Kapitel 9 Shona

E ndlich Feierabend! Montagnachmittags war das Sweet Little Things immer geschlossen. Mit einem Gefühl unsäglicher Erleichterung ließ Shona sich auf einen der weiß lackierten Stühle im Café sinken. Isla war auf dem Weg zur Arbeit vom Fahrrad gestürzt und hatte sich dabei an der Hand verletzt, deshalb hatte Shona den Laden heute vollkommen alleine schmeißen müssen. Und das war kaum noch zu schaffen! Schon um vier Uhr früh hatte sie heute in der Backstube gestanden, um die Bestellung für das Café in Newton Stewart fertig zu machen. Außerdem hatte eine dieser Yoga praktizierenden und grüne Smoothies trinkenden Yummy Mummys, die sich seit einiger Zeit immer öfter bei ihr blicken ließen, sechsunddreißig regenbogenfarbene Einhorn-Cupcakes für den Geburtstag ihrer sechsjährigen Tochter bestellt. Inklusive goldenem Horn und weiß-goldenen Ohren. Die erste Ladung hatte sie viel zu lange im Ofen gelassen. Das war ihr schon ewig nicht mehr passiert. Aber heute war sie nicht bei der Sache gewesen, denn obwohl Nanettes Flora-MacDonald-Himmelbett sehr bequem war, hatte sie schlecht geschlafen. Der Verlust des Bayview Cottages schmerzte sie viel mehr als gedacht. Konnte man überhaupt von Verlust sprechen, wenn es um etwas ging, das einem sowieso nie gehört hatte? Genauso fühlte es sich auf jeden Fall an.

Nur dreitausend Pfund fehlten ihr! Es gab Menschen, für die eine solche Summe nur ein Taschengeld war. In ihrer Verzweiflung hatte Shona in der Nacht sogar darüber nachgedacht, sich doch für den Tortenwettbewerb anzumelden.

Nein! Das kam nicht infrage. Außerdem fiel ihr sowieso nicht ein, wie sie dieses blöde Motto umsetzen konnte. Wo die Liebe wohnt  … Welcher Schwachkopf sich das wohl ausgedacht hatte?

Shona nahm ihr Smartphone und checkte noch ein letztes Mal ihre E-Mails, um zu schauen, ob noch irgendwelche Bestellungen eingegangen waren. Nein! Kurz schaute sie auch noch bei Miss Lettrix vorbei. Ein Mädchen hatte einen Brief an seinen verstorbenen Großvater geschrieben. Am Abend vor seinem Tod hatte er ihr eine Textnachricht zukommen lassen mit den Worten «Opa liebt dich!», und sie bedauerte es unglaublich, ihm nicht darauf geantwortet zu haben. Solche Gefühle waren Shona nur zu gut bekannt.

«Na komm, Bonnie! Gehen wir nach Hause!» Shona schaute auf ihre Labradorhündin hinunter, die geduldig neben ihr wartete, als ihr einfiel, dass im Keller dieses Zuhauses gerade eine riesige, ohrenbetäubend laute Maschine stand und sie in einem zwar hübschen, aber kleinen B-&-B-Zimmer ohne Garten und Balkon wohnte. Bei dem schönen Wetter hatte sie aber überhaupt keine Lust, drinnen zu sitzen. Sie beschloss, einen ausgiebigen Spaziergang mit Bonnie zu machen, bevor sie ins Hillcrest House zurückging und ein Mittagsschläfchen hielt.

Sie marschierte los. Man konnte schon ein wenig den Frühling erahnen. Die Luft kam Shona milder vor als noch vor ein paar Tagen, und sie roch auch ein bisschen süßer. An den Zweigen der Bäume spitzten hier und da schon zarte Knospen hervor, und im Garten der Millers wuchsen doch tatsächlich schon ein paar Schneeglöckchen. Beim Anblick der filigranen weißen Blütenkelche spürte Shona, wie sich ihre Stimmung wieder hob. Der Frühling war schon immer ihre Lieblingsjahreszeit gewesen. Sie freute sich darauf, dass die Tage bald wieder länger wurden, auf die Farben und auf die Rückkehr der Vögel. Ab und zu konnte man schon ein erstes zaghaftes Zwitschern hören.

Eigentlich hatte sie vorgehabt, ein bisschen über den Plankenweg durch die Marschwiesen zu spazieren. Doch nachdem sie an Joes Fischbude ein Fischbrötchen für Bonnie und sich gekauft hatte, kehrte sie noch einmal um und schlug, wie am Tag zuvor, den Weg in Richtung Hügel ein. Sie wollte dem Bayview Cottage noch einen letzten Besuch abstatten, und bei der Gelegenheit konnte sie auch den Schlüssel in den Briefkasten werfen. Sylvie war so froh über Shonas Idee gewesen, das Häuschen zu kaufen, dass sie ihn ihr bei ihrem Besuch förmlich aufgedrängt hatte. Shona seufzte. Aber das hatte sich ja leider erledigt.

 

Während in Swinton schon fast frühlingshafte Temperaturen herrschten, ging in den Hügeln, wie fast immer, ein kühler Wind. Shona schloss ihre Jacke und setzte sich ihre Mütze wieder auf, während sie an der verwaisten Wäscheleine vorbei schnurstracks zum hinteren Teil des Grundstücks ging, wo Alfies Hütte stand. Dort wollte sie ein paar Minuten auf der Bank sitzen, ihr Fischbrötchen essen und auf das Meer hinausschauen. Wenn das Cottage erst einmal verkauft war, würde sie dazu keine Gelegenheit mehr haben.

Die grauen Trittplatten, die zu der Hütte führten, waren vermoost, wacklig und zum Teil gesprungen. Neben einem windschiefen Busch stand eine Schubkarre mit einem Haufen Steine darin, daneben steckte ein Spaten in der feuchten Erde. An Alfies Hütte lehnten zwei kaputte Bretter. Irgendjemand musste sie durch neue ersetzt haben. Sylvie hatte ja erwähnt, dass vor dem Verkauf noch ein paar Dinge gerichtet werden würden.

Während Bonnie mit der Nase am Boden über das Grundstück streifte, ließ Shona sich auf der alten Holzbank nieder und wickelte ihr Fischbrötchen aus.

Sie ließ den Blick über die Hügelkuppen schweifen. Die Aussicht war so schön! Shona konnte sich an keinen anderen Ort erinnern, von dem aus man so weit blicken konnte. Außerdem liebte sie es, dass hier oben immer ein leichter Wind ging. Sanft spielte er mit ihren Locken, strich über ihr Gesicht. Wenn sie die Augen schloss, konnte sie sich einbilden, dass es Alfies Finger waren. Auf dieser Bank hatte er sie zum ersten Mal geküsst. So viele Jahre war das nun schon her.

Sogar Alfies Todestag jährte sich in diesem Jahr schon zum zehnten Mal. Es schnürte Shona die Kehle zusammen, als sie daran dachte, wie Dad ihr die Nachricht überbracht hatte. Sein Gesicht war ganz grau gewesen, und seine Hände hatten gezittert, als er sie darum gebeten hatte, sich zu setzen, weil etwas Schlimmes passiert war. Weil Alfie einen Unfall gehabt hatte. Mit dem Motorrad. Und noch am Unfallort gestorben war.

Shona hatte sofort zu ihm gewollt. Um sich davon zu überzeugen, dass das, was Dad ihr erzählte, nicht stimmte. Doch es hatte gestimmt. Fünf Tage später hatte Shona an Alfies offenem Sarg gestanden. Still und reglos hatte er dagelegen. Dabei war Alfie niemals still und reglos gewesen, sondern laut und lebenshungrig!

Bonnies Bellen riss sie aus ihren Gedanken. Die Hündin bellte nur ganz selten, und es war ganz ungewohnt, ihre Stimme zu hören: ein tiefes, dunkles Wuff . Im nächsten Moment galoppierte sie in Richtung Haus. Shona stand auf, um zu schauen, was denn ihr Interesse erregt hatte.

Es war Pirate, Evies und Sylvies dicker roter Kater! Ach herrje, Shona hatte gar nicht gewusst, dass er noch lebte, schließlich hatte sie ihn schon ewig nicht mehr gesehen. Entzückt wedelte Bonnie Belle mit dem Schwanz. Sie liebte Katzen. Genau wie Hasen, Rehe, Enten, Möwen – aber diese Liebe beruhte nie auf Gegenseitigkeit. Shona grinste. Der Kater war auf den kleinen Tisch gesprungen, an dem seine Besitzerinnen an warmen Tagen ihre Mahlzeiten eingenommen hatten, und schaute mit seinem einen Auge mürrisch auf die Hündin hinunter. Sein Schwanz war dick wie eine Toilettenbürste, und sein Rückenfell stand senkrecht in die Höhe. Bonnie kletterte mit den Vorderpfoten auf den Tisch, die Nase schnuppernd erhoben. Im nächsten Moment jaulte sie auf, denn der Kater hatte ihr fauchend einen Hieb mit der Tatze versetzt. Er sprang hinunter und fegte dabei einen Aschenbecher vom Tisch. Scheppernd fiel er auf den Boden und zerbrach in zwei Teile. Pirate rannte zur Eingangstür und verschwand im Cottage. Erst jetzt sah Shona, dass sie einen Spaltbreit offen stand.

Shona überlegte, ob sie dem Kater folgen sollte – der Mann, den Claudia mit der Vermittlung beauftragt hatte, musste vergessen haben abzuschließen, und Sylvie und Evie wollten bestimmt nicht, dass ihr Häuschen die ganze Zeit über frei zugänglich war –, doch die Ankunft eines dunklen SUV s in der Einfahrt hielt sie davon ab. Ein großer schlanker Mann mit Sonnenbrille und eine stark geschminkte Rothaarige stiegen aus.