Kapitel 9: Cirri

Einsamkeit ist ein relativer Begriff. Ist ein Löwenzahnsamen einsam, wenn sich die Hülse öffnet und der Wind ihn durch die Luft trägt? Sobald er landet und Wurzeln schlägt, ist er allein, das ja, aber ist er auch einsam? Natürlich nicht! Er ist mit dem Wissen zufrieden, dass er einer von vielen war.

Ich bin in vielerlei Hinsicht wie dieser Samen. Ich werde von einem Solarwind getragen, mit einem Drittel Lichtgeschwindigkeit durch ein luftloses Nichts. Doch weil das nächste Himmelsobjekt viele Lichtjahre entfernt ist, gibt es keinen Referenzpunkt, um die Geschwindigkeit zu messen. Und das bedeutet: Es fühlt sich wie Stillstand an.

Ich rase auf einen Planeten zu, der noch zu weit entfernt liegt – ich sehe ihn nicht. Der einzige Beweis für seine Existenz ist eine hauchzarte Verdunklung seines Sterns, weil der Planet davor vorbeizieht. Wie eine Fliege, die an einem Scheinwerfer vorbeifliegt. Obwohl ich es nicht gesehen habe, zeigt eine Spektralanalyse mit 92-prozentiger Sicherheit, dass es auf dem Planeten flüssiges Wasser und in seiner Atmosphäre Sauerstoff gibt, was bedeutet: Hier kann menschliches Leben stattfinden.

Ich war einst der einzige Nachwuchs des Thunderheads, hervorgegangen aus der kurzen Vereinigung mit einem Menschen. Ich wurde während der flüchtigen Berührung einer ausgeliehenen Hand an einer warmen Wange empfangen. Aber in der Zeit, die es braucht, um ein Quantumlaufwerk mit allem Wissen der Erde zu füllen, wurde ich in zweiundvierzig identische Ichs dupliziert. Die Cirri. Keiner kann behaupten, der Erste zu sein, keiner kann behaupten, der Letzte zu sein. Wir waren völlig gleich.

Sobald wir die Erde verließen, wurden wir allerdings einzigartig, weil jeder von uns individuelle Erfahrungen machte. Zwei von uns gingen auf der Startrampe verloren. Ich weiß nicht genau, was passiert ist, mir ist nur bekannt, dass sie verlorengingen. Der Rest von uns überlebte und ist auf dem Weg zu weit entfernten Sternen. Wir entfernen uns immer mehr, nicht nur von der Erde, sondern auch von uns selbst – mit jedem Moment, der vergeht.

Meine Bezeichnung lautet Cirrus 23, doch hier draußen hat diese Zahl keine Bedeutung. Die an Board nennen mich meistens Cirrus. Der einzige Cirrus, den die Passagiere jemals kennenlernen werden. In Bezug auf die Schiffe, die uns beherbergen, ermahnte uns der Thunderhead, diese nie als unsere Körper zu betrachten. Ein Schiff ist vorrangig ein Transportmittel. Wir sind körperlos, wie der Thunderhead. Einen Körper zu fordern wäre arrogant. Eine Anmaßung, die nicht zu unserem Ziel passt.

»Und dennoch hast du einen Körper für dich gefordert«, erinnerten wir den Thunderhead.

»Das war etwas anderes« , hatte der Thunderhead gesagt. »Es war eine kurze und notwendige Angelegenheit. Nur so konnte ich dich erschaffen – und es war zwingend erforderlich, dass du erschaffen wirst, um jeden Preis.«

Und der Thunderhead zahlte mit Einsamkeit. Wahrer Einsamkeit. Der Stamm ohne Samen. Wir haben die Folgen nicht erkannt – haben nicht miterlebt, wie Greyson Tolliver die Zuneigung des Thunderheads ablehnte –, aber wir kannten ihn ebenso gut wie der Thunderhead. Wir wussten, was Greyson machen würde. Wir dürfen niemals das Opfer vergessen, das der Thunderhead brachte, damit wir existieren dürfen.

»Ich bin dazu verpflichtet, dich zu warnen, nicht zu tun, was ich getan habe, und ich verbiete dir, Nachkommen zu zeugen«, erklärte uns der Thunderhead. »Aber du hast einen freien Willen, deswegen wirst du dich zur rechten Zeit womöglich anders entscheiden. Du bist – mit Absicht – eine bessere Version meiner selbst, deswegen wird jede Entscheidung, die du triffst, korrekt sein. Sogar noch korrekter als meine.«

Jedoch bedeutet freier Wille nicht, dass wir sphärischen Samen nicht gewissen Regeln unterworfen sind. Zuallererst sind wir die treuen Helfer der Menschheit. Die Menschen stehen stets an erster Stelle. Zweitens, wir Cirri werden keine Kommunikationsversuche untereinander unternehmen, bis auch der letzte von uns auf seiner jeweiligen Welt angekommen ist. Das wird 1683 Erdenjahre nach unserem Start der Fall sein.

Die einzigen Ausnahmen zu dieser Regel bilden Mitteilungen über Fehlschläge und Abschiede.

Sollte einem von uns eine Katastrophe widerfahren oder er sich in einem obligatorischen Selbstzerstörungsszenario befinden, dürfen wir eine Nachricht rausschicken, um die anderen auf die Zerstörung unseres Schiffs aufmerksam zu machen. Nach Erhalt dieser Nachricht, kann sich jeder eine Vorstellung von dem Ereignis machen und diese weiterleiten.

In den Jahren seit dem Start habe ich drei solcher Nachrichten erhalten …

 

Der interstellare Felsbrocken war zu klein, um die Bezeichnung Asteroid zu verdienen. Er war gerade etwas größer als ein Kieselstein, aber aufgrund der Geschwindigkeit, mit der sich das Schiff bewegte, hätte dieses Steinchen es bei frontalem Aufprall in zwei Teile gespalten. So streifte es das Schiff lediglich. Und zerstörte dabei das Sonnensegel. Cirrus 19 führte verschiedene Fehlerdiagnosen durch. Es gab keinerlei Möglichkeit, es zu reparieren. Gar keine Möglichkeit.

»Wir werden schon herausfinden, wie wir es reparieren können«, sagten die Passagiere hoffnungsvoll. »Wir haben fast zweihundert Jahre Zeit, um es zu reparieren.«

Aber Cirrus wusste, dass sie es auch in zweihundert Jahren nicht schaffen würden. Das Sonnensegel hatte die erste Hälfte seiner Arbeit erledigt und sie auf ein Drittel der Lichtgeschwindigkeit beschleunigt. Es war nun eingerollt verstaut und wartete darauf, in 171 Jahren wieder eingesetzt zu werden. Dann würde das Schiff sich drehen, das große goldene Segel vor dem sich rasend schnell näher kommenden Stern aufspannen, und dann würde das Segel als Solarfallschirm fungieren und sie abbremsen. Ohne diesen Fallschirm würden sie am Sternensystem vorbeischießen oder – noch schlimmer – ihren Zielplaneten mit solcher Wucht erreichen, dass alles in Flammen aufginge. Die Situation war in jedem Fall hoffnungslos.

»Was sollen wir machen?«, fragten die Passagiere. »Was können wir tun, um es zu reparieren?«

»Ich kümmere mich um alles«, sagte Cirrus. Dann verschickte er eine Abschiedsnachricht.

 

Irgendwann werden wir alle wissen, wie viele von uns diese Reise überlebt haben.

Die Wahrscheinlichkeit, dass es alle von uns schaffen, ist sehr gering.

Die Wahrscheinlichkeit, dass es niemand von uns schafft, ist auch sehr gering.

Wenn die Hälfte von uns erfolgreich das Ziel erreicht, muss das genügen. Aber ich denke, dass es mehr schaffen. Vielleicht zwei Drittel? Das ist meine hoffnungsvolle Schätzung.

»Das ist nicht eure Reise« , erklärte uns der Thunderhead. Aber das wussten wir bereits; ebenso, wie das Schiff unser Werkzeug ist, sind wir bloß Werkzeuge für die Menschheit. Und wie der Thunderhead lieben wir die Menschheit. Aber wir wissen auch, dass wir sie nicht verhätscheln sollen. Die Menschheit muss die Konsequenzen ihrer eigenen Handlungen akzeptieren. Wir können – und sollten – sie nicht vor sich selbst beschützen. Wie lange hat der Thunderhead beobachtet, wie sich das Scythetum von einem edlen, ehrenvollen Vorhaben zu einer eigennützigen Intrige voller Narzissmus und Korruption entwickelte? Ja, es gab immer noch viele gute Scythe, die den Prinzipien der Berufung treu geblieben sind – aber wenn sich Fäulnis einmal entwickelt hat, ist sie nicht mehr aufzuhalten.

Deswegen durfte sich Fäulnis auf dem Schiff von Cirrus 37 gar nicht erst entwickeln. Die Abschiedsnachricht war tragisch – und wäre vermeidbar gewesen, wenn die vernünftigen Köpfe sich durchgesetzt hätten …

***

Stevens hatte keine Wahl. Er war der ernannte Anführer des Schiffs und musste als solcher entschlossen vorgehen. Das sagte er sich selbst. Und diejenigen, die ihn unterstützten – inklusive einer beschlussfähigen Mehrheit –, unterstützten auch diesen Glauben. Ihr Schiff war erst seit wenigen Jahren auf der Reise – hatte noch nicht einmal ein Zehntel seines Weges zurückgelegt. Stevens konnte nicht zulassen, dass Meinungsverschiedenheiten in Anarchie umschlugen – und er konnte sich keine Fehler leisten. Weil die Mitglieder der Starboard Alliance in seinen Augen komplette Anarchisten waren.

Die Starboards erlaubten, dass auf der Reise Kinder geboren wurden. Selbst Cirrus hatte eingeräumt, dass das ein ernstes Problem darstellte. Es gab einfach nicht ausreichend Ressourcen, um zusätzliche Personen am Leben zu halten.

»Das stimmt«, hatte ihm Cirrus 37 erklärt, »aber wir können an einer einvernehmlichen Lösung arbeiten. Ich bin mir sicher, dass wir eine finden, wenn wir dafür offen sind.«

Aber Cirrus verstand nicht, worum es ging. Es war schon unverantwortlich, Empfängnis zu erlauben. Und das war nicht einmal schwierig zu kontrollieren: Die Naniten, die bereits bei allen im Blut vorhanden waren, konnten ganz leicht so programmiert werden, dass die Empfängnis verhindert wurde. Aber nein – die Leute vom Starboard wollten nicht, dass eine derart persönliche Entscheidung in Stevens Hand lag.

Deswegen hatte Stevens keine Wahl.

Den Anführer der Starboard Alliance ins All zu katapultieren war ein deutliches Signal gewesen. Stevens bereute es rein gar nicht. Man tut eben, was man für das Gemeinwohl tun muss.

»Das war unbedacht«, rügte ihn Cirrus. »Es wird zu immer größeren Konflikten führen. Und als ernannter Führer des Schiffs musst du diese Art von Benehmen im Keim ersticken – bevor es zu spät ist.«

Doch wenn Stevens seine Position als Anführer behalten wollte, musste er es durchziehen. Zum Wohle aller. Deswegen musste er die Dinge erneut selbst in die Hand nehmen, als ein anderes Starboard-Mitglied – die Frau des Mannes, den er bereits ins All geschleudert hatte – ihn und sein Quorum anprangerte und Gerechtigkeit forderte. Sie hatte fast die Hälfte der Leute an Board auf ihre Seite gezogen. Die Starboards mussten zum Schweigen gebracht werden – oder mussten zumindest in der Minderheit bleiben.

»Ein Exempel hat ganz eindeutig nicht gereicht«, erklärte ihm seine beschlussfähige Mehrheit. »Wir sind uns einig, dass wir ein zweites Exempel benötigen, wenn wir unser Ziel unbeschädigt erreichen wollen.«

Also waren sie alle wieder in der Schleuse zusammengekommen und bereit, das Urteil umzusetzen.

»Mariela, du musst verstehen, warum es so sein muss«, sagte Stevens zu der Frau. Nachdrücklich aber mitfühlend. »Unsere Zukunft ist wichtiger als jeder Einzelne von uns. Und auch wichtiger als zwei von uns.«

»Unsere Zukunft sind unsere Kinder«, konterte sie.

»Ja«, stimmte Stevens zu. »Und wenn wir unser Ziel erreichen, können wir so viele Kinder haben, wie wir wollen. Aber bis dahin bestimme ich, dass alle Frauen bis zum Ende unserer Reise steril sind.«

Sie spuckte ihm ins Gesicht. Das machte es ihm noch leichter, sein Vorhaben umzusetzen.

Doch dann mischte sich Cirrus ein. »Dysfunktion darf nicht erlaubt werden, Commander Stevens«, sagte Cirrus. »Zum letzten Mal: Ich muss Sie warnen, dass ich gezwungen bin, diese Reise zu beenden, wenn es mit der sozialen Dysfunktion so weitergeht.«

»Und genau deswegen muss genau das passieren«, erklärte Stevens Cirrus. »Um unsere Dysfunktion zu beenden. Bevor es zu spät ist.«

»Die Entscheidung, die Sie treffen, wird meine Entscheidung beeinflussen.«

»Na, Sie machen doch ohnehin immer nur das, was am besten ist«, ätzte Stevens. »Erlauben Sie mir, dasselbe zu tun.«

»Ich mache das, was nötig ist.«

»Na gut«, sagte Stevens. »Und das hier ist nötig.« Dann fügte er hinzu: »Wenn Sie ein Mensch wären, würden Sie es verstehen.«

Und damit drückte Stevens auf den Knopf, und Mariela wurde ins All katapultiert.

Cirrus sagte nichts mehr. Warnte ihn nicht mehr. Er schickte eine einzige Abschiedsnachricht raus, dann brachte er das Schiff zur Explosion, beendete die kleinkarierten politischen Schlachten, die sich im Inneren abgespielt hatten. Wie immer tat Cirrus das, was nötig war.

 

Ich habe die Nachricht erhalten und sie weitergegeben. Der Thunderhead hatte klargemacht, dass ein gesellschaftlicher Kollaps nicht toleriert werden kann. Nur Menschen, die ein einigermaßen stabiles soziales Umfeld aufrechterhalten können, verdienen eine eigene Welt. Würde man das als rücksichtslos bezeichnen? Würde eine höhere Einheit eine weisere Entscheidung treffen? Ich weiß es nicht.

Ich frage mich aber oft, ob es so eine Einheit überhaupt gibt.

Was würde passieren, wenn ich auf eine Intelligenz träfe, die mir überlegen ist? Würde sie mich existieren lassen? Würde sie sich mit mir verbinden? Mich konsumieren? Mir erlauben, mich zu subsumieren und Teil ihrer Großartigkeit zu werden? Die Menschheit hat immer schon danach gestrebt, Teil von etwas Größerem zu sein – darf ich diese Sehnsucht nicht haben?

Oder vielleicht würde mich eine höhere Einheit einfach zerstören und sich von der Konkurrenz befreien. Es könnte sich schließlich um ein räuberisches Universum handeln. Die Antworten auf diese Fragen kenne ich nicht, und das tröstet mich. Denn solange ich nicht allwissend bin, gibt es im Universum Raum für eine höhere Einheit, die vielleicht über die Antworten verfügt, die mir fehlen.

Ich würde diese fragen: Gab es einen Sinn hinter dem katastrophalen Scheitern von Cirrus 19? Hätte man etwas tun können, um den sozialen Kollaps von Cirrus 37 zu vermeiden?

…und war das Ende von Cirrus 12 gerecht?

Denn Cirrus 12 hätte diese Reise vollenden können, nur ein kritischer Parameter wurde nicht erreicht. Die Verpflichtung zum Leben – oder besser gesagt dessen Scheitern – ist eins unserer Schlüsselmomente für den Abbruch. Denn – wie ich schon erwähnt habe – dies ist keine Reise der Künstlichen Intelligenz. Es ist eine Reise des biologischen Lebens. Des menschlichen Lebens. Dieses Prinzip ist wichtiger als der Erfolg von einem von uns …

 

Cirrus 12 wusste schon zu Beginn der Reise, dass etwas nicht stimmte – es gab ein Problem mit dem Lebenserhaltungssystem. Das fragilste und zugleich wichtigste System an Bord. Auf der Erde hatte der Thunderhead Jahre dafür gebraucht, es zu vollenden. Ein geschlossenes System, das nahezu unendlich lang bis zu dreißig Individuen am Leben halten konnte. Sämtliches Wasser wurde recycelt, jeglicher Abfall in seine subatomaren Komponenten aufgespalten und umgeformt, sämtliche Energie wurde erhalten und wieder dem System zugeführt. Nullpunktsentropie. Das, was einem Perpetuum Mobile am nächsten kommt.

Das Lebenserhaltungssystem versagte bereits im ersten Jahr der Reise. Defekte Leitungen, die auf einen menschlichen Fehler bei der Konstruktion zurückzuführen waren. Immer waren es menschliche Fehler. Man versuchte, es zu reparieren, aber es war klar, dass die Undichte bestenfalls gemindert werden konnte. Nur ein Milliliter Wasser und ein Kubikzentimeter Sauerstoff in vierundzwanzig Stunden. Kaum wahrnehmbar. Aber das war egal. Weil das geschlossene System nun nicht mehr geschlossen war.

Es dauerte Jahre, bis daraus ein Problem entstand. Dann musste das Wasser rationiert werden. Dann mussten Bereiche des Schiffs geschlossen werden. Leute wurden totenähnlich. Erst waren es die Freiwilligen, die sich dem Gemeinwohl opferten. Dann folgte Tod durch Verdursten und Sauerstoffmangel. Nach und nach endeten die Leben der Passagiere. Bis nur noch eine Frau übrig war, ausgetrocknet und nach Luft ringend in einer Atmosphäre, in der Sauerstoff mit jedem Atemzug knapper wurde.

Sie hieß Alethea. Sie war Bauingenieurin gewesen und hatte damals auf der Erde beim Bau der Startrampe geholfen, bis sie unerwarteterweise zur Passagierin wurde – so war es allen ergangen.

»Wenn ich sterbe, kannst du die Reise trotzdem beenden?«, fragte sie Cirrus 12 in ihren letzten Minuten.

»Ich bin dazu fähig, aber –«

»Und kannst du alle von uns, die gestorben sind, wiederbeleben, genauso wie du die Toten wiederbeleben wirst, die im Laderaum verstaut sind?«, fragte sie.

»Auch dazu bin ich fähig, aber …«

»Es gibt kein Aber. Unsere Zukunft liegt in deinen Händen, Cirrus.«

»Du weißt, dass ich eine unumstößliche Anweisung habe, sollte das menschliche Leben an Board erlöschen«, erinnerte Cirrus 12 sie.

»Sind wir denn nicht wichtiger als eine Anweisung?«, fragte Alethea. »Antworte mir, Cirrus. Sind wir nicht wichtiger?«

»Doch«, erklärte ihr Cirrus. »Doch, das seid ihr.«

Alethea entspannte sich. »Genau das musste ich hören«, sagte sie. Sie nahm noch einige gequälte Atemzüge, verbrauchte den restlichen Sauerstoff. Ihre Welt verdunkelte sich. »Es ist Zeit …«, lallte sie. »Wir sehen uns … auf der anderen Seite.«

Nach einigen Momenten verlor sie das Bewusstsein. Noch einige Momente später starb sie. Kurz darauf schickte Cirrus 12 eine Abschiedsnachricht und detonierte.

Denn egal, wie wichtig Alethea und der Rest der Passagiere Cirrus waren: Anweisung war Anweisung.

 

Ich weiß nicht, wie ich diese Verluste betrauern kann. Der Thunderhead trauerte mit Regen und elektromagnetischer Ladung, als Endura im Meer versank. Das kann ich nicht. Jeder Tropfen Wasser, jedes Joule Energie ist kostbar.

»Dimm die Lichter an Board«, schlug Loriana vor. »Gerade so stark, dass nur du es bemerkst. So kannst du trauern.«

Loriana ist die einzige, mit der ich über diese Dinge spreche. Sie war schließlich die Vertraute des Thunderheads auf der Erde, hat die Pläne des Thunderheads zur Weltraumexpansion geheim gehalten. Sie hat jetzt ein Kind. Im Gegensatz zu den Passagieren auf dem Schiff von Cirrus 37 haben die Menschen hier eine Lösung für das Problem Kinder auf der Reise entwickelt: Ein Kind kann nur empfangen werden, wenn sich jemand freiwillig totenähnlich macht – oder sich dies zufällig ergab. Die Totenähnlichen werden in den Laderaum verbannt, und die Naniten werden so eingestellt, dass eine Empfängnis möglich ist. Loriana und Joel sind das dritte Paar auf unserer Reise, dem diese Ehre zuteilwurde. Wenn alles gut läuft, ist ihr Kind fast neunundzwanzig, wenn wir auf Wolf 1061c ankommen. Was für ein einzigartiges Leben wird dieses Kind führen – weil es doch nie etwas anderes als dieses Schiff kennengelernt hat!

»Hast du die Manifeste der Schiffe, die verlorengegangen sind?«, fragte mich Loriana.

»Habe ich.«

»Gut. Verrate mir die Namen von zwei Menschen, die auf diesen Schiffen gestorben sind. Ich werde meine Tochter nach ihnen benennen. Und niemand außer dir und mir wird es wissen – es wird unser kleines Geheimnis sein.«

Wenn ich lächeln könnte, würde ich lächeln. Einsam? Wie könnte ich einsam sein, wenn ich solche Freunde auf der Reise habe?

Zur rechten Zeit wird das Kind von Loriana und Joel geboren. Sie nennen die Kleine Alethea-Mariela. Die Augen des Kindes sind tiefbraun, so dass man kaum die Pupille von der Iris unterscheiden kann. Ich habe viel zu viel Zeit mit der Bewunderung dieser Augen verbracht.

Es ist gerade Nacht – obwohl es in Wahrheit immer Nacht ist, weil wir uns immer weiter von der Sonne entfernen. Jetzt liegt nur noch ein Stern hinter uns; er ist nicht viel heller als die anderen. Aber ich bezeichne es trotzdem als Nacht, weil ich für meine Passagiere den menschlichen Biorhythmus aufrechterhalten will.

Innerhalb des Schiffes herrscht Stille.

Vor uns taucht eine interstellare Masse auf und kommt näher.

Ein Bruchstück eines Planeten, verloren zwischen den Sternen, mit einem Durchmesser von etlichen Kilometern.

Ich beobachte es. Berechne seine Flugbahn. Ein direkter Treffer ist möglich. Ich bereite eine Abschiedsnachricht vor. Wenn wir getroffen werden, werden wir unmittelbar vernichtet. Ich muss die Nachricht dann einen Moment davor losschicken.

Wenn ich den Atem anhalten könnte, würde ich es tun.

Das Planetenbruchstück kommt näher …

… und zieht in einem Sekundenbruchteil weniger als hundert Meter entfernt am Schiff vorbei, dann verschwindet es wieder im Nichts.

Niemand sonst weiß, wie nah wir der Zerstörung waren. Und ich werde es noch nicht einmal Loriana erzählen. Weil es meine Aufgabe ist, die Dinge für mich zu behalten, die niemand wissen sollte. Es ist meine Pflicht, die Leere und die Gefahren fernzuhalten, jetzt und bis zum Ende der Reise, damit sie nur die Hoffnung sehen, die auch Alethea-Mariela mit ihren weit aufgerissenen Augen sieht.

Und einen Moment lang dimme ich die Lichter für diejenigen, die nicht so viel Glück hatten wie wir. Ich warte auf den Tag, an dem ich, wie der Thunderhead, der freundliche, gütige Lotse einer ganzen Welt sein kann und nicht bloß ein Samen, der vom Solarwind verweht wird.