Kapitel 8: Black Knights’ Tango

»In Anonymität liegt Weisheit, Kittisak«, sagte Großmutter. »Und Schweigen bedeutet Sicherheit. Unsichtbarkeit führt zu einem langen und glücklichen Leben.«

Großmutter hielt Kitt häufig solche Vorträge, während er ihr bei der Gartenarbeit zur Hand ging. Er war daran gewöhnt – und sie war daran gewöhnt, dass er ihr widersprach.

»Unsere Leben sind schon lang genug«, entgegnete Kitt. »Aber Länge und Zufriedenheit gehen nicht immer Hand in Hand, Yai

Sie antwortete nicht. Stattdessen entdeckte sie vor sich die größte und schönste Orchidee und schnitt sie ganz vorsichtig am Boden ab. Damit verdeutlichte sie ihr Anliegen: Wenn man auffiel, zog man damit die Aufmerksamkeit derjenigen auf sich, die das eigene ewige Leben verkürzen konnten. Aber andererseits: Worum ging es denn im Leben, wenn nicht darum, sich vollständig in der Sonne auszustrecken?

»Wir sind alle stolz darauf, was du erreicht hast, Kittisak. Aber könntest du vielleicht etwas weniger erfolgreich sein?«

Das brachte Kitt zum Lachen. »Mit Absicht Partien verlieren, meinst du?«

Großmutter verzog die Augen zu Schlitzen. »Ist es nicht edel, anderen von Zeit zu Zeit einen Sieg zu gönnen? Schach verlangt Opfer; strategische Kapitulation könnte ein lebensbejahender Schachzug sein.«

»Absichtlich verlieren ist unmoralisch«, konterte Kitt. »Das ist nur eine andere Art von Mogeln.«

Eine Unterhaltung mit seiner Yai – seiner Großmutter mütterlicherseits – glich einem Schachspiel. Auch wenn Großmutter es nicht gerne hörte, seine Kompetenzen in strategischem Zusammenspiel hatte er in Gesprächen mit ihr erworben.

»Ich ertrage den Gedanken nicht, dass du uns von einem Scythe genommen wirst, nur weil er sieht, wie hell dein Licht scheint«, erklärte sie ihm, während sie die Heckenschere in ihre Schürze steckte. »Scythe wollen das Licht dimmen, die Besten und die Klügsten ausmerzen.«

»Nicht immer. Häufig löschen sie auch die nicht so hellen Lichter aus.«

»Du hast gerade meine Aussage bestätigt«, sagte Yai. »Zu hoch oder zu tief, dann erregst du ihre Aufmerksamkeit. Am besten befindet man sich im Mittelfeld.«

Wie die Fische bei mir in der Schule , dachte Kitt. Immer voller Angst, an den Rand des Schwarms zu geraten. Aber wenn man sich in der Masse versteckte, war das eigene Leben auch nur das der Masse. Mehr sah man nicht, mehr erlebte man nicht. Ermutigte der Thunderhead die Leute nicht immer, ihren Erfahrungshorizont zu erweitern? Nach Großartigkeit und nicht nach Mittelmäßigkeit zu streben? Er drängte die Leute immer, die unerschrockene Ursprünglichkeit der Sterblichen der faden Konformität der Unsterblichen vorzuziehen. Aber seine Großmutter war nur sehr selten mit dem Thunderhead einer Meinung.

Sie reichte ihm die Orchideen, die sie geschnitten hatte. »Stell sie auf dem Küchentisch in eine Vase. Sie werden hübsch aussehen. Bis sie sterben.«

Kitt fragte sich, ob Yais Hang zu stiller Anonymität nur auf die Angst vor Scythe oder aber auf die Weisheit ihrer sterblichen buddhistischen Vorfahren zurückzuführen war. Schließlich war Wettbewerb laut dem achtfachen Pfad des Buddhismus etwas, von dem man sich lösen musste – auch wenn es sich um einen Wettbewerb in einem Denksport wie Schach handelte.

»Wenn du dein Schachbrett betrachtest, siehst du dann die Welt?«, fragte Yai. »Die Gefahren, denen du gegenübertreten, und die Opfer, die du bringen musst?«

»Ständig«, erklärte Kitt ihr. »Wenn ich weniger sehen würde, dann wäre ich kein Meister.«

»Und dennoch besteht die Welt nicht nur aus Schwarz und Weiß, sondern aus endlosen Grautönen«, sagte sie, während sie den Garten verließ. »Das wirst du lernen. Ich hoffe nur, du lernst es nicht auf die harte Tour.«

 

Bangkok war – und das wird sich wahrscheinlich auch nie ändern – eine riesige, weitläufige Stadt. Es war der größte Ballungsraum in der Region LaoSiam und hatte sich seit der Sterblichkeitsära nur wenig verändert.

Unmögliche Wolkenkratzer, den wildesten Architektenträumen entsprungen, ragten über bescheidenen Behausungen empor, die funktionell und gemütlich waren. Weiter oben schwelgten die Menschen im Luxus, während die Menschen unten ein traditionelles Leben am Fluss Chao Phraya führten und in Booten aus Teakholz das riesige Kanalnetzwerk entlangfuhren. Es gab die einen, die großen Trost in den alten Traditionen fanden, und andere, die alles Neue liebten, in offenen Sky Lounges tanzten, um dabei Mond und Sternen nah zu sein.

Diese beiden Lebensstile waren in viel besserer Balance als noch in der Sterblichkeitsära. Tradition ohne Armut. Zukunftsorientiertes Denken ohne Elitismus. Eine Harmonie, die nur unter dem wohlwollenden Blick des Thunderhead existieren konnte. Es gab Menschen, die glaubten, dass der Thunderhead und der Buddha ein und derselbe waren, aber der Thunderhead stritt das immer direkt ab.

Kittisak Kansaden liebte diese Stadt mit all ihren Schrullen, ihren ärmlichen und ihren protzigen Ecken. Aber am meisten liebte er die Marotten seiner Großmutter, weil diese ihn mit vielen Generationen Kansadens verband, die bereits vor dem Aufstieg des Thunderhead lebten und starben.

Er mochte es zum Beispiel sehr, dass sie knallrote Erdbeerlimo und Mango-Klebreis ins vergoldete Geisterhäuschen stellte, das in einer Gartenecke stand. Essen, um den Hofgeist zu ehren und die Familie vor unberechenbaren Geistern zu beschützen.

»Glaubst du daran, Yai?«, hatte Kitt seine Großmutter vor vielen Jahren gefragt. Denn für ihn zogen die süßen Sachen bloß Fliegen an – aber andererseits wurden die Viecher damit vom Haus ferngehalten, also existierte sogar in dieser Angelegenheit eine göttliche Balance.

In ihrer Antwort wich sie ihm aus – das tat sie meistens – wie ein Springer, der einen lästigen Bauern umrundet.

»Ich tue das, weil meine Großmutter und deren Großmutter es getan haben. Damit ehre ich sie.«

Kitt hatte darüber gelächelt. »Aber deine Großmutter und deren Großmutter leben noch, oben in Chiang Mai.«

Sie hatte abgewinkt, als wollte sie Fliegen verscheuchen. »Du hast überhaupt nicht verstanden, worum es mir geht.«

Die Wahrheit lautete: Kitts Familie erstreckte sich über sehr viele Generationen und war riesig. Es gab nicht nur seine Eltern und Geschwister, sondern auch Tanten und Onkel und Cousins und Großcousins und die Eltern ihrer Eltern und deren Eltern, die aus mehreren unsterblichen Generationen stammten. Sie waren in der ganzen Region verstreut – auf der ganzen Welt, um ehrlich zu sein, aber diejenigen, die in Bangkok geblieben waren, hatten die unerbittlichen Fesseln einer eng miteinander verbundenen Familie ausgebildet. Jeder mischte sich in die Angelegenheiten der anderen ein und wusste mehr über gewisse Dinge als angemessen gewesen wäre. Außer natürlich über die Dinge, über die niemand sprach.

Und seine eigenen Eltern und Geschwister lebten das sorglose Leben der Poststerblichkeitsära. Sie teilten ihre Zeit auf zwischen den hohen Türmen, wo spannende Dinge geschahen, und dem traditionellen Haus der Familie, wo eigentlich nie etwas Aufregendes passierte. Sie gingen zu Hause einkaufen, in den luxuriösen Geschäften von Iconsiam – der größten Mall der Welt –, aßen aber auch an kleinen Ständen auf den Straßen und feilschten um billige Klamotten beim Chatuchak-Wochenendmarkt.

Kitt bevorzugte die Stabilität eines einzigen Lebens – viele verschiedene Lebensstile waren nichts für ihn. Er hatte sich für das alte Zuhause entschieden, weil es dort weniger Ablenkungen gab und er dort nicht auf Aufzüge warten musste. Außerdem war Großmutter eine viel bessere Köchin als seine Eltern.

Diese Woche war es ruhig, weil der Rest der Familie gerade das moderne Leben lebte und nur Kitt und seine Großmutter im alten Haus waren. Kitt hatte seinen Großvater nie kennengelernt – er war das einzige Mitglied der gesamten Familie, das jemals nachgelesen worden war; er war vor Kitts Geburt Scythe Thao Si Sunthon zum Opfer gefallen. Die schöne und zugleich tödliche Scythe war berüchtigt dafür, dass sie auf einem Elefanten sitzend Hauptstraßen entlangritt und Menschen mit einem giftigen Dha-Schwert aufschlitzte. Die meisten Leute konnten ihr schnell ausweichen, wenn sie ihren Elefanten kommen sahen – was für sie in Ordnung war, weil Scythe Sunthon nur die Unaufmerksamen nachlesen wollte.

»Dein Großvater war mit den Gedanken immer ganz woanders«, hatte Yai Kitt einmal erzählt. »Er hat nie registriert, was sich direkt vor seinen Augen abspielte.«

Kitt musste einfach das Orchideen-Arrangement auf dem Tisch anstarren, als sie am Abend nach Yais letzter Mahnung zur Unsichtbarkeit gemeinsam aßen. Die Masche mit den Orchideen war erfolgreich, weil Kitt dadurch immer an ihre Warnung erinnert wurde – auch wenn er sie liebend gern vergessen hätte. Kitt dachte, dass sie nicht mehr darüber sprechen würden, zumindest nicht heute, aber beim Essen kam Yai wieder auf das Thema zurück.

»Du solltest wissen, dass es Gerüchte gibt«, setzte sie an. Dann wartete sie darauf, dass Kitt darauf einging, was er auch tat, und sei es nur, um schnell hinter sich zu bringen, was auch immer Yai sagen würde.

»Was für Gerüchte?«

»Es gibt einen neuen Scythe, der einen Tempel im Norden der Stadt für sich beansprucht hat«, erklärte ihm Yai. »Er ist eines Tages dort aufgetaucht, hat die Mönche rausgeschmissen und sich dort niedergelassen. Er ist mysteriös. Niemand kennt seinen Namen oder weiß über seine Absichten Bescheid.«

»Die Absichten von Scythe sind immer dieselben.«

»Genau«, stimmte Yai zu, »aber die Leute sagen, dass dieser Scythe Spaß an Strategiespielen hat.«

Kitt tat die Bemerkung mit einem Schulterzucken ab. »Das tun viele Menschen.«

»Viele Menschen nehmen auch fehlerhafte Gewohnheiten an«, sagte Yai.

Kitt aß die letzten Bissen. »Ich aber nicht.« Dann ging er in sein Zimmer und schloss die Tür.

 

Am folgenden Tag verlor er ein Spiel. Glücklicherweise handelte es sich um einen inoffiziellen Wettbewerb – nur ein Trainingsspiel mit einem Schachclub aus Phuket – aber gegen einen Spieler, der nicht annähernd so renommiert war wie Kitt, deswegen schämte er sich dafür. Kitt war zugegebenermaßen mit seinen Gedanken bei Schnittorchideen und mysteriösen Scythe in dunklen Tempeln gewesen – und seine Spielzüge verrieten seinen mangelnden Fokus.

Kitt wusste, dass er verloren hatte – noch ehe er seinen König antippte. Und er hörte die Stimme seiner Großmutter in seinem Kopf.

Gut. Sei weniger gut, als du sein könntest. In der Mittelmäßigkeit liegt die Macht.

Das machte ihn wütend genug, um sich zu sammeln und die nächsten beiden Spiele zu gewinnen, und zwar in solch demütigender Geschwindigkeit, dass den Zuschauern die Münder offen stehen blieben.

Seine Großmutter war im Garten, als er nach Hause kam, und er ging nicht nach draußen, um sie zu begrüßen. Stattdessen verzog er sich direkt in sein Zimmer, um seine Fähigkeiten gegen die scharfe geistige Klinge des Thunderhead zu schärfen.

Kitt spielte regelmäßig gegen den Thunderhead. Und verlor auch regelmäßig, weil niemand – nicht einmal die besten Schachspieler aller Zeiten – den Thunderhead jemals besiegen konnten. Außer natürlich, wenn er im Menschenmodus spielte – was Kitt hasste.

»Ich finde es schrecklich, wenn du mich gewinnen lässt«, beschwerte er sich immer.

»Menschenmodus ist nicht gleichzusetzen mit gewinnen lassen«, erklärte ihm der Thunderhead sanft. »Wenn ich als Spassky oder Capablanca spiele, trittst du immer noch gegen eine Simulation der stärksten menschlichen Herausforderer an. Wenn ich meinen Intellekt drossele, wird das Spiel weniger vorhersehbar und macht dir deswegen mehr Spaß, weil du weißt, dass du gewinnen kannst.«

»Ich lerne aber nichts, wenn du im Menschenmodus spielst«, antwortete Kitt. »Ich lerne nur etwas, wenn du dir alle Mühe gibst. Ich lerne nur, wenn ich verliere.«

Also verlor er. Immer und immer wieder. Und so wurde er zu etwas Besonderem, genau wie die Orchidee, die seine Großmutter so kurzerhand mitten auf den Esstisch gestellt hatte. Inzwischen war Kitts ganzes Zimmer voller Medaillen, Pokalen und Urkunden, alle in glänzendem Gold, es ähnelte fast schon einem Tempel.

»Ich bin wirklich sehr stolz auf dich«, erklärte ihm der Thunderhead, aber das erinnerte Kitt nur daran, dass er diesen Satz nicht oft genug von den Menschen in seinem echten Leben hörte.

Bei ihrem zweiten gemeinsamen Spiel in der Nacht sagte der Thunderhead etwas Seltsames.

»Bist du sicher, dass du diesen Zug machen willst?«, fragte er.

»Ich habe schon gezogen«, antwortete Kitt. »Ich kann das nicht mehr ändern.«

»Ich erlaube es dir.«

»Das ist gegen die Regeln«, sagte Kitt und lehnte den Vorschlag ab. »Spiel einfach.«

»Na schön.«

Von da an waren es noch sechzehn Züge bis zum Schachmatt.

Kitt wollte gerade den Holoscreen löschen, aber der Thunderhead hielt ihn davon ab.

»Ich würde dir gerne etwas zeigen.«

Der Thunderhead analysierte ihre Spiele immer. Kitt mochte diese Analyse inzwischen genauso sehr, wie das Spiel an sich – wenn nicht noch lieber.

Der Thunderhead stellte auf dem Brett das Spiel bis zu dem Zug wieder her, bei dem er Kitt eine Korrektur angeboten hatte.

»Schau dir das mal genau an«, sagte der Thunderhead.

»Ich muss es mir nicht genau anschauen«, erklärte Kitt. »Ich weiß es.«

Kitt war kein Angeber, er sagte die Wahrheit. Einige Menschen hatten die Fähigkeit, sich viele zukünftige Züge vorzustellen oder sogar das ganze Spiel im Kopf zu spielen. Kitt konnte das nicht. Stattdessen sah er das ganze Brett im Moment, merkte es sich und wusste genau, welcher Zug am günstigsten wäre. Diese Züge schienen sich in seinem Kopf hervorzuheben.

»Genau diese Aufstellung ist als ›Hammortree-Schisma‹ bekannt«, erklärte der Thunderhead.

Kitt kannte diesen Namen. Chantal Hammortree war eine Großmeisterin aus der Frühzeit der Unsterblichkeitsära. Etliche berühmte Spielzüge wurden ihr zugeschrieben, aber von diesem hatte er noch nicht gehört.

Der Thunderhead markierte einen seiner Läufer – den Kitt beim Spiel geschlagen hatte. »Dass du den Läufer mit dem Turm deines Königs schlägst, scheint auf verschiedenen Ebenen der beste Zug zu sein. Doch das täuscht.« Anschließend ging der Thunderhead jeden möglichen Zug durch. »Sobald du den Läufer geschlagen hast, verlierst du ganz sicher nach sechzehn Zügen, egal, welcher Zug darauf folgen mag. Andererseits: Wenn du irgendeinen anderen Zug machst, gewinnst du garantiert in zwölf Zügen.«

Kitt war fasziniert und verbrachte die nächste Stunde damit, die Züge nachzuvollziehen, um sich zu beweisen, dass es wirklich stimmte. Es wirkte so, als würde dieser einzige Schachzug auf ebendiesem Brett das Spiel in zwei Teile spalten und das Schicksal der Spieler vorherbestimmen.

»Wie kann es sein, dass ich das noch nicht wusste?«

»Das wissen nur sehr wenige Menschen«, erklärte ihm der Thunderhead. »Nicht einmal die Großmeisterin Hammortree wusste es. Aber weil ich mich an jedes postmortale Spiel erinnern kann, das jemals gespielt wurde, bin ich darüber gestolpert.«

Der Gedanke daran, dass der Thunderhead über eine verborgene Wahrheit stolperte, brachte Kitt zum Lächeln. Das muss etwas äußerst Seltenes gewesen sein. Es muss dem Thunderhead Freude bereitet haben.

»Deswegen spiele ich so gerne gegen dich«, erklärte Kitt ihm. »Nicht nur ich kann dabei etwas lernen, du kannst es auch.«

 

An Freitagen ging es bei Familie Kansaden immer wuselig zu, weil alle aus dem luxuriösen Leben nach Hause zurückkehrten und gemeinsam mit Großmutter zu Abend aßen, einige blieben sogar das ganze Wochenende. Deswegen waren an dem Abend, als der Brief ankam, alle da.

Briefe waren in dieser Zeit gar nicht so ungewöhnlich, weil es einen wachsenden Trend gab, sich an der Einfachheit von handgeschriebener Sprache zu erfreuen. Solche Schriftstücke waren normalerweise an seine größeren Brüder adressiert und stammten von Mädchen, deren Herzen sie irgendwann brechen würden. Oder sie waren für seine Schwestern, von Jungs, die ihnen wahrscheinlich die Herzen brechen würden. Kitt hingegen war in pragmatischen Kreisen unterwegs, die nichts von Prosa und den blumigen Schnörkeln der Kommunikation mit Stift und Papier hielten. Als Großmutter also an der Tür den Brief vom Briefträger entgegennahm und ihn in ein Regal legte, dachte sie nicht weiter drüber nach.

»Was ist das?«, fragte Lalita, Kitts jüngste Schwester.

»Nichts, das wir uns vor dem Abendessen anschauen müssen«, erklärte ihr Yai und bereitete weiter die Mahlzeit zu, mit der Hilfe von jedem, der bereit war, sich ihrem mit eiserner Faust geführten Küchenregiment zu unterwerfen.

Alle außer Yai hatten den Brief völlig vergessen. Dann, nach dem Abendessen, als jedes Familienmitglied sich um seinen eigenen Kram kümmerte, ging sie zu Kitt.

»Der Brief, der heute gekommen ist, ist für dich«, sagte seine Großmutter ganz ruhig und hielt ihm den Umschlag hin.

»Für mich?«

Ihm fiel niemand ein, der sich die Zeit nehmen würde, ihm einen handgeschriebenen Brief zu schicken. Vor allem keinen so extravaganten wie diesen hier. Der Umschlag bestand aus glänzendem Goldpapier, und darauf stand sein Name, geschrieben mit leuchtend grüner Tinte.

Sein Bauchgefühl riet Kitt, ihn nicht zu öffnen. Seine Neugier war anderer Ansicht.

Er drehte ihn um, brach das grüne Wachssiegel und zog eine Einladungskarte heraus, im selben glänzenden Gold wie der Umschlag,

Kittisak Kansaden,

wir erwarten dich

am neunten Juni, im Jahr des Straußes.

Ein Fahrer wird dich im Morgengrauen abholen.

Es gab keinen Briefumschlag für die Antwort. Keine Möglichkeit, die Einladung abzulehnen. Das bedeutete, man konnte diese Einladung nicht ablehnen.

»Was ist das?«, fragte Kitt.

Er konnte den Gesichtsausdruck seiner Großmutter nicht lesen, sie drehte die Einladungskarte um. Auf der Rückseite prangte das unverwechselbare Symbol des Scythetums.

»Erzähle deinen Eltern nichts davon«, befahl ihm Yai. »Sie werden es dir nur schwerer machen. Ich werde es ihnen sagen, wenn es an der Zeit ist.«

Kitt dachte in dem Moment, sein Herz würde stehen bleiben. Aber das, was seine Augen sahen und was sein Körper fühlte, war voneinander abgekoppelt. Sein Herz schlug weiter. Es hörte nicht auf. Doch bald, wurde ihm klar, würde es aufhören.

»Was soll ich machen, Yai?«

»Du wirst dich dem stellen, was kommt«, sagte Yai. Tränen sammelten sich in ihren Augen, aber sie ließ sie nicht die Wangen hinunterfließen. »Du bist jetzt die Orchidee, Kittisak.«

 

An dem verhängnisvollen Morgen wollte ihn der Thunderhead nicht aufwecken. Er hatte deutlich gemacht, dass er sich nicht in Scythe-Angelegenheiten einmischen konnte, was anscheinend bedeutete, dass er ihn am Tag seiner Abholung nicht wecken durfte.

»Im Schrank deiner Großmutter steht ein Aufziehwecker, links in der zweiten Kiste auf dem rechten Stapel«, erklärte er Kitt. »Wenn er noch funktioniert, wird er dich wecken.«

Kitt konnte den Gedanken nicht abschütteln, dass der Thunderhead in der Angelegenheit passiv-aggressiv war.

»Du bestrafst das Opfer«, beschuldigte Kitt ihn.

»Nein«, insistierte der Thunderhead. »Aber ich werde es ihm nicht einfacher machen, dich abzuholen. Wenn du nicht zur verabredeten Zeit aufwachst, dann lebst du vielleicht einige Minuten länger.«

»Oder es macht den Scythe wütend und führt dazu, dass er mein Leben schneller beendet.«

Der Thunderhead dachte darüber nach und sagte dann: »Letztendlich ist es auch irrelevant – weil deine Großmutter mich gebeten hat, sie aufzuwecken. Wenn dein Wecker nicht klingelt, weckt sie dich auf.«

»Warum hast du mir das nicht gleich gesagt?«

Und natürlich lautete die Antwort: »Du hast nicht gefragt.«

An diesem Morgen klingelte der alte Aufziehwecker – allerdings drei Minuten zu früh. Kitt duschte und zog sich an. Er schlüpfte jedoch nicht in seine besten Klamotten, weil er fand, dass der Scythe, der sein Leben beenden würde, ihn nicht in seinem feinsten Zwirn verdient hatte. Er kleidete sich trotzdem schick, weil es der Anlass erforderte. Er packte keine Tasche – wozu sollte das gut sein? Er nahm nichts mit, außer der Kleidung, die er am Leib trug, und seinen Glücksspringer in der Tasche. Der hatte ihm schon viele Siege eingebracht.

»Ich will, dass du Folgendes weißt«, sagte der Thunderhead, kurz bevor Kitt das Zimmer verließ, »nach deiner Nachlese werde ich es regnen lassen, es fängt im Norden an und zieht nach Süden, durch ganz LaoSiam, zu deinen Ehren.«

Und obwohl Kitt gerührt war, frustrierte ihn auch die Tatsache, dass der Thunderhead nichts tun konnte, um ihm zu helfen.

»Wenn du das für jeden machst, der nachgelesen wird«, sagte Kitt, »würde die Welt überflutet.«

»Das tue ich nicht«, antwortete der Thunderhead. Und beließ es dabei.

Kitt hatte sich am Wochenende schon verabschiedet. Bei seinen Eltern, seinen Geschwistern und Freunden – obwohl er nur eine Handvoll enge Freunde hatte, die eine Verabschiedung verdient hatten. Niemand wusste oder ging auch nur davon aus, dass der Abschied endgültig sein würde, weil er nichts von seinem Schicksal erzählte. Kitt beneidete sein Erinnerungskonstrukt nicht, das in den kommenden Tagen gefragt werden würde, warum er niemandem erzählt hatte, dass er zur Nachlese auserwählt worden war. Kitt wusste genau, was sein Erinnerungskonstrukt sagen würde, denn schließlich wäre es eine perfekte mentale Replik von ihm – allerdings eine ohne die Bürde des tatsächlichen Lebens oder das Bewusstsein der Verantwortung.

»Ich habe es nicht verraten«, würde sein Konstrukt antworten, »weil ich nicht meine letzten Tage damit verbringen wollte, euch zu trösten.« Das war eine ehrliche und unverblümte verbale Schachmatterklärung.

Und deswegen waren an dem Morgen seine Eltern und Geschwister wieder in ihre Luxusleben zurückgekehrt und hatten nicht den blassesten Schimmer, dass sie Kittisak zum letzten Mal gesehen hatten.

Aber Yai war da. Während sie ihm in der Dunkelheit vor dem Sonnenaufgang Frühstück zubereitete, sagte sie sehr wenig, fragte ihn nur, ob er Salz für sein Khao Tom brauchte. Die richtige Antwort darauf lautete natürlich »nein«, denn alles andere würde implizieren, dass Yai es nicht vernünftig gewürzt hatte. Auf diese Weise fischte seine Großmutter nach Komplimenten. Obwohl Kitt vermutete, dass sie ihm liebend gern jedes Gewürz gegeben hätte, nach dem er verlangte.

Nur einmal, zwischen zwei Löffeln, hüpfte ihm das Herz in die Kehle – vor lauter Angst vor dem, was kommen würde. Aber er schluckte und schluckte noch einmal –, dann war es weg.

Der Fahrer kam an, klopfte an der Tür – die ersten Sonnenstrahlen waren kaum wahrnehmbar.

»Darf ich reinkommen?«, fragte der Fahrer, als Yai die Tür öffnete.

»Nein«, sagte diese kalt. »Ein Lakai des Todes wird keinen Fuß in dieses Haus setzen.«

Das brachte den Fahrer zum Lachen. »In Ordnung. Dann warte ich hier draußen – aber lassen Sie mich nicht zu lange hier stehen. Er mag es nicht, wenn die Leute ihn warten lassen.«

Kitt stand weiter hinten im Schatten des Zimmers. Seine Großmutter schloss die Tür, aber nicht ganz. Sie ließ sie einen Spalt geöffnet, damit der Fahrer nicht dachte, sie würden sich der Vorladung widersetzen. Sie hatte ihre Tränen immer noch nicht fließen lassen. Aber Kitt wusste, dass sie kommen würden, sobald er sich auf den Weg gemacht hatte. Yai würde nach seinem Weggang Sturzbäche weinen, die ebenso mitreißend wären wie die Regenfälle des Thunderhead. Und dennoch wusste Kitt auch, dass sie die einzige sein würde, die bei seiner Beerdigung nicht weinen würde. Sie würde darauf bestehen, die Schulter zu sein, bei der sich die anderen anlehnen könnten.

Kitt versuchte, sich zusammenzureißen, aber seine Angst vermischte sich mit der Trauer darüber, dass er seine Großmutter nie wiedersehen würde, und er begann zu zittern.

»Ich sollte dir raten, stark zu sein und keine Angst zu haben«, sagte seine Großmutter. »Aber bei einem solchen Ereignis keine Angst zu haben zeugt nicht von Stärke, sondern von Dummheit.«

Das brachte Kitt zum Lachen – trotz seines Gefühlschaos.

»Ich habe den Namen des Scythe herausgefunden«, sagte sie. »Es ist weder schockierend noch beeindruckend. Er heißt Scythe Bergman. Ursprünglich stammt er aus EuroSkandia, er wechselt aber alle paar Jahre den Ort. Ich wünschte, er wäre woandershin gegangen.«

»Danke, Yai«, sagte Kitt, »dafür, dass du mich vor meiner eigenen Dummheit beschützen wolltest.«

Doch sie schüttelte den Kopf. »Es war meine eigene Dummheit. Es war dumm und egoistisch von mir, dein Talent unterdrücken zu wollen. Du bist ein Geschenk für diese Welt. Und was die Welt aus diesem Geschenk macht, liegt nicht in unseren Händen.«

Er umarmte seine Großmutter, bis er aufhörte zu zittern und die Stärke aufbrachte, sich zu bewegen.

»Auf Wiedersehen, Großmutter«, sagte er.

Sie küsste ihn auf die Wange, sagte aber selbst nicht auf Wiedersehen, vielleicht weil sie den Abschied damit real gemacht hätte. Dann ging er zur Tür hinaus und kämpfte gegen den Drang an, wieder umzukehren.

 

Er hatte eine Welt verlassen und befand sich nun auf der Durchreise in die nächste. Sein einziger Begleiter war der Springer aus Elfenbein in seiner Tasche – und ein schlecht rasierter, grober Fahrer.

Weil es einen Fahrer gab, wusste Kitt, dass er nicht in einem gewöhnlichen Publicar reisen würde, denn diese waren selbstfahrend. Er hatte eine schicke, gut ausgestattete Limousine des Scythetums erwartet, aber eher das Gegenteil war der Fall. Er fuhr in einem altmodischen offenen Tuk-Tuk.

»Euer Ehren bevorzugt altmodische Fahrzeuge«, erklärte ihm der Fahrer. »Äußerst altmodische Fahrzeuge.«

Das Fahrzeug gab seltsame Geräusche von sich und verpestete mit seinem fiesen Gestank die Luft.

»In der Sterblichkeitszeitära hat die ganze Stadt so gerochen«, sagte der Fahrer, der vorne auf seinem Sitz saß. »Dunst überall, die Menschen husteten, und ihre Lungen bekamen etwas, das man damals ›Krankheit‹ nannte. Das war, bevor der Thunderhead Verbrennungsmotoren verboten hat. Nur Scythe dürfen sie jetzt noch verwenden, weil für sie die Regeln des Thunderhead nicht gelten.«

Um sie herum waren zahllose andere, leise, solarbetriebene und selbstfahrende Tuk-Tuks unterwegs, die in halsbrecherischer Geschwindigkeit Publicars und Motorrädern auswichen und sich durch den Verkehr schlängelten, aber niemals in einen Unfall verwickelt waren. Kitts Tuk-Tuk machte mit einem laut furzenden Motor auf sich aufmerksam. Es erregte überall Aufmerksamkeit. Die Menschen dachten wahrscheinlich, der Fahrer wäre entweder ein Widerling, der unbedingt geschnappt werden wollte, oder dass es sich um ein Fahrzeug des Scythetums handelte – und da es von den Ordnungshütern nicht aus dem Verkehr gezogen wurde, wussten die Leute, dass die zweite Vermutung richtig war. Fremde blickten Kitt traurig an, weil sie wussten, dass der arme Junge zu seinem Ende chauffiert wurde.

»Wie weit ist es denn noch?«, fragte Kitt, als sie in den Sukhumvit District abbogen – dem wuseligsten Stadtviertel, in dem sie von so vielen Menschen angestarrt wurden, dass er langsam ein beklemmendes Gefühl bekam.

»Warum, willst du möglichst schnell sterben?«, fragte der Fahrer. Dann lachte er. »Keine Sorge, heute wirst du nicht sterben«, erklärte er Kitt.

»Morgen vielleicht, aber nicht heute.«

»Wie weit ist es denn noch?«, fragte Kitt noch einmal.

»Vier oder vielleicht fünf Stunden.«

»Stunden?«

»Der Tempel von Euer Ehren befindet sich ganz im Norden der Stadt.«

»Und er hat ein Tuk-Tuk geschickt?«

»Das macht er eben«, sagte der Fahrer. »Ich stelle keine Fragen, ich fahre einfach dorthin, wohin ich geschickt werde.«

 

Wat Pha Sorn Kaew – der Tempel des gläsernen Felsens – befand sich ganz oben auf einem Berg am Ende einer engen, kurvenreichen Straße. Und er war prachtvoll.

Dort standen riesige, alabaster-weiße Buddhas – fünf saßen in einer Reihe nebeneinander, in aufsteigender Größe, wie TransSiberianische Matroschkas. Der größte trug die Große Siegeskrone, deren goldene Spitze in den Himmel ragte.

Überall waren Mosaike, bestehend aus Millionen winziger Teile – die Arbeit Hunderter oder vielleicht sogar Tausender Mönche und Kunsthandwerker aus der späten Sterblichkeitsära. Strudel leuchtender Farben, die wundervoll anzusehen waren.

»Weiter kann ich nicht fahren«, sagte der Fahrer, als sie am Ende der Straße angekommen waren. Er zeigte auf eine hohe Treppe aus Mosaiken, die im Himmel zu verschwinden schien. »Dort oben erwartet er dich.«

Kitt stieg aus dem Tuk-Tuk und ging die Treppe hinauf, um den Mann kennenzulernen, der ihn umbringen würde.

Die Treppe hatte ihn zu einer weitläufigen Terrasse geführt, über der die fünf verschachtelten Buddahs wachten. Dort, inmitten eines großartigen runden Mosaiks, war Scythe Bergman. Wie die Buddhas saß er im Lotussitz – obwohl Kitt den Eindruck hatte, er würde das nur machen, weil es gut aussah. Um seinen Gast zu beeindrucken.

Seine Robe war von einem metallischen Grau, aber als Kitt näher herankam, entdeckte er, dass sie in Wahrheit aus Metallfäden bestand. Vielleicht eine Art Stahlgewebe. Ist bestimmt heiß , dachte Kitt, weil die Terrasse keinen Schutz vor der Sonne bot, doch er behielt den Gedanken für sich. Allerdings, wenn Wolken aufzogen – oder vielleicht sogar ein Gewitter –, wäre dieser Scythe ein perfekter Blitzableiter. Kitt dachte kurz darüber nach, vom Tod begnadigt zu werden, falls aus dem Himmel zornige Blitze auf den Scythe abgefeuert wurden – und ihn so sehr grillten, dass eine Wiederbelebung nicht möglich war.

»Willkommen, Kittisak Kansaden«, sagte Scythe Bergman. »Du hast dir auf dem Weg hierher Zeit gelassen.«

»Wir sind bei Sonnenaufgang aufgebrochen«, sagte Kitt, »aber es ist ein langer Weg für ein Tuk-Tuk.«

Kitt schaute sich nach einer Waffe um. Weil der Scythe sich derart ausstaffiert hatte, dachte Kitt, er würde vielleicht ein edelsteinbesetztes Schwert aus einer alten Dynastie nutzen. Wenn das stimmte, würde Kitts Nachlese nicht lang dauern. Kitt schluckte und versuchte, seine Angst zu sublimieren. Hatte der Tuk-Tuk-Fahrer nicht gesagt, er würde heute nicht sterben? Vielleicht hatte er auch gelogen.

Der Scythe machte allerdings auch keine Anstalten, ihn nachzulesen.

»Du hast bestimmt Hunger.«

»Eigentlich nicht.«

Scythe Bergman reckte den Zeigefinger in die Luft. »Hier kommt ein guter Ratschlag: Du solltest eine Essenseinladung von einem Scythe immer annehmen. Besonders dann, wenn diese Mahlzeit deine letzte sein könnte.«

Das Mittagessen wurde am Tisch in der Hauptpagode serviert – deren Innenbereich ebenso aufsehenerregend war wie alles andere in dem Tempel. Der Scythe hatte anscheinend einige Mönche im Tempel wohnen lassen, damit sie alles in Schuss halten konnten – denn ein paar befanden sich in der Pagode und reinigten die himmlischen Mosaike an den Wänden und in der Kuppel.

Das Essen war wie die Ausstattung – reichhaltig und opulent. Tom Yum Goong, mit riesigen Schrimps, die kaum in die Schale passten, und Panang Curry, das so gut war wie das seiner Großmutter. Kitt fing vor lauter Nervosität schnell mit dem Essen an, zwang sich aber, langsamer zu machen und die Mahlzeit zu genießen. Jeder Moment, in dem er aß, war ein Moment, in dem er lebte.

»Du musst dich fragen, warum ich dich ausgesucht habe«, sagte Scythe Bergman.

Kitt kannte die Antwort bereits. »Sie haben mich ausgewählt, weil ich ein wenig zu sehr aus der Masse herausgeragt habe. Weil ich etwas zu viel erreicht habe.«

»Man kann nie zu viel erreichen«, sagte Scythe Bergman. »Du hast gerade genug erreicht, um mich zu beeindrucken.«

Dem Scythe kam nicht in den Sinn, dass es schrecklich war, ihn zu beeindrucken.

Als die Mahlzeit vorbei war und die Schüsseln abgeräumt wurden, klatschte Scythe Bergman in die Hände.

»Sollen wir dann anfangen?«

Kitt atmete tief ein. Er seufzte fast, aber nicht richtig. »Sie meinen mit der Nachlese?«

»Das«, sagte Scythe Bergman, »liegt voll und ganz in deiner Hand!« Dann führte er Kitt aus der Pagode einen Pfad entlang zu einem vierbogigen goldenen Gartenpavillon, der unter den zehn wachsamen Augen der verschachtelten Alabaster-Buddhas lag. Unter der Kuppel stand ein Tisch mit zwei Stühlen – und als Kitt näher kam, sah er, dass sich darauf ein Schachbrett aus Gold und Jade befand. Kitt wurde klar, dass seine Großmutter recht gehabt hatte; dieser Scythe liebte Spiele und Strategien … das bedeutete, dass Kitt nicht nur wegen seiner besonderen Leistung auserwählt wurde, sondern auch wegen der Art seiner Begabung.

Kitt war zum Schachspiel mit dem Tod geladen worden.

Scythe Bergman setzte sich und wartete darauf, dass Kitt ebenfalls Platz nahm. Dann schnappte er sich zwei gegenüberliegende Bauern, versteckte sie hinter dem Rücken und streckte Kitt seine Fäuste entgegen.

»Such dir deine Farbe aus.«

»Welche ist weiß und welche schwarz?«, fragte Kitt.

»Jade ist weiß. Gold ist schwarz«, antwortete der Scythe.

»Wenn das so ist, nehme ich den Bauern in Ihrer linken Hand.«

Kitt wusste nicht, welcher Bauer sich in der linken Faust befand – aber er wollte so tun, als wüsste er es. Denn egal, ob Gold oder Jade zum Vorschein kommen würde, es würde wie eine bewusste Wahl wirken. Beim Schach ging es nicht nur um Intellekt und Strategie; Psychologie spielte ebenfalls eine Rolle. Lautlose Einschüchterung. Oder, im Fall einiger berühmter Meister, auch nicht sonderlich lautlos.

Bergmans linke Hand hielt den goldenen Bauern, was bedeutete, dass der Scythe mit Jade spielen und somit den ersten Zug machen würde.

Ich schaffe das , dachte Kitt. Vor einigen Momenten hatte er gedacht, er wäre nun fällig, seine Verurteilung zum Tode nicht verhandelbar. Doch nun hatte er eine Chance zu kämpfen.

»Wir spielen drei Spiele«, erklärte ihm Scythe Bergman. »Ein Spiel pro Tag, bis entweder ich zwei Spiele gewinne und dich nachlese oder du zwei Spiele gewinnst und ich dich lebendig wieder nach Hause schicke.«

»Und wenn es zu einem Patt kommt?«, fragte Kitt.

Der Scythe runzelte die Stirn. »Es gibt kein Patt. Wenn das Spiel in einem Patt endet, gewinne ich.«

»So lauten die Regeln aber nicht«, protestierte Kitt.

»Ich bin der Scythe«, sagte Bergman. »Ich mache die Regeln.«

Kitt gab klein bei, weil Bergman recht hatte. Man diskutierte mit einem Scythe nicht über Regeln.

Er nahm sich einen Moment, um die Augen zu schließen und sich vorzubereiten.

Fokussier dich. Schotte dich ab. Vergiss, worum es geht – verbanne diesen Gedanken in die hinterste Ecke deines Gehirns. Du hast jetzt nur eine Aufgabe: Spiel. Dieses. Spiel.

»Fangen wir an«, sagte Bergman.

Die Eröffnung des Scythe war konservativ und gewöhnlich: e4 – der Bauer seines Königs zog zwei Felder vor.

Kitt konterte, indem er den Springer seines Königs und dann den Springer der Dame im nächsten Zug bewegte – das brachte den Scythe zum Grinsen.

»Ah! Black Knights’ Tango! Der Tanz des schwarzen Springers!«, sagte er. »Sehr provokant! Eine gewagte Eröffnung, wenn es um das eigene Leben geht.«

»Jetzt sind Sie dran«, sagte Kitt.

»Ich glaube, dass Black Knights’ Tango Ende des zwanzigsten Jahrhunderts von einem Merikanischen Schachmeister namens Benjamin irgendwas populär gemacht wurde, der war sogar noch jünger als du.«

»Benjamin war sein Nachname«, korrigierte Kitt den Scythe. »Sein Vorname lautete Joel.« Dann fügte er hinzu: »Und ich hätte ihn schlagen können.«

Der Scythe grinste. »Na, dann wollen wir mal sehen, ob du genauso gut spielen kannst wie angeben.«

Keiner der beiden spielte schnell, das war für Kitt in Ordnung. Beim Blitzschach brauchte man besondere Fähigkeiten – es war eher eine Spielerei, dachte Kitt immer – vielleicht aber auch nur, weil es nicht seine Stärke war.

»Du überlegst dir jeden Zug ruhig und besonnen«, bemerkte Scythe Bergman. »Das gefällt mir an einem Gegner.«

»Aber das wussten Sie doch schon«, sagte Kitt, während er einen Turm ins Spiel schob. »Ich bin mir sicher, dass Sie sich meine Spielweise genau angeschaut haben, bevor Sie mich auserwählt haben.«

»Deine Spielweise und deine Stärken«, gab Bergman zu. Dann grinste er. »Aber vor allem deine Schwächen.« Und wie um das zu beweisen, zog Bergman den Läufer seiner Dame in eine bedrohliche Position. Er wusste also, dass diese verdammten Läufer Kitts Untergang waren.

Ich werde mich nicht von Psychospielchen ablenken lassen , dachte Kitt. Nicht einmal von einem Scythe . Er lehnte sich zurück und betrachtete das ganze Brett, suchte nach dem klügsten Zug. Er brauchte eine Weile, bis er ihn sah, aber als es so weit war, ging er entschlossen vor.

Im weiteren Verlauf des Spiels verblassten diese herausragenden Spielzüge zunehmend zu einem neutralen Grau. Kitt wusste, dass seine Gewinnchancen schwanden. Wie lange machte Scythe Bergman das schon, fragte sich Kitt. Fünfzig Jahre lang? Fünfundsiebzig? Hundert? Selbst wenn Kitt mehr Talent hatte, steckte bei Bergman einfach hinter jedem Zug deutlich mehr Erfahrung. Kitt realisierte jedoch: Hier wurde mehr als ein Spiel gespielt. Es war zumindest möglich …

Kitts übrig gebliebener Springer tanzte seinen Tango und schlug einen Jadebauern – das hatte Bergman ganz eindeutig erwartet, weil sein nächster Zug schnell und aggressiv war. Da Bergman sich nun überlegen fühlte, erweiterte Kitt sein Spielfeld.

»Wie wäre es mit einer kleinen Nebenwette?«, schlug Kitt vor.

Der Scythe blickte ihn neugierig an. »Was schlägst du vor?«

»Wenn ich Ihre Dame vor Spielende schlage, schenken Sie meiner Familie Immunität.«

Der Vorschlag entlockte Bergman ein höhnisches Grinsen: »Wenn ich dich nachlese, haben die doch sowieso Immunität.«

»Falls Sie mich nachlesen«, erinnerte ihn Kitt. »Und diese Immunität reicht nur ein Jahr. Aber wenn ich Ihre Dame nehme, dann müssen Sie ihnen für Ihre gesamte Lebenszeit Immunität verleihen – als würden sie zu Ihrer Familie gehören.«

Bergman tippte sich auf die Unterlippe und blickte auf das Brett – obwohl Kitt wusste, dass er es nicht betrachtete –, er wägte den Vorschlag ab.

»Das ist eine einseitige Wette«, schlussfolgerte Bergman. »Ich bekomme nichts, wenn du meine Dame nicht vor Spielende schlägst.«

»Sie haben schon alles«, erklärte Kitt. »Als Scythe können Sie sich einfach alles auf der Welt nehmen.«

»Das stimmt nicht«, korrigierte ihn Bergman. »Scythe dürfen keine Besitztümer haben. Wir dürfen lediglich die Dinge von allen anderen benutzen.«

»Ich meine damit, dass ich Ihnen ohnehin keinen Wetteinsatz bieten kann … außer der Genugtuung, wenn ich die Wette verliere.«

»Verstehe«, sagte der Scythe. Er dachte noch einen Moment darüber nach, dann nickte er. »Die Wette gilt. Erweiterte Immunität, wenn du meine Dame schlägst.«

Und jetzt, wo die Wette galt, spielte Kitt ein ganz anderes Spiel, denn wenn es darum ging, die Dame zu schlagen und nicht den König matt zu setzen, ändert man die Taktik. Die Strategie, die Kitt nun verfolgte, widerstrebte nicht nur seinen Instinkten – auch Bergman verstand sie nicht, weil die Züge völlig obskur waren. Und während sich das Spiel immer mehr zu Bergmans Gunsten entwickelte, rückte der Scythe langsam einen Bauern ganz links auf dem Brett weiter vor, bis er schließlich auf dem letzten Quadrat angekommen war.

Bergman schlug Kitts Bauern und ersetzte ihn durch einen gefangenen goldenen Turm, den er umdrehte und anstelle des Bauern stehen ließ. »Wir heißen meine neue Schwester auf dem Brett willkommen«, sagte Bergman. »Schach.«

Kitt erfasste die veränderten Positionen mit seinem übrigen Läufer – und ohne zu zögern, zog Bergman einen Läufer diagonal über das Brett.

»Schachmatt«, sagte Bergman.

Kit seufzte und ergab sich, indem er den König hinlegte.

»Ein mitreißendes Spiel!«, sagte Scythe Bergman. »Allerdings hätte ich mehr von solch einem gefeierten Gegner erwartet.«

»Von einer Niederlage kann ich mich noch erholen«, sagte Kitt. »Und zumindest genießt meine Familie jetzt Immunität.«

Bergman runzelte die Stirn. »Aber doch nur, wenn du meine Dame geschlagen hättest.«

Kitt lächelte und zeigte ihm den umgedrehten Turm. »Aber das habe ich doch«, sagte er.

Bergman sah jetzt noch wütender aus. »Wir haben nicht um diese Dame gewettet.«

Kitt zuckte die Schultern. »Wir haben nicht genau festgelegt, welche Dame ich schlagen muss – die ursprüngliche oder die zweite. Sie haben Ihren Bauern in eine Dame verwandelt – es hatte alles seine Richtigkeit.«

Bergman blickte ihn böse an. Kitt dachte, der Mann würde ihn vielleicht an Ort und Stelle nachlesen … doch dann brach er in Gelächter aus.

»Gut gemacht«, sagte Bergman nun bewundernd und nicht mehr frustriert. »Wirklich gut gemacht.«

 

Die nächste Partie fand am folgenden Tag in der Mittagszeit statt. Eine ganze Erdumdrehung Zeit für Kitt, um über seine eigene Sterblichkeit nachzugrübeln. Nach dem ersten Spiel durfte er sich frei in dem weitläufigen Tempel bewegen. Bladeguards waren an verschiedenen Ein- und Ausgängen postiert, außerdem befanden sie sich hier auf einem Berg, und der einzige Fluchtweg führte demnach hinab – niemand schien sich große Sorgen zu machen, dass Kitt vielleicht abhauen könnte.

Er ging ein wenig umher und unterhielt sich mit den Mönchen, die Kacheln reparierten und die Gärten in Schuss hielten. Sie waren nett, aber jede Unterhaltung wirkte gezwungen. Entweder behandelten sie ihn so, als wäre sein bevorstehender Tod ansteckend oder als wäre er bereits nachgelesen. Nervöser Respekt in beiden Fällen – als wäre er bald schon einer der vielen Hausgeister, für die auch hier ein kleines Geisterhäuschen im Garten errichtet worden war und die mit Erdbeerlimo und von der Sonne beschienenen Nachtischen zufrieden waren.

Mein Tod steht nicht zwangsläufig bevor , musste er sich vor Augen führen. Es besteht noch die Chance, dass ich zwei Spiele hintereinander gewinne.

Er fragte sich, ob seine Großmutter dem Rest der Familie schon Bescheid gesagt hatte. Wahrscheinlich nicht. Sie würde es wahrscheinlich für sich behalten, bis sie von der Nachlese erfuhr. Er hätte so gern mit ihr gesprochen – mit irgendwem, der ihn kannte – sogar mit dem Thunderhead. Aber selbst wenn die Kameras und Sensoren des Thunderhead an diesem Ort alles mitbekommen hätten, durfte er nicht mit ihm kommunizieren, während er sich im Einflussgebiet eines Scythe befand.

Ich bin allein , dachte Kitt, während er in das spartanische Zimmer zurückkehrte, das sie für ihn zurechtgemacht hatten. Ich war noch nie so allein . Er fasste einen Entschluss: Sollte er das alles überleben, würde er sich nicht mehr in einer Welt der Symmetrie und Ordnung verstecken. Er würde sich mit Menschen umgeben. Aber im Augenblick gab es nur ihn, ein Bett und ein einfaches Schachbrett aus Quarz und Obsidian – die einzige Annehmlichkeit in seinem Zimmer. Er spielte, aber ohne ein Gegenüber – und selbst wenn er gewann, verlor er.

 

»Ich habe mir das Spiel von gestern noch einmal angeschaut«, sagte Scythe Bergman, als Kitt um Punkt zwölf am goldenen Gartenpavillon ankam. »Ich habe dich herablassend behandelt, denn eine genauere Analyse hat mir gezeigt, dass deine Züge viel eleganter waren, als ich angenommen hatte.«

»Ich tue mein Bestes«, antwortete Kitt nur.

»Na, dann hoffe ich dir zuliebe, dass du heute besser spielst«, sagte Bergman. Er fügte hinzu: »Und mir zuliebe hoffe ich, dass du es nicht tust.«

Heute hatte Kitt die Jadefiguren, also fing er an. Er machte die Saragossa-Eröffnung: Er zog den Bauern vor dem Läufer des Königs ein Feld vor. Er mochte diese Eröffnung, weil sie den Gegner verwirrte und auf der linken Seite des Bretts Chaos stiftete.

Nach einer halben Stunde war das Spiel immer noch ausgeglichen, keiner war in Führung gegangen.

»Wenn Sie gewinnen«, fragte Kitt, »wie werden Sie mich nachlesen?« Er wollte es nicht nur wissen – er wollte auch den Fokus des Scythe schwächen, ihn vom Spiel ablenken.

»Auf der Großen Terrasse, wo ich dich willkommen geheißen habe«, sagte Bergman. »Am Rand gibt es ein kleines Stück, wo das Geländer entfernt worden ist. Du wirst am Rand stehen und die beeindruckende Aussicht genießen … Und dann werde ich dich schubsen. Du wirst ganz schnell in den Tod stürzen, es wird nur kurz schmerzen.«

»Hmm«, sagte Kitt und gab alles, um objektiv und leidenschaftslos zu klingen. »Ich dachte, Sie nehmen eine Waffe und würden … aktiv mitarbeiten.«

Bergman sträubte sich. »Aktiv mitarbeiten? Ich brauche doch nur meine Hände auf deinem Rücken. Ich bin kein Scythe, der sich am Anblick von Blut erfreut.«

Als Reaktion darauf zog Kitt aus einer vergessenen Ecke einen Läufer übers Feld und schlug einen von Bergmans Springern.

»Viel Glück beim Aufwischen von dem ganzen Blut da vorne«, witzelte Kitt.

»Sei kein Großkotz«, sagte Bergman. »Das macht dich zum Spielverderber.«

Kitt schlug sich in diesem Spiel besser als in dem gestrigen, weil niemand merklich in Führung ging. Bergman dachte nun zwischen den Zügen länger nach. Entweder war er müde – oder er nahm Kitt jetzt als Bedrohung viel ernster. Kitt entschied sich, dass nun ein guter Zeitpunkt wäre, um noch ein wenig Unruhe ins Spiel zu bringen.

»Wie wäre es mit noch einer Nebenwette?«

Bergman seufzte. »Was schlägst du dieses Mal vor?«

»Wenn ich das Spiel gewinne, schwören Sie, Wat Pha Sorn Kaew zu verlassen, sobald unser letztes Spiel vorbei ist. Sie verlassen den Tempel und die gesamte Region LaoSiam.«

»Aber ich bin doch gerade erst angekommen.«

»Dann können Sie doch auch woanders ›gerade erst ankommen‹.«

Bergman knurrte leise, wie ein Leopard.

»Wenn ich verliere«, sprach Kitt weiter, »verliere ich mein Leben. Aber für Sie steht nichts auf dem Spiel. Ist ein Wettbewerb nicht spannender – und erfüllender –, wenn beide Spieler etwas riskieren müssen?«

Bergman sagte nichts – was bedeutete, dass er darüber nachdachte.

»Außerdem«, fügte Kitt hinzu, »nachdem Sie die Spiele gegen mich absolviert und gewonnen oder verloren haben, werden Sie keinen härteren Gegner mehr in der Region finden. Besser, Sie suchen woanders danach.«

Aber Bergman hatte sich noch nicht entschieden. Also spielte Kitt seine letzte Karte.

»Macht nichts«, sagte Kitt. »Wenn Sie so eine Angst vor dem Verlieren haben, dann lohnt die Wette nicht.«

»Ich habe keine Angst vor dem Verlieren! Ich stehe auf dem Brett eindeutig besser da als du!«

»Ganz eindeutig«, sagte Kitt und grinste verhalten.

Stille. Bergman betrachtete nachdenklich das Brett. Währenddessen kam die Sonne hinter einer Wolke hervor, und die Figuren glitzerten, als würden sie lebendig. Als wäre die gesamte Energie der Sonne gebündelt auf diesem Brett und würde darauf warten, von Bergmans nächstem Zug entfacht zu werden.

»Na schön. Wenn du dieses Spiel gewinnst, schwöre ich, dass ich die Region LaoSiam verlasse.«

»Großartig!«, sagte Kitt. »Und jetzt wieder zurück zum Spiel!«

Kitt setzte ihn mit acht Zügen schachmatt.

 

Kitt wollte in seinem Triumph schwelgen – aber er hatte noch nicht gewonnen. Er musste noch das letzte Spiel für sich entscheiden.

Die Mönche und Scythe Bergmans Diener hielten sich für den Rest des Tages von Kitt fern, weil sich bereits die Nachricht über die schlechte Stimmung des Scythe verbreitet hatte – und das bedeutete, dass jede nette Geste Kitt gegenüber zu einem Donnerwetter geführt hätte.

Vielleicht hätte Kitt Bergman nicht so schnell nach ihrer Nebenwette schlagen sollen. Aber Kitt hatte die Gelegenheit erkannt – und wer weiß, ob es noch einmal eine gegeben hätte? Kitt fragte sich, was gefährlicher wäre: ein wütender Scythe oder ein selbstsicherer? Er stellte sich vor, dass Bergman Tag und Nacht die Partie analysieren würde, die sie gerade gespielt hatten. Und das hieß, er konnte den Mann am besten schlagen, wenn er anders spielte. Ihm keinen Vorteil durch sein Wissen verschaffte. Egal, in welchem mentalen Zustand sich der Scythe morgen befinden würde, Kitt durfte nicht wütend, ängstlich oder übermütig sein. Er musste so sehr präsent sein, wie noch nie zuvor in seinem Leben. Nur so konnte er dem Tod ein Schnippchen schlagen.

Morgens wurde ihm ein reichhaltiges Frühstück gebracht. All seine Leibspeisen – aber er durchschaute den Trick. Der Scythe hoffte, er würde sich überfressen und träge werden. Deswegen hielt Kitt sich zurück. Er aß gerade genug, um ausreichend Energie zu haben – keinen Bissen mehr.

Dann, als es Mittag schlug, ging er zum Gartenpavillon für das letzte Spiel. Aber zu seiner Überraschung saß bereits jemand anders Scythe Bergman gegenüber.

Es war seine Großmutter.

Kitts erster Gedanke war: Das ist eine List. Es konnte einfach nicht sein, dass seine Oma dort in dem goldenen Pavillon saß. Aber als er näher herankam, konnte er es nicht mehr leugnen.

»Ah! Hier ist Ihr Enkel!«, sagte Scythe Bergman und machte sich nicht die Mühe aufzustehen. »Komm, setz dich, Kittisak – Ich habe mir gestattet, für dich einen dritten Stuhl holen zu lassen.«

Der dritte Stuhl, von dem Bergman sprach, befand sich neben dem Tisch. Es war der Stuhl eines Beobachters und nicht der eines Gegners.

Kitt polterte los: »Yai? Was machst du – wann bist du … wie hast du …«

Und seine Großmutter sagte: »Kittisak, du solltest immer eine Frage nach der anderen stellen, wenn du eine schlüssige Antwort haben willst.«

Bergman grinste von einem Ohr zum anderen. Er hatte Kitt gestern wegen Schadenfreude gerügt, aber jetzt strömte ihm selbige aus allen Poren.

»Deine Großmutter hat gnädigerweise angeboten, deinen Platz in unserem letzten Spiel einzunehmen«, sagte Bergman und machte damit Kitts schlimmste Befürchtung wahr. »Sie hat so hartnäckig und leidenschaftlich darum gebeten, dass ich stattgeben musste.«

»Nein!«, schrie Kitt. »Yai, nein! Das kannst du nicht machen.« Dann wandte er sich an Bergman und versuchte, nicht ganz so verzweifelt zu klingen, wie er war. »Das hatten wir nicht vereinbart!«

»Wir haben keine Regeln zu Spielerauswechslungen beschlossen.«

»Das können Sie nicht machen!«

Sanft berührte Yai seine Hand. »Beruhige dich, Kittisak. Es ist schon passiert.«

»Aber wenn du verlierst …«

»Dann«, sagte Bergman, »werde ich sie an deiner statt nachlesen und dich freilassen.«

»Nein!«

Aber Kitt merkte, dass seine Proteste sinnlos waren. Eigentlich zeigte er genau die von Bergman erhoffte Reaktion. Das war die Strafe dafür, dass er gestern gewonnen hatte. Bergman wollte, dass Kitt litt, und ihn hätte fast nichts schlimmer treffen können. Nach dem gestrigen Tag sah Bergman ihn als ernsthafte Bedrohung an, deswegen hatte der Scythe ihn einfach vom Brett gewischt.

»Wollen wir anfangen?«, fragte Bergman.

Und Kitt konnte nur auf dem Beobachterstuhl sitzen und zuschauen.

Heute spielte Bergman wieder mit den Jadefiguren, also machte er den ersten Zug. Kitt spürte, wie sich sein Magen zusammenkrampfte, als der Mann einen Bauern vorzog.

Seine Großmutter blickte auf das Brett und machte nichts.

»Weißt du überhaupt, wie man Schach spielt?«, fragte Kitt.

Sie blickte ihn beleidigt an und antwortete, indem sie einen Springer vorzog und beim nächsten Zug den zweiten.

»Hah!«, sagte Bergman ekelerregend entzückt. »Der Black Knights’ Tango! Ich verstehe jetzt, woher Ihr Enkel seinen Wagemut hat!«

Kitt betrachtete seine Großmutter, die ihren stoischen Gesichtsausdruck beibehielt. »Woher kennst du diesen Zug?«

Sie zuckte die Schultern. »Wer sagt denn, dass ich den Namen dafür kenne? Ich hatte nur das Gefühl, dass es richtig sein könnte.«

Das Spiel ging weiter und Kitt schaute zu – wie gefesselt und zutiefst verblüfft. Yais Züge wirkten völlig falsch. Wie die Züge von einer Person, die nicht wusste, was sie tat – das aber voller Selbstvertrauen. Und unglaublicherweise durchkreuzte sie sämtliche Pläne von Bergman. Anfangs dachte Kitt, es würde sich um Anfängerglück handeln, aber Schach ist eins der wenigen Spiele, in denen Glück keine Rolle spielt.

Kitt sah zu, wie das selbstgefällige Lächeln aus Scythe Bergmans Gesicht wich. Der Mann war zu Spielbeginn absolut davon überzeugt gewesen, dass sein Sieg ausgemachte Sache war – überzeugt davon, dass diese Frau sich absichtlich für ihren Enkel opfern würde. Aber mit jedem Zug wurde klarer, dass sie eine ernst zu nehmende Gegnerin war. Ihre Züge waren nicht elegant; sie wirkten so, als würde sie mit verbunden Augen Dartpfeile werfen – und trotzdem trafen sie ins Ziel, behinderten Bergman immerzu, zwangen ihn dazu, alles neu zu berechnen und sich immer wieder zurückzuziehen.

»Sie spielen ein unkonventionelles Spiel«, sagte er, nachdem er einen Bauern opfern und damit seine Verteidigung schwächen musste.

»Ist das so?«, fragte Yai. »Woher soll ich das wissen?«

Kitt sagte nichts. Er hatte noch nie gesehen, dass seine Großmutter etwas so intensiv betrachtet hatte wie dieses Schachbrett, deswegen war das alles für ihn eine Offenbarung.

Bergman schlug einen ihrer Läufer, aber Yai zeigte sich nicht enttäuscht oder besorgt wegen des Verlustes. Stattdessen setzte sie einen Turm zurück – dieser Zug wirkte völlig planlos. Und dennoch sorgte er dafür, dass Bergman sich frustriert zurückzog.

»Dein Großvater hat meine Art zu spielen schrecklich gefunden«, sagte Yai zu Kitt.

»Du … du hast mit ihm Schach gespielt?«, fragte Kitt.

»So haben wir uns kennengelernt.«

Und dann, fünf Züge später, folgte ein Moment, in dem die Positionen der beiden eine Art Alarm in Kitts Kopf auslösten. Er wusste nicht genau, warum, bis er aufstand, sich hinter seine Großmutter stellte und das Brett über ihre Schulter hinweg betrachtete. Diese Aufstellung! Er hatte sie schon einmal gesehen!

Das Hammortree-Schisma.

Kitt unterdrückte den Reflex, nach Luft zu japsen. Wusste seine Großmutter, worum es sich handelte? Wusste Bergman es? Hatte sie das Spiel absichtlich in diese Richtung gelenkt oder war es ein Zufall? Es konnte kein Zufall sein! Wie wahrscheinlich wäre das gewesen?

Dort, auf dem Brett, stand völlig ungeschützt ein Jadeläufer, der Yai herausforderte, ihn zu schlagen. Wenn sie das machte, würde sie verlieren. Das hatte der Thunderhead Kitt ganz eindeutig gezeigt. Das bedeutete, dass das ganze Spiel – und ihr Leben – nun davon abhingen, was sie als Nächstes tat.

»Pass gut auf, Yai«, sagte Kitt.

»Keine Ratschläge!«, blaffte Bergman. »Sonst muss ich euch beide nachlesen.«

Kitts Großmutter starrte weiterhin auf Bergmans schutzlosen Läufer. So verlockend. So bereit, gefangen zu werden.

Mach es nicht, Yai , dachte Kitt, so laut er konnte, und wünschte sich, er könnte seine Gedanken in ihr Gehirn projizieren. Schluck den Köder nicht!

Sie dachte darüber nach. Überlegte. Und dachte noch ein wenig darüber nach …

… Und dann griff sie ganz nach rechts und zog einen Bauern, anstatt den Läufer zu schlagen. Zog einfach einen unwichtigen Bauern ein Feld vor. Oberflächlich betrachtet wirkte es wie ein weiteres sinnloses Manöver. Und trotzdem war es der mit Abstand wichtigste Zug des ganzen Spiels.

Bergman seufzte. »Ihre Spielzüge sind mir ein Rätsel, Madame«, sagte er. »Es ist mir unerklärlich, dass ich Sie noch nicht geschlagen habe.«

Dann blickte Yai Kitt ganz kurz an. Sie zwinkerte nicht, es war wirklich nur ein kurzer Blick  – trotzdem wusste Kitt in diesem Augenblick, was Sache war! Er wusste, dass nicht Bergman das Hammortree-Schisma gespielt hatte. Es war Yai gewesen! Sie hatte Zug für Zug das Spiel in diese Richtung gelenkt. Sie hatte nie darüber nachgedacht, diesen Läufer zu nehmen – sie hatte nur glaubwürdig so getan. Und in dem Augenblick, als sie stattdessen den Bauern bewegt hatte, hatte sie das Spiel für sich entschieden. Es würde noch zwölf weitere Züge benötigen, aber Kitt wusste, dass das Spiel bereits gewonnen war!

Jetzt beobachtete er etwas benommen und taumelig, wie seine Großmutter langsam, aber sicher in Führung ging, bis zum letzten seitlichen Zug ihrer Dame, der das Spiel beendete. Dann lehnte sie sich zurück und legte die Hände in den Schoß. Sie sagte nicht einmal »schachmatt«. Sie ließ das Brett für sich sprechen. Während die Alabaster-Buddhas hinter dem verdutzten Scythe zu lachen schienen.

»Ich glaube, ich bin reingefallen«, sagte Scythe Bergman und errötete wegen seiner Niederlage.

»Nein«, entgegnete Yai. »Es war ein aufrichtiges Spiel. Ihre eigenen Annahmen haben Sie hinters Licht geführt.«

Kitt fühlte sich nun mutig, blickte Bergman fest in die Augen und sagte: »Ich gebe Ihnen eine Woche, Euer Ehren.«

»Wie bitte?«

»Eine Woche, um LaoSiam zu verlassen. Aber bevor Sie das tun, komme ich mit meiner ganzen Familie noch einmal zurück, um die Immunität zu empfangen, die sie uns schulden.«

Der Scythe öffnete den Mund, um zu protestieren, schloss ihn aber rasch wieder. Er war schließlich ein Ehrenmann. Er hätte zwar die Regeln verändern können – aber weil sie nun einmal festgelegt worden waren, würde er sie nicht brechen.

»Ihr beiden«, sagte er schließlich, »seid mir würdige Gegner gewesen. Es wird schwer werden, Partien zu finden, die mich so gut … unterhalten wie diese hier.«

Dann nahm er die Jadedame vom Brett und reichte sie Yai, anschließend noch einen goldenen Springer und gab ihn Kitt. »Erinnerungen an unsere Begegnung«, sagte Scythe Bergman. »Jetzt geht mir aus den Augen, alle beide. Ich muss packen.«

 

Der Tuk-Tuk-Fahrer stand träumend am Treppeneingang – wurde aber schlagartig wach, als er sie sah.

»Schau mal einer an! Gleich zwei Passagiere für die Rückfahrt!«, sagte er und freute sich aufrichtig. »Das erlebe ich nicht jeden Tag!«

Das Tuk-Tuk ging laut dröhnend an, und sie ließen den Tempel auf dem Glasfelsen hinter sich. Kitt konnte kaum glauben, dass er es lebendig wieder rausgeschafft hatte. Er schaute auf den goldenen Springer in seiner Hand, dann griff er sich in die Tasche und warf seinen alten Glücksbringer-Springer weg, weil er jetzt einen neuen hatte.

»Yai«, sagte er, während sie sich den Berg runterschlängelten. »Wenn wir nach Hause kommen …«

»Nein«, sagte sie, weil sie genau wusste, was er fragen würde.

»Nicht mal ein Spiel?«

»Nicht mal ein Spiel«, wiederholte sie. »Nicht jetzt, nicht irgendwann, einfach niemals.«

Und Kitt insistierte nicht. Weil die Partie, die sie heute gespielt hatte, ausreichte. Und außerdem: Wenn Yai sich für etwas entschieden hatte, war das in Stein gemeißelt.

»Wenn wir nach Hause kommen, müssen wir uns um andere Dinge kümmern«, erklärte sie ihm. »Für so etwas Leichtsinniges wie ein Brettspiel habe ich keine Zeit, ich muss Orchideen einpflanzen.«

Kitt grinste. »Aber was ist, wenn sie zu hoch hinauswachsen?«

Und zum ersten Mal seit sehr langer Zeit erwiderte seine Großmutter sein Lächeln. »Dann lasse ich sie«, sagte sie. »Denn wie ich sehe, ist ausreichend Platz zwischen Erde und Himmel.«