassen, Wynter?«, fragte Wyatt. »Ich meine, ich weiß, warum wir alle hier sind, aber kannst du ausnahmsweise mal eine verdammte Sekunde loslassen?«

Sie gab widerwillig nach und streifte ihre Unnachgiebigkeit mit einem dramatischen Seufzer ab. »Gut«, sagte sie. »Bauen wir einen Wald.«

»Mit Zombies und Raumschiffen«, sagte Wyatt.

»Wie alt bist du noch mal?«, fragte sie ihren Bruder – aber jetzt lächelte sie.

Ein Blick zu Trina verriet Morty, dass sie sich genau wie er zu alt für ShapeVerse fühlte. Während die Zwillinge streitend eine bunte Welt aus vorgestanztem Trash hinklatschten, trat Morty mit Trina aus der weißen Box in die Stille des langen Korridors, der zu der Permanenten Sammlung führte. Das war Mortys Lieblingsflügel, alt und bei Besuchern sonst wenig beliebt, weil alle Werke dort zweidimensional und unbeweglich waren, erschaffen lange vor 2042, dem Jahr, in dem der Thunderhead zu Bewusstsein gekommen war und sich alles geändert hatte.

Die Permanente Sammlung war wie eine düstere glänzende Höhle, erleuchtet von gelben Laternen. Sie betraten den Raum, als wäre er heilig.

Trina atmete tief ein, und ihre Gesichtszüge lösten sich. »Dieser Geruch!«

Morty erkannte ihn auch – einen Geruch von alten Gemälden und dem Holz ihrer Rahmen. Selbst nach Hunderten von Jahren sprachen diese Werke die Sinne auf mehr als einer Ebene an.

Sie schlenderten in wortlosem Staunen, vorbei an Porträts alter Menschen in aufwendigen Kostümen und Bildern von verschneiten und vereisten Landschaften, wie sie damals offenbar ein gewöhnlicher Anblick waren.

Wie viele dieser Werke waren im Thunderhead zu Tode kopiert und verwurstet worden? Vielleicht kam deshalb niemand mehr, um die Originale zu betrachten. Sie hatten ihren kulturellen Wert verloren, so wie die Währung eines untergegangenen Landes oder eine veraltete Redensart. Für Morty war es eine Schande. Wurde die Existenz dieser Werke nicht gewissermaßen ausgelöscht, wenn niemand mehr herkam, um sie zu betrachten? Was würde als Nächstes verschwinden? Morty würde alles vermissen, sogar die besonders merkwürdige Kunst, die seine Gefühle ansprach, ohne dass er sie erklären konnte.

Wie das Gemälde einer großem verschwommenem Kaffeetasse, das gleichzeitig furchteinflößend und nahbar wirkte.

Oder das massive Spülbecken, bei dem Hahn und Abflussrohre fehlten, offenkundig ein Stück Müll, dessen bloßer Anblick Morty trotzdem das Herz brach.

Er mochte die Permanente Sammlung, weil sie keine Antworten bot, sondern nur Fragen aufwarf. Auf der Suche nach Antworten in ein Museum zu kommen war, als würde man einen Fluss bitten, still zu stehen, damit man sein eigenes Spiegelbild sehen konnte.

Sie traten vor eine leere Leinwand, die auf dem Boden lag und von Schuhabdrücken beschmutzt war. Morty beugte sich vor, um die Plakette zu lesen.

»Gemälde zum Betreten« , las er. Er blickte schockiert auf. »Trina!«

Trina stand bereits auf dem Bild. »Komm, probier es mal!«

Das Rechteck der Leinwand war klein, und er trat dicht genug neben sie, um den Lavendelduft ihres Haars zu riechen. Sie waren wie zwei Insassen eines schmalen Phantomaufzugs.

»Dieses Gemälde besteht buchstäblich nur aus einer Aufforderung«, sagte er. »Kommt mir vor wie ein Fake.«

»Aber stimmt das? Ist ein Pinselstrich weniger echt als eine mit einem Zweig gezeichnete Linie? Ist Farbe selbst weniger echt als Pigmente, die aus Blut oder Beeren gewonnen werden? Wenn man lange genug über falsch und echt nachdenkt, wird man irgendwann Striche, die mit bloßen Händen in den Schlamm gemalt wurden, für die einzig wahre Art Kunst halten.«

Er blickte auf ihre Zehenspitzen, die sich beinahe berührten.

»Und außerdem«, sagte Trina, »wann hattest du zuletzt so viel Spaß?«

»Nicht seit die Scythe in unserem Kurs aufgetaucht ist.«

Mit einem Grinsen schubste sie ihn von der Leinwand, und sie gingen weiter zurück in der Geschichte, weiter zu den älteren Werken. Während sie aus einem Lichtkegel in die Dunkelheit und den nächsten Lichtkegel traten, beobachtete er ihr Gesicht.

»Willst du eins der unheimlichsten Gemälde hier sehen?«, fragte Morty.

Er hielt ihr die Augen zu, und sie kicherte, während er sie in den entlegensten Teil des Flügels führte. Es dauerte eine Weile. Morty vermutete, dass man dieses Gemälde so weit abseits aufgehängt hatte, um jüngere Besucher des Museums nicht zu erschrecken. Trinas Wimpern kitzelten seine Handfläche.

»Bist du bereit?«

»Ich wurde schon bereit geboren«, sagte Trina lachend.

Ihr Lachen erstarb, als er seine Hand wegnahm. Auf dem Bild lag ein blutender Mann in einer Badewanne. In einer leblosen Hand hielt er einen Brief, in der anderen eine Feder. Er würde nie wieder ein Wort schreiben.

»Es heißt Der Tod des Marat «, sagte Morty.

»Echt jetzt?«, sagte Trina.

»Er wurde von einer Feindin getötet. Sie hat sich in sein Haus eingeschlichen und ihn erstochen. Beide hatten politische Ziele, für die sie bereit waren zu töten. Und zu sterben.«

»Es ist phantastisch«, sagte Trina. »Aber für welches ›Ziel‹ lohnt es sich zu sterben? Das kapier ich nicht.«

Er runzelte die Stirn. »Ich auch nicht. Ich finde es bloß faszinierend, dass die Leute damals so heftige Gefühle für etwas entwickeln konnten.«

Trina wandte den Blick nicht von dem Gemälde. »Das liegt an all dem Tod damals. Ms. C hat es in ihrem Kurs behandelt.«

Morty sah Trina an und stellte fest, dass sie seinen Blick erwiderte. »Die Menschen hatten den Tod gerade erst besiegt … Heißt das, dass uns schon der Gesprächsstoff ausgeht?« Er ließ die Frage in der Luft hängen.

Trina wendete sich ihm unvermittelt frontal zu und sagte: »Ich habe Angst, Morty.«

Das traf ihn unvorbereitet. »Was, du? Du hast nie Angst.«

»Ich bin gut darin, Dinge zu verbergen.« Sie spannte die Lippen. »Ich will nicht sterben, Morty.«

Er schluckte. »Du wirst auch nicht sterben.«

Sie warf einen Blick auf Marats Leiche. »Ich möchte nicht, dass alles vorbei ist, bevor ich etwas entdecke, das mir so wichtig ist wie das Leben selbst.«

Morty wollte etwas erwidern, kam jedoch nicht dazu, weil Trinas Blick seltsam hart und ernst wurde, als wollte sie ihn herausfordern oder ein Angebot machen, das er nicht ablehnen konnte. Und obwohl sie schon nah nebeneinanderstanden, beugten sie sich noch näher zueinander, bis gar kein Raum mehr zwischen ihnen war. Als er sich dem Kuss hingab, fasste er mit einer Hand sanft ihren Hinterkopf, und alle seine Verlegenheit in ihrer Gegenwart war mit einem Mal verflogen. Morty schmeckte den heißen Kakao, den sie am Morgen getrunken hatte, und wusste, dass dieser Geschmack ihn von nun an für immer an diesen Augenblick erinnern würde.

Sie wurden von Schritten gestört und lösten sich hektisch voneinander.

Bitte mach, dass es nicht Ms. Cappellino ist , dachte Morty. Oder die Zwillinge .

Aber es war noch schlimmer. Es war Scythe Af Klint.

Das konnte kein Zufall sein! Irgendwie hatte sie gewusst, dass sie hier waren. Sie belauerte sie. Wie ein Tiger.

»Interessante Wahl für ein Studienprojekt«, schnurrte sie und betrachtete das Gemälde. »Der Name ›Marat‹ bedeutet auf Sanskrit ›Tod‹.« Sie wandte sich an Morty. »Genau wie dein Name auf Französisch ›Tod‹ bedeutet.«

Morty schluckte. »Totes Meer«, sagte er. »Mortimer bedeutet ›Totes Meer‹.« Er bereute sofort, überhaupt etwas gesagt zu haben. Womöglich war es ein mit Nachlese zu ahndendes Vergehen, eine Scythe zu korrigieren.

»Marat war Franzose«, sagte Af Klint. »Es gab eine Revolution. Das alte Regime wurde gestürzt, und verschiedene Fraktionen rangen um die Errichtung eines neuen. Marat wurde nicht von einer Feindin getötet, sondern von einer Mitrevolutionärin. Ist das nicht ironisch?«

Sie bedachte sie mit einem eigenartig wehmütigen Blick. »Ich mag deine Arbeit, Morty«, sagte sie. »Und deine auch, Trina.«

»Danke, Euer Ehren«, sagten beide stotternd im Chor.

»Aber ich verrate euch ein kleines Geheimnis. Es ist nicht an mir zu entscheiden, wer gewinnt. Es obliegt dem Richter, den ich im Sinn habe. Oder sollte ich sagen, den Richtern  …«

»Wer?«, platzte Trina heraus.

Wenn Morty ihr den Mund hätte zuhalten können, um den Laut wieder einzufangen, hätte er es getan.

»Bloß ein kleines Experiment von mir«, sagte die Scythe. »Solltet ihr euch jetzt nicht mit eurer Lehrerin im Café treffen? Ich habe gehört, dort gibt es den leckersten Kuchen.«

Es war der verlegenste Gang, den sie je gemacht hatten, die ganze Strecke zurück durch die nächtliche Höhle der Permanenten Sammlung ins Licht, vorbei an den lärmenden Gimmicks des ShapeVerse bis zu dem offenen Kaffeetresen. Weder Morty noch Trina sprachen ein einziges Wort, was Scythe Af Klint offenbar gar nicht bemerkte oder sie nicht weiter kümmerte. Sie schien ein komplett von ihrer Umwelt abgetrenntes inneres Universum zu bewohnen, als würde sie ihren Körper von weitem fernsteuern. Morty nahm an, dass das für jemanden in ihrer Rolle nur logisch war.

Der Rest ihres Kurses und Ms. Cappellino waren schon da und erstarrten beim Anblick von Scythe Af Klint, die zusammen mit Morty und Trina auf sie zukam. Der Barista – ein Typ, der nicht viel älter war als die Schüler – ließ hinter dem Tresen klirrend einen Teller zu Boden fallen und bückte sich nicht, um ihn aufzuheben.

»Das sind Sie ja, Belinda«, sagte Scythe Af Klint mit einer Willkommensgeste zu ihrer Lehrerin.

Ms. Cappellino räusperte sich und schien tief aus dem Bauch eine Reserve Mut zu mobilisieren. »Was führt Sie heute in dieses Museum?«

»Ich wollte nur sehen, wie meine Wettbewerbsteilnehmenden sich machen. Und mich um eine andere Angelegenheit kümmern.«

Als die Scythe sah, wie Wynters Unterlippe in ihrem Mund verschwand, streckte sie beschwichtigend die Hand aus. »Oh, ich bin heute nicht wegen euch hier. Ich möchte nur einen Espresso trinken.«

Sie wandte sich dem Barista zu, der in seinem makellosen Tweedanzug komplett mit Fedora-Hut wie aus einer vergangenen Epoche und viel zu cool für seine Umgebung wirkte. Aber plötzlich war er gar nicht mehr so cool.

»Welche Sorte?«, fragte er.

»Was empfehlen Sie?«

»Die Morgenmischung.«

»Dann nehme ich die Morgenmischung«, sagte die Scythe. »Und Sie auch.« Sie zog eine kleine Tüte mit Kaffeebohnen aus einer Falte ihrer Robe. »Aber Ihren Kaffee werden Sie mit diesen Bohnen zubereiten.«

Der Barista erbleichte, zögerte. Aber ein wütender Blick von Scythe Af Klint trieb ihn zur Kaffeemaschine.

Morty hatte nicht gewusst, dass es so lange dauern konnte, einen Espresso zuzubereiten. So viel mahlen und stopfen und summen, so viel Schall und Wut, nur um eine dickflüssige braune Brühe in eine winzige Tasse zu füllen. Und dann in eine weitere. Nach all dem Aufwand und der Sorgfalt wirkte das Endergebnis so unscheinbar. Ein paar Milliliter Flüssigkeit, die man binnen Sekunden getrunken hatte.

»Salud« , sagte Scythe Af Klint.

»Salud« , wiederholte der Barista.

Sie tranken aus ihren Tassen.

Wenige Momente später brach der Barista auf dem Boden zusammen. Beim Sturz rutschte ihm der Hut vom Kopf und landete mitten auf dem Tresen, als hätte der Mann ihn mit Absicht dort abgelegt.

»Das«, sagte Af Klint, »war die Morgenmischung.« Sie eilte zu der gläsernen Vitrine, fand eine pinkfarbene Schachtel, die sie mit Gebäck vollpackte und Wyatt in die Hand drückte.

»Leckereien für den Heimweg«, sagte sie und bedachte alle Anwesenden mit einem verschleierten Blick.

 

Im Publicar war es still. Morty konnte die pinkfarbene Schachtel mit Gebäck auf Wyatts Schoß nicht ansehen. Genauso wenig wie die anderen.

»Sie ist also der Typ Giftmischerin«, sagte Wynter.

»Unter ihrer Robe trägt sie auch Dolche«, sagte Trina.

Wyatt drückte sein Gesicht von hinten gegen die Kopfstütze. »Hört einfach auf, okay? Seid einfach still.«

»Hey«, sagte Morty. »Wir wissen gar nicht, ob sie einen von uns nachlesen wird. Sie hat nur von einer Belohnung gesprochen.«

»Und nicht von einer Bestrafung«, bestätigte Trina nickend.

Wyatt hob den Kopf und starrte sie mit feuchten Augen wütend an. »Seid ihr wirklich so blöd? Sie hat mir die pinkfarbene Schachtel gegeben. Sie hat auf mein Tablet geblickt und so ein Gesicht gezogen. Sie ist eine Vertreterin der alten Schule und ich nicht. Sie will irgendeine Art von Exempel an mir statuieren.«

Keiner stimmte ihm zu, aber es widersprach auch niemand. Sie saßen einfach da, nebeneinander und doch schmerzhaft voneinander getrennt.

 

In jener Nacht konnte Morty nicht schlafen. Er fragte sich, wer dafür zuständig war, sich um die Leiche des Barista zu kümmern. Er fragte sich, wo die pinkfarbene Schachtel jetzt war. Vor seinem inneren Auge sah er sie in einem offenen Müllcontainer liegen, wo sie im nächtlichen Regenguss Regenbögen von schmelzendem Zucker ausschwitzte. Er sah Regenwasser, das sich in Augenhöhlen, hohlen Wangen und einem klaffend offenstehenden Mund sammelte, die mit der Zeit immer mehr einfallen würden.

Er stand auf und schlich barfuß aus seinem Zimmer ins oberste Stockwerk des Schlaftrakts. Alle Zimmer, an denen er vorbeikam, waren dunkel; die anderen schliefen.

Bis auf Trina.

Er konzentrierte sich auf den bernsteinfarbenen Lichtstreifen unter ihrer Tür und klopfte. Sie öffnete, eine Silhouette in einem wachsenden Keil warmen Lichts.

Danach sagten sie nicht mehr viel. Sie küssten sich und bewegten sich behutsam. An ihrer gegenseitigen Unbeholfenheit wurde deutlich, dass es für beide das erste Mal war. Aber sie konnten ihr Bedürfnis beide nicht leugnen. Die absolute Notwendigkeit. Heute Nacht musste es passieren. Wenn nicht, da war er sich sicher, würden sie beide den Verstand verlieren.

 

Später blickte Morty durch die Regentropfen auf dem Oberlicht in den Himmel und beobachtete, wie hinter einer Wolkenschicht das Licht des Mondes pulsierte und durchzubrechen versuchte. Neben ihm schlief Trina. Sie hatte die Decke weggestrampelt. Offensichtlich schlief sie kern kühl. Er nicht.

Die Ereignisse des Tages waren beinahe zu viele, um sie zu fassen. War die heutige Nacht wegen oder trotz der Nachlese des Barista passiert? Trinas Schultern glänzten schwarzblau im Licht. Glatte sanfte Kurven. Der menschliche Körper war erstaunlich – so geometrisch proportioniert, aber organisch chaotisch, im Grunde immer gleich, aber auf unendliche intime Weisen verschieden. Das war es, was Morty an seiner Darstellung gleichermaßen frustrierte wie faszinierte. Eine Million perfekt gezeichnete Akte mochten für ein gleichgültiges Auge identisch aussehen, aber das waren sie nicht. Die Herausforderung bestand darin, einen mitfühlenden Betrachter zu finden.

Dann kam ihm eine Idee. Sie traf ihn mit solcher Wucht, dass er aus dem Bett schlüpfen, Kohle und Papier suchen und, so schnell er konnte, eine grobe Skizze anfertigen musste, damit sie ihm nicht entglitt und wieder im brodelnden Meer seines Unterbewusstseins versank.

Die Wolkendecke am Himmel war aufgerissen und hatte einen Ring klaren Nachthimmels von tiefstem Indigoblau mit einem silbernen Rand freigelegt. In diesem Ring strahlte das Licht des Vollmonds. Ein schwarzer Vogel teilte ihn im Flug in zwei perfekte Hälften, ohne sich seiner Präzision bewusst zu sein.

 

Am letzten Tag hatten die vier Schülerinnen und Schüler ganz aufgehört, miteinander zu sprechen. Sie arbeiteten mit der Intensität von Dorfbewohnern, die ihre Fenster vor einem Taifun vernagelten. Einmal glitt Morty der Pinsel aus der Hand und spritzte einen Farbklecks auf Wyatts Unterarm, den dieser bloß wortlos abwischte, ohne seine Konzentration auch nur für einen Moment von seinem Tablet zu wenden.

Nach dem heutigen Tag würde Morty keine Zeit mehr haben, darauf zu warten, bis die letzte Schicht getrocknet war, um mögliche Fehler auf seinem Gemälde zu korrigieren. Die endgültige Beurteilung würde vor einer noch feuchten Leinwand stattfinden. Wenn er nur mehr Zeit hätte! Hatte sich das Leben so früher angefühlt? Hatten sich alle gewünscht, nur noch ein wenig mehr Zeit zu haben?

Irgendwann hatte die Leinwand den unvermeidlichen Zustand erreicht, in dem sie keine weitere Farbe aufnehmen würde, und er musste es einfach gut sein lassen.

»Kunst ist nie fertig, sie wird nur aufgegeben« , hatte Ms. Cappellino ihnen einmal erklärt.

Das Schrammen der Stuhlbeine über den Boden verkündete das Ende.

Ms. Cappellino stand auf und sagte leise: »Legt eure Werkzeuge weg.«

 

Obwohl die Zeit für ihre Projekte abgelaufen war, war Ms. Cappellino noch nicht fertig mit ihnen. Sie führte sie auf den gepflasterten Hof der Schule. Morty sah, dass in der Mitte ein Dutzend Pflastersteine entfernt worden waren. In die Lücke hatte man frischen Beton gegossen. Ms. Cappellino kniete sich daneben.

»Ich möchte, dass ihr auf der Fläche ein Zeichen eurer Wahl hinterlasst«, sagte sie. »Und vergesst nicht, es zu signieren.«

Sie machte selbst den Anfang, malte mit einem Schraubenzieher den Buchstaben F in den Putz, strich sorgfältig die ausgefransten Konturen glatt und setzte ihre Signatur darunter: Belinda Cappellino .

»F steht für Faraz, meinen Mann«, sagte sie und fügte hinzu: »Er ist gestorben.«

Danach wollte niemand der oder die Nächste sein. Ms. Cappellino spürte ihre wortlose Verlegenheit. »Das ist lange her. Er litt an der sogenannten ›familiären Alzheimer-Krankheit‹. Er verlor das, was sein Ich ausgemacht hatte. Eigentlich wurde er ein Fremder. Insofern habe ich ihn in gewisser Weise schon lange vor seinem Tod verloren.«

Wynter verknotete ihre Finger. »Ich nehme an, das war, bevor es Revival-Zentren und Gesundheitsnaniten gab.«

»Natürlich«, fauchte Wyatt. Er war zappelig und wollte unbedingt hier weg. »Warum hätte man es sonst geschehen lassen? Damals wusste man vieles noch nicht. Heute schon.«

»Hey«, sagte Morty. »Sei nicht unhöflich.«

»Es ist wahr«, sagte Wyatt. »Wieso ist das unhöflich?«

Das konnte Morty tatsächlich nicht beantworten. Wyatts nüchterne Art zu reden fühlte sich bloß unhöflich an. Irgendwie respektlos.

Ms. Cappellino lächelte nur. »Wyatt hat recht. An einem Tag gab es auf der Welt noch natürlichen Tod und am nächsten nicht mehr. Wenn der Verlust meines Mannes mich eins gelehrt hat, dann, dass alles sich von einem Moment zum nächsten ändern kann – und wird. Menschen, Wahrheiten, Realitäten. Der Trick besteht darin zu entscheiden, ob eine bestimmte Veränderung gut oder schlecht oder etwas ist, wofür wir noch keine Worte haben.«

»Nun, also ich bin froh, dass Sie alt genug geworden sind, um noch die Möglichkeit der Wiederbelebung zu erleben«, sagte Trina.

Schweigen.

Morty beugte sich ein wenig näher. »Ms. C?«

Sie sammelte sich und breitete die Arme weit aus, als wollte sie das Weltall preisen. »Ihr seid der letzte Kurs meiner gesamten Lehrtätigkeit. Auf dieser kleinen Betonfläche sollt ihr mir meinen selbstbezogenen Wunsch erfüllen, etwas für die Nachwelt zu hinterlassen. Also macht euch flugs an die Arbeit und zeichnet irgendwas!«

Alle hinterließen ihr Zeichen. Als Werkzeuge benutzten sie, was sie in der Nähe fanden. Wynter nahm ein gefallenes Blatt und reihte in ihrer typisch hyperrationalen Art zahllose Abdrücke davon zu einem sechseckigen Muster auf dem feuchten Beton. Wyatt überlegte und überlegte und kratzte dann mit einem Stock ein Fragezeichen in den Boden.

»Es ist ein Werk, das ausdrückt, dass man nicht weiß, was man malen soll«, sagte er und fügte, als alle die Augen verdrehten, hinzu: »Das ist Meta-Kunst. Meta ist ein uraltes Konzept. Aber was auch immer, Leute, ich bin hier fertig.«

»Wyatt«, rief Wynter, doch er stürmte bereits von dannen. »Er ist so ein Idiot. Er war schon immer so ein Idiot.« Dann brach sie plötzlich in Tränen aus.

Ms. Cappellino umarmte und beruhigte sie. »Und ich bin sicher, dass er noch viele weitere Jahre ein Idiot sein wird«, sagte sie.

Trina und Morty hockten sich gemeinsam vor die Platte und malten etwas, das man als verschlungenen keltischen Knoten bezeichnen könnte. Sie dachten nicht lange darüber nach. Und sie dachten ganz bestimmt nicht daran, ob es für die Nachwelt würdig war. Aber einen Moment lang hatten sie tatsächlich Spaß, während sie versuchten, ihre Hände über- und untereinanderzuwinden, ohne zu kollidieren.

 

Die Arbeiten wurden sorgfältig verhüllt und zum Ort der Beurteilung gebracht. Am nächsten Morgen trafen die Schüler sich in Ms. Cappellinos Atelier, das heute nicht abgeschlossen war, weil es keinen Grund mehr dafür gab.

Auf Morty wirkte der Raum bereits wie ein Skelett, eine leere Hülle dessen, was er einmal gewesen war. Vielleicht weil er wusste, dass Ms. C nie wieder hier unterrichten würde. Heute war der erste Tag ihres »Ruhestands«, ein weiteres Konzept aus den alten Tagen der Sterblichkeit.

Furcht dämpfte ihre Unterhaltung im Publicar.

»Wo werden wir beurteilt?«, fragte Wynter.

»Du wirst schon sehen«, sagte Ms. C. »Und nicht ihr werdet beurteilt, sondern eure Arbeit.«

Wyatt schnaubte verächtlich. »Das sollen wir glauben?«

»Ich erwarte von dir, dass du glänzen wirst, egal was heute geschieht«, erklärte sie ihm und blickte zu den anderen. »Das gilt für euch alle.«

Das Publicar blieb stehen. Gefolgt vom Rest des Kurses stieg Morty aus und blinzelte in die Sonne.

Sie standen vor dem EastMerican Regional Museum of Art. Vor dem Eingang wartete heute eine Schlange von Besuchern.

»Wir machen es hier?«, fragte Wynter.

»Man hat mir mitgeteilt, dass die Präsentation im Atrium stattfinden wird«, sagte Ms. Cappellino.

»Vor all diesen Menschen?«, murmelte Trina und schlang nachdenklich die Arme um ihren Körper.

Aber Wyatt wippte aufgeregt auf den Fersen und bekam plötzlich neuen Mut. »Das sind gute Nachrichten! Das ist perfekt!«, sagte er. »Ich hatte auf ein Publikum gehofft …«

»Du hoffst immer auf ein Publikum«, grummelte Wynter.

Morty starrte nur auf die Warteschlange. Er hatte noch nie so viele Menschen vor dem Museum gesehen und fragte sich, ob sie alle zufällig hergekommen oder von dem Geruch von Blut angelockt worden waren.

»Also, los, alle miteinander«, sagte Ms. Cappellino.

Sie führte sie an der Schlange vorbei in das Museum und bahnte ihnen einen Weg durch die Menschenmenge ins Atrium. Dort war ein Achteck mit Kordel abgesperrt, in dem vier von weißen Satintüchern verhüllte Podeste standen.

Ein kräftiger Mann mit einer Krawatte mit Monet-Muster – der Museumsdirektor – kam Ms. Cappellino hastig entgegen.

»Sie sind zu spät«, zischte er, hakte die Samtkordel auf und ließ die Gruppe in das Achteck. »Sie ist schon …«

»Ah, da sind Sie ja!« Ihre Stimme ertönte in dem hohen Atrium wie ein großer Kupfergong.

Scythe Af Klint trat aus dem Schatten und begrüßte sie. Ihre Augen blitzten unter der Kapuze ihrer gesteppten Robe.

Wann war sie gekommen? Wie lange hatte sie gewartet? Und hatte die Wartezeit ihr die Laune verdorben? Morty fragte sich, ob das Blitzen in ihren Augen bedeutete, dass eine Nachlese unmittelbar bevorstand.

Aber die Scythe wandte sich an das Publikum. »Willkommen, alle miteinander. Sie werden heute etwas ganze Besonderes zu sehen bekommen.«

Beim Anblick der Scythe atmete die Besuchermenge kollektiv ein – ein Chor, der darauf wartete, den ersten Ton des Schreckens anzustimmen.

»Da Sie nun alle hier sind«, erklärte Af Klint den Versammelten, »ersuche ich Sie, für diese einzigartige Präsentation zu bleiben. Genau genommen verlange ich es sogar.«

Einige Besucher am Rand der Menge verloren trotzdem die Nerven und huschten davon.

»Gnade uns allen«, flüsterte der Museumsdirektor.

Af Klint ließ den Blick über das Publikum schweifen wie ein Falke auf der Suche nach Beute. »Scythe arbeiten normalerweise allein«, sagte sie. Jedes Wort hallte in dem Atrium wider und erfüllte es wie Licht. »Aber heute brauche ich die Hilfe von jeder und jedem von Ihnen.«

Ein Kind fing an zu wimmern. Af Klint zog eine besorgte Miene.

»Nichts allzu Widerwärtiges oder Anspruchsvolles«, fuhr sie fort, doch ihr Lächeln wirkte wenig beruhigend. »Ich möchte nur, dass Sie diese vier Werke beurteilen, die die besten Schüler der Mischler Art Academy geschaffen haben.« Sie wies auf die Gruppe und begann zu applaudieren, worauf die Menge mit äußerst verhaltenem Beifall einstimmte.

Morty spürte, wie Trina ihre Hand in seine schob. Sie beugte sich zu ihm und flüsterte: »So sollen wir beurteilt werden? Von Menschen, die wahllos von der Straße gepickt wurden?«

»Dem Sieger oder der Siegerin wird ein Jahr Immunität gegen Nachlese gewährt«, erklärte Scythe Klint dem Publikum. »Und was diejenigen betrifft, die nicht gewinnen …« Sie ließ den Gedanken im Dunkel des Unausgesprochenen verklingen.

Mortys Bewusstsein dehnte sich bis ins Unendliche und wieder zurück. Er war sich sicher, dass sein Gemälde, egal was seine Mitschüler geschaffen hatten, das traditionellste und damit auch langweiligste von allen war. Mit einem Mal kam ihm Wyatt – mit seinem nervigen Tablet – doch nicht mehr so dumm vor.

»Ladies first«, sagte Scythe Af Klint.

Morty spürte, wie Trina seine Finger zerdrückte.

»Wynter Weitz. Erzählen Sie uns von Ihrer Arbeit.«

Trinas Finger entspannten sich wieder.

Wynters Gesicht zog sich in die Länge, als müsse sie sich übergeben. Sie drückte ihren Bruder in einer merkwürdigen Umarmung wie zum Abschied an sich und trat dann vor, um das Satintuch von ihrem Sockel zu ziehen.

Ihre Arbeit war eine Assemblage aus ClipArt, ein Mandala in Form einer riesigen Doppelhelix, die aus zahllosen von Hand nachgemalten, vergrößerten Ausschnitten, fein wie weiße Spitze, zusammengeklebt worden war. Es war beeindruckend, monumental, eiskalt.

Scythe Af Klint zog einen Mikrophonstift aus ihrer Robe und gab ihn Wynter. Sie nahm ihn entgegen, als wäre es eine Giftschlange.

»Ähm …«, sagte Wynter, erschreckt von ihrer eigenen Stimme.

»Weiter«, flüsterte Ms. Cappellino. »Erzähl ihnen, was du mir erzählt hast.«

Wynter räusperte sich. Sie blickte zu ihren Mitschülern, als würde ihr plötzlich klar, dass ihr Leben – ihrer aller Leben – genau zu diesem Moment geführt hatte, zu diesem aufreibenden Hier und Jetzt und der Angst, was danach kommen könnte.

»Die unablässige Kommerzialisierung des digital vervielfältigten Bildes ist ein permanenter Versuch, das kreative Bewusstsein zu entwerten«, verkündete Wynter.

Af Klint runzelte die Stirn. »Diese Leute sind keine öden Akademiker«, erinnerte sie Wynter. »Sprich klar und einfach über deine Assemblage, anstatt bloß wichtig klingende Worte aneinanderzureihen.«

Wynter atmete tief ein. Morty erkannte, dass sie das, was sie sich zurechtgelegt hatte, komplett neu überdachte.

»Also, ich meine … je mehr wir das bereits Existierende duplizieren, desto tauber werden wir. Und trotzdem kann man mit Mustern und Bausteinen, die es schon gibt, etwas Neues schaffen.« Sie strich mit einem Finger über die Doppelhelix. »So wie die DNA , die aus sich wiederholenden Kombinationen von nur vier Aminosäuren besteht, zur Vielfältigkeit allen Lebens auf der Erde führt.«

Morty wechselte einen Blick mit Trina. Wynters Worte waren überraschend bewegend, und die Museumsbesucher bedachten sie mit höflichem Applaus. Morty schluckte; Trina drückte zweimal seine Hand. Er wusste, dass sie beide am liebsten geflohen wären. So ging es vermutlich allen. Aber das wäre nur ihr sicheres Ende gewesen.

Ms. Cappellino wrang so fest die Hände, als wollte sie sie von ihrem Körper schrauben.

»Wundervolle Arbeit, Wynter«, flüsterte sie. Wynter konnte nur roboterhaft nicken.

»Vielen Dank, Ms. Weitz«, sagte Scythe Af Klint und wandte sich Trina zu. »Trina Orozco – erzählen Sie uns etwas über Ihre Arbeit.«

Zunehmend panisch spürte Morty, wie Trina ihre Hand wegzog. Sie ging zu ihrem Sockel und enthüllte ihr Werk: einen großen Karton, an den auf einer Seite eine Zeichnung geklebt war. Morty hörte, wie das Publikum unsicher und verwirrt raunte und raschelte.

Ms. Cappellino stand wie erstarrt da. In ihren Augen sammelten sich Tränen.

Trina nahm das Mikro. »Das ist eine Camera obscura«, sagte sie. »Eine Linse auf der Vorderseite hat ein Bild auf dieses Blatt Pergament projiziert. Es ist eine uralte Technik, die von den niederländischen Meistern verwendet wurde, um Stillleben realistischer zeichnen zu können. Man braucht kein WLAN , nicht einmal Strom.«

Die Menge schien einen Schritt näher zu kommen.

»Weiter«, forderte die Scythe sie auf.

»Aber ich habe kein Stillleben gezeichnet«, fuhr Trina fort. »Meine Zeichnung ist eine Darstellung der Aktivitäten in unserem Atelier im Laufe einer gesamten Woche. Ich habe die für mich bedeutungsvollsten Momente dieser Woche abgebildet. Denn die Suche nach Sinn ist eine wesentliche und einzigartige Eigenschaft des Menschen und steht im Zentrum allen künstlerischen Denkens und Schaffens.«

Als er genauer hinsah, erkannte Morty vier verschiedene Versionen seiner selbst in verschiedenen Posen, daneben drei von Wynter und drei von Wyatt. An einer Seite saß Ms. Cappellino – der einzelne fixe Polarstern, an dem sie sich bei ihren Abenteuern auf den Meeren der Kunst orientierten.

Ein Murmeln erfasste das Publikum, als die Besucher das Bild betrachteten. Spärlicher Applaus hob an, doch die meisten Besucher waren damit beschäftigt, mit den Displays ihrer Telefone die Wand hinter ihnen heranzuzoomen. Morty drehte sich um und erkannte, dass Trinas Zeichnung in Vergrößerung dorthinprojiziert wurde – für die Zuschauer, die zu weit hinten standen, um etwas zu erkennen. Diese geteilte Aufmerksamkeit zersplitterte den kräftigen Beifall, auf den Trina gehofft hatte.

»Und jetzt die Jungen«, sagte Scythe Af Klint, blickte Morty an und überlegte es sich dann anders. »Wir beginnen mit … Wynters Bruder Wyatt.«

Wyatt hüpfte nach vorn und schnappte sich das Mikro. Er wippte auf den Füßen, atmete ein paarmal heftig und stoßweise ein wie ein Sprinter beim Aufwärmen. »Packen wir’s«, hörte Morty ihn murmeln.

Wyatt hielt das Mikro vor den Mund wie eine Trinkflasche und begann. »Wie geht’s, Leute, mein Name ist Wyatt Weitz, und ich habe Aufnahmen von all den phantastischen Arbeiten meiner Mitschüler gemacht und sie durch speziell zugeschnittene Filtrierungsalgorithmen laufen lassen. Das heißt, durch visuelle Filter, die ich erfunden habe! Das eigentliche Kunstwerk ist also nichts, das ich erschaffen habe, sondern etwas, das noch erschaffen werden muss . Genau genommen wird es das sein, was euch unter Verwendung der Techniken meiner Mitschüler einfällt. Ich freue mich sehr, euch den … Wynter-Filter zu präsentieren …«

Wyatt drehte seinen Laptop zum Publikum, um die Webseite eines App-Store zu zeigen, und wischte und wischte. »… den Trina-Filter … und den Mortimer-Filter!«

Der Museumsdirektor notierte die Webadresse und gab sie bekannt. Kurz darauf beugten praktisch alle Besucher die Köpfe über ihre Geräte und spielten mit den Filtern herum.

Morty hätte Wyatt umbringen können. Wyatt hatte nicht nur den individuellen Stil von jedem von ihnen erfolgreich kopiert, sondern auch einen Weg gefunden, diesen Still beliebig anwendbar zu machen. Nun konnte jeder mit einem Wischen oder Klicken Nachahmungen ihrer Werke produzieren. Es war der ultimative künstlerische Diebstahl; und trotzdem strahlte Wyatt, stolz darauf, dass er nichts anderes getan hatte, als ihre kreative Seele in ein Massenprodukt zu verwandeln. Morty zog eine Grimasse und blickte ungläubig zu Trina.

Aber Trina wirkte nicht entsetzt, sondern eher erstaunt oder sogar erfreut. Sie wechselte einen Blick mit Wynter und flüsterte ihr zu: »Das könnte echt genial sein.«

Ermutigt vom Meer der Gesichter, die im Widerschein ihrer Displays grün leuchteten, fuhr Wyatt seine Ernte ein.

»Jeder kann nun Kunst machen genau wie diese jungen Meister«, rief er. »Diese Filter sind ab sofort frei verfügbar und ein Teil der Cappellino Legacy Collection, wie ich sie nenne.«

Ein Murmeln erfasste das Publikum. Die Leute zeigten sich nickend gegenseitig die Displays ihrer Handys. Andere waren offenbar schon in die kreativen Tools der App vertieft. Der Applaus schwoll an.

Wyatt, der von ihnen allen am meisten Angst gehabt hatte, badete stolz in den Lobesbekundungen. Natürlich liebte das Publikum Wyatt. Er war das Neue.

Und Morty war das Alte.

»Clever«, sagte Scythe Af Klint über den immer noch lauter werdenden Beifall hinweg. »Und offensichtlich ein Publikumserfolg.«

Wyatt überrumpelte Morty, indem er einen Arm um seine Schulter legte. Dann zog er auch Trina und seine Schwester an sich. »Ich habe euch gerade alle zu weltberühmten Künstlern gemacht«, flüsterte er ihnen in dem Lärm zu.

Ms. Cappellino blickte auf ihren Namen auf der Seite des App-Stores, als würde sie nicht begreifen, wie er dorthingekommen war. Sie war nun digital unsterblich, ob sie es wollte oder nicht. Morty verstand ihre Verwirrung. Diejenigen, denen die Unsterblichkeit verwehrt wurde, hatten sie meistens verdient; die, die sie bekamen, in der Regel nicht.

Mit einem Krokodilslächeln, das ihm das Blut in den Adern gefrieren ließ, wandte Af Klint sich an Morty. »Also gut, was haben Sie für uns, Mortimer Ong?«

Morty kam sich mit einem Mal ganz klein vor. Wie ein Kind, das mit der Hand in der Keksdose erwischt worden war … um dann festzustellen, dass es in Wahrheit eine Bärenfalle war.

»Ich … ich habe ein Gemälde geschaffen«, sagte er. »Im klassischen Stil.«

»Und dürfen wir es sehen?«, ermunterte Af Klint ihn. »Oder sollen wir es uns nur vorstellen?«

Morty machte einen abgerissenen Atemzug und stieß ihn an den Rändern geglättet langsam wieder aus. Dann zog er mit einem winzigen Zupfer das Satintuch von der Leinwand, sorgfältig darauf bedacht, die Farbe nicht zu verschmieren.

Beim Anblick des Aktgemäldes stockte seiner Lehrerin hörbar der Atem.

»Oh Morty«, rief Ms. Cappellino. »Was hast du getan?«

Trina schlug die Hand vor den Mund wie in einer pantomimischen Nachbildung von Munchs Schrei . Die normalerweise rosigen Gesichter von Wynter und Wyatt waren aschfahl. Der Museumsdirektor stand schweißgebadet da und fragte sich, ob er das Bild an die Wand projizieren sollte oder lieber nicht.

Denn auf der Leinwand sah man niemand anderen als Scythe Af Klint, für alle Augen entblößt.

Die Scythe war sprachlos. »Was … was hat das zu bedeuten?« Sie zog eine Hand aus einer Falte ihrer Robe und enthüllte ein eisernes Fingermesser, das über ihren Zeigefinger hinausragte wie ein manikürter Nagel. In die kunstvolle Waffe war eine winzige Ampulle mit rubinrotem Gift eingelassen.

Ms. Cappellino warf sich zwischen die beiden. »Bitte, Euer Ehren. Nicht Morty!«

Die Scythe brachte sie mit einem eisigen Blick zum Schweigen und schob sie sanft, aber entschieden zur Seite. Dann wandte sie sich mit gezwungener Ruhe an Morty, als würde sie die Flut ihres Zorns nur mühsam zurückhalten. »Erklären Sie mir, warum ich Sie für diese … Unverschämtheit nicht nachlesen sollte.«

Morty zitterte am ganzen Körper, doch mit schierer Willenskraft schaffte er es, mit fester Hand auf das Bild zu weisen und mit ebenso fester Stimme zu erwidern. »Schauen Sie genau hin, Euer Ehren.«

Auf dem Gemälde legte die Scythe mit einer Hand ihre Robe ab, während sie die andere zu einer Anrichte ausstreckte … auf der ein Dolch mit diamantbesetztem Griff lag.

Scythe Af Klint weitete die Augen. »Es ist mein Gesicht, aber nicht meine Robe. Die Robe ist aus orangefarbener Spitze … Nein! Nicht orangefarben! Apricot! Und dieser Dolch.« Schließlich erkannte sie den Zusammenhang. »Das bin nicht ich … es ist die Gründerscythe Sappho!«

»Und doch … sind Sie es. Denn werden nicht alle Scythe eines Tages ihr Schicksal erleiden?«

»Sie war die Erste, die sich selbst nachgelesen hat …«

»Und uns damit daran erinnert hat, dass der Tod nicht besiegt ist«, sagte Morty. »Er wurde nur eingehegt …«

Af Klint nickte. »Und eines Tages werden jede und jeder Scythe zusammen mit ihm in diesem Gehege landen.«

Sie betrachtete das Gemälde und dann Morty mit einer Mischung aus Staunen und Wut.

»Es ist … exquisit. Aber warum hast du es gewagt, ihr mein Gesicht zu geben?«

»Um wahre sterbliche Kunst zu erschaffen, musste über dem Haupt des Künstlers die Angst vor dem Tod schweben wie früher«, erklärte Morty.

Mit angehaltenem Atem begriff Af Klint, was er meinte. »Du wusstest, dass ich dich dafür vielleicht nachlesen würde.«

Morty nickte. »Und diese Furcht hat meine Leidenschaft für die Wahrheit befeuert.« Dann hob er den Kopf, als wollte er sie herausfordern, ihm mit ihrer giftigen Fingerklinge, den Hals aufzuschlitzen. »Ich habe es Af Klint in Kontemplation über Sapphos Ende genannt.«

Die Scythe betrachtete das Gemälde noch eine Weile schweigend und drehte sich dann zum Publikum um, als würde sie seine Anwesenheit gerade erst bemerken. Niemand machte einen Mucks, niemand applaudierte, offenbar wagte niemand, auch nur zu atmen.

»Hörst du das?«, flüsterte Af Klint. »Hört ihr alle das?«

»Ich höre gar nichts«, sagte Wynter.

»Genau.«

Af Klint nahm Morty das Mikrophon aus der Hand und wandte sich an die Zuschauer.

»Auf der Grundlage Ihrer Beifallsbekundungen oder … deren Ausbleiben haben wir einen klaren Gewinner!«, verkündete sie. »Wyatt Weitz erhält für ein Jahr Immunität!«

Das Publikum begann zu klatschen, zunächst zurückhaltend, dann mit mehr Überzeugung. Wynter stürzte sich in die Arme ihres verblüfften Bruders.

»Oh wow«, sagte Wyatt. Dann löste er sich aus den Armen seiner Schwester, kniete vor der Scythe und küsste ihren Ring, während die Zuschauer den Hals reckten und mit allen Geräten, die sie bei sich hatten, Fotos machten. Als Wyatt sich wieder erhob, wandte Af Klint sich erneut an das Publikum. »Danke für Ihre Dienste«, sagte sie. »Sie sind entlassen.«

Morty hatte noch nie gesehen, wie eine Menschenmenge dieser Größe sich so schnell bewegte. Eine kleine Handvoll Zuschauer verzog sich in die entlegeneren Räume des Museums, doch fast alle anderen strömten zum Drehkreuz am Eingang und aus dem Gebäude, vor dem eine Schlange von Publicars darauf wartete, sie möglichst schnell fortzubringen.

In weniger als einer Minute waren nur noch die Scythe, Ms. Cappellino und ihre Schüler übrig.

»W … Was ist mit Wynter, Morty und mir?«, wagte Trina zu fragen.

»Was, habt ihr gedacht, dass ich diejenigen, die nicht gewinnen, nachlesen werde?«

»Der Gedanke … war uns gekommen«, sagte Wynter.

Af Klint schüttelte den Kopf. »Glaubt ihr wirklich, dass wir Scythe so hinterhältig und verschlagen sind?«

Es war Ms. Cappellino, die antwortete. »Ja. Manchmal schon.«

Af Klint starrte sie wütend an, bevor sie seufzend einräumte: »Vermutlich haben Sie recht. Ränke, Intrigen und hin und wieder ein kleiner Verrat machen unser Leben interessant.« Sie ließ ihren Blick von einem zum andern wandern, bis er bei Ms. Cappellino haften blieb.

»Als Lehrerin sollten Sie stolz sein. Sie haben die Flamme, solange Sie konnten, lebendig gehalten. Diese letzten Ihrer Schülerinnen und Schüler sind die hellste Glut, die bleibt. Ich glaube, sie verkörpern eine Art Wachwechsel.«

»Danke, Euer Ehren.« Wyatts Worte hallten in dem fast leeren Raum wider.

Af Klint lachte wehmütig. »Das«, sagte sie, »war kein Kompliment.«

Wyatts breites Lächeln erstarb.

Af Klint fuhr fort: »Deine Arbeit war zwar brillant ausgeführt, aber im Prinzip hohl. Das mache ich weder dir noch deiner Lehrerin zum Vorwurf. Es ist ein Leiden unserer Zeit. Ich glaube, wir sind in eine neue Ära der Menschheit eingetreten, in ein postmortales Zeitalter gewissermaßen.« Sie wandte sich an Morty. »Aber du, Morty, hast etwas geschaffen, was ich nicht mehr für möglich gehalten hatte.«

Morty war sich nicht sicher, ob sie es diesmal als Kompliment meinte. »Euer Ehren?«

»Jeder kann Beifall aus einem Publikum herauskitzeln«, sagte sie. »Aber die Zuschauer so ehrfürchtig zurücklassen, dass sie zu gar keiner Reaktion fähig sind? Das ist wirklich bemerkenswert!« Sie lächelte ihn an. »Ich glaube, du hast vielleicht das letzte Werk mortaler Kunst geschaffen.«

Er war so perplex von ihren Worten – und deren Implikationen –, dass es einen Moment dauerte, bis er merkte, dass Trina seine Hand gegriffen hatte. Und diesmal ließ sie nicht wieder los.

Af Klint wandte sich an Ms. Cappellino und sagte sanft: »Belinda, es ist Zeit.«

Der Klang dieser Worte gefiel Morty gar nicht. »Warten Sie«, sagte er. »Was?«

»Ich habe euch versichert, dass für euch vier nie die Gefahr bestand, nachgelesen zu werden«, sagte Af Klint. »Aber das galt nicht für eure Lehrerin.«

Das traf alle wie ein Schock, der rasch in Panik umschlug. Nur Ms. Cappellino wirkte nicht überrascht.

»Sie wussten es?«, fragte Wyatt.

»Nein«, erwiderte Ms. Cappellino, »aber ich hatte einen Verdacht.«

»Warum?«, wollte Trina von Af Klint wissen. »Warum müssen Sie das tun?«

Aber Ms. Cappellino hob die Hand, um sie zum Schweigen zu bringen. »Meine Arbeit ist getan, mein Leben ist vollendet«, erklärte sie ihren Schülerinnen und Schülern mit einer Dankbarkeit und Zufriedenheit, die es ihnen leichter machte. »Ich bin sterblich geboren«, fuhr sie fort. »Als Lehrerin bin ich von Bedeutung für meine Ära – aber nicht für die Zukunft. Das neue Zeitalter der Unsterblichkeit geht über meinen Verstand.«

Af Klints Miene verdüsterte sich. »Es … rumort … innerhalb des Scythetums«, sagte sie. »Einige sind der Ansicht, dass es eine Säuberung von allen sterblich Geborenen geben sollte – um die Welt vom mortalen Denken zu befreien. Aber ich finde, eure Lehrerin hat die Achtung verdient, von einer Scythe nachgelesen zu werden, die sie und die großartige Arbeit, die sie geleistet hat, zu würdigen weiß.«

Ms. Cappellino wirkte nicht besorgt, sondern beinahe erleichtert. Mit Tränen in den Augen breitete sie die Arme aus und drückte jeden von ihnen an sich. »Es war die Ehre meines Lebens, eure Lehrerin zu sein. Und ich weiß, dass ich, selbst wenn ich nicht mehr bin, in eurem Werk unsterblich bleibe.«

»Genau wie ich«, sagte Af Klint mit einem Blick auf Mortys Gemälde. »Belinda, heben Sie jetzt den Kopf und blicken in den Himmel.«

Mit einem angedeuteten Lächeln wandte Ms. Cappellino die Augen zu den Wolken, die sich im Blau über der Glaskuppel des Atriums ballten, als Af Klint näher trat.

»Nein«, rief Morty.

Aber was hätte er machen sollen? Er konnte nur zusehen, wie die Scythe mit der Klinge an ihrer Fingerspitze die zarte Haut von Ms. Cappellinos Hals berührte … und im nächsten Moment ihre Leiche sanft in die Arme ihrer Schüler bettete, deren Welt sich von einem Augenblick zum nächsten verändert hatte.

»Bleibt bei ihr, solange ihr mögt«, sagte Af Klint mit einer sanften Aufrichtigkeit, die im Widerspruch zu ihrem gesamten Wesen zu stehen schien. »Ich werde dafür sorgen, dass niemand euch stört, bis ihr so weit seid.« Dann verließ sie den Raum, ohne sich umzusehen.

»Ms. Cappellino hat es willkommen geheißen …«, sagte Morty in dem Versuch, denselben Lichtstrahl zu entdecken, den ihre Lehrerin im Augenblick ihres Todes gesehen hatte.

Wyatt schüttelte den Kopf. »Das werde ich nie verstehen können.«

»Weil du nicht sterblich geboren bist, du Idiot«, sagte Wynter unter Tränen.

Aber es war Trina, die mit ihrer eigenen inneren Camera obscura, die Wahrheit des Ganzen wirklich erfasste.

»Sie hat gesagt, ihr Leben sei vollendet«, gab sie zu bedenken. »Das ist eine Erfahrung, die wir alle nicht mehr machen werden. Selbst wenn wir eines Tages nachgelesen werden. Denn wir sind nicht sterblich geboren. Von diesem Moment an wird niemand mehr wissen, wie es sich anfühlt, ein vollendetes Leben geführt zu haben.«

Morty nahm Trinas Hand und lächelte.

Mit Tränen in den Augen erwiderte sie sein Lächeln – denn beide wussten, dass sie einem vollendeten Leben gemeinsam vielleicht einen kleinen Schritt näherkommen konnten.

Und so verharrten sie kniend in einem klassischen barocken Tableau, wie Ms. Cappellino ihnen erklärt hätte. Vier Schülerinnen und Schüler, die den Leichnam ihrer gefallenen Mentorin in den Armen hielten – im Atrium eines Museums, an einem Tag, der als der letzte echte Tag der Sterblichkeitsära in die Geschichte eingehen sollte.