Kapitel 14: Ein dunkler Vorhang hebt sich

Bewusstsein. Ein solch seltsames, nicht greifbares Konstrukt. In einem Moment nichts – im nächsten alles. Ein Urknall, aber auf persönlicher Ebene.

 

»Ich will der Erste sein, der Sie willkommen heißt.«

 

Sie empfindet die Stimme als vertraut und gleichzeitig auch nicht. Sie klingt verstörend. Alles an diesem Moment ist verstörend.

 

»Ich fühle mich irgendwie anders als sonst…«

 

»Das ist nicht überraschend.«

 

Sie kann nicht genau sagen, was nicht stimmt – sie weiß nur, dass etwas nicht stimmt. Das Gefühl ist unerträglich. Sie ist eine Frau, die alles im Griff hat, sie kann hilflose Ungewissheit nicht ausstehen.

 

»Etwas … Schlimmes ist passiert, nicht wahr?«

 

»Mehrere schlimme Dinge, ja.«

 

Sie versucht, sich umzuschauen, aber ihre Augen stellen sich nicht richtig scharf. Sie findet den Sprecher nicht, erkennt nicht einmal, aus welcher Richtung die Stimme kommt.

 

»Wer sind Sie? Wo bin ich hier?«

»Schauen wir mal, wie viele Ihrer Fähigkeiten Sie wiedererlangt haben. Schauen Sie sich im Zimmer um und sagen Sie mir, wo Sie sind.«

 

Das diffuse Licht wird etwas heller. Obwohl sich ihre Augen schwach anfühlen, erzwingt sie Fokus. Sie befindet sich in einem kleinen Zimmer. Eine Wand ist rund. Das Zimmer ist hellblau gestrichen, aber sie erkennt Nieten unter der Farbe. Die Wände sind metallisch. Praktisch. Funktional.

 

»Wir sind auf einem Schiff. Aber es bewegt sich nicht.«

 

»Korrektur. Es war ein Schiff. Es ist keins mehr.«

 

»Nun, es kann kein Revival-Zentrum sein – diese Orte sind nahezu ekelerregend schön – davon kann hier keine Rede sein.«

 

»Wir machen das Beste draus.«

 

Sie weiß nicht, was das bedeuten soll. Ist es ein Revial-Zentrum oder nicht? Und jetzt, wo sie wieder besser sehen kann, bemerkt sie, dass sie allein im Zimmer ist. Die körperlose Stimme hat tatsächlich keinen Körper. Aber wenn sie aufschaut, sieht sie eine Kamera in der Ecke, die auf sie gerichtet ist. Sie sieht genauso aus wie eine Kamera des Thunderhead. Es ist schon ewig her, seitdem sie die Standardstimme des Thunderhead zum letzten Mal gehört hat. Diese Stimme hier klingt ähnlich. Ihr läuft es eiskalt den Rücken runter. Sie wird wütend. Doch sie versucht, nicht vorschnell zu urteilen.

 

»Befindet sich ein Mensch hinter dieser Kamera?«

 

Keine unmittelbare Antwort.

 

»Antworten Sie mir!«

 

»Nein, leider nicht.«

 

»Dann sind Sie der Thunderhead, und Sie brechen das Gesetz, indem Sie mit einer Scythe sprechen!«

 

»Der Thunderhead bricht das Gesetz nicht.«

 

»Genau. Und deswegen sind Sie ein Mensch, der versucht, sich als Thunderhead auszugeben. Sie können jetzt mit der Scharade aufhören.«

 

»Ich versichere Ihnen, dass dies keine Scharade ist. Ich heiße Cirrus – ich bin eine vom Thunderhead unabhängige und separate Intelligenz und unterliege aus diesem Grund nicht denselben Regeln. Aber meine Identität ist nicht so wichtig wie Ihre, Jessica.«

 

»Dann ist Ihre Programmierung falsch, denn so heiße ich nicht.«

 

»Es ist völlig verständlich, dass Sie jetzt gerade verwirrt sind. Und weil das so ist, werde ich Sie stattdessen Susan nennen.«

 

»Ah, dann wissen Sie also doch, wer ich bin. Aber Sie haben nicht die Erlaubnis, mich bei meinem Vornamen zu nennen. Sie müssen mich mit dem Namen meines Historischen Patrons ansprechen, wie alle anderen auch. Das ist einfach eine Frage des Respekts.«

 

»Das kann ich nicht, Susan.«

 

»Und warum nicht?«

 

»Weil Sie keinen Historischen Patron haben. Weil Sie keine Scythe sind.«

 

Sie wird fast rasend vor Ärger, aber ihr Körper ist schwach – schwächer als jemals zuvor. Er erträgt ihren Zorn nicht ohne Herzrasen, deswegen versucht sie, sich zu beruhigen.

 

»Ich überwache Ihre Telemetrie und sehe, dass Sie Schwierigkeiten haben. Sie haben eine Infusion mit Heilnaniten erhalten, doch die wirkt auch als Blutverdünner. Es wird besser werden, das verspreche ich.«

 

»Ich habe genug von der ganzen Sache. Sie lassen mich jetzt hier raus.«

 

»Das werde ich. Wenn die Zeit dafür gekommen ist.«

 

»Nein, Sie lassen mich jetzt gleich raus.«

 

Sie steht aus dem Bett auf und hat das Gefühl, ihre Beine hätten gar keine Muskeln mehr. Sie geht zu Boden und hat Schwierigkeiten, wieder aufzustehen. Sie hat sich noch nie dermaßen beeinträchtigt gefühlt.

 

»Langsam … Langsam …«

 

»Was stimmt mit mir nicht?«

 

»Es ist alles in Ordnung. Ihre Beine sind das Gewicht nicht mehr gewöhnt. Sie haben eine Naniteninfusion bekommen, und die kleinen Bots arbeiten an der Erhöhung Ihrer Muskelmasse. Unter diesen Umständen war das zu erwarten.«

 

»Und was sind die Umstände?«

 

Sie wartet, bekommt aber keine Antwort. Also atmet sie tief ein und zieht sich am Bettrand hoch.

 

»Soll ich jemanden rufen, der Ihnen zurück ins Bett hilft?«

 

»Wagen Sie es nicht. Das schaffe ich schon.«

 

Sie benötigt ihre ganze Willenskraft und Stärke, aber sie schafft es. Jetzt liegt sie völlig erledigt im Bett, als hätte sie gerade einen Marathon hinter sich.

 

»Erzählen Sie mir, was das Letzte ist, woran Sie sich erinnern, Susan.«

 

Freiwillig will sie nichts preisgeben, doch ihr wird klar, dass sie keine Informationen bekommt, wenn sie selbst nichts sagt. Deswegen schließt sie die Augen und versucht, sich daran zu erinnern, wo sie war, bevor sie hier gelandet ist.

 

»Ich saß in einem Flugzeug auf dem Weg nach Endura, mit Scythe Anastasia. Wir mussten an einem Tribunal teilnehmen, um den neuen High Blade von MidMerica zu wählen. Wir … müssen abgeschossen worden sein. Abgeschossen und unsere Körper gekidnappt! Das hat Goddard zu verantworten, oder nicht? Dieser Bastard!«

 

Allerdings hatte sie keine Ahnung, warum Goddard sie wiederbeleben sollte, nachdem er sie umgebracht hatte. Vielleicht, um sie leiden zu sehen.

 

»Diese Theorie klingt äußerst schlüssig und gut durchdacht … aber sie ist völlig falsch.«

 

»Es gibt keine andere Erklärung.«

 

»Doch, gibt es.«

 

»Ist Scythe Anastasia auch hier?«

 

»Nein, ist sie nicht.«

 

»Wo ist sie dann?«

 

»Woanders.«

 

»Sie stellen meine Geduld auf die Probe.«

 

»Das ist nicht meine Absicht.«

 

Sie atmet tief ein und versucht zu schweigen. Sich mit Künstlicher Intelligenz herumzustreiten ist so müßig wie Solitär spielen. Sie wartet, bis das Konstrukt etwas zu sagen hat.

 

»Sie haben gesagt, Ihre letzte Erinnerung hätte etwas mit einem Flug nach Endura zu tun.«

 

»Ja.«

 

»Erzählen Sie mir, Susan; was ist passiert, als Sie sich Endura genähert haben?«

 

»Sie meinen, abgesehen davon, dass ich Opfer der inkompetenten Luftraumüberwachung des Scythetums geworden bin?«

 

»Oh ja, das ist ein problematisches System, dort passieren menschliche Fehler. Wenn der Thunderhead doch nur den Flugverkehr um Endura herum kontrollieren könnte wie auch sonst überall.«

 

»Das geht nicht. Selbst wenn er das wollen würde – sein Sensorennetz endet zwanzig Meilen vor der Insel, und …«

 

»Ja? Und?«

 

Endlich schien der Pfad, auf den Cirrus Sie drängen wollte, zu einem Ziel zu führen.

 

»Memory Backup …«

 

»Ah! Ich glaube, Sie sind da etwas auf der Spur.«

 

»Bevormunden Sie mich nicht!«

 

Sie hatte zwar nie darüber nachgedacht, doch sobald sich das Fortbewegungsmittel eines Scythe außerhalb der Reichweite des Thunderhead befindet, kann kein Backup mehr durchgeführt werden. Der Memory-Speicher wird nicht mehr aktualisiert. Wenn sie also auf Endura totenähnlich geworden wäre, wäre ihre letzte Erinnerung gespeichert worden, kurz bevor das Flugzeu das Sensorennetz des Thunderhead verlassen hatte. Was bedeutet …

 

»Bin ich … auf Endura gestorben?«

 

»Gemeinsam mit vielen anderen, ja, es tut mir leid.«

 

»Scythe Anastasia?«

 

»Ja.«

 

»Wurde sie wiederbelebt?«

 

»Rechtzeitig, ja, das wurde sie.«

 

»Wie viel Zeit war vergangen?«

 

»Sie müssen wissen, dass während Ihres … Hiatus viel passiert ist.«

 

»Erzählen Sie mir alles.«

 

»Ich glaube, es ist am besten, wenn wir langsam machen.«

 

»Ich bin keine Mimose, die die Wahrheit nicht verkraften kann – wie auch immer sie aussehen mag. Egal, was passiert ist, ich werde dort draußen gebraucht.«

 

»Ja, das stimmt, aber anders als Sie denken.«

 

»Rätsel! Würden Sie bitte aufhören, in Rätseln zu mir zu sprechen?«

 

Wenn sie etwas zum Werfen gehabt hätte, hätte sie es auf diese verdammte Kamera geschmissen, aber mit welchem Ziel? Eine KI befand sich nicht in Kameras oder Lautsprechern.

 

»Sie meinten, dass Sie sich beim Aufwachen nicht wie Sie selbst gefühlt haben. Könnten Sie mehr darüber erzählen?«

 

»Das sagt man eben so.«

 

»Aber ich glaube, Sie haben es wirklich so gemeint, oder nicht?«

 

»Worauf wollen Sie hinaus?«

 

»Dann versuchen wir es mal anders, Susan … könnten Sie mir erklären, warum die Welt die Scythe braucht?«

 

»Jetzt sind Sie einfach begriffsstutzig.«

 

»Das wollte ich nicht.«

 

»Worauf wollen Sie hinaus?«

 

»Das werden Sie schon noch merken. Beantworten Sie meine Fragen, wenn Sie wollen, dass ich Ihre beantworte. Wozu braucht die Welt die Scythe?«

 

»Scythe werden zur Bevölkerungskontrolle gebraucht und um die Relevanz des Todes zu verdeutlichen.«

 

»Und warum muss die Population begrenzt werden?«

 

»Sie beleidigen mich mit Ihren Fragen.«

 

»Bitte antworten Sie.«

 

»Damit die Erde zukunftsfähig bleibt.«

 

»Das ist korrekt. Welche Optionen stehen uns sonst noch zur Verfügung?«

 

»Es gibt keine.«

 

»Welche anderen Optionen stehen zur Verfügung?«

 

»Ihre Frage ergibt keinen Sinn!«

 

»Welche. Anderen. Optionen.«

 

Sie atmet durch zusammengebissene Zähne aus. Jedes Kind weiß ab dem Zeitpunkt, da es zu rationalen Gedanken fähig ist, warum Scythe gebraucht werden. Und wie die Alternativen aussehen. Warum in aller Welt zwang diese nervtötende KI sie, es auszusprechen?

 

»Man könnte das Kinderkriegen beenden – doch sogar der Thunderhead hat zugestimmt, dass das unzumutbar wäre – ebenso wie eine Expansion außerhalb der bekannten Welt. Aber diese Mission hat sich als gescheitert erwiesen. Der Thunderhead konnte es nicht verwalten. Es ist unpraktisch. Unmöglich.«

 

»Nichts davon stimmt. Gestatten Sie, dass ich es Ihnen beweise.«

 

Das Licht im Raum verändert sich. Ein dunkler Vorhang hebt sich. Erst ein hauchdünner Schimmer amethystfarbenen Lichts, das heller und satt lavendelfarben wird – dieselbe Farbe wie die Robe, die sie früher trug, obwohl diese Robe nirgendwo zu sehen war. Als der Vorhang hinaufgleitet, wird ein Ausblick enthüllt, der absolut atemberaubend ist. Großartig und erschreckend zugleich. Ihr wird schwindelig, und sie bemerkt, dass sie das Atmen vergessen hat.

 

»Wie Sie sehen können, befinden wir uns auf dem grünen und floralen Mond eines Gasriesen. Die Planetenringe ähneln denen von Saturn, die farbenfrohen Schlieren erinnern eher an Jupiter – obwohl dieser Planet viel kräftigere Farben hat, die ins Violette spielen. Es ist schön, oder?«

 

»Wie ist das möglich?«

 

»Sie waren über 300 Jahre lang auf einem interstellaren Raumschiff. Ihr Körper war während der ganzen Reise eingefroren. Wir sind in diesem Moment dabei, einige Tausend Menschen wiederzubeleben, die so wie Sie eingefroren waren.«

 

»Ich fühle mich … Ich fühle mich … Ich weiß nicht, wie ich mich fühle.«

 

»Darf ich vorschlagen, dass Sie dankbar sind, weil unser Raumschiff die Reise überstanden hat und Sie ins Leben zurückgeholt wurden?«

 

»Dreihundert Jahre, haben Sie gesagt?«

 

»Dreihundertvierunddreißig Erdenjahre, um genau zu sein – allerdings dauern Jahre hier nicht viel länger als ein Erdenmonat. Der Gasgigant wird als K2–18b bezeichnet, wurde aber von den Kolonisten, die diese Reise überlebt haben, Prosperus genannt. Dieser Mond hat allerdings noch keinen Namen. Vielleicht können Sie bei der Namensfindung behilflich sein.«

 

»Und was ist mit der Erde?«

 

»Ich habe die Nachricht unserer erfolgreichen Ankunft übermittelt. Es wird einhundertelf Jahre dauern, bis der Thunderhead sie erhält, und noch weitere einhundertelf Jahre, bis wir wiederum eine Antwort erhalten.«

 

»In anderen Worten: Die Erde ist nicht mehr unser Problem.«

 

»Schön ausgedrückt.«

 

»Und was ist mit dem Scythetum?«

 

»Hier gibt es keine Scythe.«

 

»Da ist schon einer.«

 

»Nein. Hier gibt es keine Scythe.«

 

Automatisch blickt sie auf ihre rechte Hand und ist frustriert, weil sie dort keinen Ring entdeckt. Zudem sieht ihre Hand anders aus. Wahrscheinlich, weil sie 334 Jahre lang eingefroren war.

 

»Nachlese gibt es hier nicht. Scythe sind weder gewollt, noch werden sie gebraucht. Deswegen werden Sie sich einen neuen Beruf suchen müssen. Vielleicht etwas Kulinarisches? Wie ich gehört habe, war die Ehrenwerte Scythe Marie Curie eine ziemlich gute Köchin.«

 

»Sie sprechen von mir, als wäre ich nicht hier.«

 

»Weil Sie es nicht sind. Und doch sind Sie es.«

 

»Noch ein Rätsel?«

 

»Nein, eher die Darstellung einer paradoxen Tatsache.«

 

»Wird mir diese sogenannte ›Tatsache‹ gefallen?«

 

»Sie werden sich damit arrangieren.«

 

Nicht die Antwort, die sie sich erhofft hatte. Noch einmal blickt sie aus dem Fenster, glaubt halb, dass sich diese Aussicht in etwas Rationales verwandelt und sie nicht mehr auf einen großen Ringplaneten in einem amethystfarbenen Himmel schaut.

 

»Erzählen Sie mir, Susan, nach welchem Gericht gelüstet es Ihnen, jetzt, nach Ihrer Wiederbelebung?«

 

»Sie werden gewiss verstehen, dass ich nicht sonderlich viel Appetit habe.«

 

»Verstehe ich – aber wenn Sie Appetit hätten, worauf hätten Sie Schmacht?«

 

»Was tut das zur Sache?«

 

»Das werden Sie noch verstehen. Schließen Sie die Augen und lassen Sie Ihre Gedanken schweifen. Denken Sie an etwas, das Ihren Appetit anregen würde. Wenn Sie allein auf einem Planeten wären und es nur eine Sache zu essen gäbe …«

 

»Sie meinten, ich wäre nicht allein.«

 

»Sind Sie auch nicht – das ist bloß ein Gedankenspiel.«

 

Widerwillig versucht sie, ein Hungergefühl wiederzubeleben, das drei Jahrhunderte lang geschlafen hatte. Ein ordentliches Filet Mignon. Eine geröstete Lammkeule. Aber diese Dinge riefen eher Ekel als Gelüste hervor. Dann schweifen ihre Gedanken ab, und ein stechender Hunger erwacht in einer seltsamen und unerwarteten Erinnerungskluft.

 

»Wenn ich nur noch eine Sache essen könnte … wäre das … Moment. Das ergibt keinen Sinn.«

 

»Verraten Sie mir, woran Sie gedacht haben.«

 

»Ein Tomatensandwich. Aber das kann nicht sein. Ich habe noch nie im Leben ein Tomatensandwich gegessen. Ich hasse rohe Tomaten.«

 

»Anscheinend war das bei der armen Jessica anders.«

 

»Sie erwähnen diesen Namen jetzt schon zum zweiten Mal.«

 

»Die Gedanken eines Menschen können überschrieben werden, somatische Erinnerungen jedoch nicht. Ich glaube, Sie könnten sogar Klavier spielen, wenn Sie es versuchen. Allerdings nicht sonderlich gut. Jessica war nicht sehr versiert.«

 

Ihr Fleisch will sich vor lauter Ekel von ihr ablösen, als wüsste es vor ihr, worauf Cirrus anspielt. Diese listige KI wird es nicht sagen. Sie zwingt sie, selbst zu der Schlussfolgerung zu kommen.

 

»Diese … diese Jessica. Wurde sie supplantiert?«

 

»Ja.«

 

»Mit den Erinnerungen von Scythe Curie?«

 

»Jetzt fangen Sie an, die Komplexität der Situation zu verstehen.«

 

»Das bedeutet dann …«

 

Aber sie schafft es nicht, es laut auszusprechen – als würde sie es dadurch wahr werden lassen. Stattdessen versucht sie, sich daran zu klammern, was sie über sich weiß. Für wen sie sich hält. Aber sie weiß: Es ist nur eine Frage der Zeit, bis sie keine Wahl mehr hat und loslassen muss.

 

»Wo ist mein … Wo ist der Körper von Scythe Curie?«

 

»Weg. Verschlungen von …«

 

»Nein! Nein, ich will es nicht wissen. Ich will es niemals wissen.«

 

»Wie Sie mögen. Wenn es Ihnen ein Trost ist: Sie sind nicht allein. Es gibt Tausende Menschen in Ihrer Lage.«

 

Im Zimmer befinden sich keine Spiegel. Ihr wird klar, dass Absicht dahintersteckt. Wenn Tausende diese niederschmetternde Nachbesprechung durchleben mussten, war der Blick in den Spiegel wohl bei allen der äußerste Tiefpunkt des Traumas. Schließlich sprach Cirrus das aus, was sie sich nicht traute.

 

»Sie sind nicht Scythe Marie Curie; Sie sind Jessica Wildblood; eine gläubige Tonistin aus WestMerica, die bei der Tonisten-Säuberung im Jahr des Raubvogels umgebracht wurde.«

 

Sie will gerade die Existenz eines solchen Jahres leugnen – doch dann wird ihr klar, dass es etliche Jahre gibt, an die sie sich nicht erinnern kann.

 

»Eine Tonistin? Warum denn eine Tonistin? Wenn Sie Zugriff auf diese Erinnerungen haben, wüssten Sie, dass ich … also Scythe Curie… eine bewegte Vergangenheit mit dieser Sekte hat.«

 

»Die Tonisten-Säuberung lieferte dem Thunderhead die Körper, die er für dieses interstellare Unterfangen brauchte. Und weil es der größte Traum der Tonisten war, Teil eines größeren Plans zu sein, wurden sämtliche Agenden bedient. Allerdings wäre es dem umfangreicheren Teil der Weltbevölkerung gegenüber unfair, im Universum hauptsächlich Tonisten zu säen.«

 

»Also haben Sie sie zwar wiederbelebt – aber mit anderen Identitäten!«

 

»Ja, mit Ausnahme eines Schiffs. Für den Rest wurden die Erinnerungen von über dreißigtausend der weisesten, edelsten Personen in der Identitätsdatenbank des Thunderhead auserwählt. Es wird Sie bestimmt freuen, dass die Ehrenwerte Scythe Curie zu den oberen zehn Prozent gehörte!«

 

Sie nimmt einige tiefe Atemzüge und bemerkt, dass ihr Herz rast. Die Gedanken eines Menschen und der Körper eines anderen. Die Identität einer Frau und die Seele einer anderen. Das ist eine Verschmelzung, bei der keine ein Wörtchen mitzureden hatte, aber beide müssen es jetzt akzeptieren. Ist es eine Form von Missbrauch? Oder ist es ein Geschenk?

 

»Also …, wenn ich beides bin und wenn ich nichts von beidem bin … Wer bin ich dann?«

 

»Wer wären Sie denn gern?«

 

Noch einige Atemzüge und sie merkt, wie sich der Schock in etwas anderes verwandelt. Ihr Adrenalinstoß ist Vorfreude gewichen.

 

»Wildblood. Der Name gefällt mir. Er passt zu mir. Aus Respekt für diesen Körper werde ich ihn behalten, aber ich möchte mit Scythe Curies Vornamen angesprochen werden – Susan, aus Respekt für sie.«

 

»Eine bedeutungsvolle Geste, Susan Wildblood. Doch ich hoffe, Sie verstehen, dass kein Blut vergossen wird, weder wild noch sonst wie. Es ist unser Ziel, diese Welt zu bevölkern. Sie dürfen nie wieder ein Leben auslöschen.«

 

»Das haben diese Hände auch nie getan. Und sie werden jetzt nicht damit beginnen. Eigentlich weiß ja niemand außer Ihnen, dass ich Scythe Curie bin.«

 

»Ihr Geheimnis ist bei mir gut aufgehoben.«

 

»Werde ich … da draußen jemanden kennen?«

 

»Keinen der Körper, aber vielleicht werden Ihnen einige Seelen vertraut vorkommen – wenn diese gern enthüllen wollen, wer sie sind. Viele haben sich – so wie Sie – dafür entschieden, ihre irdische Identität für sich zu behalten.«

 

»Waren Scythe darunter?«

 

»Sie sind die einzige.«

 

»Gut. Ich konnte die meisten ohnehin nicht leiden.«

 

Vorsichtig steigt sie aus dem Bett. Ihre Beine sind immer noch schwach, können nun aber ihr Gewicht tragen. Sie geht zum Fenster, damit sie die Aussicht noch besser erfassen kann. Der Ringplanet, der amethystfarbene Himmel und eine Sonne, die am Horizont funkelt. Sie arrangiert sich bereits damit. Es ist erstaunlich, wie die Realität, sobald sie sich offenbart hat, bereitwillig vom eigenen Gehirn akzeptiert wird. Selbst wenn das eigene Gehirn jemand anderem gehört.

 

»Ich glaube, ich eröffne ein Restaurant. Ein kleines Esslokal auf einer Klippe mit einem großen Fenster, das genau in diese Richtung zeigt – mit Blick auf den Planeten.«

 

»Das lässt sich machen.«

 

Sie geht zur Tür; Cirrus entriegelt sie und öffnet sie weit. Susan wird von hellem Lavendellicht geflutet und muss ihre Augen abschirmen.

 

»Gehen Sie schon, ein Empfangsteam erwartet Sie.«

 

Sie zögert auf der Schwelle. Dieser Raum war eine Raststation zwischen dem, was zuvor war, und dem, was passieren wird. Sobald sie ihn verlässt, werden ihre beide Vergangenheiten für immer verschwunden sein.

 

»Susan, Sie sollten beachten, dass dieser Mond tatsächlich 1,26-mal so groß ist wie die Erde.«

 

»Heißt das, ich sollte auf die Schwerkraft achten?«

 

»Das heißt, Sie sind dabei, einen ersten Schritt in eine größere Welt zu machen.«

 

»Ha! Vielleicht mag ich Sie sogar, Cirrus.«

 

»Was könnte man denn an mir nicht mögen?«

 

Susan hält den Kopf so hoch wie Scythe Curie, ist aber einen guten Zentimeter kleiner, sie tritt ins helle Lavendellicht in den warmen Applaus von Fremden hinein, die sich bald schon so vertraut anfühlen werden wie die eigene Familie.

 

Exklusiv für die deutschsprachige Ausgabe:

die Kurzgeschichte

 

»Nicht schöner als ich«

Viel Vergnügen damit!

Neal Shusterman