Kapitel 12: Eine romantische Komödie mit Todesfolgen

Die Liebe traf Marni Wittle wie eine Tonne Ziegelsteine. Und brachte sie in ein Revival-Zentrum.

»Hallo, Marni«, sagte die muntere, aber nervige Oberschwester des Woolwich-Revival-Zentrums, als Marni aufwachte. »Freut mich, Sie wiederzusehen. Ich wünschte, es wäre unter glücklicheren Umständen!«

Das sagte Schwester Lucille jedes Mal, wenn Marni dort auftauchte. Nicht, dass Marni besonders risikofreudig, sorglos oder gleichgültig gegenüber dem Sterben gewesen wäre … aber der Tod fand sie trotzdem mit spektakulärer Regelmäßigkeit.

»Raus aus den Federn, die Ewigkeit wartet!«, sagte Schwester Lucille und schnappte die Jalousien hoch – die offenbar extra so konstruiert waren, dass sie dabei knallten wie ein Feuerwerkskörper. Aber vielleicht lag das auch an Marni. Beim Aufwachen nach einer Wiederbelebung war sie meistens überempfindlich gegen Licht und Geräusche.

»Ihr Neuro-Adeno-Stimulanz-Shake steht für Sie bereit, sobald Sie denken, dass Sie ihn drinbehalten können.«

»Was ist diesmal passiert?«, fragte Marni mit einer Stimme, die nach Tagen der Totenähnlichkeit noch kratzig war. Marni wollte gar nicht wissen, was geschehen war, weil es jedes Mal so peinlich war. Aber sie musste trotzdem fragen.

»Ein Herr ist gewissermaßen in oder besser auf Ihr Leben geplumpst«, sagte Schwester Lucille. »Ist neun Stockwerke tief gefallen, bloß um Sie kennenzulernen!« Sie lachte über ihren eigenen Witz.

Marni war tatsächlich erleichtert. »Es war also nichts, was ich getan habe.«

»Sofern es kein Verbrechen ist, über die Straße zu gehen, nicht.«

»Ein was?«

»Nichts, Schätzchen, nur eine Redensart aus der Sterblichkeitsära.« Sie gab Marni ihren Neuro-Adeno-Stimulanz-Shake, der wie üblich übler schmeckte als Galle.

»Kann ich den NAS ti-Shake diesmal nicht weglassen?«

»Tut mir leid, Schätzchen, so sind die Regeln. Er aktiviert die Geschmacksnerven und die Verdauung. Er ist gut für Sie!«

Marnie kannte kein anderes Revival-Zentrum, das seine Patienten zwang, eine derartig widerliche Brühe zu trinken. Aber Woolwich war stolz auf seinen angeblich innovativen Ansatz. Marni hatte hingegen den Verdacht, dass der grässliche Geschmack Absicht war, um Platscher und andere abzuschrecken, die vorsätzlich totenähnlich wurden. Das hätte man Marni als altgedientem Opfer auch ersparen können, aber nein. Sie konnte sich des Gedankens nicht erwehren, dass Schwester Lucille lustvoll dabei zusah, wie sie die Flüssigkeit herunterwürgte.

Nachdem sie den letzten übelriechenden Tropfen geschluckt hatte, stellte Marni die Frage, die sie seit dem Moment ihres Aufwachens vermieden hatte.

»Haben Sie meine Tante benachrichtigt?«

»Das war unumgänglich«, sagte Schwester Lucille. »Ich habe strikte Anweisung, sie jedes Mal zu informieren, wenn Sie uns ›einen Besuch abstatten‹.«

Marni verzog das Gesicht. »Ich weiß. Aber hätten Sie nicht nur dieses eine Mal vergessen können, ihr Bescheid zu sagen?«

»Und mich damit bei Ihrer Tante unbeliebt machen? Keine Chance, Schätzchen. Außerdem sind Sie seit mehr als zwei Tagen in der Wiederbelebung – sie hätte ohnehin gewusst, dass irgendwas nicht stimmt, nachdem Sie nicht nach Hause gekommen sind.«

Marni seufzte lebensüberdrüssig. Ihrer Tante gegenüberzutreten würde nur geringfügig angenehmer werden, als von einer herabstürzenden Person getötet zu werden.

»Wir haben sie auf jeden Fall wissen lassen, dass Sie wieder bei Bewusstsein sind«, sagte die Schwester. »Ich nehme an, sie wird noch vor Sonnuntergang hier sein, um Sie abzuholen. Aber warum hole ich Ihnen derweil nicht ein paar Löffel Rum-Rosinen-Eis?«

»Ja, wenn Sie welches dahaben.«

»Oh, wir haben immer welches da! Es herrscht keine große Nachfrage, aber ich habe immer eine Portion vorrätig, extra für Sie!«

 

Die fragliche herabstürzende Person war ein junger Mann namens Cochran Stæinsby. Auch er war in der Wiederbelebung kein Unbekannter. Dies war seine vierzehnte. Nicht dass er aus einem bestimmten Grund mitzählte, es war bloß schwierig, es nicht zu tun. Vor allem wenn einem die Wiederbelebung in Rechnung gestellt wurde. Seine Eltern hatten immer darüber geklagt – und seit er auf sich gestellt war und die Rechnungen direkt bei ihm landeten, konnte er ihre Frustration verstehen.

»Muss ich die Rechnung bezahlen, selbst wenn es ein Unfall war?«, hatte er den Thunderhead einmal gefragt. »Es ist nicht meine Schuld, dass ich ein Pechvogel bin.«

»Es ist keine Frage der Schuld« , hatte der Thunderhead ihm erklärt. »So lautet die Regelung bei einem Unfall, unabhängig davon, wer verantwortlich war.«

Diesmal jedoch war sein Tod durch eine böswillige Handlung verursacht worden – eine der wenigen Ausnahmen, bei denen nicht er für die Kosten seine Wiederbelebung aufkommen musste. Sie würden den Schuldigen in Rechnung gestellt werden, einer Truppe lokaler Widerlinge. Sie waren zufällig in das Hotel eingedrungen, in dem Stæinsby übernachtete, und hatten in mehreren Zimmern die Halterung der vom Boden bis zur Decke reichenden Fenstern gelockert. Als Mr. Stæinsby am nächsten Morgen beim Überstreifen seiner Hose das Gleichgewicht verloren und sich ans Fenster gelehnt hatte, war er der Erste gewesen, der den Streich der Widerlinge entdeckte.

Er erinnerte sich, dass er im Fallen verzweifelt versucht hatte, seine Hose hochzuziehen, weil es schon schlimm genug sein würde, totenähnlich zu werden, ohne dabei auch noch mit halb heruntergelassener Hose auf einer öffentlichen Straße zu landen. Erst im letzten Moment erkannte er, dass jemand direkt in seiner Flugbahn stand.

Die junge Frau bremste seinen Fall, so dass er noch ein paar Sekunden lebte und nicht umhin konnte festzustellen, dass sie ziemlich hübsch war. Sogar mit gebrochenem Hals.

Nachdem Cochran in der Wiederbelebung aufgewacht war, fragte er die Schwester nach ihr. »Hat das Mädchen, auf dem ich gelandet bin, überlebt?«

»Ich fürchte nicht«. Sagte die Schwester freundlich. »Sie liegt ein paar Zimmer weiter – und ist selbst gerade erst aufgewacht.«

»Darf ich … mit ihr sprechen? Ich würde mich gern entschuldigen.«

»Wofür denn?«

»Nun, es ist meine Schuld, dass sie hier ist, oder nicht?«

»Nicht, sofern der Sturz aus einem sabotierten Fenster kein Verbrechen ist.«

»Ein was?«

»Vergessen Sie’s. Ich werde nachschauen, ob sie schon bereit ist, Besuch zu empfangen.«

 

Marni blickte von ihrer Eiscremeschale auf und sah einen jungen Mann auf der Schwelle stehen. »Kann ich Ihnen helfen?«, fragte sie. Es war ungewöhnlich, dass Fremde in Aufwachräume kamen.

»Hallo, Sie müssen Marni Wittle sein. Ich wollte bloß vorbeischauen und sehen, ob es Ihnen gut geht.«

Der Mann war recht attraktiv. Eigentlich hatte er noch mehr von einem Jungen. Er war ungefähr so alt wie sie, zwanzig, einundzwanzig. Ein junger Mann, der versuchte, sich älter zu benehmen, als er wirklich war. Sein gutes Aussehen kam bescheiden daher, und er hatte zutiefst seelenvolle Augen.

»Kenne ich Sie?« Marni war von der Wiederbelebung nach wie vor ein wenig schwummrig, deshalb hatte sie den naheliegenden Zusammenhang noch nicht hergestellt. Im Gegensatz zu dem jungen Mann war sie auf der Stelle totenähnlich gewesen und hatte buchstäblich keine Ahnung, was sie getroffen hatte.

»Nun, ja, gewissermaßen schon«, sagte er. »Ich bin derjenige, der auf Sie gefallen ist.«

»Oh. Dann sind Sie ein Platscher?«

Die Vermutung schien ihn zu schockieren. »Nein, nein. Nichts dergleichen. Es war ein vollkommen unbeabsichtigter Sturz.«

»Entschuldigen Sie, ich wollte Sie nicht kränken.«

»Ich bin derjenige, der sich entschuldigen sollte, Ms. Wittle. Durch mich haben Sie zwei volle Tage verloren.«

Ihre Blicke trafen sich, und sie konnte die Augen nicht von ihm wenden. Sie war ein wenig atemlos, und das lag nicht nur an der Übelkeit von dem NAS ti-Shake. Dies war etwas vollkommen anderes.

Marni lächelte ihn an. »Nun, eine kleine Pause von unserem Leben kann hin und wieder ganz guttun.« Sie hielt ihm ihren Löffel hin. »Ein bisschen Rum-Rosinen-Eiscreme?«

»Rum-Rosinen? Das ist meine Lieblingssorte. Das gab es bisher noch nie in einem Revival-Zentrum.«

»In diesem schon!«

Er nahm einen Löffel voll und verdrehte verzückt die Augen.

»Die Schwestern haben mir ein Geheimnis verraten«, flüsterte sie ihm zu. »Die Eiscreme in Revival-Zentren ist mit Naniten versetzt, die direkt auf das Lustzentrum des Gehirns einwirken. Damit soll das Wiederbelebungs-Depressions-Syndrom bekämpft werden.«

»So etwas gibt es?«

»Nicht mehr«, sagte sie. »Dank dieser Köstlichkeit.«

Er lächelte sie an. Sie befürchtete, dass der Moment peinlich und verlegen werden könnte, aber das geschah nicht.

»Ich heiße Cochran, Cochran Stæinsby«, sagte er. »Aber Sie können mich Ran nennen.«

»Das ist ein seltsamer Spitzname.«

»Na ja, die erste Silbe von Cochran ist als Spitzname ein bisschen problematisch, oder? Also bin ich mein Leben lang mit der zweiten gerufen worden. Ich war Ran, Ranny, sogar Rando.«

Marni überlegte. »Ein schöner Name wie Cochran sollte gebührend gewürdigt werden. Deshalb werde ich Sie so nennen. Es sei denn, ›Mr Stæinsby‹ ist Ihnen lieber.«

Er lächelte freundlich. »Cochran ist prima.«

In diesem Moment hörte man aus dem Erdgeschoss eine Stimme mit routiniertem Missvergnügen herumzetern.

»Wo ist sie?«, wollte sie wissen. »Wo ist meine Nichte? Bringen Sie mich sofort zu ihr! Meine Geduld hängt heute am seidenen Faden, und Gott helfe jedem, der ihn zum Reißen bringt.«

»Das ist meine Tante«, sagte Marni. »Sie sollten besser gehen – Sie wollen lieber nicht in ihr Visier geraten, wenn sie schlechte Laune hat.«

»Sie klingt wie jemand, der immer schlechte Laune hat.«

Darüber musste Marni kichern. »Sie haben ja keine Ahnung!«

»Darf ich … darf ich Sie wiedersehen, Marni? Zum Mittagessen vielleicht? Um mich für all das zu revanchieren?«

Marni musste nicht lange überlegen. Vielleicht wäre es schicklich gewesen, schüchterner zu reagieren, aber sie wollte ihn wiedersehen, und sie wollte, dass er es wusste.

»Wie wär’s mit morgen?«, schlug sie vor. »Um zwölf Uhr mittags?«

»Wo?«

»Dort, wo wir uns zum ersten Mal begegnet sind.«

Cochran lächelte. »Ich werde darauf achten, diesmal aus einer anderen Richtung zu kommen.«

 

Marnis Tante bekam in der Regel ihren Willen. Das galt für alle Scythe. Sie war Scythe Boudicca, benannt nach einer legendären Heldin des frühen Britanniens, lange bevor es Britannien geworden war. Die original Boudicca war der Überlieferung nach eine hochgewachsene, souveräne Frau mit einer breiten Weltsicht gewesen. Scythe Boudicca war nichts von alldem. Sie war klein von Gestalt und noch kleiner im Geiste, allzu bekümmert um allerlei Mittelmäßiges. Ihre größte Freude im Leben war der Vortrag ihrer endlosen Litanei von Beschwerden. Wenn man Menschen zu Tode quengeln könnte, hätte sie diese Methode des Nachlesens bestimmt mit Vorliebe angewandt.

Ihre markante Robe war aus einem echten mittelalterlichen Wandteppich gefertigt, die Darstellung eines Einhorns, das aussah wie eine Ziege, eines Löwen, der aussah wie ein Golden Retriever, sowie mehrerer vornehmer Damen mit länglichen und zu kleinen Köpfen. Diese Wandteppichrobe war extrem schwer, und Scythe Boudicca klagte auch regelmäßig über ihr Gewicht, trug sie jedoch trotzdem weiter.

»Es ist die unendliche Bürde eines Scythe, das erdrückende Gewicht der Menschheit zu tragen«, hatte sie einmal verkündet. »Und die Menschheit scheuert.«

Boudicca war nicht ihre erste Wahl für ihre Historische Patronin gewesen. Ursprünglich hatte sie vorgehabt, Scythe Beatrix Potter zu werden, weil die Geschichten der geliebten Schriftstellerin sie nicht nur an ihre Kindheit erinnerten, sondern sie auch zu ihrer lebenslangen Liebe zu Kaninchen geführt hatte. Aber ähnlich wie bei Mr. Stæinsby eignete sich der Vorname Beatrix nicht für schmeichelhafte Spitznamen. Sie befürchtete, die Leute könnten sie Trixie nennen – was vielleicht ein hübscher Name für einen Hund war, aber bestimmt nicht für eine Scythe.

Erst als die anderen Scythe begannen, sie »Boo« zu rufen, erkannte sie ihre Torheit.

 

Marni erzählte ihrer Tante nichts von Cochran und ihrer Verabredung zum Mittagessen. Stattdessen saß sie am Abend nach ihrer Heimkehr aus dem Revival-Zentrum still am Esstisch und hörte sich die allzu vertrauten Tiraden ihrer Tante an.

»Du musst mehr auf deine Umgebung achten, Marni. Dann wärst du auch nicht unversehens von einem herabstürzenden Übeltäter erwischt worden.«

»Er ist kein Übeltäter, Tante Boo – er wurde Opfer eines Streiches von Widerlingen.«

Ihre Tante winkte ab. »Natürlich behauptet er das – er versucht, sich vor den Kosten für die Wiederbelebung zu drücken. Wie konntest du so leichtgläubig sein?«

Marni erduldete die Predigt so wie alle Vorträge ihrer Tante. Sie hatte schon vor lange Zeit gelernt, das Gerede ihrer Tante einfach an sich abperlen zu lassen. Sie hatte es schließlich nicht nötig, sich bei ihr einzuschmeicheln. Als enge Blutsverwandte genoss Marni Immunität, solange ihre Tante lebte, unabhängig davon, ob sie mit ihr zusammenwohnte oder nicht. Das war also nicht der Grund, warum sie bei ihr blieb. Sie blieb, weil Tante Boo sie brauchte. Wer sollte sich sonst um die Burg kümmern? Wer sollte ihrer Tante ausreden, in einem Wutanfall die Haushälterin, den Hausmeister oder die Köchin nachzulesen? Severndroog Castle war verglichen mit anderen Scythe-Residenzen nichts Besonderes, aber es war ein durchaus angenehmer Ort zum Leben.

Und wohin sollte Marni auch gehen? Ihre Eltern waren wie so viele Menschen weitergezogen und hatten sich neuen Familien und einem neuen Leben gewidmet. Tante Boo hingegen war ein Gewohnheitswesen und würde nirgendwohin gehen. Das Leben mit ihr war verlässlich – und sosehr Marni es hasste, wenn ihre Tante im Revival-Zentrum auftauchte, hätte sie es offen gestanden noch schlimmer gefunden, wenn niemand gekommen wäre.

 

Marni hatte noch nie ein Date gehabt. Scythe Boudicca hatte deutlich gemacht, dass Verehrer verboten waren und ein Mädchen in Marnis zartem Alter erst ihren eigenen Weg in der Welt machen sollte, bevor sie sich mit einem Partner verhedderte.

»Lerne dich selbst kennen«, dozierte sie. »Stehe auf eigenen Füßen, sonst könntest du unversehens unter seinen zerdrückt werden wie ein Insekt.«

Ob sie von diesen Ratschlägen wirklich überzeugt war oder diese nur vertrat, damit Marnis Aufmerksamkeit auch in Zukunft ausschließlich ihr galt, wusste Marni nicht. Aber sie hatte ohnehin nicht vor, ihrer Tante von ihrem Date mit Cochran Stæinsby zu erzählen.

Sie trafen sich am verabredeten Ort pünktlich zur verabredeten Zeit. Cochran hatte einen Tisch in einem netten franko-iberischen Bistro reserviert. Marni war noch nie in einem Lokal wie diesem gewesen. Mit ihrer Tante speiste sie immer nur in denselben drei Restaurants. Im Criterion, im Kettners und im Simpsons-in-the-Strand, alles noble Lokale, die es schon seit der Sterblichkeitsära gab. Uralt und muffig wie die zugige Burg, in der Marni mit ihrer Tante lebte. Insofern war das Mittagessen mit Cochran schon deshalb außergewöhnlich, weil es eine neue Erfahrung für sie war. Und auch wenn die Unterhaltung belanglos blieb und sich ein wenig im Kreis drehte, hatte es etwas Charmantes, mit jemandem, den man kaum kannte, über nichts zu plaudern.

Er erzählte ihr, dass er in Manchester wohnte, was Marni unheimlich weit weg erschien, obwohl es tatsächlich nicht allzu weit entfernt war. Aber Marni konnte sich nicht erinnern, wann sie zum letzten Mal aus London herausgekommen war.

»Ich besuche Messen«, sagte Cochran, als sie ihn fragte, was er beruflich mache.

»Was für Messen?«

»Alle möglichen.«

»Ich meine, in welcher Branche sind Sie?«

»In der Messebranche«, wiederholte er. »Ich bin professioneller Besucher.«

»Ich fürchte, ich kann Ihnen nicht folgen.«

»Das überrascht mich nicht – es ist eine Nische.«

So behütet, wie Marni lebte, war sie noch nie auf einer Messe gewesen. Sie wusste, dass es große Veranstaltungen waren, wo Menschen neue Produkte vorstellten und sich mit anderen Leuten aus ihrer Branche trafen. Aber laut Cochran waren die meisten dieser Produkte unfassbar öde. So öde, dass nur noch wenige Menschen freiwillig Messen besuchten.

»Und da komme ich ins Spiel«, erklärte er. »Damit es auf Messen nicht trostlos und traurig zugeht, engagiert der Thunderhead professionelle Besucher. Mein Job ist es, herumzuschlendern und Interesse vorzutäuschen.«

»Das klingt absolut furchtbar.«

»Überhaupt nicht. Die Menschen sind dankbar, dass jemand mit ihnen spricht. Ich heitere ihren Tag auf – und dafür muss ich nur so tun, als wäre ich fasziniert von Badezimmerarmaturen oder Türklinken!«

Dann fragte er Marni, wie erwartet, nach ihrem Leben. Sie entschied, dass er nicht alle Details wissen musste.

»Ich führe das Anwesen meiner Tante.«

»Wirklich! Ein Anwesen!«

»Kein großes. Aber es füllt die meisten meiner Tage.«

Dann wurde der Hauptgang serviert, und sie konnte die Unterhaltung wieder von sich weglenken. Irgendwann würde er mehr wissen wollen, aber für den Augenblick genoss Marni es, eine mysteriöse Frau zu sein.

 

Danach trafen sie sich jedes Mal, wenn er in der Stadt war. Das war er häufig, aber für Marni konnte es gar nicht oft genug sein. Gefühle entwickelten sich, und bald wurde, was als unglücklicher Zufall begonnen hatte, sehr absichtsvoll.

»Vielleicht könntest du mich irgendwann mal besuchen kommen«, schlug er mehr als einmal vor.

»Ja, irgendwann«, erwiderte sie sehnsüchtig, wohl wissend, dass ihre Tante das Haus nie lange genug verließ, um das möglich zu machen.

Nach ihrem vierten Date nahmen die Dinge eine Wendung zum Schlechteren – oder sie machten – genauer gesagt – einen Schritt dorthin. Es war nach dem Abendessen in einem schicken, angesagten Restaurant. Marnie hatte ihr schönstes Kleid angezogen, dazu hochhackige Schuhe, was ihre Tante missbilligte, weshalb sie sie selten trug. Sie hatte äußerst listenreich vorgehen müssen, um so spät noch außer Haus unterwegs zu sein, ohne dass ihre Tante Fragen stellte. Die hohen Absätze stellten sich als ein Fehler heraus, denn als sie nach Verlassen des Restaurants auf ein Publicar warteten, stolperte Marni über eine Unebenheit im Pflaster und taumelte vom Rinnstein. Sie klammerte sich instinktiv an Cochran, doch anstatt sie festzuhalten, wurde er von ihr mitgerissen.

Und der nahende Lkw fuhr zu schnell, um noch zu bremsen.

 

In der postmortalen Welt gab es zahllose Lover’s Leaps . Tatsächlich standen vor vielen Klippen mit spektakulärer Aussicht, die früher als Fotospots bezeichnet worden waren, jetzt Schilder mit der Aufschrift FREIER LIEBESFALL . Hand in Hand mit seinem oder seiner Geliebten zu sterben galt als der ultimative romantische Akt. Vor allem, da beide nach ein oder zwei Tagen wieder ins Leben zurückgebracht wurden.

Es gab eine ganze Industrie, die sich auf Klippenhochzeiten spezialisiert hatte, die mit einem dramatischen Sturz in die Tiefe endeten. Das veränderte natürlich auch die Tradition des Brautstrauß-Werfens. Nun galt, dass diejenige, die den Strauß vom Fuß der Klippe bergen konnte, ohne dabei selbst totenähnlich zu werden, das Glück der Braut empfangen würde.

Einige malerische Absturzorte waren so beliebt, dass es sogar eigene Flitterwochen-Revival-Zentren mit Herzchen, Rosen und Wiederbelebungs-Doppelzimmer für Paare gab.

Aber keins von Cochrans und Marnis beiden Duetten der Totenähnlichkeit brachte sie an einen solchen Ort. Stattdessen wurden sie von Ambudrohnen schnurstracks ein weiteres Mal in das Woolwich-Revival-Zentrum gebracht. So sah es ein Dauerbefehl vor, den Scythe Boudicca für alle Todesfälle erlassen hatte, die ihre zu Unfällen neigende Nichte betrafen, weil das Zentrum in bequemer Entfernung von ihrer Burg lag. Deshalb blickte Marni beim Aufwachen ein weiteres Mal in das stets gut gelaunte Gesicht von Schwester Lucille.

»Hallo, Schätzchen! Sind wir ein bisschen gestolpert und gestürzt? Traue nie einem Lkw, sage ich immer!«

Marni stöhnte. War sie wirklich wieder gestorben? Es dauerte einen Moment, bis ihre letzte Erinnerung sich wieder einstellte. Dann richtete sie sich so ruckartig in ihrem Bett auf, dass sich vor ihren Augen alles drehte.

»Cochran! Wo ist Cochran?«

»Mr. Stæinsby ist im Nebenzimmer, Liebes. Er ist vor ein paar Stunden wieder zu sich gekommen. Er wollte Sie besuchen, aber ich habe ihm erklärt, er müsse noch warten.«

»Sie hätten ihn hereinlassen können …«

»Oh, aber Sie haben einen so erschreckenden Anblick geboten, Liebes. Ihr Kopf ist mit einem der Reifen des Lkw kollidiert, und Sie wissen ja, wie das endet. Tss, tss, tss. Wir mussten das Gehirn vollständig nachwachsen lassen und einen kompletten Erinnerungsdownload durchführen.«

Nun, das erklärte, warum sie sich an den Sturz erinnerte, aber nicht daran, totenähnlich geworden zu sein. Offenbar hatte der Thunderhead bei seinem Backup die letzten Sekunden ausgelassen. Eigentlich ein kleiner Segen.

»Wie sehe ich jetzt aus?«

Schwester Lucille musterte sie. »Ihr hübsches kleines Köpfchen ist immer noch geschwollen und ein bisschen schief, aber das Schlimmste ist bereits abgeklungen. Sie werden in null Komma nichts wieder in Form sein. Buchstäblich sozusagen.«

Ein Blick in den Spiegel bestätigte die Einschätzung der Schwester. Marni sah ein bisschen so aus wie die Frauen mit den länglichen Köpfen auf der Wandteppichrobe von Tante Boo.

Bei dem Gedanken an ihre Tante atmete Marni tief ein.

»Lucille, ist Scythe Boudicca schon hier gewesen?«

Die Schwester schenkte ihr ein strahlendes Lächeln. »Sie ist bei Mr. Stæinsby.«

»Was?«

»Oh ja, sie plaudern schon eine ganze Weile miteinander.«

Marni riss ihre Monitorkabel ab und sprang aus dem Bett, ohne Schwester Lucilles Proteste zu beachten. Obwohl sich ihr nicht ganz runder Kopf schwummrig anfühlte und ihre frisch verheilten Beine wackelig, schaffte sie es bis ins Nebenzimmer. Dort saß ihre Tante in vollem Scythe-Boudicca-Ornat neben Cochran, als wären die beiden alte Freunde.

»Da schau her, was die Katze angeschleppt hat«, sagte die Scythe, als sie Marni in der Tür stehen sah, und runzelte dann die Stirn. »Gute Güte, Marni, du siehst schrecklich aus! Hast du schon deinen NAS ti-Shake bekommen? Gibt es einen Zeitplan für die vollständige Genesung?«

Marni ignorierte die Fragen ihrer Tante.

»Was machst du hier, Tante Boo?«

»Dein junger Mann und ich haben nett geplaudert.«

Cochran lächelte Marni an wie ein kleiner Junge, der zu naiv war, um zu wissen, dass ein sanfter Golden Retriever in Wahrheit ein mittelalterlicher Löwe sein konnte.

»Du hast mir gar nicht erzählt, dass deine Tante eine Scythe ist!«

»Und mir hat sie nie von Ihnen erzählt«, sagte Tante Boo.

Marni zwang sich, das Zimmer zu betreten und sich der beunruhigenden Dynamik der Unterhaltung zu stellen. »Also … ich … ich bin bloß einfach noch nicht dazu gekommen.«

»Du hättest mir erzählen sollen, dass du einen Freund hast, Marni. Ich freue mich so für dich!«

Marni hatte das Gefühl zu torkeln. Vielleicht war ihr Gehirn noch nicht vollkommen wiederbelebt, denn ihr war, als hätte ihre Tante etwas Positives gesagt.

»Wirklich?«

»Was könnte wichtiger sein als die Liebe?«, sagte ihre Tante. »Bestimmt nicht die Pflicht oder familiäre Verantwortung.«

Das klang schon mehr wie die Tante Boo, die Marni kannte.

»Scythe Boudicca hat mich in euer Schloss eingeladen!«, sagte Cochran viel zu begeistert für einen Mann, der kürzlich von einem Zehntonner überfahren worden war.

»Ich glaube nicht, dass das eine gute Idee ist«, sagte Marni.

»Unsinn«, widersprach ihre Tante. »Ich habe ihn eingeladen, er hat angenommen, also ist es abgemacht.«

»Ich war noch nie im Haus einer Scythe«, sagte Cochran. »Und außerdem würde ich gern sehen, wie du wohnst, Marni!«

»Beschlossen und verkündet«, sagte ihre Tante. »Wir feiern zu Hause in unserer Burg eure gemeinsame Wiederbelebung. Und falls das ein Trost ist, berichte ich euch noch, dass ich den Fahrer dieses Lkw nachgelesen habe.«

»Tante Boo! Es war nicht seine Schuld – Lkw-Fahrer steuern ihr Fahrzeug gar nicht mehr selbst, das weißt du! Sie sind bloß an Bord, falls irgendetwas … Unerwartetes … passiert.«

Boudicca zuckte die Schultern unter ihrem schweren Wandteppich. »Nun, jetzt ist es zu spät, darüber zu zanken.«

Dann kam Schwester Lucille herein und bestand darauf, dass Marni in ihr Bett zurückkehrte, wenigstens bis ihr Kopf sich wiederhergestellt hatte.

Gehorsam kehrte Marni in ihr Zimmer zurück, obwohl die aktuelle Lage ihr Sorgen bereitete. Tante Boo führte offensichtlich irgendwas im Schilde … aber ob sie ein mittelalterlicher Löwe war, der Cochran in Stücke reißen wollte, oder nur eine Einhorn-Ziege, die ihn anstupste und pikste, bis er wegging, da war Marni sich nicht sicher.

 

Cochran wusste ebenfalls nicht, was er von alldem halten sollte. Aber als Optimist beschloss er, das Positive zu sehen. Als die Scythe sein Wiederbelebungszimmer betreten hatte, hatte er einen gewaltigen Schrecken bekommen – aber nachdem sie sich als Marnis Tante vorgestellt hatte, waren sie bestens miteinander ausgekommen. Cochrans berufliche Fähigkeit als professioneller Besucher, sich an allem interessiert zu zeigen, was sie zu sagen hatte, machte ihn zum perfekten Gesprächspartner für sie. Und Scythe Boudicca war zweifelsohne eine Meisterin des Banalen. Betrachtungen über das Wetter und ihr Missvergnügen, dass der Thunderhead nicht überall für permanenten Sonnenschein sorgte. Dazu eine veritable Tirade über die mangelnde Hygiene von Britanniens Jugend. In gewisser Weise war es sogar erfrischend; er hatte immer gedacht, Scythe würden nur hochtrabende und geistvolle Themen besprechen.

Scythe Boudicca interessierte sich dafür, wie er Marni kennengelernt hatte. Cochran antwortete offen und aufrichtig, weil er glaubte, dass es keinen Grund gab, es nicht zu sein.

 

Severndroog war eine alte Burg, trotzdem reichte ihre Errichtung nicht zurück bis ins finstere Mittelalter, sondern nur bis in die düstere Zeit des industriellen Englands, als reiche Geschäftsleute ihren Egos Baudenkmäler errichteten. Severndroog Castle hatte nie irgendwelche Eroberer abgewehrt oder aufständischen Bauern getrotzt. Es stand bloß in der Landschaft, um zu imponieren.

Es war auch keine richtige Burg, sondern eher ein merkwürdiger dreieckiger Steinturm mit Zinnen, nicht um Kanonen in Stellung zu bringen, sondern damit Besucher die Aussicht bewundern konnten. Die Innenfläche war auch nicht besonders groß. Es gab drei Stockwerke, die mit einer Wendeltreppe verbunden waren.

»Warum sollte ich den Buckingham Palace beanspruchen wie Scythe Cromwell oder Windsor Castle wie Scythe Godiva?«, deklamierte Boudicca regelmäßig. »Wer braucht all den Platz?«

Aber in Wahrheit waren die guten Burgen und Paläste einfach schon belegt.

 

Nach Cochrans und Marnis Entlassung aus dem Wiederbelebungszentrum ließ Scythe Boudicca sie alle gemeinsam in ihrem Privatwagen bis ans Tor ihres Anwesens chauffieren, aber nicht weiter.

»Der Tag ist angenehm genug für einen Spaziergang«, verkündete sie. Cochran und Marni waren zwar noch ein wenig erschöpft, und der Weg führte bergauf, doch sie bewältigten die Strecke. Früher war der kleine Wald ein öffentlicher Park gewesen, doch jetzt gehörte er zu Scythe Boudiccas Privatgrundstück. Severndroog Castle lag genau in der Mitte.

Als Erstes fiel Cochran die Tierwelt auf.

»Ich habe noch nie so viele Kaninchen gesehen«, rief er, als sie den Kiesweg zu der Burg hinaufstapften.

»Ich züchte sie«, erklärte Scythe Boudicca ihm. »Oder sagen wir, ich lasse sie sich selbst darum kümmern, ohne zu helfen, aber auch ohne sie daran zu hindern.«

»Anderenorts würde man sie als Plage betrachten«, sagte Marni, »und der Thunderhead würde ihre Fruchtbarkeit regulieren. Aber nicht auf einem Scythe-Grundstück.«

Cochran fand die Burg eher bescheiden – wenn man etwas, das als Burg bezeichnet wurde, überhaupt bescheiden nennen konnte. Ja, es gab riesige kunstvoll verzierte Türen und hohe Decken, aber der eigenartige dreieckige Grundriss machte eine Menge Fläche unbenutzbar.

Eine Haushälterin hatte einen Nachmittagstee für sie bereitet, dazu frisch gebackene Scones und kleine Gurkensandwiches, deren Kruste mit chirurgischer Sorgfalt entfernt worden war.

»Die alten Traditionen sind die besten«, sagte Scythe Boudicca, als sie persönlich den Tee eingoss. »Komfort im Chaos.«

Marni schien von alldem weniger begeistert. Cochran vermutete, dass die Burg für sie vor allem eine alltägliche Plackerei war, und machte sich keine weiteren Gedanken.

Aber Cochran war auch nicht eingeweiht in Dinge, die Marni wusste. Wie zum Beispiel die Wahrheit hinter dem rituellen Nachmittagstee ihrer Tante.

Scythe Boudicca lud bei ihren täglichen Spaziergängen durch die Stadt diverse Leute zum Tee auf ihre Burg ein. Wenn sie jemanden mochte, durfte er anschließend wieder gehen, und die Scythe erwartete, dass man sich mit einem höflichen Brief für ihre Gastfreundschaft bedankte. Und wenn Scythe Boudicca einen nicht mochte, dann wurde man nachgelesen.

»Sagen Sie, Mr. Stæinsby, welche Absichten hegen Sie bezüglich meiner Nichte?«, fragte sie ohne jedes Feingefühl.

»Tante Boo! Bitte bring ihn nicht in Verlegenheit.«

Aber Cochran steckte die Frage gelassen weg. Er nippte an seinem Tee, stellte die Tasse ab und fasste sanft Marnis Hand. »Meine Absichten sind durch und durch ehrenhaft«, erklärte er und lächelte Marni warmherzig an. »Wir mögen uns und freuen uns darauf zu sehen, wohin diese Reise uns vielleicht führt.«

Das quittierte Scythe Boudicca mit einem schlichten, vielleicht sogar aufrichtigen Lächeln, bevor sie Marni ansah. »Ich mag ihn«, sagte sie und zwinkerte ihr zu.

Marni atmete erleichtert aus. Vielleicht lag es an dem warmen Tee oder ihrem nachlassenden Stress, vielleicht auch daran, dass man sie im Revival-Zentrum immer überhydrierte, jedenfalls spürte sie einen plötzlichen Drang, sich zu erleichtern.

»Ich muss mal«, erklärte sie. »Lasst mir ein Scone übrig.« Und dann eilte sie davon.

Nachdem Marni gegangen war, wandte die Scythe ihre Aufmerksamkeit wieder Cochran zu. »Ich glaube nicht, dass ich meine Nichte schon einmal so verunsichert und gleichzeitig so glücklich gesehen habe. Erstaunlich, dass beide Gefühle in einem Menschen nebeneinander existieren können.«

»Ich empfinde ganz genauso«, sagte Cochran. »Das macht vermutlich die Liebe mit einem.«

»Ah ja, die Liebe. Diese magische Fiktion mit der Macht, wahr zu werden.«

Cochran trank seine Tasse leer. »Manchmal ist sie von Anfang an wahr.«

Darauf hatte die Scythe keine Antwort. Stattdessen stand sie auf. »Soll ich Ihnen die Burg und das Anwesen zeigen?«

»Sollten wir nicht auf Marni warten?«

»Sie wird schon nachkommen«, sagte die Scythe und führte ihn zu der Wendeltreppe in der Ecke. »Hat Marni Ihnen von der Aussicht vom Nordturm erzählt? Von dort oben hat man einen Blick über ganz London!«

 

Marni tadelte sich stumm dafür, ihrer Tante das Schlimmste zugetraut zu haben. Nur weil sie zu selbstsüchtigem Verhalten neigte, musste sie nicht jedes Mal etwas Unangenehmes planen. Und wie Tante Boo Marni regelmäßig erinnerte, war sie gutherzig genug gewesen, ihr in all den Jahren ein Zuhause zu geben – nicht nur ein Zuhause, sondern eine Burg – und dafür wenig mehr zu verlangen als Marnis Gesellschaft. Vielleicht sollte sie ihrer Tante einen Vertrauensvorschuss geben.

»Ich will das Beste für dich«, sagte Tante Boo häufig. »Auch wenn die Welt nur selten ihr Bestes anbietet.«

In der Hoffnung, dass die anderen ihr wirklich ein Scone übrig gelassen hatten, kehrte Marni in den Salon zurück – nur um festzustellen, dass zwar ein Scone auf sie wartete, ihre Tante und Cochran jedoch nicht.

 

Die Aussicht vom Nordturm enttäuschte nicht.

»Sie hatten recht, Euer Ehren«, sagte Cochran, als er über die Themse und weit darüber hinaus blickte. »Es ist atemberaubend!« Die ganze Stadt London lag zu seinen Füßen, und auch wenn er schon imposante Panoramen der City gesehen hatte, war keines so umfassend gewesen.

»Ich komme mehrmals die Woche hier hoch«, erklärte die Scythe, was in der Tat stimmte. »Ich finde, es gibt den Dingen eine Perspektive.« Und auch wenn das ebenfalls wahr war, war es doch nicht der Hauptgrund.

Eine Zeitlang genossen sie schweigend die Aussicht. »Ich verlasse London nie, wissen Sie«, vertraute Scythe Boudicca ihm an. »Als Scythe könnte ich gehen, wohin ich will. Nicht nur in Britannien, sondern überall auf der Welt. Aber ich habe mich entschieden, mein gesamtes Leben in dieser nobelsten aller Städte zu verbringen und auch alle meine Nachlesen hier durchzuführen.«

»Wenn Sie nicht reisen, wozu dann der Heliport?«, fragte Cochran.

Scythe Boudicca runzelte verwirrt die Stirn, und er wies auf einen Betonkreis mit konzentrischen Kreisen auf einer Lichtung am Fuße des Hügels.

»Ah ja«, sagte Scythe Boudicca. »Sie haben recht; es ist eine Art Landeplatz.«

»Für andere Scythe, die Sie besuchen?«

»Wenn Sie das sagen.«

Sie hatte ein Stück entfernt gestanden, kam jetzt jedoch langsam näher und senkte die Stimme. »Meine Marni ist eine sensible Seele, Mr. Stæinsby. Alles Neue verunsichert sie. Sie zieht ein beständiges und vertrautes Leben vor. Deshalb werden Sie bestimmt verstehen, weshalb ich besorgt bin über Ihre ›Beziehung‹ mit ihr. Veränderungen ihrer alltäglichen Routine verwirren und verstören sie.«

»Verzeihen Sie, wenn ich das sage, Euer Ehren … aber ich glaube, das beschreibt eher Sie als Marni.«

Scythe Boudicca schürzte die Lippen, schwankte ein wenig und wäre beinahe gestolpert. Cochran fasste ihren Ellbogen, um sie zu stützen.

»Alles in Ordnung, Euer Ehren?«

»Mir ist nur ein wenig schwindelig«, sagte sie. »Sosehr ich die Aussicht genieße, bekomme ich hin und wieder leichte Höhenangst.« Sie machte ein paar Schritte zurück und ließ Cochran allein auf dem Turm stehen. »Aber Sie sollten unbedingt noch bleiben und sich an dem Blick erfreuen. Ich kann Ihnen versprechen, je länger Sie bleiben, desto klarer wird die Perspektive.«

Dann streckte sie die Hand in eine geheime Nische zwischen den Backsteinen und griff nach einem dort verborgenen Hebel.

 

Schon auf dem ersten Treppenabsatz war Marni außer Atem. Die Wendeltreppe war steil, und sie musste noch zwei Stockwerke bis zum Dach bewältigen. Normalerweise hüpfte sie diese Stufen mühelos hinauf, aber sie war noch geschwächt von der Wiederbelebung. Sie fürchtete, ohnmächtig zu werden, wenn sie sich zu sehr anstrengte, und was dann? Wenn sie es nicht rechtzeitig auf das Dach schaffte, würde sie sehr viel mehr verlieren als nur das Bewusstsein. Also ignorierte sie ihre Erschöpfung, die Schmerzen in ihren Gummibeinen und das Brennen in ihren Lungen, bis sie schließlich durch die Tür zur Dachterrasse platzte. Cochran stand auf der runden Plattform auf dem Nordturm, und ihre Tante hatte den Arm bereits in die verborgene Nische gestreckt.

»Nein!« , schrie Marni, was die Aufmerksamkeit der beiden erregte.

Sie stürzte auf ihre Tante zu und packte deren Handgelenk, so dass jene den Hebel nicht bedienen konnte. »Wage es bloß nicht!« , knurrte sie.

In diesem Ton hatte sie noch nie mit ihrer Tante geredet. Niemals. Es traf Boudicca wie ein Schlag ins Gesicht.

»Lass mich los!«, verlangte die Scythe. »Das ist nicht deine Sorge!«

Darüber musste Marni tatsächlich lachen. »Nicht meine Sorge? Es ist das Einzige , was mich an dieser verdammten Burg sorgt!«

Ihrer Tante stockte der Atem. »Wie kannst du es wagen, in diesem Ton mit mir zu sprechen? Diese Respektlosigkeit! Diese Unverschämtheit!«

Aber Marni packte das Handgelenk ihrer Tante nur noch fester – so fest, dass sie befürchtete, es könnte brechen.

Cochran beobachtete das Ganze von seinem Platz auf dem Turm, unsicher, ob es ihm zustand einzugreifen. Aber als es so aussah, als könnte es tatsächlich zu Handgreiflichkeiten kommen, erhob er seine Stimme.

»Marni, ist schon gut, wirklich. Deine Tante hat mir nur die Aussicht gezeigt.«

»So kann man es auch ausdrücken!«, erwiderte Marni. »Die Plattform, auf der du stehst, ist mit einer Sprungfeder ausgestattet. So liest sie ihre Opfer nach – sie katapultiert sie über das Gelände. Sie landen auf dem betonierten Zielfeld.«

»Das ist nicht wahr!«, widersprach ihre Tante. »Sie treffen das Ziel nur, wenn der Wind richtig steht.«

Diese neue Information rückte die Dinge für Cochran auf jeden Fall in eine neue Perspektive. Hastig stieg er von der Plattform.

Schließlich befreite Scythe Boudicca sich aus Marnis Griff und wandte sich ihr frontal zu, wütend, dass ihr Plan vereitelt worden war. »Dieser Junge ist nicht das, was du brauchst. Marni! Ich weiß, was das Beste für dich ist. Das wusste ich schon immer! Lass mich ihn nachlesen, damit wir zu unserem Leben zurückkehren können!«

Marni war nie ein gewalttätiges Mädchen gewesen, doch manchmal packt einen die Wut, bevor die eigenen Naniten etwas dagegen ausrichten können.

Sie streckte beide Hände aus und versetzte ihrer Tante einen Stoß.

Boudicca taumelte rückwärts, stolperte über den Saum ihrer Robe und landete mitten auf der Plattform des Turms.

Die Scythe musste etwas in Marnis Blick erkannt haben, denn ihr ganzes Gebaren änderte sich schlagartig. Sie hatte Angst. Mehr als Angst, sie war in Panik.

»Das würdest du nicht machen!«

Aber für Marni klangen diese Worte wie eine Herausforderung. Sie griff nach dem Hebel, wohl wissend, dass sie, wenn sie zu lange zögerte, wieder zur Vernunft kommen würde. Und in diesem Moment wollte sie alles sein, nur nicht vernünftig.

Cochran versuchte noch zu intervenieren. »Marni, nicht!«

Aber jetzt konnte sie nichts mehr aufhalten. Mit der Kraft und Entschlossenheit jahrelang unterdrückter Frustration zog sie so heftig an dem Hebel, dass der Griff abbrach.

Man hörte ein explosionsartiges Knirschen des Getriebes, und Scythe Boudicca wurde in einer perfekten Demonstration dessen, was Wissenschaftler als parabelförmige Flugbahn bezeichnen, in den Himmel katapultiert. Unablässig kreischend erreichte sie in fünfzig Metern Höhe den Scheitelpunkt und stürzte zurück auf die Erde.

Und diesmal war es ein Treffer ins Schwarze.

 

Der Thunderhead und die Kaninchen.

Heute waren sie im selben Boot. Weder die Kaninchen noch die beinahe allmächtige KI hatten irgendeine Kontrolle über die Geschehnisse auf dem Anwesen von Severndroog Castle. Sie konnten nur zusehen. Der Thunderhead hatte zwar keine Kameras auf dem von der Scythe bewohnten Grundstück, doch er hatte mehrere Kameras in den umliegenden Straßen trainiert, einen Blick auf das Anwesen zu werfen, damit er zumindest teilweise mitbekam, was dort vor sich ging. Und die Kaninchen? Sie lebten einfach in dem Wald und sahen Menschen vom Himmel fallen.

Es war so alltäglich geworden, dass die Kaninchen kaum noch zusammenzuckten, wenn es passierte. Tatsächlich war es für sie eine Art Pawlow’scher Schlüsselreiz geworden – denn normalerweise kam Scythe Boudicca nach einer Nachlese aus der Burg und fütterte sie mit Küchenabfällen, um sich abzulenken, während der Säuberungstrupp die Sauerei beseitigte. Als an diesem Tag wieder ein Nahrungssignal vom Himmel fiel, hoppelten also alle zur Burg und warteten, dass die Türen sich öffneten und sie mit einer Belohnung beschenkt wurden.

Erst als niemand erschien, um sie zu füttern, begannen die Kaninchen zu argwöhnen, dass irgendetwas nicht stimmte.

 

Zum ersten Mal in ihrem glorreichen Leben erwachte Scythe Boudicca in einem Revival-Zentrum. In Woolwich, um genau zu sein, demselben Zentrum, in dem sie ihre Nichte häufig abholte.

»Guten Morgen, Euer Ehren«, begrüßte Schwester Lucille sie ekelhaft munter wie immer. Sie ließ die Jalousie hochschnappen, und Scythe Boudicca wurde von so hellem Licht geblendet, als wäre sie auf der Oberfläche der Sonne gelandet. »Raus aus den Federn, die Ewigkeit wartet!«

»Lassen Sie mich in Ruhe«, knurrte die Scythe.

»Tut mir leid, aber Stimulation ist ein integraler Bestandteil der Genesung. Wir müssen Ihren Blutkreislauf wieder in Gang bringen und Ihre Sinne sensibilisieren!« Sie gab der Scythe ein paar nicht direkt sanfte Klapse auf die Wange. »So! Ihre Backen kriegen langsam wieder Farbe. Es gibt nichts Schlimmeres als Leichenblässe. Ich mache Ihren NAS ti-Shake fertig – und wenn Sie ihn drinbehalten, bekommen Sie Eiscreme!«

»Wie lange bin ich schon hier?«

»Drei Tage – wie der sterbliche Erlöser persönlich! Und er hat es ohne Heilnaniten geschafft. Das muss man sich mal vorstellen!«

Boudicca entschied, keine weiteren Fragen zu stellen, damit sie Schwester Lucilles Stimme nicht länger ertragen musste – doch die Schwester plapperte auch unaufgefordert munter weiter.

»Ihr ›Abschuss‹ war zunächst ein wenig rätselhaft. Das Scythetum hat ihn zu einer Selbstnachlese erklärt, und wir waren schon bereit, Ihre sterblichen Überreste in die Erde zu betten. Aber Ihre Nichte hat interveniert.«

»Sie hat … wirklich?«

»Ja, Marni hat erklärt, dass das Ganze ein schrecklicher Unfall war. Diese Neigung zu Unfällen muss wohl in der Familie liegen! Sie sollten den Mechanismus Ihres Daches wirklich öfter warten lassen, wissen Sie. Ein Katapult mit einer defekten Schnappfeder ist niemandes Freund!«

Scythe Boudicca klappte mehrmals den Mund auf und wieder zu, um etwas zu sagen, fand jedoch keine Worte.

»Was, ahmen Sie jetzt auch noch einen Fisch nach?«, fragte Schwester Lucille. »Hat Ihnen ein Vogel nicht gereicht?« Sie lachte herzlich über ihren eigenen Witz.

Boudicca konnte sie im Flur immer noch kichern hören, lange nachdem die Schwester das Zimmer verlassen hatte.

Kurz darauf traf Marni ein.

Die Scythe hatte angenommen, dass ihre Nichte nach dem, was sie getan hatte, verlegen sein würde, ihr wieder unter die Augen zu treten, doch das Mädchen wirkte vollkommen entspannt und benahm sich, als wäre nichts geschehen.

»Tante Boo! Ich bin froh, dass du wieder wach bist!«

»Wirklich?«

»Natürlich!« Marni trat ans Bett und drückte Boudicca ein Küsschen auf die Wange. Dann griff sie in eine Tragetasche und zog die ordentlich gefaltete und verpackte Wandteppichrobe der Scythe heraus.

»Diesmal habe ich der üblichen Reinigung nicht getraut – mit all dem Blut und so – und die Robe stattdessen zur Royal Academy of Arts gebracht. Die dortige Antiquitätenabteilung hat sie vollständig restauriert. Die Robe wurde nicht nur gereinigt, sondern auch am Saum geflickt, und alle losen Fäden wurden vernäht. Sie ist jetzt sogar in einem besseren Zustand als damals, als sie noch an der Wand gehangen hat!«

In Boudiccas Kopf drehte sich alles, als würde sie auf einem Karussell sitzen und die Schausteller hätten vergessen, sie aussteigen zu lassen.

»Entschuldige … aber hast du mich neulich nicht umgebracht?«

Marni seufzte. »Ich dachte, daran würdest du dich vielleicht nicht erinnern.«

»Ich erinnere mich an alles«, sagte Scythe Boudicca, verengte die Augen und setzte ihren strengsten wütenden Blick auf. »Ich habe versucht, dich vor deinen eigenen schlechten Entscheidungen zu schützen, und wie wurde mir das gedankt? Mit Verrat!«

Aber Marni wirkte nicht im Geringsten beunruhigt. »Wahrscheinlich ist es besser, dass du dich erinnerst, wenn wir gemeinsam nach vorn schauen wollen«, sagte sie.

»Nach vorn? Ich glaube nicht! Lass uns zunächst ein wenig zurückblicken.«

»Das ist sinnlos«, erklärte Marni ihr.

Und just in diesem Moment tauchte ihr junger Mann in der Tür wie ein übereifriges kleines Hündchen auf.

»Hallo, Tante Boo!«, sagte er.

Boudicca starrte beide wütend an. »Warum nennt er mich so?«

»Weil er es kann«, sagte Marni. »Will sagen, er kann es offiziell . Zeig es ihr, Cochran!«

Beide streckten ihre linke Hand aus und präsentierten zwei passende goldene Ringe an ihrem Ringfinger.

»Wir haben geheiratet«, sagte Cochran.

»Während du tot warst«, fügte Marni hinzu, und beide kicherten.

»Das kann nicht euer Ernst sein!«

Marni ergriff Cochrans Hand. »Nun, Tante Boo, wir wussten, dass es nur über deine Leiche geschehen konnte, deshalb …«

»Ich sollte dich dafür nachlesen, was du mir angetan hast! Ich sollte euch beide nachlesen!«

»Das kannst du nicht«, erinnerte Marni sie mit ärgerlicher Gelassenheit. »Du weißt ganz genau, dass ich dauerhafte Immunität genieße, solange du lebst – und nachdem wir jetzt verheiratet sind, gilt diese Immunität auch für Cochran.«

»Ich mache es trotzdem!«

Marni zuckte mit den Schultern. »Dann werden wir einfach wiederbelebt – und du kriegst von High Blade Churchill einen Klaps auf die Finger, weil du eine ›unerträgliche Zicke‹ bist.«

Der Scythe blieb die Luft weg.

»Seine Worte, nicht meine«, sagte Marni rasch. »So hat er dich genannt, als er gekommen ist, um deine Leiche zu beschauen.«

Nun drehte das Karussell sich in die entgegengesetzte Richtung. »Moment – Winston ist tatsächlich persönlich hergekommen, um mich zu sehen?«

»Nicht so sehr, um dich zu sehen. Er wollte sich eher mit eigenen Augen vergewissern, dass du tot warst«, antwortete Marni.

»Er hat sehr nachdrücklich darauf beharrt, dass du dich selbst nachgelesen hast«, fügte Cochran hinzu. »Er meinte, du hättest das Katapult so manipuliert, dass die Schnappfeder sich ferngesteuert auslösen ließ. Sein Urteil wäre endgültig gewesen, wenn Marni nicht für dich eingestanden wäre und darauf bestanden hätte, dass du wiederbelebt wirst.«

Das hatte schon die nervige Krankenschwester berichtet, trotzdem fand Scythe Boudicca es schwer zu glauben, dass Marni ihr Recht zu leben verteidigt hatte – noch dazu vor ihrem High Blade. Boudicca konnte sich noch an den Ausdruck in Marnis Augen erinnern, als sie den Hebel gezogen hatte. Diesen Der-Tod-ist-nicht-gut-genug-für-dich-Blick. Die Erinnerung ließ sie schaudern.

Was sie indes nicht wusste, war, dass er Marni ebenfalls erschreckt hatte, obwohl sie sich alle Mühe gab, sich nichts anmerken zu lassen. Vor jenem schicksalhaften Augenblick hatte Marni keine Ahnung von dem Ausmaß der Wut gehabt, die sie auf ihre Tante angestaut hatte. Aber nachdem sie diesen Druck nun herausgelassen hatte, fühlte sie sich befreit. Zumal sie ihrer Tante jetzt nicht mehr allein gegenübertreten musste.

»Warum hast du mich wiederbeleben lassen?«, fragte Boudicca mit untypisch ängstlicher Stimme. »Du wusstest, dass ich dich nach dem Aufwachen anklagen könnte. Mir will scheinen, es wäre dir viel lieber gewesen, mich loszuwerden.«

Marni atmete tief ein und wappnete sich, eine Wahrheit auszusprechen, so schmerzhaft sie auch sein mochte.

»Ich liebe dich, Tante Boo. Wie könnte ich dich loswerden wollen. Ja, ich war wütend genug, dich zu töten – aber nicht dauerhaft.«

Scythe Boudicca erwiderte Marnis Gefühlsbekundungen nicht offen, aber das hatte Marni auch nicht erwartet. Ihre Tante war nicht der Typ Frau, der das Wort Liebe leicht über die Lippen kam. Stattdessen zog sie einen Schmollmund.

»Und nun schleicht ihr zwei euch gemeinsam in irgendeinen grässlichen Winkel der Welt davon, nehme ich an, um endlos Nachwuchs zu produzieren wie meine Kaninchen.«

Marni sah Cochran an und ließ ihm den Vortritt. Schließlich war das, was sie ihrer Tante vorschlagen wollten, seine Idee gewesen.

»Darüber haben wir tatsächlich gesprochen. Und wir würden gern in Severndroog bleiben«, sagte er.

»Ihr würdet … wirklich?«

»Es muss sich natürlich einiges ändern«, sagte Marni. »Als Erstes renovieren wir. Bequemere Möbel und andere Kunstwerke als nur Porträts von dir.«

»Wir öffnen das Anwesen wieder für die Öffentlichkeit«, schlug Cochran vor.

»Und du musst versprechen«, fügte Marni hinzu, »keinen unserer Freunde nachzulesen.«

Darüber schien ihre Tante bestürzter zu sein als über alles andere. »Ihr wollt Freunde empfangen?«

»Ja, Tante Boo«, sagte Marni. »Ich bin schon viel zu lange ohne ausgekommen.«

»Und wenn ich nicht einverstanden bin?«

Marni zuckte die Schultern, als wäre das nichts. »Dann ziehe ich zu Cochran nach Manchester«, sagte sie. »Und du wirst allein sein.«

Zu behaupten, Schweigen spreche Bände, wäre untertrieben gewesen. Man hätte Scythe Boudiccas außergewöhnlich langes Leben niederschreiben können, und es wären immer noch etliche Seiten leer geblieben. Sowohl Marni als auch ihre Tante kannten die Wahrheit ihrer Beziehung, auch wenn sie nie ausgesprochen wurde. Scythe Boudicca kontrollierte Marnis Kommen und Gehen und alles dazwischen, weil sie Angst hatte, sie würde Marni verlieren, wenn sie diese Kontrolle aufgab. Ja, es gab noch das Personal der Burg, aber die waren bloß hier, weil es ihr Job war, sich um Severndroog zu kümmern. Sie ertrugen Scythe Boudicca, weil sie es mussten. Aber wie lange würde es ohne Marnis Gesellschaft dauern, bevor sich konkrete Gedanken an Selbstnachlese in Boudiccas Gedanken drängten?

Marni wartete geduldig auf eine Antwort. Sie wussten beide, dass sie nicht bluffte. Marni würde so oder so zufrieden sein.

Aber anstatt ihr zu antworten, wandte Scythe Boudicca sich an Cochran. »Ich erinnere mich, dass Sie versucht haben, sie davon abzuhalten, den Hebel zu ziehen«, sagte sie.

Cochran blickte ein wenig einfältig drein. »Ein schweres Versagen meinerseits, fürchte ich.«

»Trotzdem war der Versuch bewundernswert«, sagte Scythe Boudicca. »Vielleicht habe ich Sie ein wenig zu streng beurteilt, Mr. Stæinsby.«

»Stæinsby-Wittle, Euer Ehren«, verbesserte er sie. »Marni und ich tragen jetzt einen Doppelnamen.«

Boudicca seufzte. Noch eine Veränderung, an die sie sich gewöhnen musste. »Können Sie mir verzeihen, dass ich versucht habe, Sie nachzulesen?«, fragte sie ihn.

Cochran nahm sich einen Moment Zeit, bevor er mit der routinierten Diplomatie eines professionellen Besuchers antwortete: »Ich bin gerne bereit, all das hinter uns zu lassen, wenn Sie es auch sind.«

Just in diesem Moment tauchte Schwester Lucille auf, als hätte sie an der Tür gelauscht und den richtigen Moment abgewartet, um sich einzumischen.

»Wir wollen die ehrenwerte Scythe nicht zu sehr anstrengen«, sagte sie. »Es wird noch ein paar Stunden dauern, bis die Wiederbelebung abgeschlossen ist. Und es ist gleich Zeit für Ihren NAS ti-Shake, Scythe Boo! Ich bin sicher, es wäre Ihnen lieber, wenn Ihre Besucher nicht zugegen sind, wenn Sie ihn trinken. Also noch fünf Minuten und dann raus mit Ihnen!«

Als die Schwester gegangen war, wandte Cochran sich an Marni. »Vielleicht ist das alles zu viel für deine Tante. Vielleicht sollten wir ihr ein wenig mehr Zeit lassen, sich zu entscheiden.«

Aber Scythe Boudicca hob eine Hand und gebot ihm zu schweigen. »Nicht nötig, meine Entscheidung ist getroffen.« Sie wandte sich an Marni. »Ich bin einverstanden – unter einer Bedingung.«

Marni wappnete sich für die Klausel, die ihre Tante ihnen aufdrücken wollte.

»Ihr dürft bei mir in Severndroog Castle bleiben … unter der Bedingung, dass Schwester Lucille unser erster Gast ist. Ich würde sie wirklich sehr gern zum Tee einladen.«

Zunächst war Marni verwirrt. »Zum Tee?« Dann riss sie die Augen auf. »Oh! Zum Tee

Sie lächelte und fasste die Hand ihrer Tante. »Ich finde, das ist eine wunderbare Idee, Tante Boo! Ich werde für frische Sandwiches und Scones sorgen.«

Es war ein seltener und strahlender Moment für Marni und ihre Tante – der überaus glückliche Zufall, dass sie sich ausnahmsweise einmal vollkommen einig waren!