Es gab keine böse Vorahnung, und die Sonne verdunkelte sich nicht, als der Scythe vor der Tür der Terranovas auftauchte. Dieses Mal war Jenny Terranovas Reaktion allerdings ganz anders als beim ersten Mal.
»Sie sind hier nicht willkommen«, sagte sie voller Verachtung, obwohl niemand in der Familie noch Immunität genoss.
Ben, der auf dem Sofa saß und direkt auf die Tür blickte, beobachtete, wie der Scythe reagierte. In dem Moment war seine aufrichtig empörte Mutter viel einschüchternder als die Figur des Todes in der Tür.
Ben hatte diesen Scythe zwar noch nie gesehen, wusste aber genau, um wen es sich handelte. Seine Robe war ein untrügliches Zeichen. Sie hatte die Farbe von Blut.
Nur Scythe Constantine war dafür bekannt, dass er eine Robe in genau dieser Farbe trug. Er überwachte die internen Ermittlungen des Scythetums – er war ein Mann, den man zugleich respektierte und fürchtete. Und er war inzwischen tatsächlich zweiter Unterscythe von Goddard. Ben erwartete fast schon, dass er ein Schwert zog und seine Mutter an Ort und Stelle nachlas, weil sie so respektlos war. Doch das tat er nicht.
»Ich verstehe Ihre Animosität uns gegenüber«, sagte Scythe Constantine. »Aber sie wird mich nicht davon abhalten, mein Vorhaben in die Tat umzusetzen.«
Inzwischen war Bens Vater rausgekommen und hatte sich neben Bens Mutter gestellt, damit der Scythe nicht eintreten konnte. Trotzdem drängelte Constantine sich in die Wohnung und schob die Mutter mit einstudierter Anmut sowohl sanft als auch bestimmt weg.
»Ich bin wegen Ihres Sohnes Benjamin hier.«
Ben wurde ganz steif, stand aber nicht auf.
»Unsere Tochter ist tot, und jetzt wollen Sie auch noch unseren Sohn nachlesen?«, fluchte sein Vater. »Scythe sollen doch die ultimative Gerechtigkeit sein – was ist daran bitte schön gerecht?«
Constantine zog ein Messer, das schärfer war als alles, was Ben jemals gesehen hatte, und der Scythe wurde richtig wütend. »Ganz egal, was Sie durchgemacht haben – Ihre Unverschämtheit ist eine Straftat, die mit Nachlese geahndet werden muss!«
»Lass es ihn machen!«, sagte Ben, der endlich aufstand, bevor der Scythe die Klinge schwingen und das Leben seines Vaters beenden konnte. Ben war verängstigt, aber er wusste, dass der blutrote Scythe sein Leben definitiv beenden würde, wenn er das wollte – und dass auch die Leben seiner Eltern vorbei wären, wenn sie sich ihm in den Weg stellten.
Scythe Constantine blickte Ben an und nickte. »Der Junge zeigt allein mehr Vernunft als Sie beide zusammen.«
Er lief auf Ben zu, aber noch ehe er in Nachlesereichweite war, sagte Ben: »Schicken Sie sie bitte weg. Ich will nicht, dass sie es mitansehen müssen.«
Das Schwert in der Hand des Scythe zeigte ganz eindeutig, welche Methode er bevorzugte. Ben hoffte, es würde auf einen schnellen, entschlossenen Stich ins Herz hinauslaufen. So hatte es seine Schwester am Vorabend ihrer Ordinierung zu Scythe Anastasia auch gemacht. Irgendwie fühlte es sich weniger erschreckend an, weil er schon einmal auf diese Weise gestorben war. Nur wusste er dieses Mal, dass sein Tod dauerhaft sein würde.
Doch dann steckte Scythe Constantine sein Schwert zurück in die Scheide. »Ich bin nicht gekommen, um dich nachzulesen«, sagte er. »Ich bin hier, um dir einen Platz als Lehrling bei mir anzubieten.«
Und obwohl Ben erleichtert war, war das nicht so viel besser, als nachgelesen zu werden.
»Das will ich nicht«, erklärte er dem Scythe.
»Ich erkläre es dir«, sagte Constantine und fokussierte seine gesamte Aufmerksamkeit auf Ben. »Deine Schwester hatte etwas, das dem Scythetum in unserer Zeit schmerzlich fehlt. Integrität. Gewissen. Anstand. Nach ihrem Tod ist sie für viele Menschen zu einem Symbol für diese Dinge aufgestiegen … das bedeutet, dass du – als ihr Bruder – ebenfalls ein Symbol dafür bist.«
»Er hat es Ihnen schon gesagt«, sagte Bens Vater. »Die Antwort lautet nein.«
Constantine seufzte. »Sie haben mich falsch verstanden. Sie haben in der Angelegenheit keine Wahl.« Dann hielt er Bens Eltern die Hand hin, damit sie seinen Ring küssen konnten. »Sie haben während Benjamins Lehre Anrecht auf Immunität.«
Aber sie weigerten sich. Ben hatte gewusst, dass sie es nicht tun würden – und er wusste auch, dass sie ihre Meinung nicht ändern würden.
»Geben Sie Ihre Immunität den ersten beiden Fremden, die Sie auf der Straße sehen, wenn wir gehen«, sagte Ben.
Constantine warf ihm einen schwer zu deutenden Blick zu. Ben war nicht sicher, ob der Mann wütend oder belustigt war. »Du wagst es, einem Scythe Befehle zu erteilen?«
»Nur ein Vorschlag«, sagte Ben. »Ein Vorschlag, der Ihnen das liefert, was Sie wollen.«
Constantine nickte. »Gut gemacht«, sagte er. »So etwas hätte deine Schwester auch getan.«
Dann eskortierte Constantine Ben hinaus, er durfte sich nicht einmal mehr verabschieden.
Ihr privates Zugabteil war pompös ausgestattet, aber Constantine wirkte davon nicht beeindruckt. Er war eher genervt davon, dass er mit seiner Robe an dem goldenen Inventar und den Verzierungen hängen blieb.
»Wieder ein irreparabler Riss«, murrte er. »Wieder eine Robe ruiniert. Du suchst dir zu gegebener Zeit besser einen etwas widerstandsfähigeren Stoff als Seide aus.«
»Wenn Ihnen die Robe nicht gefällt, können Sie sich doch auch eine andere aussuchen, oder?«, fragte Ben. »Ich meine, es gibt keine Gesetze, die dagegensprechen.« Seit Beginn der Lehre seiner Schwester hatte Ben alles über die Bräuche und Sitten der Scythe gelernt. Dadurch hatte er sich seiner Schwester während ihrer Abwesenheit nah gefühlt.
»Ein Scythe, der seine Robe wechselt, zeigt Schwäche und Unentschlossenheit.«
Ein Diener versuchte, ihnen etwas zu essen zu bringen, aber Constantine winkte ihn weg.
»Wenn du noch einmal versuchst, uns vor dem Abendessen Nahrung aufzudrängen, werde ich dich nachlesen«, donnerte er.
Ben vermutete, dass Constantine die Art Mann war, die so eine Drohung wahr machen würde. Er war zwar nicht böse, aber richtig ehrenwert war er eben auch nicht.
»Und … wohin gehen wir?«
»Zu einem Ort ohne Zuschauer«, sagte er. »Einem Ort, wo ich dich ausbilden kann und niemand dich stören wird.«
Das hörte sich etwas beunruhigend an. Lehrlinge, das wusste Ben, wurden unter dem prüfenden Blick des Scythetums ausgebildet. Aber viele Dinge hatten sich seit dem Untergang Enduras verändert.
»Dann bin ich also Ihr geheimer Lehrling, richtig?«
»Zunächst einmal«, sagte Constantine, »bist du nicht mein Lehrling. Ich beaufsichtige das Ganze bloß. Zweitens sollte deine Lehre unauffällig vonstattengehen.«
»Damit High Blade Goddard davon keinen Wind bekommt …«
Constantin fixierte ihn mit eiskaltem Blick. »Es gibt Dinge, die der High Blade nicht wissen muss, bis wir wollen, dass er sie erfährt.«
Constantine war klar, dass er ein Risiko einging. Er hatte es geschafft, sich auf das Spiel einzulassen, sich mit Goddard gut zu stellen, während er zugleich mit einem Fuß insgeheim noch bei der Alten Garde stand. Die Alte Garde hatte inzwischen weniger Mitglieder. Einige hatten sich selbst nachgelesen, nachdem Goddard als High Blade aus Endura zurückgekehrt war – und noch etliche mehr waren diesem Beispiel gefolgt, während er seine Präfektur über die anderen NordMerikanischen Territorien verhandelte. Alle, mit Ausnahme der Freibrief-Region Texas, die sich Goddard nicht ergab – und genau dorthin fuhren Constantine und Benjamin Terranova jetzt.
Constantins Fahrt nach Texas war erst einmal unverdächtig, weil er den Auftrag hatte, mit dieser Schurkenregion zu verhandeln und sie dazu zu bewegen, den Annektionsvertrag zu unterzeichnen. Wenn sie Folge leisteten, würde ganz NordMerica unter Goddards Kontrolle stehen. Aber diese sogenannte LoneStar-Region weigerte sich immer noch. Das machte sie gut! Die anderen Regionen waren rückgratlos gewesen, hatten es Goddard ermöglicht, sie wie ein Eroberer aus der Sterblichkeitsära zu überrollen.
Constantine schlug sich zwar nicht offen auf eine Seite, aber nur weil diese einander ebenbürtig waren. Er verabscheute ein deutliches Machtungleichgewicht. Natürlich lag es in seinem Interesse, der Gewinnerseite zu dienen, aber er fand es klug, der verwundeten Seite entgegenzukommen – sollten sich die Zeiten einmal ändern.
Und außerdem hasste er Goddard.
Der Mann warf auf alles, wofür das Scythetum stand, ein schlechtes Licht. Mehr und mehr Menschen waren wie die Terranovas geworden – aufsässig und nicht respektvoll. Und das aus gutem Grund. Wie sollten die Menschen auch die Institution des Scythetums achten, wenn der führende Scythe keine Respektsperson war?
Constantine beobachtete Ben, der es scheinbar genoss, die vorbeiziehende Landschaft zu betrachten
»Ich habe deine Schwester gut gekannt«, erklärte Constantin ihm. »Sie war beeindruckend für eine Frau ihres Alters.«
»Sie ist tot«, sagte Ben. »Es ist also eigentlich egal, wie beeindruckend sie war, oder nicht?«
»Im Gegenteil«, sagte Constantin. »Es gibt Fälle, in denen der Tod einem Menschen noch mehr Macht verleiht. Eine Macht, von der du persönlich profitieren wirst.«
»Ich will nicht vom Tod meiner Schwester profitieren.«
»Was du willst, spielt hier keine Rolle. Es zählt nur, was wir brauchen. Und«, fügte Constantine hinzu, »was die Welt braucht.« Er betrachtete den Jungen noch einen Moment lang. »Sag mal, hast du schon einmal jemanden totenähnlich gemacht?«
»Nein«, sagte Ben.
»Noch nicht mal aus Versehen?«
»Noch nicht mal aus Versehen«, gab er zurück.
Constantine seufzte. Die Alte Garde glaubte, Lehrlinge ohne gewalttätige Neigungen würden sich am besten eignen – unterwürfig sollten sie aber auch nicht sein. Sie mussten etwas Großartiges in sich tragen. Etwas, das nahelegte, dass sie ihr altes Ich überwinden und ein weiser und rechtschaffener Lieferant des Todes werden können. Vielleicht war dieses Ideal unrealistisch, aber es war erstrebenswert.
»Wie alt bist du noch gleich?«
»Siebzehn«, antwortete Ben.
»Hmm. So alt war deine Schwester, als Scythe Faraday sie in die Lehre genommen hat. Aber im Gegensatz zu ihr wird deine Lehre unterm Radar ablaufen und deswegen so lange dauern wie eben nötig. Wenn du vors Konklave trittst, wirst du bereit sein.«
Ob dieser Junge über die erforderliche Großartigkeit verfügte, würde sich noch zeigen müssen. Aber selbst wenn nicht, wäre er wichtig. Ein Bauer kann ebenso wertvoll sein wie ein Springer – unter den richtigen Umständen.
Mit dem Beginn der Ausbildung startete für Ben ein völlig neues Leben, obwohl er sich inzwischen nicht mehr dran erinnern konnte, wie es früher einmal gewesen war. Das Gebäude, in dem sein Unterricht stattfand, sah weder wie eine umgestaltete Schule aus, noch wie ein Zuhause, ein Hotel oder ein Bürogebäude.
»Das hier war ein Gefangenenlager für Jugendliche, damals, in der Sterblichkeitsära«, erklärte ihm Constantine. Anscheinend hatten die Sterblichen ihre jungen Widerlinge hier eingesperrt, weil es keinen Thunderhead gab, der ihre Machenschaften überwachte. Deswegen wurden sie praktisch unter den Teppich gekehrt, und der Teppich wurde am Boden festgetackert. Das war barbarisch, aber wiederum: Wir sollten die Sterblichen nicht mit Maßstäben der Post-Sterblichen bewerten.
»Was dieser Ort früher einmal war, spielt keine Rolle«, sprach Constantine weiter. »Jetzt nutzt ihn das Texanische Scythetum für andere Zwecke. Im Augenblick bist du dieser Zweck.«
Bens Wohnbereich verfügte zwar über ein Fenster, aber ohne Aussicht. Er schaute auf eine hoch aufragende Steinwand, an der in endlosen Kaskaden Wasser runterlief – als könnte man das wahre Wesen einer Wand hinter einem Wasserspiel verstecken. Nun, zumindest war das Plätschern des Wasserfalls nachts beruhigend.
Im Komplex befanden sich eine Bücherei und ein Fitnessstudio, doch diese Einrichtungen waren anscheinend nur für Ben bestimmt, weil sonst nie jemand dort war. Mit Ausnahme der Scythe, die ihn unterrichteten, sah er immer nur Mitglieder der Bladeguard, die vor verschiedenen Türen positioniert waren. Sie sprachen nur mit Ben, wenn er eine Frage hatte, und auch dann antworteten sie höchstens mit »Yes, Sir« und »No, Sir«, als dürften sie rein gar nichts Persönliches zwischen sich und ihm zulassen.
»Obwohl die texanischen Scythe nur Verteidigung mit dem Messer lernen müssen, wird dein Unterricht in der Kunst des Tötens die volle Bandbreite umfassen«, erklärte ihm Constantine am ersten offiziellen Tag seiner Lehre. »Kugel, Klingen, Knüppel und ein Grundlagenwissen im Bereich Gifte. Wir planen deine Ordinierung zwar in Texas – sobald du Scythe bist, kannst du allerdings in jedes von dir gewählte Scythetum migrieren.«
Doch Ben wusste, dass das nicht stimmte. Er wusste, dass geplant war, ihn ins MidMerikanische Scythetum zu verfrachten, damit er seinen Platz als Dorn in Goddards Auge einnahm – obwohl man hoffte, dass dieser Stachel zu einem Pfahl werden würde, auf dem man Goddard aufspießen konnte. Seine Schwester wäre dieser Stachel gewesen, hätte Rowan Damisch sie nicht auf Endura umgebracht. Ben fragte sich oft, ob Damisch von Citras Anwesenheit dort gewusst hatte, als er die riesige schwimmende Stadt versenkt hatte. War es Teil seines Planes gewesen, sie mitzunehmen? Wenn Ben könnte, würde er Damisch eigenhändig erledigen – wenn das nicht schon jemand anderes erledigt hätte.
»Dein körperliches Training wird sehr anstrengend – nicht nur Kunst des Tötens, sondern auch Black Widow Bokator – die härteste aller Kampfkunstarten. Und von dir wird auch erwartet, dass du in deinen akademischen Studien hervorragende Noten hast. Philosophie und Ethik, Geschichte – sowohl aus der Sterblichkeitsära als auch aus der Post-Sterblichkeitsära, Chemie von Giften – und Scharfsinnigkeit.«
»Das schaffe ich schon«, erklärte ihm Ben.
»Das werden wir sehen«, entgegnete Constantine. Wenn er tatsächlich an Ben glauben sollte, versteckte er das sehr gut hinter einer Mauer aus Zweifeln, die nicht hinter einem Wasserfall versteckt war.
»Wie oft muss ich dir noch sagen, dass du deine schwache Seite schützen musst!«
Bens Rippen schmerzten, aber er schürzte die Lippen, verzog nicht das Gesicht und zählte bis zehn, während er darauf wartete, dass der Schmerz nachließ – seit Monaten tagtäglich dasselbe Spiel.
Scythe Coleman, seine Bokator-Trainerin, hatte bestimmt, dass seine Schmerznaniten erst nach zehn Sekunden einsetzten. Er erlebte also den ungedämpften Schmerz, bevor dieser von den Naniten ausgelöscht wurde.
»Er muss die Konsequenzen seiner Faulheit spüren«, hatte sie Constantine bei seinem letzten Besuch erklärt.
Für Scythe Coleman war alles Faulheit, was keine Leistung brachte. Sie glaubte fest daran, dass Übung den Meister machte. Ihre historische Patronin – Bessie Coleman – ihre Vorfahren waren sowohl Afrikisch als auch Ureinwohner Mericas – war die erste nicht weiße Frau gewesen, die ein Flugzeug flog. Zu dieser Zeit wurde das Konzept der »Rasse« den Menschen zum Nachteil ausgelegt. Die ursprüngliche Bessie Coleman hatte es geschafft, Unerreichbares zu erreichen, obwohl sie diskriminiert wurde – und Scythe Coleman, die ihren Namen angenommen hatte, verlangte nun ganz eindeutig, dass alle ihr nacheiferten.
»Noch mal!«, befahl sie, noch ehe der Schmerz vom letzten Angriff verflogen war. »Mach dich bereit!«
Ben hielt seinen Stab fest und versuchte, seinen ganzen Ärger in den Schlag zu legen. Nicht nur seine Wut auf Scythe Coleman, weil sie ihn so sehr triezte, sondern auch seine Wut auf sich selbst, weil er ihre überzogenen Anforderungen nicht erfüllte.
»Geh dieses Mal zur Offensive über«, sagte sie. »Schlag hart zu, finde deine Konzentration schnell wieder, beobachte meine Augen und auch meine Füße; spüre, wo mein Gewichtsschwerpunkt liegt.«
Immer mehrere Dinge auf einmal. Alle erwarteten von ihm, dass er ein Dutzend Sachen auf einmal machte, und dann beschwerten sie sich über seinen mangelnden Fokus.
Schon seit Monaten bildeten sie ihn aus, bereiteten ihn vor, drillten ihn gnadenlos. Unbarmherzige Tage voller Kunst des Tötens und Black Widow Bokator. Stupides Auswendiglernen von Giften und endlose Unterrichtsstunden in Philosophie, Geschichte, Ethik und Recht.
Das einzige Fach, in dem er sich wirklich selbst übertraf, war Philosophie. Seine Eltern hatten immer gesagt, er würde zu viel nachdenken – wenigstens kam ihm das jetzt zugute. Körperlich war er sehr gut im Ausdauertraining. Er war schon immer ein solider Läufer gewesen. »Schnell wie ein Rennpferd«, sagten die Scythe. Aber um Scythe zu sein, müsste er ein Dutzend Fertigkeiten beherrschen – nicht bloß zwei.
Ben startete seinen Angriff auf Scythe Coleman, schlug ihr mit seinem Stab gegen die Schulter, aber nicht fest genug, denn es hatte keinerlei Auswirkung auf sie. Stattdessen packte sie ihn, machte sich seine eigene Dynamik zunutze, brachte ihn aus dem Gleichgewicht, schwang ihren Stab und schlug ihm schmerzhaft auf den unteren Rücken.
»Nein, nein, NEIN !«, rief sie und schleuderte frustriert ihren Stab weg.
Ben versuchte dieses Mal gar nicht, sein verzogenes Gesicht zu verstecken. Diese Scythe waren alle Perfektionisten. Vielleicht musste er sich darüber auch nicht wundern, weil jeder andere Lehrling wegen seiner Eigenschaften auserwählt wurde. Aber nicht Ben. Er war wegen seiner Schwester auserwählt worden. »Du wirst erst zum Konklave gebracht, wenn du bereit bist«, hatte ihm Unterscythe Constantine versichert. »Egal, wie lange das auch dauern mag.«
Aber bei ihm eingebrannt hatten sich die Worte, die nicht ausgesprochen wurden. Wir brauchen dich am besten gestern. Und er spürte eine tiefsitzende Verbitterung, dass das Gestern für Ben niemals wiederkommen würde. Es war schwer genug, der Bruder von Scythe Anastasia zu sein. Er wurde andauernd mit ihr verglichen und immer daran erinnert, dass er ihr nicht das Wasser reichen konnte.
Dieses Mal gab ihm Scythe Coleman etwas Zeit, um sich zu erholen, aber nicht genug Zeit, um seine Würde wiederherzustellen. Er zweifelte daran, dass er sie jemals wiedererlangen würde.
»Dir ist schon klar, dass du viel härtere Prüfungen als diese hier bestehen musst, solltest du ordiniert werden«, erklärte ihm Scythe Coleman – als würde er das zum ersten Mal hören. »Aber noch viel wichtiger, als dass du in diesen ganzen Dingen grandios bist, ist Folgendes: Du musst eine gewisse … Präsenz ausstrahlen. Das ist von allergrößter Bedeutung. Du musst lernen, ein Mensch zu sein, um den sich die Leute scharen.«
»Ich werde es versuchen, Euer Ehren«, sagte er – das sagte er immer.
Scythe Coleman blickte ihn noch einmal an, dann hob sie resigniert die Hände. »Wir sind fertig für heute.« Und sie ging ohne ein weiteres Wort.
Ben war zu Hause nicht gerade ein Versager gewesen. Die anderen Kids hatten sich um ihn geschart, aber nicht den Kopf nach ihm umgedreht, er hatte keine übernatürliche Wirkung auf sie gehabt. Bevor seine Schwester ausgezogen war, um Scythe zu werden, hatte sie sich von Ben nicht unterschieden. Sie war nicht irgendwie außergewöhnlich gewesen. Diese Leute hier erwarteten von Ben, dass er schon jetzt all das war, wozu sie sich erst entwickelt hatte. Er hatte einmal gehört, wie zwei seiner Trainer über seine Aussichten sprachen:
»Wir müssen in Betracht ziehen, dass er dazu schlicht nicht fähig ist«, hatte der eine gesagt.
Der andere hatte geantwortet: »Bringen wir es einfach hinter uns.«
Als wäre das Training für sie ebenso schwierig wie für ihn.
Wussten sie, dass ihre Zweifel nicht hilfreich waren? Dass sie seine eigenen Zweifel noch verschlimmerten? Übung machte vielleicht den Meister – aber was, wenn ihm ein Dasein als Scythe einfach nicht lag? Ein Rennpferd ging womöglich um viele Längen vor den anderen durchs Ziel, aber es würde einfach niemals das Fliegen lernen.
So brutal Ben auch tagsüber behandelt wurde, so sehr wurde er abends verwöhnt. Erstklassige Mahlzeiten wurden ihm auf einem Silbertablett serviert, und ein persönlicher Masseur kümmerte sich um ihn – weil Schmerz- und Heilnaniten eben nur das eine waren. Man brauchte eine geschickte menschliche Hand, um die am übelsten verspannten Muskeln zu lockern und sie auf den Angriff am nächsten Tag vorzubereiten.
Jeder Masseur arbeitete eine Woche lang für ihn, aber sobald Ben sich an seinen Stil gewöhnte – und der Masseur sich an seine Muskulatur –, wurde er ersetzt.
»Das ist zu deinem eigenen Schutz«, hatte Scythe Hughes ihm erklärt.
Hughes war sein Philosophie- und Ethiklehrer und der einzige, der ihn wirklich gern zu unterrichten schien.
»Je länger sie bleiben, desto eher werden sie erraten, wer du bist. Und das würde alles aufs Spiel setzen.«
»Und sie nach Hause zu schicken ist kein Risiko?«, fragte Ben.
Scythe Hughes zögerte. »Wir … wir schicken sie nicht nach Hause, Ben.«
Ben brauchte einen Moment, um zu realisieren, was der Scythe gesagt hatte. Er konnte ihn nur ungläubig anstarren.
»Ich bin mir sicher, du verstehst, warum die Nachlese erforderlich ist«, sagte Scythe Hughes.
»Nein! Nein, das verstehe ich nicht!«, stieß Ben aus, als er endlich wieder sprechen konnte. »Scythe sollen mitfühlend sein!«
»Das sind wir auch. Sie wurden alle mit größtem Mitgefühl und Respekt nachgelesen.«
Jetzt, wo er die Wahrheit wusste, erklärte Ben, dass er auf den Luxus einer Massage verzichten konnte – und dennoch schickten sie jeden Tag jemanden. Die Scythe versuchten, seine psychologische Barriere zu brechen. Das wusste er. Sie wollten ihn für die Nachlese desensibilisieren. Ihn dazu zwingen, sich selbst als konstante Todesursache zu akzeptieren – und das wäre er, wenn er Scythe würde. Gerade war er nur indirekt verantwortlich, aber bald schon würde es seine Bestimmung sein, menschliches Leben zu beenden. Er fragte sich, wie seine Schwester damit jemals ihren Frieden geschlossen hatte. Aber vielleicht hatte sie das auch gar nicht.
Schließlich gab er – nach einem besonders brutalen Tag – nach, als sich sein Körper und sein Geist zu schwach zum Kämpfen fühlten, und erlaubte der Masseurin einzutreten. Die Frau lockerte seinen Rücken, seine Schultern, seine Arme und Beine. Er versuchte, sie nicht anzuschauen. Sich nicht auf sie einzulassen.
Es war schwer. Aber der nächste Tag war leichter und der übernächste noch einfacher. Genau wie die Scythe gehofft hatten. Und als sie am Montag von jemand Neuem ersetzt wurde, war Ben nur auf sich selbst sauer, weil er nicht um die arme Frau trauerte, von der er nicht einmal den Namen wusste.
Aber einen Monat später änderte sich etwas. An einem Montag war der Masseur niemand Unbekanntes. Es war derselbe wie die Woche zuvor. Ben war erleichtert, aber auch misstrauisch.
»Warum bist du hier?«, fragte Ben.
Der junge Mann war ungefähr in Bens Alter.
Ben hatte seine eigene Regel gebrochen, weil er ein paar Worte mit ihm gewechselt und sogar Blickkontakt hergestellt hatte. Es war auch schwer, ihm nicht in die gefühlvollen Augen zu schauen. Denn er sah gut aus. Beim Gedanken daran, dass er nicht zurückkommen würde, verspürte Ben Melancholie – obwohl er wusste, dass der Grund dafür zutiefst egoistisch war.
»Ist jetzt nicht Zeit für Ihre Massage?«, fragte er. »Sollte ich heute nicht kommen?«
»Doch, es ist Zeit … es ist nur …«, Ben versuchte, nicht nervös zu werden. »Normalerweise kommt jede Woche jemand Neues.«
»Tut mir leid, Sie enttäuschen zu müssen«, sagte er grinsend.
Ben nahm auf der Massageliege Platz, drückte sein Gesicht in die kleine Aussparung und schaute nach unten auf den Boden.
»Ähm, vielleicht möchten Sie zuerst Ihr Shirt ausziehen.«
»Oh, sorry, vergessen.«
Ben setzte sich auf, schälte sich aus seinem Shirt und legte sich wieder hin.
»Schultern? Unterer Rücken? Was soll ich heute bearbeiten?«
»Alles«, sagte Ben.
»Ich bin übrigens Rajesh. Aber Sie können mich Raj nennen. Ich glaube, das habe ich Ihnen letzte Woche nicht gesagt.«
»Ich hatte nicht gefragt«, sagte Ben. Das tat er nie, und in ihm zog sich alles zusammen, wenn die Masseure freiwillig ihre Namen nannten, weil er nicht wissen wollte, wen er durch seine bloße Anwesenheit zum Tode verurteilte. Aber dieses Mal zog sich bei Ben nichts zusammen. Er freute sich, dass er nun Rajs Namen wusste. Aber er sagte es ihm nicht.
Dann, als Ben nichts mehr erwiderte, sagte Raj: »Und Sie sind Ben Terranova.«
Ben merkte, wie sich seine Rückenmuskeln plötzlich unter Rajs Berührung verspannten. »Woher wissen Sie das?«
»Die Leute haben es mir gesagt.«
Das hatte Ben nicht erwartet. Er hatte nichts von alledem erwartet. Wenn das stimmte, hatten die Scythe ihre Strategie geändert. »Dann wissen Sie …«
»Ich weiß, wer Sie sind und warum Sie hier sind«, sagte Raj. »Jetzt entspannen Sie sich bitte, damit ich Ihren Rücken massieren kann.«
»Was ist los?«, fragte Ben Scythe Hughes vor der nächsten Philosophiestunde.
»Ich habe nicht den blassesten Schimmer, wovon du sprichst.«
»Raj.«
»Ach so, ja. Wir haben darüber nachgedacht, weil du dich so an den Nachlesen gestoßen hast, und es uns dann anders überlegt.«
»Also werden Sie ihn nicht nachlesen?«
Scythe Hughes wählte seine Worte mit Bedacht. »Solange er gebraucht wird, wird er dir zu Diensten stehen. Es sei denn, du hättest lieber jemand anderen.«
»Nein!«, sagte Ben ein wenig zu schnell. »Nein, er ist okay. Er macht das gut. Ich brauche niemand Neuen.«
»In diesem Fall«, sagte Hughes, »sind wir glücklich, wenn du glücklich bist.«
Constantine fand es unerträglich, dass so viel von dem Jungen abhing. Und die Zeit wurde langsam knapp. Je länger Benjamin Terranovas Lehre dauerte, desto wahrscheinlicher war es, dass Goddard davon Wind bekommen, der Sache ein Ende setzen und Constantine des Verrats beschuldigen würde. Nur, wenn sie Goddard überrumpelten, könnte ihr Plan Erfolg haben.
Constantine besuchte ihn während seiner regelmäßigen diplomatischen Reisen in die LoneStar-Region und schaute sich einige Unterrichtsstunden von Ben durch Einwegspiegel an. Der Junge war gut in den wissenschaftlichen Fächern und hatte auch beim Bokator endlich aufgeholt – aber seine Kunst des Tötens war eine Katastrophe. Er hatte zwar den Impetus, aber nicht die angeborene Fähigkeit, Leben zu nehmen. Es stimmte: Viele Scythe verwendeten kultiviertere Nachlesemethoden, aber würden sich andere Menschen um so einen Scythe scharen? Nein – er musste das alles beherrschen. Er musste die Unbeeindruckbaren beeindrucken. Er musste die Abgestumpften verblüffen.
»Nehmt ihn härter ran«, bat Constantine Bens Trainer.
»Und wenn wir ihn brechen?«, fragte Scythe Coleman, woraufhin Constantine antwortete:
»Alle Lehrlings müssen gebrochen werden, bevor sie zu Scythe geformt werden.«
Constantine setzte alles auf eine Karte. Ben musste einfach Erfolg haben, es gab keine andere Option. Irgendwann würde er bereit sein, vorm Konklave zu stehen. Er würde bereit sein, den Platz seiner Schwester einzunehmen.
Constantine ging mit Ben Abendessen, um den Jungen auf persönlicher Ebene besser beurteilen zu können. Zunächst war er zurückhaltend, was keine Überraschung war – Constantine wusste, dass er kein Mensch war, in dessen Gegenwart sich andere Menschen entspannten –, doch am Ende des Essens öffnete sich Ben ein ganz kleines bisschen.
»Tut Ihnen Ihre Entscheidung leid?«, fragte er Constantine nach dem Dessert.
»Und dir?«, stellte Constantine die Gegenfrage.
»Es war interessant bisher«, erklärte Ben ihm – das war allerdings keine Antwort, sondern nur eine erneute Ablenkung. »Aber einige Scythe hier sind Arschlöcher.«
Das ließ Constantine plötzlich und unerwartet auflachen. Wenn er Flüssigkeit im Mund gehabt hätte, hätte er sie überallhin gespuckt. Constantine hasste es, dermaßen die Kontrolle zu verlieren, aber der Junge grinste, und das war ebenso bereichernd wie nervig.
»Scythe sind stachelige Gesellen«, sagte Constantine. »Sie haben riesige Egos und Erwartungshaltungen – aber glaub mir, was sie von dir erwarten, das erwarten sie zehnfach von sich selbst.«
»Nun, dann sollten Sie sich selbst in den Boden stampfen. Jedes Mal, wenn ich etwas erreiche, motzen sie mich nur an, weil ich es nicht eher geschafft habe.«
»Sie bringen dir bei, dass du kein Lob zu erwarten hast«, erklärte ihm Constantine.
»Aber sie wollen, dass ich perfekt bin!«
»Wir können einfach nicht weniger von dir erwarten. Du bist es von der Schule anders gewöhnt, aber hier kommst du mit weniger als hundert Prozent nicht durch.« Dann fügte Constantine hinzu: »Denk dran, du musst immer noch sämtliche Prüfungen bei einem einzigen Konklave bestehen – so handhaben wir das hier in Texas. Egal, wie wohlwollend die Scythe aus der LoneStar-Region auch sein mögen, sie werden keinen Scythe ordinieren, von dem sie denken, er sei noch nicht bereit – und du hast nur eine Chance. Deine ganze harte Arbeit wird für die Katz sein, wenn du nicht ordiniert wirst.«
Der Junge starrte ihn an. »Genau das brauche ich jetzt. Noch mehr Druck.«
Constantine seufzte. »Hier geht es nicht nur um dich«, erinnerte er den Jungen. »Der ›Druck‹, von dem du sprichst, den spüren hier alle. Goddard übernimmt in jeder Region des Kontinents die Kontrolle, mit Ausnahme von dieser.«
»Also dienen Ihre ›diplomatischen Reisen‹ für Goddard weniger dazu, Texas davon zu überzeugen, sich ihm anzuschließen, als vielmehr sie von einem Anschluss abzuhalten.«
Diesmal war Constantine mit dem Grinsen an der Reihe. »Jetzt verstehst du, welchen Drahtseilakt ich vollführe.«
Ben zuckte die Schultern. »Sie sind gut darin.«
Constantine merkte, dass er sich über die Anerkennung freute – damit hatte er nicht gerechnet. Es war ein gutes Zeichen, dass der Junge bei einem abgebrühten Scythe, wie er es war, so eine Reaktion hervorrufen konnte.
»Ich bin froh, dass wir ein wenig Zeit miteinander verbringen konnten«, sagte Constantine und bereitete sich auf den Aufbruch vor. »Ich hoffe, dass du in deiner Freizeit gut behandelt wirst – und dass du Trost und Erleichterung findest.«
»Es ist schon Trost genug, wenn mich alle in Ruhe lassen.«
»Schön gesagt – und ich habe gehört, dass sie einen professionellen Partygänger eingestellt haben: Damit du dich besser entspannen kannst.«
Ben hielt kurz inne. »Nein, ich bekomme nur nachmittags eine Massage.«
Constantine bemerkte seinen Fauxpas einen Moment zu spät und versuchte zurückzurudern. »Mein Fehler«, sagte er und ging schnell zur Tür. »Nun, dann wünsche ich dir einen schönen Abend.«
Aber Bens besorgter Blick machte Constantine deutlich, dass er seinen Haken nicht nur erkannt, sondern auch angebissen hatte. Plötzlich wünschte Constantine sich, er hätte den Jungen gar nicht besucht.
Am nächsten Tag kam Raj zum gewohnten Zeitpunkt in Bens Suite an, pünktlich auf die Minute.
»Worauf legen wir heute den Fokus?«, fragte er wie immer. »Nacken? Oberer Rücken? Unterer Rücken?«
»Alles gleich schlimm.«
Ben hatte genug Zeit gehabt, um Constantines Kommentar nachhallen zu lassen. Genug Zeit, damit er in Bens Hirn gären konnte. Aber Ben legte seine Karten nicht direkt auf den Tisch. Stattdessen hielt er sich an das normale Skript. Ein bisschen Smalltalk, dann legte er sich mit dem Gesicht nach unten auf die Liege. Und erst, nachdem Raj angefangen hatte, setzte auch Ben an.
»Raj, warum wurdest du eingestellt?«
»Eine Agentur hat mich eingestellt«, antwortete er.
»Ich habe nicht nach dem Wie, sondern nach dem Warum gefragt.«
»Mir wurde gesagt, sie bräuchten jemanden mit meinen Fähigkeiten.«
»Und worin liegen deine Fähigkeiten?«
Raj zögerte. Er hielt inne, auch die Hände auf Bens Rücken bewegten sich nicht mehr. Sie stoppten einen Moment, dann machten sie weiter, aber weniger aufmerksam als zuvor. »Was ist das für eine Frage?«, sagte er schließlich.
Ben atmete tief ein und wieder aus, dann ließ er die Bombe platzen.
»Bist du ein Partyboy?«
Rajs Hände bewegten sich nun gar nicht mehr. Ben drehte sich um und setzte sich auf, um ihn anzuschauen – was nicht einfach war, weil er nicht gefragt, sondern eine Anschuldigung gemacht hatte.
»Warum sollte das eine Rolle spielen?«
»Das spielt für alles eine Rolle«, sagte Ben. »Warum wurdest du eingestellt, Raj?«
Raj wirkte nicht nervös, bloß sauer. »Um genau das zu tun, was ich bisher getan habe. Deinen Stress am Ende des Tages zu lindern.«
»Mit allen erforderlichen Mitteln?«
Raj starrte ihn an. »Wir sind für heute fertig«, sagte er und drehte sich um, um wegzugehen.
Ben sprang von der Liege. »Ich glaube nicht, dass du das entscheiden kannst.«
Raj blieb kurz vor der Tür stehen und drehte sich zu ihm um. »Was willst du von mir, Ben?«
Das war eine explosive Frage. Die Antwort hatte so viele Konsequenzen, dass Ben ganz schwindelig wurde. Dass sich die Scythe dazu entschieden hatten, einen Partyboy für ihn einzustellen … Was hatten sie sich dabei gedacht? Nein, Ben wusste genau, was sie sich gedacht hatten. Verschiedene Gefühle feuerten durch Bens Kopf. Und durch seinen Körper. Aber alle ballten sich zu einer großen Wut zusammen.
»Was ich von dir will? Wenn sie dich dafür bezahlen, dann will ich es nicht.«
Sie starrten einander an.
Dann redete Raj: »Professionelle Partygänger sind nicht das, wofür du sie hältst«, sagte er.
»Gut. Dann erklär mir, wofür sie da sind.«
»Wir sind alle in unterschiedlichen Spezialbereichen ausgebildet«, erklärte ihm Raj. »Meine sind EuroSkandische Massage, ungezwungene Konversation und Pool Volleyball.«
Ben fiel nur diese Antwort darauf ein: »Hier gibt es aber gar keinen Pool.«
Rajs kalter Gesichtsausdruck verriet schon, was er gleich sagen würde: »Ich bitte die Agentur, jemand Neuen zu suchen. Ich kündige.«
Er versuchte, die Tür zu öffnen, doch Ben schoss vor und presste die Hand dagegen.
»Du kannst nicht kündigen«, sagte Ben.
»Natürlich kann ich das. Du hast mich beleidigt, aber meine Würde lasse ich mir nicht von dir nehmen.«
»Du kannst nicht gehen – sie werden dich nachlesen«, erklärte Ben ihm. »Sie haben die anderen auch alle nachgelesen!«
Raj drehte sich um – man sah ihm an, wie sehr er sich verraten fühlte, so dass Ben unwillkürlich zurückwich. Offenbar glaubte Raj, Ben stecke hinter dieser ganzen brutalen Intrige – und nicht die Scythe. Aber sie steckten dahinter! Sie ganz allein! Wie konnte Raj das nicht erkennen? Ben stürmte los, warf die Hände in die Luft und ließ seiner Wut freien Lauf, die jetzt ein besseres Ziel hatte als Raj.
»Verstehst du denn nicht? Sie kriechen dir in den Kopf! Dort wohnen sie. Sie manipulieren dich am laufenden Meter. Sie haben dich nicht wegen deiner Expertise ausgewählt, Raj – sie haben dich ausgewählt, weil sie wissen, was mir gefällt – wer mir gefällt. Wahrscheinlich haben sie eine Datenbank mit sämtlichen Boyfriends von mir und jedem Jungen, in den ich mal verknallt war. Und ich wette, so eine Datenbank pflegen sie auch über dich.«
Ben nahm sich einen Moment, um sich zu beruhigen, dann zwang er sich, Raj in die Augen zu blicken. Er sah, dass Raj immer noch verletzt war, immer noch wütend, aber genau wie Ben hatte er nun ein vernünftiges Ventil für seine Wut.
»Es tut mir leid, dass ich dachte, du würdest mit ihnen unter einer Decke stecken«, sagte Ben wehmütig und aufrichtig. »Das war arschig von mir. Sie benutzen uns beide.«
Raj antwortete erst nach einer Weile. »Und, was machen wir jetzt?«, fragte er schließlich.
»Wir gönnen ihnen nicht die Genugtuung, dass ihr Plan aufgeht«, erklärte ihm Ben. »Egal wie sehr wir uns nach etwas anderem sehnen.«
Scythe Coleman nörgelte immer weniger an Ben herum – und Ben fand es enorm befriedigend, wenn er sie besiegte. Dazu kam es immer häufiger, auch seine Note in der Kunst des Tötens verbesserte sich.
Bens Wut trieb ihn an. Die Scythe waren nicht die Einzigen, die intrigieren konnten. Er hatte jetzt seinen eigenen Komplizen.
»Wenn ich Scythe werde«, erklärte Ben Raj, »verleihe ich dir Immunität, damit sie dich nicht nachlesen können. Sobald ich den Ring trage, können sie mich nicht mehr aufhalten.«
Raj kam immer noch täglich in Bens Wohnung, um ihn zu massieren, doch das geriet manchmal zur Nebensache. Ab und zu redeten sie einfach, neckten sich vielleicht ein wenig – aber mehr geschah nie.
»Weil es echt sein muss«, beharrte Ben. »Und es kann nicht echt sein, solange wir wie zwei Tiere zusammen in Gehege gepfercht sind. Wir werden nicht für die Zoowärter performen.«
Und obwohl sie sich darin einig waren, arbeitete die menschliche Natur gegen sie – weil man immer das will, was man nicht haben kann. Obwohl Ben nie darüber sprach, wurden seine Gefühle für Raj stärker und stärker.
»Ich bin nicht hierhergekommen, um mich zu verlieben«, erklärte Raj Ben eines Tages – er war der Erste, der aussprach, was sie beide fühlten. »Das ist sehr unprofessionell für einen professionellen Partygänger. Wir sollten immun dagegen sein. Bin ich aber nicht, wie sich gezeigt hat.«
Jetzt hatte Ben einen noch persönlicheren Grund, für seinen Erfolg zu kämpfen, und eiferte nicht nur dem überlebensgroßen Bild seiner Schwester nach. Er musste für Raj zum Scythe werden. Er musste dafür sorgen, dass er in Sicherheit sein würde. Aber obwohl er Fortschritte machte, wurde ihm ständig gesagt, dass es nicht schnell genug ging.
Ganz offensichtlich wurden die Scythe, die mit ihm zusammenarbeiteten, immer ängstlicher. Laut Scythe Constantine hatte es etwas mit einer anstehenden Rettungsexpedition zu tun, bei der die Scythe-Diamanten vom Boden des Atlantiks geborgen werden sollten – die irgendwo in den versunkenen Ruinen der Endura lagen.
»Goddard hat den Plan, all diese Diamanten in seine Gewalt zu bringen«, erklärte Constantine Ben. »Und wenn er Erfolg hat, wird er über jedes Scythetum auf der ganzen Welt herrschen können. Umso mehr Gründe, dass sich alle Gegner Goddards um dich scharen, bevor das passieren kann.«
Sie betrachteten Ben nicht als Menschen, sondern als Punkt im Raum. Eine Singularität, die dem schwarzen Loch namens Robert Goddard trotzen sollte. Aber das könnte natürlich nur passieren, wenn Ben beim nächsten Konklave antreten durfte und ordiniert wurde.
Diese Dinge gingen ihm durch den Kopf, als er eines Tages Anfang August mit Scythe Coleman Sparring machte. Er hätte sich von seinen Gedanken ablenken lassen können, doch stattdessen fokussierten sie ihn, befeuerten sein zielstrebiges Verlangen, Raj zuliebe Erfolg zu haben.
Geschickt wich er dem Stab von Scythe Coleman aus, dann trat er sie so effektiv gegen den Kopf, dass sie nicht nur aus dem Ring flog, sondern auch der Länge nach in einer Ecke landete.
»Das hätte ich kommen sehen sollen«, sagte sie, und ihre Worte erinnerten Ben daran, wie Constantine gemeint hatte, die Scythe gingen mit sich selbst noch härter ins Gericht als mit ihm.
Coleman stand auf, und es dauerte einen Moment, bis ihre Naniten bei ihrer Prellung angekommen waren und ihr Gehirn entwirrten.
»Ich wollte dich noch fragen, wie es mit deinen Sitzungen mit Rajesh läuft?«
Es war das erste Mal, dass sie Raj überhaupt erwähnte. Ben hätte gar nicht gedacht, dass sie wüsste, wie er heißt. Aber andererseits: Natürlich kannte sie ihn.
»Ich wüsste nicht, was Sie das angehen würde«, sagte er, nur um zu testen, wie sie auf eine kleine Provokation reagieren würde – doch sie grinste ihn bloß durchtrieben an.
»Es ist okay, wenn du es anders siehst, aber wir sind nicht deine Feinde«, sagte sie. »Wir wissen, dass ihr euch angefreundet habt. Ich will dir nur sagen, dass wir das nicht missbilligen.«
Nein, natürlich missbilligten sie es nicht. Weil sie doch diejenigen waren, die ihre ›Freundschaft‹ arrangiert hatten. Es gab Zeiten, in denen Ben sich wünschte, er hätte ihre Pläne nicht durchschaut. Weil Unwissenheit für ihn wirklich ein Segen gewesen wäre.
»Jeder braucht etwas Zerstreuung«, sagte Scythe Coleman. »Scythe genauso wie alle anderen auch.«
Sie merkte es nicht, aber weil sie Raj als ›Zerstreuung‹ bezeichnet hatte, gab Ben bei der nächsten Sparring-Runde wieder alles und zerschmetterte mit seinem Stab sehr wahrscheinlich ihren linken Oberarmknochen. Eine Verletzung dieser Größenordnung würde nicht ohne eine Infusion mit Schnellheilnaniten wieder in Ordnung gebracht werden. Punkt für Ben!
»Deine Fähigkeiten beim Bokator werden immer weniger enttäuschend«, erklärte ihm Scythe Coleman und beendete die Sitzung. »Viel weniger enttäuschend.«
Aber dieses vergiftete Kompliment sorgte nicht dafür, dass er sich besser fühlte. Etwas an der ganzen Sache kratzte an seinem Unterbewusstsein. Wie ein Juckreiz – er konnte es einfach nicht in Ruhe lassen. Er und Raj hatten jetzt die Oberhand, nicht wahr? Sie hatten den Trick der Scythe durchschaut. Aber was war, wenn die Durchtriebenheit der Scythe an dieser Stelle nicht aufhörte? Was, wenn noch etwas anderes dahintersteckte? Eine tieferliegende Schicht, die Ben noch entdecken musste?
In dieser Nacht hatte Ben einen Traum. Er erinnerte sich nur selten an seine Träume – vor allem seit Beginn seiner Lehre –, weil er tagsüber keine Zeit hatte, um über solche Dinge nachzudenken.
Er träumte von Dem Tag . Als er ohne Vorwarnung oder Erklärung aus seinem Zuhause gerissen wurde, dann band man ihn an einen Stuhl und ließ ihn allein in einem Zimmer zurück. Bald darauf war seine Schwester gekommen. Er war zwar sehr verängstigt, aber zugleich überglücklich, sie zu sehen, weil er wusste, dass sie ihn bestimmt retten würde. Sie hielt ein Messer in der Hand. Ein scharfes. Aber er verstand immer noch nicht. Er dachte, sie würde damit seine Fesseln aufschneiden. Erst, als er die Tränen in ihren Augen sah, wusste er, warum sie gekommen war und was sie vorhatte.
Seine Schwester würde ihn umbringen.
Zu jener Zeit wusste er nicht, dass dies ihre letzte Prüfung für ihre Anerkennung als Scythe war.
Ben wurde einen oder zwei Tage später wiederbelebt, aber von diesem Augenblick an existierte seine Schwester nicht mehr. Denn sie war nun Scythe Anastasia. Selbst wenn sie zu Besuch nach Hause kam, spürte Ben, dass sie nicht mehr dieselbe war. Als sie ihm ein Messer ins Herz gerammt hatte, hatte sie sich in eine andere verwandelt.
Er träumte häufig von Dem Tag in den ersten Monaten, nachdem Citra zu Scythe Anastasia geworden war. Wenn einem die eigene Schwester das Leben nahm, verursachte das ein Trauma, gegen das selbst Stimmungsnaniten machtlos waren. Damit musste er sich ganz altmodisch selbst auseinandersetzen. Mit der Zeit war das Trauma verblasst, und der immer wiederkehrende Traum hatte aufgehört.
Jetzt hatte er zum ersten Mal seit vier Jahren wieder davon geträumt – nur dass der Traum dieses Mal ganz anders war. Dieses Mal hatte er die Position seiner Schwester eingenommen. Er war derjenige, der das Messer hielt und auf den Stuhl zuging. Und der Stuhl? Der war leer, aber er würde nicht lange leer bleiben. Und Ben wusste genau, wer dort sitzen würde.
Er wachte auf, seine Bettwäsche war schweißgetränkt – und er begriff, dass die Scythe ihn schon wieder ausgetrickst hatten.
Ben konnte seine Erkenntnis mit niemandem teilen – schon gar nicht mit Raj. Er war in einer völlig einmaligen Situation: Eigentlich wusste ein Scythe-Lehrling nicht, dass der Abschlusstest darin bestand, den Menschen zu töten, der einem am nächsten stand. Aber Ben hatte den Vorteil, dass er sich schon einmal auf der anderen Seite – vor der Klinge seiner Schwester – befunden hatte.
Würde er Raj töten können?
Nein, nicht töten , musste Ben sich vor Augen führen. Totenähnlich machen .
In einer unsterblichen Welt war totenähnlich gar nicht schlimm. Es war eine Unannehmlichkeit. Eine kleine Störung an einem ansonsten perfekten Tag. Und dennoch wusste Ben, dass er niemals im Leben etwas Schwereres tun würde – und genau darum ging es.
Andererseits bedeutete es auch, dass Raj vor dem Test nicht nachgelesen werden konnte – aber das war höchstens ein kurzfristiger Nutzen –, denn was war, wenn Constantine oder einer der anderen Scythe Rajs Tod endgültig machten, sobald der Test vorbei war? Jeder von ihnen könnte ihn als offizielle Nachlese geltend machen und auf die eigene Nachlesequote anrechnen. Und je mehr Ben darüber nachdachte, desto wahrscheinlicher wirkte es.
Weil es elegant war.
Schrecklich und brutal elegant. Es würde nicht nur etwas zum Abschluss bringen, sondern auch eine emotionale Bindung kappen – weil den Scythe solche Beziehungen nicht erlaubt waren.
»Scythe müssen die Menschheit lieben, nicht den individuellen Menschen«, hatte Scythe Hughes anfangs während einer Unterrichtsstunde in Scythe-Ethik erklärt. Das stand im neunten Gebot der Scythe: Du sollst weder heiraten noch dich fortpflanzen , und das wurde sehr weit ausgelegt und strikt angewandt. Keine Partner, keine Kinder, keine Ausnahmen. Ein Zölibat wurde nicht vorausgesetzt, aber emotionale Kastration. Ein Scythe konnte sein Bett mit jedem teilen – sein Leben allerdings mit niemandem.
Wie äußerst effizient, wenn der Geist der Liebe aus Bens Herzen geschnitten wurde, während er seine Klinge durch Rajs Herz stach.
Ben könnte sich weigern, es zu tun. Das Messer an diesem letzten, entscheidenden Tag seiner Lehre hinschmeißen. Würde er es bis zur Abschlussprüfung schaffen und an der Ziellinie ins Straucheln geraten? Er hatte nie Scythe werden wollen – aber es nicht zu wollen, war die wichtigste Voraussetzung. Was er wollte – und zwar schon seit Jahren –, war, aus dem Schatten seiner Schwester zu treten. Aber wenn er das tat, würde es auf Rajs Kosten sein.
Die einzige Möglichkeit lag darin auszusteigen, bevor es so weit kam. Entkommen. Es war dieser Gedanke an Flucht, der Ben nun weitermachen ließ. Ein Gedanke, den er irgendwie wahr machen würde. Das würde Planung, präzises Timing und Glück brauchen, aber es war nicht unmöglich.
Ben kannte nur seinen Wohnbereich, die Räume, in denen er seinen Unterricht hatte, und die Flure und Treppenhäuser, die sie verbanden. Aber Constantines Hang zur absoluten Kontrolle ließ vermuten, dass alle Angestellten – inklusive Raj – irgendwo in dem Gebäudekomplex untergebracht waren und nicht außerhalb. Ohne triftigen Grund würde er Raj nie finden können – und wenn er einfach nach ihm suchte, würde er Verdacht erregen. Er würde warten müssen, bis Raj zu ihm kam. Und das würde erst am nächsten Nachmittag sein.
An diesem Tag besiegte Ben Scythe Coleman immer wieder beim Bokator. Er bestand eine Prüfung über Gifte, bei der es sich eher um ein Verhör als um einen Test handelte. Und in Kunst des Tötens ging er schnell zur Offensive über und entwaffnete Scythe Austin – nahezu wortwörtlich.
»Der Unterscythe wird über deinen Fortschritt hocherfreut sein!«, sagte Scythe Austin, obwohl eine Krankenschwester gerade seine Wunden verband und ihm eine Infusion mit Heilnaniten verabreichte.
Zweifelsohne war Ben gerade in Topform, fokussierter und entschlossener als jemals zuvor. Die anderen kannten den Grund nicht – und er schien sie auch nicht zu interessieren. Ihnen waren nur die Ergebnisse wichtig. Das sorgte für einen blinden Fleck, den Ben unbedingt ausnutzen wollte. Er würde die von ihnen erlernten Fähigkeiten dazu verwenden, sich aus ihrem eisernen Griff zu befreien.
Raj kam zur üblichen Zeit an und bemerkte sofort, dass Ben sowohl voller Energie als auch nervös war.
»Was ist los?«
Dann, plötzlich und impulsiv, noch ehe Ben wusste, was er machen würde, küsste er Raj – danach hatte er sich schon wochenlang gesehnt.
»Ich … dachte, so etwas würden wir nicht machen … Hat sich etwas geändert?«, fragte Raj.
»Alles hat sich geändert«, sagte Ben. »Und wir müssen hier weg.«
»Was meinst du mit ›hier weg‹?«
»Genau das, was ich sage. Wir gehen. Hauen ab. Fliehen. Irgendwohin, wo sie uns nie finden werden.«
»Moment«, sagte Raj. Der plötzliche Richtungswechsel verwirrte ihn. »Sie werden uns finden, egal wohin wir gehen – sie sind Scythe.«
»Genau! Sie sind Scythe und nicht der Thunderhead. Sie sind fehlbar. Klar, sie werden versuchen, uns zu finden, aber das heißt nicht, dass sie es auch schaffen – und weil diese ganze Operation geheim ist, können sie die anderen Scythetümer nicht um Hilfe bitten, ohne zu verraten, was sie im Schilde geführt haben.«
Raj grinste, vielleicht ein wenig überrascht, vielleicht ein wenig nervös. »Also hast du das alles schon durchdacht, nicht wahr?«
»Du musst mir nur noch sagen, dass du dabei bist.«
»Bin ich … Aber deine Ausbildung ist fast vorbei. Und sobald du beim nächsten Konklave ordiniert bist, können wir überallhin gehen, wo wir wollen. Denn sobald du Scythe bist, können sie dich zu nichts mehr zwingen. Warum warten wir dann nicht?«
»Du verstehst es nicht!«
Ben merkte, dass Raj viele Fragen hatte, aber er stellte sie nicht. Stattdessen nahm sich Raj einen Moment, um sich zu sammeln, und entschied sich dazu, Ben sein ganzes Vertrauen zu schenken.
»Mein Zimmer ist zwei Stockwerke weiter unten. Nimm das nördliche Treppenhaus, dann die vierte Tür rechts. In der Nähe der Laderampe.«
Ben nickte; er wusste gar nicht, dass es überhaupt eine Laderampe gab.
»Jeden Donnerstag um sechs Uhr früh kommen Transporter. Ich weiß das, weil ich jedes Mal aus dem Bett falle … Die Lkw machen einen Riesenlärm und die Arbeiter auch. Sie wecken mich jedes Mal auf. Komm um sechs in mein Zimmer. Ich lass die Tür auf.«
»Damit kann ich arbeiten«, sagte Ben. »Ich bringe uns durch die Laderampe raus.«
»Vermassel es nicht. Denn wenn du es nicht schaffst, sind wir so gut wie nachgelesen.«
So fokussiert Ben auch gewesen war, es war für ihn wahnsinnig schwer, cool zu bleiben und sich im Unterricht nicht anmerken zu lassen, dass etwas in ihm brodelte. Sie waren so gut darin, Menschen zu lesen – oder zumindest ihn zu lesen. Er musste cool und am Ball bleiben – bis Donnerstagmorgen.
Am Mittwoch um Mitternacht stellte Ben das Thermostat, so hoch er konnte. Einige Minuten vor sechs war seine ganze Suite brütend heiß. Dann öffnete er die Tür zum diensthabenden Wachmann, der direkt vor ihm draußen auf dem Flur stand.
»Hey«, sagte er und tat so, als wäre er noch verschlafen. »Etwas stimmt mit dem Thermostat nicht.«
Der Wächter, der spürte, wie die Hitze aus dem Zimmer strömte, machte einen Schritt hinein, um sich die Sache anzusehen. »Ich sage jemandem Bescheid.«
Aber so weit kam es nicht. Als er im Inneren und außer Sichtweite der Flurkameras war, brach Ben ihm mit einer einzigen, gut einstudierten Bewegung das Genick – das hatte er vorher immer nur mit Übungs-Dummies gemacht. Bei einem echten Menschen war es einfacher. Zumindest physisch.
Ben schleppte den Wächter in die Wohnung und zog dessen Kleidung an. Sie hing an ihm herunter, aber als Verkleidung vor den Kameras, an denen er zwangsläufig vorbeimusste, reichte es aus.
Er ging zum nördlichen Treppenhaus und lief zwei Stockwerke runter. Er konnte auch das entfernte Rattern hören, als die Schleusen der Laderampen hochgezogen wurden. Jetzt lief die Zeit.
Ein weiterer Wächter stand direkt neben dem Ausgang vor dem Treppenhaus. Ben hielt den Kopf gesenkt, damit der Guard nicht direkt sein Gesicht sehen konnte.
»Du bist früh dran«, sagte er. »Die Schicht ist noch nicht vorbei.«
Ben bespritzte ihn mit Kontaktgift.
Er war totenähnlich, noch ehe er auf dem Boden aufkam.
Ben blickte hoch, er wusste, dass alles auf Kamera aufgenommen wurde, aber es ertönte kein Alarm. Wer auch immer hinter den Monitoren saß, schlief entweder oder war abgelenkt. Die Sicherheitskameras der Scythe waren glücklicherweise anders als die Kameras des Thunderhead. Denn während der Thunderhead jede einzelne Kamera simultan überwachte, verließ sich das Scythetum auf Sicherheitspersonal aus Fleisch und Blut – also war das ganze System anfällig für menschliche Fehler.
Rajs Zimmer lag am anderen Ende des Ganges. Ben drehte den Knauf. Es war offen, genau wie Raj prophezeit hatte. Ben drückte die Tür auf und freute sich darauf, Raj zu sehen – wach und erwartungsfroh. Aber als Erstes sah er Rot. Rot, das in den Augen schmerzte und genau die Farbe von Blut hatte.
»Wie enttäuschend«, sagte Unterscythe Constantine.
Ben erstarrte. Er dachte, er hätte sich mental auf jede Eventualität vorbereitet. Aber auf diese nicht.
»Von dir hätte ich mehr erwartet«, sagte Constantine. »Du hast es nicht einmal zum äußeren Zaun geschafft.«
»Was?«
»Wir hatten drei mögliche Ausgangspunkte für dich im Gebäudekomplex angelegt, Benjamin. Drei! Wenn du klug genug gewesen wärst, um dir in deiner Zeit hier eine Karte vom Komplex zu erstellen, hättest du genau gewusst, wo du bist. Du hättest es dann zur Umzäunung geschafft.«
Ben konnte nur noch stammeln: »Wa… Was erzählen Sie da?«
»Das war eine Prüfung, Benjamin. Wir wollten deinen Einfallsreichtum auf die Probe stellen. Du bist durchgefallen.«
Ben konnte seine Gedanken nicht anhalten. »Steckte Raj mit unter der Decke? War er …«
»Nein, Rajesh wusste nichts davon. Du kannst sicher sein, dass er dich nicht betrogen hat. Aber ich weiß genau, dass du den wahren Grund herausgefunden hast, warum er hier ist. Weil du ihn hintergehen solltest. Ich vermute, die Aussicht auf deine Abschlussprüfung ist der Grund, warum du fliehen wolltest.«
»Ich werde ihn nicht umbringen!«
»Wie es aussieht«, sagte Constantine, »musst du das auch nicht.«
Ben gefiel weder, wie Constantine sprach, noch was er für ein Gesicht machte. Oder, besser gesagt, was für ein Gesicht er nicht machte. Er sah völlig ausdruckslos aus. Weder Wut noch Enttäuschung. Es wirkte, als hätte Constantine Ben bereits abgeschrieben.
»Wo ist Raj? Wo ist er? «
Constantine machte sich nicht mal die Mühe zu antworten. »Bringen Sie Mr. Terranova zurück in seine Bleibe.«
Die beiden Scythe-Wächter, die hinter Ben standen, schnappten ihn. Er hätte sie abschütteln können. Ihnen den Hals oder die Knochen brechen können, oder was auch immer nötig war, um sie loszuwerden, aber wozu? Es standen noch mehr Wächter auf dem Gang, die ihnen zur Hilfe eilen würden. Egal was Ben auch tun würde, er konnte hier nicht entkommen.
»Es gibt viel zu besprechen«, sagte Constantine. »Wir unterhalten uns beim Frühstück. Um Punkt acht Uhr.«
Die Wächter zogen Ben weg, während er hörte, wie der Lieferwagen wegfuhr und sich die Lieferschleusen schlossen.
Früher, in der Sterblichkeitsära, stand den zum Tode Verurteilten eine letzte Mahlzeit zu, ehe sie dem Henker gegenübertraten. Ben wusste alles über Hinrichtungen. Bei der Kunst des Tötens ging es nicht nur darum, Waffen zu schwingen, sondern darum, deren Geschichte zu verstehen. Von Guillotinen über Erschießungskommandos bis hin zum elektrischen Stuhl – alles gehörte zum Lehrplan. Ben fragte sich, ob die sterblichen Todgeweihten sich genauso gefühlt hatten wie er, als er zum Frühstück mit Constantine geführt wurde.
»Setz dich, Benjamin. Das Essen ist schon da.«
Ben wollte nur wissen, was sie mit Raj angestellt hatten – und Constantine wusste es. Aber Ben hatte schon gefragt, und Constantine hatte ihn ignoriert. Wenn er noch einmal fragte, würde er Schwäche zeigen, und Ben wollte auf keinen Fall vor diesem Mann fragil wirken.
»Ich weiß, dass du nie hier sein wolltest«, erklärte er Ben, während er auf einem Stück Bacon herumkaute. »Obwohl du es endlich geschafft hast, bei deinem Training besser zu werden, ist klar, dass du nie mit dem Herzen dabei warst. Und ich kann das nachempfinden, wirklich.«
Der Gedanke, dass Constantine überhaupt Gefühle haben könnte, hätte Ben an jedem anderen Tag zum Lachen gebracht. Dieser Mann war nicht gerade das personifizierte Mitgefühl.
»Die Scythe, die dich unterrichten, wollen nur das Beste für dich.«
»Das ist eine Lüge«, sagte Ben. »Sie wollen das Beste für das Scythetum. Sie haben keine Ahnung, was für mich am besten ist, und es ist ihnen auch egal.«
Constantine seufzte. »Du hast recht«, gab er zu, »aber das spielt jetzt auch keine Rolle mehr.«
Jetzt sagt er es , dachte Ben. Er fragte sich, ob sie ihn einfach nach Hause schicken oder nachlesen würden, um damit die Spuren ihres Scheiterns zu verwischen.
»Du musst kein Scythe mehr werden«, sagte Constantine.
Ben hielt den Blick starr auf ihn gerichtet, er schaute nicht weg.
»Willst du nicht wissen, warum?«, hakte Constantine nach.
»Ist doch egal«, sagte Ben. »Kehre ich in einem Bus oder in einer Kiste nach Hause zurück?«
»Weder noch«, antwortete Constantine.
Ben blickte ihn an und meinte, er hätte ein Funkeln in den Augen des Scythe entdeckt. Irgendetwas erfreute diesen Mann. Ben wusste nicht, ob es aufrichtig oder sadistisch war. Schließlich erzählte ihm Constantine, was ihm auf der Seele brannte.
»Die Überreste deiner Schwester wurden gefunden.«
Das war das Letzte, womit Ben gerechnet hatte.
»Moment – es gab Überreste? Aber ich dachte –«
»Ja, wir dachten alle, sie wäre gemeinsam mit den anderen verschlungen worden, aber man hat ihren Körper intakt in einer luftdichten Kabine gefunden.«
Ben legte seine Gabel ab. »Wie intakt?«
Constantine konnte ein Grinsen nicht unterdrücken. »Sie wurde wiederbelebt, Benjamin. Und bald schon wird sie eine triumphale Rückkehr auf die Welt feiern!«
Ben merkte, dass er atemlos war, sprachlos. Diese Neuigkeiten waren ebenso schwer zu verarbeiten wie ihr Tod. Wie es bloß für seine Eltern sein würde! Wie es für ihn sein würde! Das waren wunderbare Nachrichten! Und dennoch …
Constantine lehnte sich in seinem Stuhl zurück und verschränkte enorm zufrieden die Arme. »Du kannst dich jetzt entspannen«, sagte Constantine, »weil du nicht mehr gebraucht wirst.«
Und das war’s dann. Die Ausbildung war vorbei. Die Unterrichtsstunden waren vorbei. Das ständige Tadeln fiel weg. Nach über einem Jahr, in dem ihm jeden Tag gepredigt worden war, wie schrecklich wichtig er war, war er praktisch nicht mehr vorhanden.
Genauso wie Raj. An diesem Tag tauchte er nicht auf, und Ben machte sich immer schlimmere Sorgen. Es gab keinen Grund, Raj nachzulesen, weil das Geheimnis um Bens Lehre nun kontrovers diskutiert wurde … aber es gab auch keinen Grund, ihn nicht nachzulesen.
Es gab eine oberflächliche Versammlung mit Bens Trainern, damit sie sich verabschieden konnten. Einige wollten es wohl einfach möglichst schnell über die Bühne bringen, aber andere – wie Scythe Hughes – wünschten ihm von Herzen alles Gute. Deswegen wandte sich Ben an ihn.
»Bitte, Scythe Hughes«, sagte Ben und versuchte, nicht zu flehen. »Können Sie mir erzählen, was sie mit Raj gemacht haben – meinem Masseur?«
»Er war nicht nur dein Masseur, glaube ich«, sagte Hughes und lächelte warmherzig.
»Dann verstehen Sie bestimmt, warum ich unbedingt wissen will, wo er ist und was sie mit ihm gemacht haben.«
Hughes seufzte. »Ich darf dir das wirklich nicht sagen«, meinte er und drückte fest seine Hand. »Tu alles, um ihn dir aus dem Kopf zu schlagen.«
Dann mischte sich Constantine ein. »Benjamin, es geht dich nichts an, was wir mit den Angestellten machen.«
Als Ben das hörte, wurde er fuchsteufelswild. Früher hatte er vielleicht noch keinen Killerinstinkt in sich getragen – aber das hatte sich geändert. Er hätte Constantine das Herz aus der Brust gerissen, wenn er gekonnt hätte.
»Sie sind ein Monster!«, sagte Ben. »Sie verdienen es nicht, Unterscythe zu sein. Sie verdienen es nicht, irgendwas zu sein. Und je eher Sie von der Welt verschwinden, desto eher wird die Welt zu einem besseren Ort.«
Constantine juckte das nicht. Er zog kaum die Augenbrauen hoch.
»Alles ist relativ, Benjamin. Mit Hilfe deiner Schwester werde ich versuchen, Goddard zu stürzen – eine wahre Quelle des Bösen in der Welt. Bin ich dann ein Monster? Oder bin ich ein Held?« Er dachte ernsthaft über seine eigene Frage nach. »Vielleicht bin ich keins von beidem.«
Sie ließen nicht zu, dass Ben nach Hause fuhr, weil es sein Zuhause nicht mehr gab. Constantin hatte – im Auftrag von Goddard – seine Eltern nachgelesen und kurz nach Beginn von Bens Lehre ihre kompletten Besitztümer konfisziert. Dann, als sie tot waren, hatte Constantine ihre Körper zu einem netzunabhängigen Revival-Zentrum gebracht und im Geheimen die Nachlese wieder rückgängig gemacht.
»Das war nötig«, erklärte Constantin ihm. »Die Nachlese musste in der Scythe-Datenbank protokolliert werden, sonst hätte Goddard Verdacht geschöpft.«
Jetzt versteckten sich Bens Eltern unter neuen Namen an einem Ort, den nicht einmal Constantin kannte.
Bei Ben, den man bei der Nachlese seiner Eltern zu Hause vermutet hatte, pfuschte Constantine ein wenig in der Datenbank des Scythetums herum. Es wurde protokolliert, dass er von zu Hause weggelaufen und dann in Antarktika irgendwo bei den Widerlingen untergetaucht war – das war so weit weg, es kümmerte Goddard nicht –, aber es würde ihn eben doch kümmern, sobald Citra ihre großartige Wiederkehr feierte.
Denn Ben würde eine erstklassige Geisel abgeben, damit sie den Ball flach hielt. Deswegen musste Ben jetzt ebenso spurlos verschwinden wie seine Eltern. So allein und unbekannt, wie es für einen Menschen möglich war.
»Du wirst sicher sein, dort, wo wir dich hinschicken«, erklärte Constantine ihm. »Und bald schon wirst du dein Leben genießen – wie es auch aussehen mag.«
Ben konnte sich nicht vorstellen, dass das jemals wahr werden würde, egal wie viele Hunderte Jahre er auch leben mochte.
Dann, bevor sich Constantine endgültig verabschiedete, drückte er Ben verstohlen einen Umschlag in die Hand und flüsterte ihm ins Ohr.
»Ich bin nicht das Monster, für das du mich hältst.«
Die Schönheit von St. Petersburg ließ Vasily Markov kalt. In diesen Tagen wirkte alles düster auf ihn.
Vasily Markow. Das stand in seinem Ausweis. Aber er fühlte sich immer noch wie Ben Terranova und wusste nicht, ob sich das jemals ändern würde. Wenn seine Schwester tatsächlich auftauchte und so weitermachte wie bisher, könnte er sich vielleicht aus seinem Versteck herauswagen und wieder seinen richtigen Namen annehmen. Sie hatte bereits mehrere augenöffnende TV -Sendungen gemacht und ein gleißendes Licht auf Overblade Goddard gerichtet. Vielleicht würde sie ihn stürzen. Vielleicht auch nicht. Ben fühlte sich so weit von der Welt der Scythe entfernt, er hätte sich ebenso gut in einem anderen Universum befinden können – und nicht nur am anderen Ende der Welt.
Und, wer war dieser Vasily Markov nun? Er studierte an der Universität von St. Petersburg klassische Literatur der Region. Wen kümmerte schon, dass Benjamin Terranova Puschkin nicht von Tschechow unterscheiden konnte. Er würde es schon lernen. Er würde sich anpassen. Ihm blieb nichts anderes übrig. Und er würde es vermeiden müssen, Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, weil dies Goddards Agenten hellhörig werden lassen könnte, die sehr wahrscheinlich auf der Suche nach ihm waren.
Die Region West Ruskaya hatte – ebenso wie die Mericas, Israebia und viele andere Orte auf der Welt – dunkle Augenblicke in ihrer Geschichte erlebt. Aber inzwischen war es auch nur noch das: Geschichte. Seiten in einem Buch über Altertumskunde. Nachdem der Thunderhead die Nationen aufgelöst hatte, schienen nur noch die herausragendsten Merkmale jeder Region durch. Ben hoffte, dass die Dunkelheit, die er erfahren hatte, auch in seinem Leben nur eine historische Fußnote sein würde. Aber das würde Zeit brauchen. Und Mühe. Und es war einfacher gesagt als getan.
Er hatte eine Wohnung mit Blick auf den Fluss Newa in einem lebendigen, quirligen Viertel. Und trotzdem: Er war schon einige Wochen dort und hatte noch niemanden kennengelernt. Er wartete auf den Drang, aber er spürte nur das Verlangen, das die Lehre in ihm entfacht hatte: mit Kugel, Klinge und Knüppel zu kämpfen. Leben zu beenden. Er war zum Scythe ausgebildet worden – und was war er nun? Nichts. Er war nicht einmal er selbst. Er dachte über Rowan Damisch nach. Hatte er sich so gefühlt, als ihm der Ring am selben Tag verwehrt wurde, als seine Schwester ordiniert wurde? Er merkte, wie er Rowan immer weniger hasste – insbesondere wo es jetzt so schien, dass Rowan Endura nicht versenkt hatte.
An einem regnerischen Dienstag schwänzte Vasily Markov den Unterricht und ging in die Eremitage. Nicht weil es ihn sonderlich interessierte, sondern weil er eine Karte für eine spezielle Gruppenführung hatte, an ebendiesem Tag. Das Ticket war ihm von dem karmesinroten Scythe in die Hand gedrückt worden, der so effizient sein Leben ausgelöscht hatte. Ben hätte das Ticket weggeworfen, wäre er nicht so neugierig gewesen.
Wie sich herausstellte, war es die beste Museumsführung, die Ben jemals erlebt hatte. Nicht nur weil das Museum so viele großartige Werke zeigte, sondern wegen des Führers. Er hieß Milan und wusste alles, was man über jedes einzelne Exponat des Museums wissen konnte.
Anschließend blieb Ben noch dort. Die Touristen gaben Milan ein großzügiges Trinkgeld. Ben hatte das auch vor, aber er stellte sicher, dass er der Letzte in der Schlange war.
»Das war eine sehr angenehme Überraschung«, sagte Ben zu ihm.
Milan war ebenso elegant und zuvorkommend wie bei der gesamten Führung. Aber sonst nichts.
»Danke, Vasily«, sagte Milan, was Ben überraschte.
»Du weißt, wie ich heiße?«
Milan lächelte ein wenig verlegen. »Dein Namensschild«, sagte er.
»Ah, stimmt.« Und als Raj verstanden hatten, dass Ben den Moment in die Länge zog, sagte Ben, was er schon seit seiner Ankunft im Museum loswerden wollte – seitdem der Guide sich vorgestellt hatte.
»Ich vermisse dich, Raj«, sagte Ben.
Milan blickte ihn an, und kurz dachte Ben, er könnte aus seiner Rolle fallen. Vielleicht sogar Ben umarmen. Doch stattdessen sagte er: »Wenn ich wüsste, wer das ist, würde ich ihn vielleicht auch vermissen.«
Ben lächelte ihn melancholisch an. »Entschuldige, ich habe dich mit jemandem verwechselt.«
»Passiert schon mal«, sagte Milan. »Ich freue mich, dass dir die Führung gefallen hat.«
Supplantation war nicht nur eine Wissenschaft, es war eine Kunst. Wenn der Thunderhead es machte, geschah es nie ohne Erlaubnis des Individuums, und anschließend wurde der neuen Persona immer erzählt, dass die eigenen Erinnerungen gerade ersetzt worden waren. Aber wenn Scythe es taten, folgten sie solchen Regeln nicht. Soweit Milan, der Museumsführer, wusste, war er immer schon Milan, der Museumsführer aus irgendwo in West Ruskaya gewesen, mit Erinnerungen an seine Kindheit, passend zu seiner Geschichte. Er kannte es nicht anders. Er wusste nicht, dass er einmal jemand anderes gewesen war. Aber wie viel von einem wird durch Supplantation verändert? Es ändert, für wen du dich hältst, aber ändert es auch, wer du wirklich bist, bis ins tiefste Innere?
»Vielen Dank noch mal, Milan.« Ben drehte sich um, bevor die Tränen in seinen Augen zu offensichtlich wurden. Diese Tränen waren so ambivalent. Er wusste, dass Raj fort war, aber auch, dass er noch nicht nachgelesen worden war. Er war jemand anderes, aber er lebte.
»Ich bin nicht das Monster, für das du mich hältst«, hatte Constantine gesagt. Dennoch hasste Ben Constantine aus irgendeinem Grund nicht weniger.
Als Ben zum Hauptausgang ging, spürte er einen sanften Händedruck auf seiner Schulter. Er merkte, wie die Fingerspitzen ganz sanft Druck ausübten und die Spannung in seinem Nacken nachließ. Ben lächelte, weil er diese Berührung kannte – er musste sich gar nicht umdrehen. Muskelgedächtnis – wenigstens das konnte nicht ausgelöscht werden.
»Vielleicht möchtest du noch eine ganz private Führung, Vasily? Nur wir beide. In der Eremitage sind mehr Meisterwerke ausgestellt, als man an einem einzigen Nachmittag sehen kann. Es wäre mir eine Ehre, sie dir alle zeigen zu dürfen.«
Ben sah seinen warmen Blick und staunte darüber, wie schnell sie von Fremden zu etwas mehr als Fremde geworden waren.
»Das fände ich schön«, erklärte ihm Ben. »Das fände ich sehr schön.«
Und wer weiß? Vielleicht würde Vasily Milan sogar besser kennenlernen, als Ben Raj jemals kennengelernt hatte.