Kapitel 11: Hartnäckige Erinnerungen

Co-Autor*innen Jarrod Shusterman und Sofía Lapuente

Im Herzen Barcelonas, unter den gewaltigen Türmen der Sagrada Família, wohnte ein Scythe, dessen Name durch die ganze Stadt geisterte. Ein Name, mit dem Furcht und geheimnisvolle Intrigen verbunden waren. Ein Name, der geflüstert wurde. Immer nur geflüstert.

Man hätte denken können, dass die großartige Kathedrale – deren Fertigstellung in der Sterblichkeitsära über hundert Jahre gedauert hatte – das Zuhause seines Namenspatrons war – dem Ehrenwerten Scythe Gaudí. Doch das stimmte nicht. Dort wohnte Scythe Dalí – und zwar aus purem Trotz. Es war tief verwurzelte, andauernde Gehässigkeit, die ebenso unvergänglich und unsterblich war wie er.

Scythe Dalí wurde häufig auf der La Rambla gesehen, der prachtvollsten Straße Barcelonas, in einer Seidenrobe, blauer als der Himmel, mit goldfarbenen Fäden – wie auf den Gemälden seines Historischen Patrons. Diese Farbtöne brachten ein seltsames und traumähnliches Licht in die Welt. Und bei Sonnenuntergang stand Dalí häufig in den engen, gepflasterten Gassen zwischen den hoch aufragenden Türmen der Kathedrale und blickte auf die Massen hinab. Dabei strich er sich über den Schnurrbart, der über seinen Lippen hing wie die Arme einer Gottesanbeterin, während der Scythe über sein nächstes Opfer nachdachte. Scythe Dalí betrieb nicht bloß Nachlese. Er erschuf etwas. Er fälschte. Er gestaltete. Jede einzelne Nachlese war ein surreales Meisterstück. Wie sein Historischer Patron stets gepredigt hatte: »Ohne Wahnsinn gibt es keine Kunst.« Und weil der Thunderhead Verrücktheit aus der Welt ausgelöscht hatte, entschied Scythe Dalí sich dazu, die Verrücktheit selbst zu verkörpern.

 

»Wird es sehr weh tun?« Die Stimme der jungen Braut zitterte, während sie die Hand des Bräutigams umklammerte; ein großer, schlanker Mann von natürlicher Jugendlichkeit, dessen Beine bebten, als würde er auf schwankenden Stelzen stehen.

»Euer Tod wird kurz und schmerzlos sein«, versicherte ihnen Scythe Dalí. »Und falls doch nicht, werden eure Schmerznaniten das Schlimmste betäuben. Keine Angst.«

Die Kirchenbänke der Kapelle auf dem Berg waren voller Zuschauer. Alle trugen zu dem Anlass festliche Masken. Mit Juwelen behangene Pestärzte und gefiederte Harlekine des Venezianischen Königshauses. Die Menschen, die bei der Trauzeugenlotterie gewonnen hatten, waren von Scythe Dalí angewiesen worden, sich für die Hochzeit wie für eine Karnevalsmaskerade auszustaffieren. Das war alles Teil der Atmosphäre. Alles Teil der Show.

Auf dem Altar stand eine Hochdruckverbrennungskanone, die mit zwölf Kilo verpresster Kohle befüllt war. Wenn sie abgefeuert wurde, setzte sie einen Schwall aus stark erhitzter pyroklastischer Asche frei, die jedes Lebewesen in ihrem Umfeld in Sekundenschnelle verbrannte – deswegen wurde das Publikum von hitzebeständigem Glas geschützt.

»Ihr werdet heute unsterblich gemacht«, erklärte Dalí dem jungen Paar. »Eure verbrannten Überreste werden in einer unvergänglichen Hülle aus Silikatasche eine Hommage an die vulkanischen Winde Pompejis darstellen. Betrachtet euch als postmortale Interpretationen von Romeo und Julia

»Wir sind nicht ›postmortal‹, wenn wir heute sterben müssen«, erdreistete sich der Bräutigam zu sagen.

»Ja, nun«, stimmte Dalí zu, »aber der Rest von uns ist es.«

Der Bräutigam schluckte seine Angst runter, und sein Trauzeuge trat einen Schritt vor. »Du schaffst das«, sagte sein Freund zu ihm. »Denk einfach daran, dass es eine große Ehre ist. Und dass man sich immer an euch erinnern wird.«

Das Paar schaute sich an und nickte – als hätten sie irgendeine Wahl.

»Eure Leben werden im allerglücklichsten Moment enden«, dozierte Dalí. »Was könnte denn noch edler sein? Noch perfekter?«

Für Dalí bedeutete dies den Gipfel der Zufriedenheit. An diesem Tag, in dieser idyllischen, historischen Kapelle, würde er einen besseren Ort aus der Welt machen, indem er sie mit Kultur bereicherte. Die Nachlese würde in genau dem Moment stattfinden, wenn sich die Lippen berührten – in ebender Millisekunde, nachdem er sie zu Mann und Frau erklärt hatte –, weil er ihnen höchstpersönlich die Ehre erweisen würde, sie zu vermählen.

Die Bühne war bereit, und alles, das nicht von der Druckwelle der Asche erfasst werden würde, war vorgeschmolzen worden. Die Plastikgummibäume links und rechts neben dem Paar waren zu dunklen Haufen zusammengesackt, die ausgehärtet waren und an finstere Monster erinnerten, die die Treppe hochkrochen. Signierte Gemälde waren gegen die Wände geschleudert und tropfende Buntglasfenster waren zu einem bunten Farbklecks zerlaufen. Solche Leitmotive lieferten ihm reichlich Gesprächsthemen bei Ausstellungen und Cocktailpartys. Er musste nur noch den Mittelpunkt seines Grand Tableau fertigstellen. Und das Publikum heute war ausgelassen, jubelte und brüllte wie im Zirkus. Niemand hatte noch Respekt vor wahrer Kunst.

Für Dalí war Nachlese die reinste, wertvollste Form der Kunst. Er hatte sich von den Techniken aus der Sterblichkeitsära inspirieren lassen. Das Zeitalter des Barock hatte eindringlich gezeigt, dass diese Welt zugleich voller Schmerz und Erhabenheit war. Der Expressionismus offenbarte die Essenz des menschlichen Geistes, und die Moderne Kunst legte dessen Absurdität offen.

Dalí war sehr häufig in den Louvre gegangen, um über den größten Schatz dort nachzudenken – und als Scythe musste er sich nicht mit allen anderen Menschen in der Schlange anstellen. Man ermöglichte ihm sogar eine Stunde allein mit dem Gemälde – er hatte die gesamte Galerie für sich. Af Klint in Kontemplation über Sapphos Ende . Ein Meisterwerk, das auf der ganzen Welt als letztes Kunstwerk aus der Sterblichkeitsära angesehen wurde. Ein Gemälde, das sowohl die Melancholie als auch die Freude der Transition in die Unsterblichkeit ausdrückte.

Aber jetzt, in einer Welt ohne Leid – welche Leidenschaft konnte den Künstler noch inspirieren? Welche Farben auf der Leinwand? Vom Tod allerdings konnte nicht einmal der Thunderhead mit all seinen Billionen Zettabytes perfekter Gedanken die Menschheit jemals erlösen. Deswegen hatte Dalí geschworen, aus jeder Nachlese ein Meisterwerk zu machen. Und dieses hier würde sein Opus magnum sein.

Die Zeremonie verlief so, wie solche Dinge immer verlaufen, der Vater übergab unter Tränen die Braut. Schließlich wurde das Eheversprechen geschlossen, und Scythe Dalí segnete sie.

»Aldo und Pilar, ich erkläre euch hiermit zu Mann und Frau. Sie dürfen die Braut küssen.« Dann schlüpfte Dalí hinter seinen eigenen Hitzeschild und ließ seine Verbrennungskanone hochfahren. Sie sprang mit einem Zischen an, und die Leute auf den Kirchenbänken atmeten erwartungsvoll ein.

Doch noch ehe er abdrücken konnte, gingen sämtliche Lichter aus, und die Kanone schaltete sich ab.

Eine durchgebrannte Sicherung? Was für ein schreckliches Timing! Solche Ausfälle gab es eigentlich schon seit langer Zeit wegen zahlreicher Innovationen nicht mehr, aber alte Bauwerke, wie diese Kapelle, hielten noch an ihrem maroden Charme fest.

»Alles ist in Ordnung«, sagte Dalí. »Nur eine kleine Störung. Bitte bleibt alle auf euren Plätzen.«

In solchen Momenten sehnte er sich Assistenten herbei – aber er verabscheute zugleich den Gedanken, nicht alles allein zu machen. Er ging durch die Hintertür, um das technische Problem zu lösen – vermutlich war ein Sicherungsschalter rausgesprungen. Als er jedoch wieder durch die alten Holztüren in die Kapelle trat, entdeckte er, dass das Paar verschwunden war.

Seine Probanden hatten ihn am Altar verlassen.

»¡No puede ser!«, rief er. »Das kann doch nicht sein!«

Er blickte in das Publikum hinter dem Schutzglas. Alle trugen noch ihre Karnevalsmasken, aber inzwischen war der einzige Grund folgender: Niemand wollte sein Gesicht zeigen.

»Wo sind sie hin?«, fragte Scythe Dalí die Menge.

Viele waren vor Schreck erstarrt, aber einige zeigten auf den offenen Eingang der Kapelle.

Subjekte, die nachgelesen werden sollen, laufen von Zeit zu Zeit einmal weg und werden – so schreiben es die Regeln des Scythetums vor – dafür bestraft, indem der Rest der Familie gemeinsam mit ihnen nachgelesen wird. Er wandte sich an die Eltern der Braut, die ihre Hände hochhielten, als wollten sie sagen: »Wie soll man die jungen Leute bloß verstehen?«

Dalí starrte sie finster an. »Ihre Tochter hat heute Ihren Leben ein Ende gesetzt. Das wissen Sie, nicht wahr?«

Sie blickten zu Boden und nickten traurig ergeben. Er überlegte, es direkt zu erledigen, entschied aber, dass die Tochter dabei sein sollte. Sobald er sie und ihren baldigen Ehemann aufgespürt hatte … Wie egoistisch, wie dumm! Das Paar hatte Ruhm gegen Schande und einige Minuten mehr Leben getauscht.

Dalí wandte sich an die Menge. Niemand lachte – aber er hörte Gelächter. Heute wurde er zum Narren gehalten, sein Meisterwerk wurde zerstört, der herrliche Tod lag als Totgeburt vor seinen Füßen.

»Haut ab!«, befahl er der Menge. »Geht mir aus den Augen, bevor ich jeden von euch einzeln nachlese.«

Das ließen sie sich nicht zweimal sagen. Die Kirchenbänke waren innerhalb von Sekunden wie leer gefegt.

Als er allein war, erlaubte er sich einen Tobsuchtsanfall. Er schrie und riss einen geschmolzenen Kronleuchter von einer Tischkante – wie ein Bündel Silberschlangen hing er da – und schmiss ihn durch den Raum. Er trat seine Kanone um, warf die rausgefallenen Kohlestücke gegen das Buntglasfenster und zerstörte das, was noch nicht geschmolzen war.

Das war kein Zufall gewesen.

Der Strom war nicht einfach so ausgefallen. Jemand hatte die Flucht des Pärchens geplant. Und Scythe Dalí wusste genau, wer dahintersteckte.

***

Im Herzen Barcelonas, im üppigen Park Güell, lebte ein Scythe, der ins alte Gärtnerhäuschen eingezogen war. Ein Scythe, dessen Name den Leuten ein Lächeln auf die Lippen zauberte.

Im Gegensatz zu Scythe Dalí trug er keine auffällige Robe. Er war mit einer alten Wolltunika in natürlichen Erdtönen gekleidet. Seine tiefgründigen, nachdenklichen Augen blickten in ein Buch aus der Sterblichkeitsära, die Hand strich gedankenverloren über einen ergrauenden Bart – denn obwohl er sich auf jedes Alter hätte resetten lassen können, blieb er immer respektable sechzig. Er war der Meinung, dass niemand mehr als einmal Jugend verdiente, schon gar nicht ein Scythe. Wenn er nicht unterwegs war und seine heilige Aufgabe der Nachlese ausführte, konnte man ihn in den Gärten des Park Güell antreffen, wo er mit der Geduld eines Heiligen Blumen anpflanzte. Denn, wie er häufig sagte, am wichtigsten war Liebe, und dann erst kam die Technik. Das war eine Philosophie auf Grundlage der Lehre seines Historischen Patrons.

Er las nie in dem weitläufigen Park Güell nach. Jeder wusste, dass der Park ein sicherer Rückzugsort für die Besucher war – und die kamen in Scharen. Der Ehrwürdige Scythe mischte sich unter die Spaziergänger, die die berühmten Mosaikskulpturen betrachteten: skurrile, an Süßwaren erinnernde Gebilde, erschaffen von seinem Historischen Patron. Er lächelte Kinder an, und diese lächelten zurück, dann fragten sie ihre Eltern, wer denn dieser seltsame Mann war, der sich hatte alt werden lassen.

»Das ist Scythe Gaudí höchstpersönlich«, flüsterten sie.

Sie flüsterten immer.

Heute jedoch hatte Scythe Gaudí einen Einsatz, der ihn aus seinem geliebten Park wegführte.

Westlich der Stadt lag ein kleines Cottage – dort wollte ein frisch vermähltes Paar seine Flitterwochen verbringen. Gaudí wartete im Rosengarten auf sie, als beide erleichtert und völlig aufgelöst ankamen. Sie schauten sich über die Schultern, fühlten sich verfolgt, aber niemand war da. Scythe Gaudí wusste, dass Scythe Dalí sich nicht die Mühe gemacht hatte herauszufinden, wo die beiden nach der Hochzeit hinfahren wollten, weil Dalí es ganz sicher als unerheblich betrachtete – seine Nachlese würde schließlich alle weiteren Pläne zunichtemachen.

»Setzt euch bitte«, sagte Gaudí, als er sie im Innenhof willkommen hieß. »Ich habe Churros und die feinste Trinkschokolade von ganz Barcelona für euch.«

»Vielen Dank, Euer Ehren«, sagte der junge Mann, und sie nahmen Platz.

»Ihr könnt mich Antoni nennen«, sagte Gaudí, dann schenkte er ihnen behutsam die seidige, reichhaltige Flüssigkeit ein.

Ehemann und -frau nahmen sich an den Händen. »Vielen Dank für alles, was Sie für uns getan haben. Dass Sie uns aus Scythe Dalís schrecklicher Show befreit haben.«

Gaudí seufzte. »Ich wünschte, ich könnte euch Immunität verleihen – und ein Jahr Eheglück –, aber Regeln sind Regeln. Jedoch schreibt kein Gesetz vor, dass eure Nachlese spektakulär sein muss.«

»Wie werden Sie vorgehen?«, platzte die Braut heraus.

Statt einer Antwort pflückte Gaudí eine Rose und reichte sie ihr. Ein winziges Spinnennetz hing zwischen den Blütenblättern.

»Ihr könnt darauf vertrauen, dass das alles Teil eines großen Ganzen ist«, erklärte er dem Paar. »Es fügt sich ein in das Muster organischer Schönheit, das immer schon alle großen Denker fasziniert hat. Es ist der Grund dafür, warum Rosenblüten dem Auge so sehr schmeicheln; der Grund, warum Meeresmuscheln im Inneren eine perfekte Spirale aufweisen, so dass man darin sein eigenes Blut rauschen hört. Und es ist der Grund, warum jede Gartenspinne weiß, wie sie ihr Netz weben muss.«

Sanft legte die Frau die Rose auf den Tisch und nippte an ihrem Kakao, der ebenso tröstend und beruhigend wirkte wie Gaudís Stimme.

»Die Fibonacci-Zahl«, sprach Gaudí weiter, »ist von einer Art göttlichen Symmetrie, die es schon gegeben hat, bevor Menschen einen Fuß auf diese Erde gesetzt haben.«

»Aber Sie haben unsere Frage nicht beantwortet, Euer Ehren«, sagte der Bräutigam. »Wie werden Sie uns nachlesen?«

Gaudí lächele sie verständnisvoll an. »Das habe ich doch schon«, sagte er.

Die beiden blickten auf die Tassen in ihren Händen.

Das Gift war nicht dem Getränk beigemischt, sondern vorsichtig auf den Rand aufgetragen.

Die beiden erblassten. Ihre Hände zitterten, aber nicht vom Gift, sondern aus Angst.

»Es wird nicht weh tun«, erklärte Gaudí ihnen. »Ihr dürft euch nun in euer Ehebett zurückziehen. Eure Vereinigung vollenden. In den Armen des anderen einschlafen. Und morgen früh werdet ihr einfach nicht mehr aufwachen.«

Und so ging das Paar mit Tränen in den Augen und Hand in Hand ins Zimmer und schloss die Tür hinter sich.

Doch kaum war die Tür zu, fiel ein Ziegel vom Dach und zerbarst auf der Terrasse. Und dann rief eine Frauenstimme vom Nachbar-Cottage.

»Hey! Was machst du denn da oben! Komm runter, bevor du dir noch weh tust.«

Die Füße des sechzehnjährigen Mädchens auf dem Dach traten um sich und lösten noch einen Ziegel. Sie schlitterte nach unten und schaffte es, sich am Rand des Daches festzukrallen, so dass sie nicht mit voller Wucht runterfiel, dann plumpste sie mit einem Aufschrei von der Regenrinne in die Rosen. Zerkratzt und blutend kroch sie heraus.

Die rundliche Frau vom Nachbar-Cottage rannte in ihrer mehlbefleckten Schürze hinüber. »Spinnst du!«, rief sie. »Versuchst du, dich totenähnlich zu machen?«

Dann erst entdeckte sie Gaudí und sah so schockiert aus wie alle, die unerwartet auf einen Scythe trafen.

»Euer Ehren! Es tut mir so leid, ich habe Sie gar nicht gesehen.« Mühsam vollführte sie einen tiefen Knicks, und ihr fiel dabei ein Klumpen Mehl von der Schürze.

»Keine Angst, Señora, Ihnen droht heute keine Nachlese.« Dann wandte Gaudí sich an das Mädchen. »Da hast du ja einen ganz schönen Auftritt hingelegt, Penélope. Du hättest die Naniten dieser armen Frau fast zur Herzwiederbelebung gezwungen.«

»Ich freu mich auch, dich zu sehen, Onkel Antoni.«

»Also bist du mir wieder zu meiner Nachlese gefolgt.«

Wie immer war Penélope ganz in Schwarz gekleidet, doch trotz der pechschwarzen Umrundung ihrer Augen konnte kein Eyeliner der Welt das Strahlen dieser Augen verdunkeln.

»Perdoname, Onkel Antoni.«

»Entschuldigen kann man sich immer nur beim ersten Mal.« Doch Scythe Gaudí war eher belustigt als wütend.

Das bemerkte Penélope, lächelte schelmisch, schnappte sich dann einen Churro vom Tisch und aß ihn.

»Und woher weißt du, dass ich kein Gift in die Churros gemischt haben?«

Penélope zuckte die Schultern. »Selbst wenn du das gemacht hättest, würde ich doch schnell genug wiederbelebt.«

In genau diesem Moment stürzte sich die Bäckerin mit einer für ihr Alter erstaunlichen Beweglichkeit auf Gaudí, schnappte seine Hand und küsste den Ring, ehe er sie davon abhalten konnte.

»Danke, Euer Ehren!« Dann eilte sie zurück in ihr Cottage, noch ehe Gaudí etwas sagen konnte.

Er seufzte, und Penélope blickte finster drein. »Das lässt du ihr durchgehen? Dass sie sich von dir Immunität klaut?«

Gaudí zuckte die Schultern. »Ich kann es ja ohnehin nicht rückgängig machen«, sagte er. »Außerdem bekommt man alles zurück. Ich bin mir sicher, dass ihr sehr bald etwas Wichtiges genommen wird. Und egal was das auch sein mag, sie wird es vermutlich mehr vermissen als ich die gestohlene Immunität.«

Penélope verdrehte die Augen wegen dieser in ihren Augen leeren Plattitüde. Aber sie war nicht leer. Genau so sah Gaudí das Leben. Und den Tod.

Penélope drehte sich um und betrachtete die geschlossenen Fensterläden des Cottages, hinter denen das junge Paar seine letzten Stunden verbrachte. »Ich frage mich immer, was aus ihnen wird, wenn sie weg sind«, sagte sie.

»Das weiß nur der Thunderhead«, antwortete er. »Oder vielleicht weiß er es auch nicht. Einige behaupten, ihre Seelen würden gemeinsam mit ihren Erinnerungen hochgeladen, damit ein Teil von ihnen im System weiterlebt. Andere sagen, es ist so, als würde man eine sehr lange Siesta machen, aber nicht wissen, ob man noch einmal aufwacht.«

»Man sagt, der Tod ist der Bruder des Schlafes«, bot Penélope an.

»Dann lass dich von ihm nachts nicht wach halten.« Gaudí drückte ihr einen Kuss aufs wilde schwarze Haar. Dann legte er den Arm um sie. »Komm, wir sollten die Frischvermählten allein lassen. Und wenn dich der Tod derart fasziniert, kannst du mich gern auf ihre Beerdigung begleiten, wenn ich alles erledigt habe.«

***

»Du steckst dahinter, das weiß ich! Streite es bloß nicht ab!« Scythe Dalí stürzte auf Gaudí zu, während dieser ganz entspannt in seinem Kräutergarten arbeitete. »Du hast mein Meisterstück ruiniert«, sagte Dalí und zeigte mit dem Finger auf ihn.

Gaudí arbeitete weiter im Garten. »Du wirkst beunruhigt, Salvador. Hast du Interesse an meinen beruhigenden Kräutern?«

»Du gibst es nicht zu?«

»Ich war gar nicht in der Nähe der Kathedrale.«

»Aber du hast Verschwörer!«

»Ah«, sagte Gaudí und reichte Dalí ein Bündel gelbe Kamillenblüten. »Du meinst bestimmt Freunde. Ich weiß, mit diesem Konzept kannst du nichts anfangen.«

»Treib keine Spielchen mit mir, Antoni! Ich bin mir sicher, dass du dahintersteckst, wie auch beim letzten Mal und dem Mal davor!«

»Nun, letztes Mal wolltest du öffentlich die genetische Erbin eines alten Königshauses aus Franko-Iberia nachlesen. Mein Gewissen ließ mir keine andere Wahl – ich musste das Leben des armen Mädchens beenden, bevor du ihre Nachlese in ein öffentliches Spektakel verwandeln konntest. Und auch dieses andere Mal – du wolltest einen mit goldenen Federn bedeckten Piloten vom Dach werfen.«

»Das war dramatische Ironie!«, wütete Dalí.

»Genau«, sagte Gaudí und wurde nicht mal ein bisschen laut. »Und wie ironisch ist es bitte, dass er tot war, ehe du ihn vom Dach gestürzt hast?«

»Es ist mein Privileg als Scythe, so nachzulesen, wie es mir beliebt!«

Gaudí konnte sich ein durchtriebenes Grinsen nicht verkneifen. »Stimmt, aber kein Gesetz hält mich davon ab, deine Subjekte zuerst nachzulesen.«

Dalí blickte auf die Kräuter in seiner Hand, als würde er sie gerade erst bemerken, und schmiss sie auf den Boden. Er rannte weg, doch er kehrte schnell wieder zurück. »Damit kommst du nicht durch! Ich werde mich beim Konklave über dich beschweren!«

Doch Gaudí lachte bloß. »Und was werden sie deiner Meinung nach tun? Mich dafür rügen, dass ich unsere heilige Aufgabe der Nachlese nicht der Lächerlichkeit preisgebe? Das glaube ich nicht, mein Freund.«

»Ich«, knurrte Dalí voller Groll, »bin nicht dein Freund!«

»Wie ich schon gesagt habe, verstehst du das Konzept wahrscheinlich nicht«, sagte Gaudí. »Aber, meiner bescheidenen Meinung nach, bist du sehr wohl mein Freund.«

Als Reaktion darauf schnappte sich Dalí eine Mistgabel, die am Zaun lehnte. »Dieses Ding nehme ich mit zum belebtesten Ort deines geliebten Parks«, sagte Dalí, »und ich werde damit einfach jeden nachlesen, der mir beliebt. Das wird blutig werden. Das wird hässlich werden. Und der Park Güell wird anschließend nicht mehr derselbe sein.«

Scythe Gaudí machte einfach mit seiner Gartenarbeit weiter. »Tu, was du nicht lassen kannst«, sagte er, weder boshaft noch wertend.

Scythe Dalí rauschte davon – doch schon hinter dem Tor rammte er die Mistgabel in den Boden – ihm war die Lust auf Nachlese vergangen.

Während der ganzen Aktion hatte keiner der Scythe bemerkt, wie Penélope aus dem Fenster der bescheidenen Hütte schaute, die Gaudí als sein Zuhause bezeichnete, und alles beobachtet hatte, was sich zwischen den beiden abspielte.

Jeder große Künstler entwickelt sich etappenweise, und es sind diese Etappen, die den Schöpfer zu dem machen, der er ist. Ich stamme aus einer Familie, die Kunst weder schätzte noch verstand. Mein Vater schaute sich die Sonnenblumen von van Gogh an und fragte sich, warum man die echten Blumen nicht hyperanpflanzen sollte, damit sie einfach auf dem Esstisch erschienen. Deswegen hat mich der Kampf gegen die Banalität zu meiner wahren Familie geführt: den Künstlern von damals – meine spirituellen Vorfahren, deren Arbeiten eine große Rolle in den Museen der Welt spielen. Da Vinci, Vermeer, O’Keeffe und Ong. Ihre Leidenschaft für Schaffenskraft fließt in meinen Adern und tropft aus den Adern derjenigen, die ich nachlese.

In der Sterblichkeitsära war alles anders. Kunst war beseelt, weil sie immer eine Relevanz hatte. Es gab keinen Thunderhead, der hungernde Künstler durchfütterte. Es gab keine Naniten, die den Drang linderten, sich das Leben zu nehmen. Der ganze Schmerz und das Leid wurden in Leidenschaft verwandelt, und Schönheit breitete sich über jede Leinwand aus – so wie die Erde Schmutz in herrliche Sonnenblumen verwandelt.

Durch Nachlese verwandele ich Leid in ein Meisterwerk. Das war mein Versprechen an meine spirituellen Vorfahren: Die einzige Farbe auf der Leinwand meines Lebens würde blutrot sein.

 

Aus dem Tagebuch des Ehrwürdigen Scythe Dalí

Dalí durchschritt die oberen Ränge der La Sagrada Família, sein Zorn glich einer kochenden Blase, die man in der ganzen riesigen Kathedrale spüren konnte. Vielleicht , dachte er, könnte ich eine Party schmeißen, um mich aufzuheitern. Seine Partys waren aufwendige Angelegenheiten.

Damals, bevor er in der Kathedrale eingezogen war, war sie permanent von Touristen belagert gewesen – aber jetzt durfte niemand rein, den Dalí nicht eingeladen hatte. Deshalb kam jeder, der in Barcelona etwas auf sich hielt, zu seinen Feiern. Er führte die Gäste persönlich umher, beobachtete sie beim Bestaunen der hoch aufragenden Basaltsäulen und der herrlichen Buntglasmosaike. Die Tour endete immer unten in der Krypta, wo er ihnen die letzte Ruhestätte von Antoni Gaudí zeigte – dem echten Gaudí – und derweil insgeheim auf den Tag hoffte, an dem Scythe Gaudí sich freundlicherweise selbst nachlesen würde. Dalí hätte sich schrecklich gefreut, den erbärmlichen Mann neben seinem Historischen Patron zu begraben.

Dalí selbst hatte überhaupt nicht geplant, sich selbst nachzulesen. Nicht nur weil er das Gefühl hatte, die Welt brauche ihn, sondern weil ein Teil von ihm fürchtete, Barcelona würde eher feiern als ihn betrauern. Dalí wurde gefürchtet, aber Gaudí wurde geliebt. Nun, zumindest respektieren sie mich , redete Dalí sich ein – aber Respekt aus Angst ist nicht dasselbe wie Respekt aus Liebe. Das eine nimmt man mit ins Grab, das andere erblüht nach dem Abschied. Deswegen war es für Dalí am besten, niemals wegzugehen.

Seine Gedanken an eine Party surrten bei seinem Rundgang, weil er wusste, dass seine Gäste nicht aus Liebe zu ihm kamen – nicht einmal aus angstinduziertem Respekt. Sie kamen, um sich die Kathedrale anzuschauen. Sie kamen, weil sie sich Immunität vor Nachlese erhofften, die er bei seinen Galas großzügig verteilte. Eine Nacht lang waren sie Speichellecker, die nach ihrer Rückkehr nach Hause schlecht über ihn redeten. Was , fragte er sich häufig, muss ich machen, damit sie mich genauso lieben, wie sie ihn lieben?

Und dann kam ihm ein Gedanke. Was, wenn er eine Nachlese konzipierte, an der ganz Barcelona teilnehmen konnte? Ja, ja – eine Nachlese, bei der das Publikum nicht bloß aus einigen wenigen geladenen Gästen bestand, sondern aus der ganzen Stadt! Auf diese Weise könnte er ihre Herzen gewinnen und die Demütigung seines letzten Fehltritts auslöschen.

Während er über den Gedanken nachdachte, löste sich seine Wut auf Scythe Gaudí auf und verwandelte sich in den vertrauten Nervenkitzel der Schaffenskraft. Diese neue Idee würde sein Meisterstück sein! Eine Performance, die sich durch die Straßen und Boulevards der Stadt schlängelte. Ein Werk der Kunst des Lebens/Sterbens, an dem alle teilhaben konnten!

Dalí begann, seinen Plan auszuarbeiten. Er suchte sich Ingenieure und Maschinenschlosser. Tischler und Handwerker. Auf sein Geheiß wurden über hundert Menschen für die Arbeit an einem noch nie dagewesenen Nachlese-Event eingesetzt. Und überall stationierte er loyale Mitglieder der Bladeguard, um sicherzustellen, dass ihm Gaudí nicht noch einmal einen Strich durch die Rechnung machte.

 

Nach knapp einem Monat war die Konstruktion von Dalís großem Todesuhrwerk fast fertig. Das konnte man von seinem Zuhause nicht behaupten. Die Kathedrale wurde zwar offiziell gegen Ende der Sterblichkeitsära vollendet, aber in Wahrheit war sie nie fertig geworden. Es gab immer das ein oder andere Team, das dort arbeitete. Restauratoren hier, ein Putztrupp dort und woanders Steinmetze. Die Arbeiter verdünnisierten sich geschickt, wenn Dalí in der Nähe war, deswegen bekam er sie sehr selten zu Gesicht – aber heute werkelte eine Teenagerin allein im Hauptschiff. Sie war die spiralförmige Wendeltreppe zur Zwischenebene hochgeklettert und stand nun auf der falschen Seite des Geländers, besserte einige verschnörkelte Verzierungen mit einem Pinsel aus und kümmerte sich anscheinend nicht darum, dass ein einziger Fehltritt einen tückischen Sturz – und ein oder zwei Tage in einem Revival-Center – zur Folge haben würde. Sie wagte es sogar, leise zu pfeifen … Ein Geräusch, das Scythe Dalí nur schwer ertragen konnte, weil es in dem höhlenartigen Raum wie in einem Teekessel widerhallte.

Außerdem passte das Mädchen ganz und gar nicht zur Ästhetik der Kathedrale. Sie war ganz in Schwarz gekleidet – ein unverfrorener Affront gegen die bunte Basilika. Dalí ging von der richtigen Seite des Gerüsts auf das Mädchen zu.

Sie zeigte keine Ehrfurcht – sie tat so, als würde sie ihn nicht bemerken –, und er wusste, dass sie ihm etwas vorspielte, weil er ihr kaum wahrnehmbares Augenzucken bemerkte, als er in ihr Sichtfeld kam.

»Hör mit diesem schrecklichen Rumgepfeife auf«, verlangte Dalí, »sonst werde ich deinen Vorarbeiter über meinen Unmut in Kenntnis setzen.«

Schließlich blickte sie ihn an, kümmerte sich dann aber rasch wieder um ihre Arbeit. »Nicht pfeifen, verstanden«, sagte sie. »Und was ist mit Summen? Geht das in Ordnung?«

»Gar keine Geräusche«, erklärte ihr Dalí. »Und wenn du mit einem Scythe sprichst, solltest du am Satzende immer ›Euer Ehren‹ sagen.«

»Verstanden«, sagte sie.

»Verstanden, Euer Ehren «, forderte Dalí sie auf.

»In Ordnung. Ich merk’s mir fürs nächste Mal.«

»Das war das nächste Mal.«

Dieses Mal antwortete sie gar nicht und nickte nur.

Dalí musste zugeben, dass er verblüfft war. Noch nie zuvor war ihm jemand mit solch unverhohlener Unhöflichkeit begegnet.

»Vergiss nicht«, sagte er, »ich bin ein Todesbote. Mein Unmut könnte für dich sehr schlimm enden.«

Sie hob ganz leicht das Kinn. Damit zeigte sie Stolz und vielleicht auch ein bisschen Trotz. »Du sollst unvoreingenommen, besonnen und ohne böswillige Absichten töten«, sagte sie und wagte, ihn an das zweite Gebot der Scythe zu erinnern. »Ich bin mir ziemlich sicher, dass Sie als befangen gelten, wenn Sie jemanden nachlesen, weil Sie ihn nervig finden.«

Dalís Gesicht wurde finster. »Kein Scythe wurde jemals gemaßregelt, weil er Nervensägen nachgelesen hat.«

»Dann halten Sie sich nicht an Ihre eigenen Gebote, oder?« Sie starrte ihn mit ihrem durchdringenden Blick an.

»Jetzt reicht’s. Du bist gefeuert«, entschied Dalí. »Das heißt, dass du ab diesem Moment Hausfriedensbruch begehst. Verschwinde jetzt.«

»Wenn Scythe keinen Besitz haben dürfen, wie kann ich denn dann Hausfriedensbruch begehen?«, konterte sie. »Nur weil Ihnen die Gesellschaft Ihr Dasein als Hausbesetzer in dieser Kathedrale durchgehen lässt, heißt das nicht, dass Sie dieses Bauwerk besitzen, ebenso wenig wie mein Onkel die Hütte, in der er hockt.« Dann huschte sie so geschmeidig wie eine Katze das Gerüst hinab und verschwand.

Erst nach ihrem Weggang fiel bei Dalí der Groschen, wer dieses respektlose Gör wohl gewesen war.

***

Es gab nicht viel, was Penélope Angst machte. Wenn man keine Angst vor dem Tod hat, ist alles andere auch nur belanglos. Egal ob Schlangen oder Spinnen oder dunkle, verlassene Orte, nichts beunruhigte sie. Aber das hieß nicht, dass sie nicht die einzige, noch übrige Urangst in sich trug: die Angst vor dem Unbekannten. Deswegen forderte sie sich heraus, stupste diese Angst an und redete sich ein, sie könne das Kortisol in ihren Adern spüren … dass ihr Leben in Gefahr wäre. Das war der Grund, warum sie den launischen Scythe Dalí provozierte. Deswegen wanderte sie mitten in der Nacht durch die einsamen Gassen der casco viejo  – der Altstadt.

In den alten Mauern war Kultur und Geschichte gespeichert, dort konnten kleine Kerben auch Einschusslöcher sein, hinter denen sich eine geheime Geschichte versteckte. Dort hatten sich die von Laternen beschienenen Balkone seit der Sterblichkeitsära kaum verändert. Dort hingen alte Relikte namens CD immer noch an Fenstern, als primitiver Versuch, Tauben zu verscheuchen. Das versetzte Penélope in eine ganz andere Zeit.

Ihre Mutter erzählte den Leuten immer, ihre Tochter wäre einfach altmodisch – aber alle, die die junge Frau richtig kannten, verstanden, dass ihre Affinität zur Vergangenheit eher eine Art Protest gegen die Gegenwart war. Und gegen die Zukunft – die wahrscheinlich noch schlimmer werden würde.

Während Penélope in dieser Nacht durch die alten Straßen flanierte, wusste sie, dass ihr jemand folgte. Vielleicht waren es Widerlinge, die so taten, als würden sie sie belästigen, denn mehr als Gesetzlosigkeit vorzuschützen konnten sie nicht tun. Der Thunderhead würde nie zulassen, dass ihr jemand mit wirklich schlechten Absichten folgte. Andererseits wurden ihr als Nichte eines Scythe gelegentlich seltsame Dinge vor die Füße gespült. Junge Männer hofften auf eine Vorzugsbehandlung von ihrem Onkel, indem sie ihr romantische Aufwartungen machten; Reporter suchten nach einem neuen Blickwinkel für eine Geschichte … Doch zu ihrer eigenen Belustigung verwandelte sie diese Versuche in ein Spiel nach ihren Regeln, tat so, als würde ihr ein Monster aus den Geschichten der Sterblichkeitsära folgen, durch die Dunkelheit schlittern – verzweifelt auf der Suche nach der nächsten Mahlzeit.

Angst! Irrationale Angst! Sie ließ zu, dass sie davon umhüllt wurde, versuchte, sie länger zu spüren, als ihre Naniten es erlaubten. Welch Freude, wenn sich ihr Herzschlag beschleunigte!

Was oder wer auch immer sie verfolgte, hatte einige gravierende Fehler gemacht. Ein Kieselstein, gegen den hier und da getreten wurde. Ein Schatten, der unter einer Straßenlaterne entlanghuschte. Das alles steigerte ihre Aufregung bloß.

Sie ging um eine Ecke und hockte sich in eine Einfahrt, wartete darauf, dass ihr Verfolger vorbeiging, damit sie den Spieß umdrehen konnte. Als sie sah, um wen es sich handelte, lächelte sie finster. Sie hätte es wissen müssen!

»Scythe Dalí, was für eine unerwartete Überraschung!«, sagte sie, als sie heraussprang und er zusammenzuckte. »Ihnen gefällt die Altstadt also auch?«, fragte sie. »Oder stellen Sie einfach gern jungen Frauen nach?«

Bei der Anspielung errötete er leicht. »Ganz sicher nicht!«, sagte er. »Nur einer speziellen – und ganz ohne unlautere Absichten, wie ich hinzufügen sollte.«

»Und worum handelt es sich bei den ›lauteren‹ Absichten?«, fragte Penélope und fügte dann noch »Euer Ehren« hinzu, aber so, dass es sich eher nach einer Beleidigung als nach einer Ehrbekundung anhörte.

»Ich wollte einfach wissen, ob meine Vermutung richtig war und ob du ein Schützling vom Ehrenwerten Scythe Gaudí bist.«

»Sie hätten einfach fragen können.«

»Deswegen bin ich dir gefolgt. Um zu fragen.«

»Ich bin seine Nichte«, informierte Penélope ihn.

Doch Dalí hielt die Hand hoch und zeigte ihr seinen Ring. »Und trotzdem leuchtet mein Scythe-Ring in deiner Anwesenheit nicht rot. Wenn du seine Nichte wärst, hättest du bis zum Lebensende Immunität.«

Penélope seufzte. »Also, ich bin nicht seine echte Nichte«, sagte sie. »Mein Vater und Antoni waren Sandkastenfreunde. Aber mein Vater wurde letztes Jahr auf einer Geschäftsreise nach MidMerica nachgelesen – gemeinsam mit allen anderen im Flugzeug.«

Dalí räusperte sich. »Ja, davon habe ich gehört. Eine geschmacklose Angelegenheit. Merikanische Scythe können bei ihren Nachlesen äußerst stoffelig sein.«

»Wie dem auch sei … Als meine Mutter mit der Trauer durch war, hat sie sich entschieden, um die Ecke zu kommen. Jetzt ist sie wieder einundzwanzig und auf die Seychellen abgehauen, um dort nach Liebe zu suchen. Deswegen hat Onkel Antoni angeboten, mich aufzunehmen.«

»Interessant«, sagte Dalí. »Aber erklär mir doch einmal, wie du in meine Unterkunft gekommen bist – ich habe mit dem Vorarbeiter gesprochen: Du warst nie in seinem Team.«

Penélope zuckte die Schultern. »Es gibt viele Wege in die La Sagrada Família, wenn man gut klettern kann.«

»Schon, aber warum?«

Penélope grinste. »Um zu sehen, ob ich es kann.«

»Und dann hast du versucht, mich wütend zu machen …«

Wieder grinste sie. »Um zu sehen, ob ich es kann.«

»Nun«, sagte Dalí, und sein gezwirbelter Bart zuckte ganz leicht, »du hast in beiden Punkten Erfolg gehabt.« Er schaute sie kurz schweigend an. Penélope konnte nicht erkennen, ob er misstrauisch oder von ihr fasziniert war. Vielleicht ein wenig von beidem.

»Ich könnte dich der Spionage für deinen ›Onkel‹ beschuldigen.«

»Damit lägen Sie falsch«, sagte Penélope. »Er hat keine Ahnung, dass ich in die La Sagrada Família eingedrungen bin. Er wäre wütend geworden, wenn er es gewusst hätte.«

»Du und er, ihr seid manchmal nicht einer Meinung?«

Penélope zuckte die Schultern. »Er lässt mich nie bei seinen Nachlesen zuschauen«, sagte sie. »Ich dachte, vielleicht dürfte ich bei Ihnen mal zugucken?«

»Ah«, sagte Dalí. »Jetzt verstehe ich.«

Dann zog er eine Injektionsnadel aus der Robe und rammte sie Penélope in den Hals.

Penélopes Gedanken wurden ganz taumelig, und ihr Sichtfeld verfinsterte sich fast umgehend. Die Beine gaben unter ihr nach, und Dalí fing sie im Fallen auf.

»Sie haben gesagt … Sie hätten keine … unlauteren Absichten«, sagte sie, während ihr Bewusstsein schwand.

Darauf antwortete Dalí: »Lügen ist das Privileg eines Scythe.«

***

Ich verleihe nicht leichtfertig Immunität.

Ich verbringe reichlich Zeit mit Besuchern im Park Güell, aber ich habe ihnen nie meine Hand entgegengestreckt, damit sie meinen Ring küssen können. Ich verleihe nur denen Immunität, denen ich sie verleihen muss – den Familien derjenigen, die ich nachlese. Gelegentlich wird mir Immunität geraubt, ungebeten – aber ich nehme es denjenigen nicht übel, die meine Hand ergreifen und meinen Ring küssen. Denn in diesen Situationen haben sie sich für Immunität entschieden und nicht ich.

Wie man weiß, hatten menschliche Wesen immer schon die Fähigkeit – und tatsächlich auch einen Hang dazu –, Leben zu nehmen. Aber willkürlich Freiheit vom Tod zu verleihen? Das ist eine Arroganz, die ich nicht ertragen kann. Andere Scythe gefallen sich in der Rolle der Erlöser, das schmeichelt ihren Egos, doch ich habe mich entschieden, keiner von ihnen zu werden. Das Ironische ist: Weil ich mich weigere, wahllos Immunität zu verteilen, scheinen mich die Leute mehr zu lieben.

Es ist nicht so, dass ich nicht Menschen in meinem Leben hätte, für die ich mir Immunität wünschen würde, aber wenn ich sie ihnen verleihe, würde ich Gott spielen. Der Thunderhead hat sich in seiner Weisheit dagegen entschieden, Gott zu spielen, selbst wenn er gottähnliche Aufgaben annimmt. Seinem Beispiel zu folgen ist das Mindeste, was ich tun kann.

 

Aus dem Tagebuch des Ehrenwerten Scythe Gaudí

***

Im Gegensatz zu Scythe Gaudí war Scythe Dalí ein Verfechter der ›leichtfertigen Immunität‹, denn war es kein nobles Unterfangen für heilige Figuren, die Masse freizusprechen? Und waren Scythe nicht das, was in einer postmortalen Welt einem Heiligen am nächsten kam?

Scythe Dalí glaubte außerdem, dass nicht nur künstlerischer Ausdruck, sondern auch sakraler Respekt Teil der Nachlese sein mussten. In der Nacht vor einer Nachlese bereitete er den nachzulesenden Personen die beste Mahlzeit ihres Lebens zu – als Zeichen seines Respekts. Ein Überbleibsel aus der Sterblichkeitsära, in dem der Henker den Verurteilten vor dem Galgen, dem elektrischen Stuhl, oder welch barbarische Todesbringer sich die Sterblichen sonst ausgedacht hatten, ihre Lieblingsspeise kredenzte. Dalí wollte, dass seine ausgewählten Subjekte spürten: Ihre Leben würden vervollständigt und nicht beendet. Er wollte, dass sie sich behaglich fühlten – außer natürlich das Wesen ihrer Nachlese verlangte etwas anderes.

Wie immer hatte Dalí einen riesigen Holztisch im Mittelschiff der La Sagrada Família aufgestellt und ein üppiges Festmahl darauf ausgebreitet.

Er schaute nach, ob Penélope noch sicher an ihren Stuhl gefesselt war. Locker genug, damit sie etwas essen konnte, aber fest genug, so dass sie nicht entkommen konnte. Dann verabreichte er ihr ein Aufputschmittel, um sie aufzuwecken.

»Willkommen zu deinem letzten Abendmahl«, sagte Dalí, als Penélope ganz wach war. Er zeigte großmütig auf die verschwenderisch gedeckte Tafel. »Jamón serrano, esqueixada, Botifarra amb mongetes  – all meine Leibspeisen.«

Penélope räusperte sich und sprach mit sehr kräftiger Stimme – unglaublich, dass sie gerade noch sediert gewesen war. »Ihre Leibspeisen? Sollten es nicht meine Leibspeisen sein?«

»Ja, nun – aber ich weiß ja nicht, was du gerne isst, deswegen musste ich mich auf meine Gelüste verlassen.«

Dalí beobachtete sie, während ihr der Ernst der Lage dämmerte. Normalerweise schrien seine Subjekte in diesen Momenten. Sie weinten. Sie flehten um ihre Leben. Sie brachen zusammen, so wie Menschen das eben machten.

Doch Penélope tat nichts davon.

Stattdessen lächelte sie fast, aber eben nicht ganz.

»So ist es also, wenn einem die letzte Mahlzeit vorgesetzt wird.« Und obwohl ihre Stimme vor Angst zitterte, schienen ihre Augen zu glühen, weil ihr die eigene Angst Vergnügen bereitete.

Dalí kicherte freudlos – was ihn ärgerte, weil er sich an dieser Nachlese zutiefst erfreuen wollte. »Das ist korrekt«, sagte er. »Und deine Nachlese wird das Herzstück meines größten Meisterwerks.« Und dann merkte Dalí, wie er seine Gemeinplätze abspulte. Das predigte er allen, die er nachlesen würde.

»Ich weiß, dass es gerade nicht einfach für dich ist, das zu hören, aber weitergehen bedeutet nicht, dass dein Leben vorbei sein wird, nein – ich biete dir die Gelegenheit zur Unsterblichkeit, dass man sich für immer an dich erinnert, dass deine Existenz ins Gedächtnis der Ewigkeit eingeschrieben wird.«

Und Penélope lachte tatsächlich. »Sie sind sehr von sich eingenommen«, sagte sie. »›Das Gedächtnis der Ewigkeit‹. Vielleicht können Sie nach Pamplona zum Stierlauf gehen und Ihr nächstes ›Meisterwerk‹ aus – haha – Bullshit machen.«

Dalí war verblüfft. Wie respektlos! Er hatte Menschen schon wegen geringfügigerer Vergehen nachgelesen, aber er blieb sich treu. Sie war schon für die Nachlese markiert, etwas Schlimmeres könnte er ihr nicht mehr antun. Das Mädchen hatte nichts mehr zu verlieren, und das wusste es. Dalí bewunderte ihren Mut fast schon.

Nein, er konnte ihr Leben nicht aus Wut über ihre Unverschämtheit beenden. Wenn er sie hier, an diesem Tisch, nachlas, würde er alles zerstören. Noch vor einem Tag hatte er versucht, das richtige Subjekt für seine großartige Arbeit zu finden – und dann tauchte es einfach in der Kathedrale auf. Mehr als perfekt! Penélope war auf so vielen Ebenen die Einzige, die diese Rolle einnehmen konnte.

»Dafür wurdest du geboren«, erklärte Dalí ihr.

»Und dafür werde ich sterben«, konterte sie. »Onkel Antoni wird nicht begeistert sein.«

Dalí lächelte voll aufrichtiger Freude. »Das«, sagte er, »ist das Beste daran!«

***

Penélope musste in einem Zimmer ganz oben in einem Kirchturm im Ostflügel der Kathedrale schlafen. Wie eine Prinzessin, die in einem Schloss eingesperrt wird, dachte sie. Diener würden sich um sie kümmern, sie würde bedient, von vorne bis hinten – aber das entsprach so gar nicht der Wahrheit. Nachdem sie in die Kammer gebracht worden war, ließ man sie mit ihren Gedanken allein. Dalí hatte selbst entschieden, welches Kleid sie am nächsten Tag tragen würde. Dem Tag ihrer Nachlese. Es hing dort, an einem Haken an der Wand. Schwarz und lavendelfarben. Die Farben der Trauer.

Sie würde nachgelesen werden. Das Gefühl, das ihr der Gedanke verlieh, erinnerte sie an ihre Kindheit: Ihr Vater schubste sie auf der Schaukel immer und immer wieder an. Es war berauschend, fast schon euphorisierend – bis die Übelkeit überhandnahm und sie sich die Seele aus dem Leib kotzte.

Damals begann ihr Hang zum Schrecken. Die frühsten Erinnerungen an ihre ständige Suche nach Nervenkitzel. Als Penélope dann in die Schule ging, nahm sie den Unterrichtsbeginn selbst in die Hand: Sie kletterte auf den Glockenturm und läutete zur ersten Stunde – der Direktor war davon nicht angetan. So war sie schon immer gewesen; über allem schwebte die köstliche Verheißung der Gefahr. Sie war zweimal als Widerling markiert worden, aber immer nur für wenige Monate. Dies war ein weiterer Gefahrenbereich, in den sie sich gern begab.

Penélope vermutete, dass sie deswegen – allein in dem Turmzimmer – den Gedanken an ihr eigenes Ende gut annehmen konnte. Sie hatte sich irgendwie ein ganzes Leben lang darauf vorbereitet.

Kurz vor Mitternacht klopfte es an ihrer Tür, dann spinkste Scythe Dalí herein, er hatte diesen angewiderten Gesichtsausdruck, als hätte er etwas Verdorbenes gerochen.

»Was wollen Sie?«, fragte Penélope.

»Es ist Sitte, dass ich schaue, ob du alles hast, was du in deiner letzten Nacht brauchst.«

Sie setzte sich auf. »Mir geht es so gut, wie es jemandem in der letzten Nacht des Lebens gehen kann. Sie können jetzt gehen.«

Doch Dalí blieb.

»Ich werde den Gedanken einfach nicht los, dass du es so wolltest«, traute er sich zu sagen. »Ich will wissen, warum. Sind deine Endorphinnaniten zu niedrig eingestellt? Dann hätte der Thunderhead sie doch sicherlich angepasst.«

Obwohl Penélope eigentlich gar nicht mit ihm reden wollte, versuchte sie, ihm ehrlich zu antworten. »Es ist nicht so, dass ich nachgelesen werden will … Aber ich bin neugierig. Ich war immer schon neugierig.«

»Neugierig darauf, wie es ist zu sterben?«

Sie schüttelte den Kopf. »Ich war schon einmal totenähnlich. Aber das ist nicht dasselbe. Es ist nur vorübergehend. Wenn man totenähnlich ist, erreicht man nie den Moment jenseits der Ewigkeit.

»Und wenn es so einen Moment gar nicht gibt?«, fragte Dalí.

»Das will ich herausfinden.«

Dalí runzelte die Stirn, aber bei ihm sah das nachdenklich aus. »Wir können Dinge nicht wissen, die wir nicht wissen können.«

»Das ist keine Antwort.«

»Nun, ich werde dir deine Antwort morgen liefern.«

Doch selbst, als er es sagte, schien ihm diese Aussicht keine Freude zu bereiten. Er setzte sich auf einen Stuhl, dort, wo eine Ecke gewesen wäre, wäre der Raum nicht rund gewesen. »Ich hatte vor langer Zeit eine Tochter«, sagte er.

»Ich dachte, als Scythe darf man keine Kinder haben.«

»Das war vor meiner Lehre«, sagte er. »Als sie acht Jahre alt war, sind meine Frau und ich mit ihr in Asturias wandern gegangen.« Bei der Erinnerung lächelte er. »Pinar Setas  – ein wunderschöner Wald. Vom Berg aus hatte man eine spektakuläre Sicht aufs Meer. Aber ein Sturm zog auf. In jenen Tagen übte der Thunderhead noch, das Wetter zu beeinflussen.«

Dalí blickte Penélope nicht an, während er seine Geschichte erzählte. Deswegen wusste sie, dass kein Happy End auf sie wartete. Er räusperte sich und sprach weiter.

»Vor dem Donner kommt der Blitz, wusstest du das? Es war während der Trockenperiode, und als der Blitz einschlug, ging der Berghang in Flammen auf. Innerhalb von Minuten waren wir vom Feuer eingeschlossen. Wir rannten, liefen auf dem Weg, den wir gekommen waren, aber er endete mitten in den Flammen. Dann änderte sich die Windrichtung, und wir wurden vom Rauch überwältigt.«

Er hielt inne. Penélope wartete, sie wusste nicht, was als Nächstes kommen würde. Tatsächlich wusste sie nicht, ob sie es wissen wollte.

»Feuer ist eins der wenigen Dinge, das einen komplett auslöschen kann – ohne Hilfe eines Scythe«, sagte er. »Der Tod durch Feuer war damals selten – heute ist er noch seltener –, aber es kommt vor. Ich bin in einem Revival-Zentrum aufgewacht. Nach acht Tagen. So lange hat es gedauert, mich wieder zurückzuholen. Aber meine Frau und meine Tochter?« Er schüttelte den Kopf. »Drohnen haben immer wieder versucht, ihre Leichen zu bergen, aber sie sind in den Flammen geschmolzen. Der Thunderhead konnte sie erst bergen, als man sie nicht mehr wiederbeleben konnte.«

»Das tut mir leid«, sagte Penélope, aber er war zu weit weg, hörte sie nicht, verlor sich immer mehr in dieser schrecklichen Erinnerung.

»Meine Welt wurde sehr dunkel. Der Thunderhead erlaubte mir, meine Naniten runterzuregeln, damit ich trauern konnte – aber das reichte nicht. Je mehr Schmerz ich fühlte, desto mehr musste ich auch sonst fühlen. Wie du sehnte ich mich mit ganzer Seele nach dem Wissen, wo sie waren. Welche Erfahrungen sie auf der anderen Seite des obsidianfarbenen Todesschleiers machten.« Dann lachte er verbittert auf. »Irgendwann bot mir der Thunderhead an, meine Erinnerungen durch neue zu supplantieren. Ich hätte jemand anderes werden können. Aber nein. Wenn ich das täte, dann gäbe es niemanden mehr, der sie betrauert. Niemanden, der sich noch an unser gemeinsames Leben erinnert. Zu dieser Zeit lernte ich Scythe Miró kennen. Er muss etwas Ehrenwertes in meinem Leid gesehen haben, weil er mich als Lehrling annahm. Ich war achtundzwanzig – viel älter als die anderen Lehrlinge. Aber ich habe mich der Aufgabe gestellt. Mein Lebensfluss hatte diese neue Richtung angenommen. Nicht ein Tag verging, an dem ich nicht an sie dachte. Aber anstatt mich ihnen anzuschließen, entschied ich mich, ihnen andere folgen zu lassen. Damit sie nicht allein sind.« Er hielt inne, dann fügte er hinzu. »Und weil ich ein Feigling bin.«

Penélope bewunderte, dass Dalí – hinter seiner aufgeblasenen Fassade – ein echter Mensch mit aufrichtigen Gefühlen war. Sie fragte sich, ob ihr Onkel seine Geschichte kannte.

»Wenn Leben feige ist, dann ist die ganze Welt schuldig«, erklärte sie ihm.

Dann war Dalí plötzlich wieder anwesend und starrte sie an, als hätte sie ihn von seiner Frau und der Tochter weggerissen. »Ich erzähle dir das nur, um dir zu zeigen, dass ich deine besondere Faszination für diese andere Seite verstehe.«

»Ich werde es nicht weitererzählen«, sagte sie.

Dann stand er auf, war ganz steif und gewann seine Fassung zurück. »Natürlich wirst du das nicht«, sagte er. »Du wirst nachgelesen, ehe du überhaupt die Gelegenheit dazu hast.«

Damit schritt er hinaus, und seine Robe flackerte hinter ihm auf.

***

Das Ereignis wurde überall bekannt gegeben. Vor dem Sonnenuntergang versammelten sich die Menschen. Absperrungen und eine Bladeguard-Einheit wurden aufgestellt, um sicherzugehen, dass die Zuschauer zwar etwas sehen, nicht aber das große Präzisionszahnwerk stören könnten, das durch die Stadt walzen sollte. Die Tatsache, dass es öffentlich war, dass alle zusehen konnten, war auch eine Absicherung gegen Gaudí. Er würde sich nicht damit blamieren, ihre Rivalität öffentlich zur Schau zu stellen. Und bis er herausgefunden hatte, dass seine geliebte Penélope nachgelesen werden würde, wäre es zu spät.

Dalí hatte die Abläufe der Veranstaltung intensiv ausgetüftelt, schon einige Wochen, ehe er Penélope als Opfer auserwählt hatte, ein kompliziertes System entwickelt, das millimetergenau ausgerichtet war. Wenn es ausgelöst wurde, setzte es eine Kettenreaktion in Gang wie bei Dominosteinen, nur mit tödlichem Ausgang.

Es würde an der Plaza de España beginnen, wo bei Tagesanbruch eine Replik des Uhrenturms des Torre del Rellotge – komplett aus Eis – enthüllt würde. Der Uhrenturm würde in der aufgehenden Sonne schmelzen und einen Eimer füllen …

… der umkippen und wiederum eine Seilrutsche aktivieren würde, die eine kopflose Statue über die Straßen schweben ließ, wie ein Phantom, zum Magischen Springbrunnen von Montjuïc …

… wo sie auf einen Schalter drückte, der eine Ratte in ein Labyrinth entließ …

… in dem am Ende auf einer perfekt ausbalancierten Waage ein Stück Käse lag, den die Ratte auffressen würde …

… und durch die Gewichtsverschiebung würde eine schwere Granitkugel ein Gefälle hinabrollen…

Dann würde eins zum anderen führen, bis alle Zuschauer eine automatische Prozession bildeten, die sich durch die Stadt schlängelte und schließlich an der La Sagrada Família endete. Und dort, am Gipfel des höchsten Kirchturms, würde das Subjekt der heutigen Nachlese sein Ende finden.

***

Penélope wachte auf, weil Scythe Dalí sich über sie beugte. Er grinste übers ganze Gesicht.

»Guten Morgen! Heute ist dein großer Tag!«

Es war noch lange vor dem Morgengrauen. Aber was machte das schon? Sie hatte ohnehin kaum geschlafen.

»Sie sagen das so, als wäre heute mein Geburtstag und nicht … das Gegenteil.«

Dalí zeigte auf das Kleid, das an der Wand hing. »Du wirst dieses Trauerkleid tragen, der Schleier verdeckt dein Gesicht. Du wirst mit mir den Beginn des Festes erleben – das Anlaufen der großen Maschinerie. Dann sollten wir für den Abschluss zur Kathedrale zurückkehren.«

»Und wenn ich nicht kooperiere?«

Dalís Grinsen verwandelte sich in etwas viel Dunkleres. »Du kennst das Gesetz. Wenn du dich widersetzt, bin ich gezwungen, nicht nur dich, sondern auch deine Familie nachzulesen – dann würde mich mein nächster Halt zu den Seychellen führen, wo ich deiner Mutter einen Besuch abstatte.«

Penélope biss sich auf die Lippen. Sie konnte die Entscheidungen ihrer Mutter zwar nicht nachvollziehen, würde ihr aber trotzdem keinen Scythe auf den Hals hetzen wollen. »Gehen Sie«, sagte sie und genoss es kurz, einem Scythe einen Befehl zu erteilen. »Gehen Sie, damit ich mich anziehen kann.«

***

Auf der Plaza de España hatten sich bereits Menschen versammelt. Im Morgengrauen beobachteten sie, wie Scythe Dalí auf dem Gerüst zu dem geheimnisvoll umhüllten Turm hinaufkletterte. Er wurde von einer in Schwarz und Lavendel verschleierten Frau begleitet, dieselben Farben, die den Turm von oben bis unten bedeckten. Dann stieg die Sonne über die Häuserdächer – Dalí zog an einem Seil, und die Hülle fiel und entblößte einen Uhrturm, der vollständig aus Eis bestand. Die Menge murmelte und zeigte begeistert darauf.

Zwei Kindern war es gelungen, durch die Absperrungen zu schlüpfen und sich im Schatten des Gerüsts zu verstecken. Sie berührten mit ihren Zungen das Eis, lachten und ermahnten sich gegenseitig zischend, ruhig zu sein. Von ihrem Versteck aus konnten sie Scythe Dalí und seine Begleitung nicht sehen, aber sie hörten sie sprechen.

»Soll mich das beeindrucken? Denn das tut es nicht«, sagte die junge Frau.

»Das könnte mir nicht egaler sein«, antwortete Dalí, »solange die Menge unten beeindruckt ist.«

Wenn man die beiden Kinder als Maßstab nehmen konnte, hatte Dalí sein Ziel schon erreicht. Nun konnte man nur noch warten, während die scharfen Kanten des Turmes weicher wurden, die Uhr zu schmelzen begann und ein Eimer sich mit dem Tauwasser füllte.

***

Nachdem die kopflose Statue fast einen Kilometer durch die Luft geschwebt war und die Ratte sich Ecke für Ecke dem Käse genähert hatte, wurden Dalí und Penélope zurück zur Kathedrale gefahren, während Dalí den Fortschritt auf seinem Tablet beobachtete.

»Meine Komposition wird bald schon die Strandpromenade erreichen, dann wird sie sich die La Rambla entlangbewegen, an der Plaça de Catalunya links abbiegen und sich den Weg zurück zur Kathedrale bahnen, wenn es neun schlägt. Zu dieser Stunde wirst du nachgelesen, Kind.«

Penélope sagte nichts. Sie hatte alle Sticheleien und Konter aufgebraucht. Sie schwieg hinter ihrem Schleier, und das schien Dalí zu verunsichern. Sie fragte sich, ob der Schleier eigentlich für ihn war – damit er ihr Gesicht während des gesamten Martyriums nicht sehen musste.

»Die Begeisterung der Menge war tatsächlich eine feine Sache«, sagte Dalí und erfüllte die Stille mit Gequassel. »Siehst du? Jetzt lieben sie mich so sehr, wie sie deinen Onkel lieben.«

Er musste den Zweifel in ihrem Schweigen bemerkt haben, weil er direkt in die Defensive ging. »Du glaubst, das stimmt nicht? Sieh nur, was für eine grandiose Show ich für die Stadt veranstalte – die Leute wissen das zu schätzen!«

Dieses Mal konnte Penélope sich nicht zurückhalten.

»Man wird nicht wegen einer Show geliebt – und ganz sicher auch nicht respektiert.«

Darauf wusste er keine Antwort. Stattdessen richtete er seinen Groll auf den Fahrer – einen Bladeguard, der vielleicht schon an Dalís Beleidigungen gewöhnt war.

»Werden wir gleich von einer Schnecke überholt?«, schimpfte Dalí. »Mach den Autopiloten an, wenn du sonst keine schnellere Route findest.«

»Ihre Absperrungen haben den Verkehr in der ganzen Stadt lahmgelegt, Euer Ehren. Sie müssen sich gedulden.«

Penélope konnte sich ein Lachen nicht verkneifen.

Dalí war ein klein wenig empört. »Du hältst mich also für ein verwöhntes Kind? Das keinen Belohnungsaufschub duldet?«

»Das habe ich nicht gesagt.«

»Das musstest du auch nicht.«

»Warum tut es denn noch irgendwas zur Sache, ich bin doch morgen früh ohnehin nicht mehr da.«

Dalí zog unbehaglich die Schultern hoch. »Trotzdem will ich nicht, dass du schlecht über mich denkst.«

Wieder lachte sie. »Sie werden mir das Leben nehmen. Wie könnte ich nicht schlecht über Sie denken?«

Und dann kam Penélope ein Gedanke. Sie wusste – ganz ohne zu fragen –, was dahintersteckte – aber sie sagte es dennoch, nur um seine Reaktion zu testen.

»Ich erinnere Sie an sie, nicht wahr? Ich erinnere Sie an Ihre Tochter.«

Dalí schürzte die Lippen und winkte ab. »Sie war erst acht. Sie war überhaupt nicht so wie du.«

»Willensstark … wissbegierig. Vielleicht sehen Sie in mir, was aus ihr hätte werden können.«

»Noch ein Wort, und ich lese dich an Ort und Stelle nach!«

Daraufhin antwortete Penélope: »Bleibt Ihnen auch nichts anderes übrig. Von der Stelle kommen wir ja gerade nicht.«

Dalí machte ein böses Gesicht, seine Bitterkeit wuchs. »Heute wird dein Onkel – dein über alles geliebter Onkel – so sehr weinen wie noch nie zuvor. Und er wird endlich verstehen, dass mit mir nicht zu spaßen ist.«

»Wenn ich schon aus Boshaftigkeit nachgelesen werde, gestatten Sie mir doch bitte wenigstens die Würde, mein Gesicht zu zeigen.«

»Das werde ich, Kind. Sobald wir uns auf der höchsten Turmspitze der Kathedrale befinden, wird dein Gesicht vor allen entblößt. Du wirst deine Würde wahren. Du wirst voller Gnade sterben. Und wenn dich deine Seele verlässt, wird sie von hundert Tauben fortgetragen, die in genau diesem Moment freigelassen werden.«

***

Auf der Strandpromenade stürzte sich Columbus vom Dach seines hoch aufragenden Denkmals und landete auf einer Seite eines Schleuderbretts, das einen Stahlglobus in einem ballistischen Bogen in Richtung La Rambla schoss, wo er einen Glastank voller Meerwasser zerschlug. Die daraus resultierende Welle drückte kleine Modelle der Niña, Pinta und Santa Maria zum angestrichenen Rand einer flachen Erde und in ein Fass, das kippte und dann über einen Fernzündungsschalter für ein Publicar rollte, das wiederum die Allee zum nächsten technischen Meisterwerk entlangfuhr. Jubelnde Massen folgten dem Geschehen in Richtung der großen Kathedrale.

***

»Es tut mir leid, Euer Ehren, ich kann nichts machen«, sagte der Fahrer. »Egal, wo ich auch abbiege, man kommt nicht durch.«

Trotz der ganzen düsteren Gefühle, die in Penélopes Innerem waberten, war sie doch sehr über die Ironie dieser Angelegenheit amüsiert. »Sie haben das alles bis ins letzte Detail geplant«, sagte sie, »und Sie haben nicht geplant, wie Sie zurück zur Kathedrale kommen?«

»Wir kommen schon dorthin«, wimmerte Dalí. »Und wenn ich mir Flügel wachsen lassen und dorthinfliegen muss, wir kommen schon dorthin.«

Penélope hätte wegen des Fehlers in Dalís perfekter Matrix erleichtert sein müssen. Aber was hatte sie noch davon? Vielleicht würde sie mit einer anderen Methode nachgelesen, aber nachgelesen würde sie auf jeden Fall. Und selbst wenn ihr Onkel Wind davon bekäme, konnte er sie nicht retten. Er war ein Ehrenmann. Ebenso, wie er die Frischvermählten nicht retten konnte, konnte er auch sie nicht retten – das Beste, was er machen könnte, wäre, sie vor Dalí zu retten, indem er sie mit seinen eigenen, liebenden Händen nachlas. Aber das war etwas, das sie nicht wollte. Nein, sie konnte nur darauf hoffen, die treibende Kraft in Dalís Uhrwerk zu sein. Es gibt schlimmere Arten, nachgelesen zu werden , versuchte sie sich einzureden, obwohl ihr in dem Augenblick keine einfiel.

»Ich weiß, wie wir zur Kathedrale kommen können«, erklärte sie Dalí. »Aber Sie müssen mir etwas versprechen. Versprechen Sie mir, dass Sie – wenn das alles vorbei ist – mit meinem Onkel Frieden schließen.«

Dalí machte sich über ihren Vorschlag lustig. »Nach dem heutigen Tag ist das wohl aussichtslos.«

»Aber versprechen Sie mir, dass sie es trotzdem versuchen. Sagen Sie ihm, es war mein letzter Wunsch.«

Daraufhin betrachtete er sie, und Penélope wusste nicht, ob sein glasiger Blick auf Tränen oder auf seine Wut zurückzuführen war, in Barcelona im Stau festzustecken.

»Ich werde tun, worum du mich gebeten hast«, sagte er.

Nach diesem Versprechen forderte sie ihn auf, das Auto zu verlassen.

»Zu Fuß weitergehen?«, fragte Dalí. »Das ist zu weit – wir kommen niemals rechtzeitig an.«

»Wer hat denn gesagt, dass wir zu Fuß gehen?« Dann zog sie ihn zu einer Treppe auf dem Bürgersteig, die in die Dunkelheit führte.

»Die Metro?«, fragte Dalí mit ungläubiger Empörung. »Ein Scythe nimmt nicht die Metro!«

»Aber es gibt nur zwei Möglichkeiten: die Metro oder diese Flügel, von denen Sie gesprochen haben.«

Und weil er keine andere Wahl hatte, folgte er ihr in den Untergrund.

 

Niemand belästigte sie in der Metro. Die Leute machten ihnen viel Platz und flüsterten miteinander, fragten sich, ob diese Metrofahrt Teil des Events war.

Dalí klärte sie nicht auf.

Weniger als zehn Minuten später liefen sie die Treppen der Kathedrale hoch, die Menge machte ihnen Platz – aber es war nach wie vor ein Wettlauf gegen die Zeit. Scythe Dalís Konstruktion hatte Dutzende Punkte durchlaufen und befand sich nur noch einen knappen Kilometer von der Kathedrale entfernt – und sie mussten immer noch nach ganz oben auf den Kirchturm klettern.

Dalí hielt Penélope fest an der Hand und stieg die steilen, eng gewundenen Betonstufen hinauf, er bewegte sich so schnell, dass ihm schwindelig wurde. Das war nicht gut, weil sie sich auf einer schmalen, ungeschützten Plattform Hunderte Meter über der Stadt befanden.

Schließlich trat er eine Holztür auf, und sie hangelten sich das steile Sandsteindach hinauf, wo der Wind so stark blies, dass er sie fast hinunterwehte. Sie konnten von unten Rufe hören, als die Leute sie entdeckten.

Dalí nahm sich einen Moment, um nach Westen zu blicken – er entdeckte die Fackel, die bald schon angezündet und dann auf ein kerosingetränktes Seil fallen würde, das die letzten hundert Meter zur Armbrust in der Plaza abbrennen würde.

Und genau hier, nur wenige Momente vom Finale entfernt, nahm Penélopes Entschlossenheit ab. Sie widersetzte sich, und es wurde für Dalí immer schwerer, sie ganz nach oben zu zwingen.

»Du kannst jetzt nicht langsamer werden«, erklärte er ihr. »Wir sind schon fast da!«

»Ich glaube … vielleicht habe ich doch Angst.«

»Du musst deine Angst überwinden«, befahl Dalí ihr. »Die hilft dir nicht. Nimm die ganze Angelegenheit freudig an!«

Schließlich erreichten sie die Plattform, und Dalí fesselte sie rasch an das Eisenkreuz oben auf dem Turm. Er entfernte ihren Schleier, und die Menge unter ihnen schrie und japste nach Luft, jetzt, wo sie ihr Gesicht erkennen konnten – als würde ihnen ihr Gesicht irgendetwas bedeuten.

Sie waren angekommen, und es hätte keine Minute später sein dürfen. Dalí zeigte auf eine Kiste auf der Plattform, in der sie hektisches Rascheln hörten.

»Die Tauben!«, erklärte Dalí. »In dem Augenblick, wo der Pfeil in dein Herz eindringt, werde ich sie freilassen, und ihre Flügel werden deine Seele dorthintragen – wo auch immer du hinfliegst.«

»Vielleicht fliege ich auch nirgendwohin«, sagte Penélope.

»Vielleicht auch nicht«, musste Dalí zugeben. »Aber es ist schön und poetisch, trotz allem.«

Dann wurde Penélopes Gesichtsausdruck ganz hart. Wütend. Sie starrte ihn an. »In meinem ganzen Leben habe ich nie das Opfer gespielt, und jetzt machen Sie mich zu einem.«

»Daran kann ich leider nichts ändern«, sagte Dalí.

»Doch, können Sie. Binden Sie mich los.«

»Warum, damit du abhauen kannst? Damit du dem Pfeil ausweichen und alles ruinieren kannst?«

»Nein. Damit ich mich dem Ganzen aus freiem Willen stellen kann. Ich habe es mir ausgesucht, indem ich mich Ihnen in den Weg gestellt habe. Jetzt möchte ich auch das hier entscheiden.«

Dalí war beeindruckt von ihrem Willen. Er schien noch stärker zu sein als seiner. Was für eine beeindruckende, willensstarke junge Frau. Wie schade, dass ihr Leben nun enden würde.

»Natürlich, Penélope«, sagte er und löste ihre Fesseln. Sie hielt sich an ihr Versprechen und unternahm keinen Fluchtversuch. Sie blieb auf der Plattform stehen, das Kinn stolz nach vorne gereckt.

»Wenn ich dorthinkomme – falls es ein ›dorthin‹ gibt –, werde ich Ihre Frau und Tochter treffen und ihnen sagen, dass Sie mich geschickt haben, um ihnen Gesellschaft zu leisten.«

Dalí merkte, wie seine Lippe zitterte. Er erinnerte sich nicht daran, dass ein Nachlesesubjekt jemals so viel Mut gezeigt hatte. So viel Aufrichtigkeit.

In der Zwischenzeit fiel in etwa hundert Metern Entfernung die Fackel in Richtung Seil.

Und da erblickte Dalí Scythe Gaudí.

Er stand auf der Plaza in der Menge, direkt neben der Armbrust.

Dalí war stinksauer! Gaudí würde die Armbrust umstoßen, damit die Pfeile einfach ungerichtet durch die Gegend flogen! Er würde noch eine perfekte Nachlese ruinieren und Dalí noch einmal demütigen. Dalí konnte seine Wut kaum im Zaum halten!

Die Fackel entzündete das Seil.

Flammen rasten auf dem Seil los in Richtung eines Hebels, der die Armbrust auslösen würde.

Und weit unten bewegte sich Gaudí nicht.

Er rührte keinen Finger, um die Armbrust zu manipulieren.

Warum sabotierte er das Procedere nicht?

Die Flamme war fast am Auslöser.

Was machst du, du Idiot? , schrie Dalí, aber nur in seinem Kopf. Greif ein! Rette das Mädchen! Warum stehst du nur dort rum?

Gaudí blickte Dalí aus der Ferne in die Augen, als gäbe es keine Entfernung zwischen ihnen. Und anstatt nach der Armbrust zu greifen, stemmte sich Gaudí die Hände in die Hüften.

Die Flamme erreichte den Hebel.

Der Hebel löste den Auslöser aus.

Die Armbrust feuerte ab.

Und Dalí schrie aus voller Kraft und warf sich vor Penélope. Er spürte, wie der Pfeil in seinen Rücken eindrang. Der Schmerz war abrupt und stark. Plötzlich flatterten überall um ihn herum Tauben, die im Himmel verschwanden. Er brach zusammen, wurde aber von Penélope aufgefangen, die ihn sanft auf den Boden legte.

Und unten jubelte die Menge.

»Bravo!« , riefen sie. »Das ist die großartigste Selbstnachlese im ganzen Scythetum! So ein überraschendes Finale! Er hat uns alle reingelegt! Bravo!«

Und Dalí dachte, dass Gaudí es genau so geplant hatte. Gaudí hatte ihn in die Selbstnachlese getrieben. Er hatte Penélope zu diesem Zweck eingesetzt! Sie war nur ein Zahnrad in der Maschine ihres Onkels.

Aber wenn das stimmte, warum weinte Penélope dann?

»Das war das Dümmste, was ich jemals gesehen habe«, sagte sie unter Tränen. »Sie haben Ihr Meisterwerk ruiniert.«

»Aber … aber hör mal, wie sie jubeln. Ich habe ihnen genau das gegeben, was sie wollen.«

»Pscht«, sagte Penélope. »Sie sind noch nicht tot.« Dann zog sie ihm den Pfeil aus dem Rücken. Das schmerzte ebenso sehr wie der Einschuss – aber seine Naniten waren bereits mit der Schmerzlinderung beschäftigt. »Der Pfeil hat Sie in die Schulter getroffen, nicht ins Herz«, sagte Penélope.

»Aber … ich … muss jetzt sterben«, sagte er. »Alles andere … wäre …«

»Absurd?«, fragte Penélope. »Euer Ehren, alles an Ihnen ist absurd – warum sollte das hier eine Ausnahme sein?«

Dalí seufzte schwer. »Verdammt«, sagte er. »Ich hätte den Pfeil in Gift tränken können.«

Aber wie sagt man so schön: Hinterher weiß man immer mehr. Und wenn er jetzt nicht mit Absicht von der Plattform springen würde, wäre allen klar, dass er nicht sterben würde. Wie seltsam. Wie peinlich. Und trotzdem kam ihm in dem Moment ein Gedanke, der ihm eine stechende Freude bereitete.

»Wenn ich leben sollte, wird das nicht vergebens sein. Ich werde dich als meinen Lehrling annehmen«, sagte Dalí zu Penélope. »Du wirst unter meiner qualifizierten Anleitung zur Scythe ausgebildet.«

Penélope lachte. »Das wird meinen Onkel wirklich verärgern.«

Dalís Schnurrbart verzog sich zu einem ganz leichten Lächeln. »Ja, das glaube ich auch.«

Währenddessen äußerte die Menge unten ihre Enttäuschung, als die Leute bemerkten, dass Dalí immer noch lebendig war … und dass es sich nur um einen weiteren Fehltritt von ihm gehandelt hatte.