Kapitel 12 Vicky

Z ufrieden sah Vicky sich um. Die kleine Galerie war nicht mehr wiederzuerkennen. Vor drei Wochen hatte ihr Al, der Vorbesitzer, die Schlüssel dafür übergeben, und sie hatte sofort die Renovierung in Angriff genommen: Vicky hatte die Fenster nicht nur erneuern, sondern auch vergrößern lassen. Statt schmuddelig rostrot leuchteten die Wände jetzt strahlend weiß. Der Teppich war durch Parkettboden in leicht aschiger Landhausoptik ersetzt worden, die Neonröhren an der Decke durch lange Reihen von Strahlern. Es war keine große Sache gewesen, etwas über zwei Wochen hatten die Handwerker dafür gebraucht, doch die Räume sahen dadurch ganz verwandelt aus. Viel heller und einladender. Vicky konnte es gar nicht erwarten, die weißen Wände mit Bildern zu verschönern. Viele besaß sie noch nicht. Von Al hatte sie ein paar Landschaftsmalereien und Impressionen von Swinton-on-Sea übernommen. Nicht weil sie ihr besonders gefielen, sondern weil sie wusste, dass sie in der Urlaubseuphorie gerne von Touristen gekauft wurden – auch wenn nur die wenigsten davon dann auch den Weg an die heimischen Wände finden würden. Außerdem hatte sie ihm alle Zeichnungen von E. Smith abgekauft. Eine der Zeichnungen, Vickys Lieblingsbild, stand jetzt, gegen die Wand gelehnt, vor ihr. Wie alle Kunstwerke von E. Smith erinnerte es in seiner Naivität und mit seinen leuchtenden, plakativen Farben an eine Kinderzeichnung. Inzwischen wusste Vicky auch, dass der Mann eigentlich Kinderbuchillustrator und E. Smith nur ein Pseudonym war. Und dass der Mann nicht vorhatte, dieses Pseudonym zu lüften. Er wollte noch nicht einmal mit ihr in Kontakt treten! Alle Korrespondenz zwischen ihnen lief über seine Agentur. Dabei hätte Vicky so gerne einmal persönlich mit ihm gesprochen!

Trotz ihrer Farbenpracht hatten all seine Motive etwas Verlorenes, Melancholisches an sich: die tanzende Frau mit den vier Vögeln über ihrem Kopf, der Junge, der inmitten eines üppigen Gartens in einem Sessel saß und las, das alte Ehepaar, das sich in einem blühenden Garten an den Händen hielt … Das Bild vor ihr, ihr Lieblingsbild, würde Vicky mit nach Hause nehmen und bei sich und Graham im Schlafzimmer an die Wand hängen – Graham gefiel es genauso gut wie ihr. Es zeigte zwei Mädchen, die bei Nacht an einem Strand saßen und in den Sternenhimmel schauten.

Vicky wartete nur noch auf ihre Freundin Ann. Sie führte den Vintage-Laden gleich nebenan, und sie wollten in deren Mittagspause eine Kleinigkeit im Craft essen. Liam kochte wirklich ganz fantastisch.

Da kam Ann schon herein. Sie trug einen schicken kamelfarbenen Mantel, sicher ein Designerstück, Jeans mit weitem Schlag und einen Hut mit einer breiten Krempe. In der Hand hielt sie ihr Handy.

«Ich muss unseren Lunch leider absagen», sagte Ann bekümmert. «Colin hat gerade angerufen.» Der Arzt von Swinton war Anns Ex-Mann. «Er meint, ich soll mit Isla ins Krankenhaus fahren. Sie ist doch am Wochenende beim Fahrradfahren gestürzt. Da die Schmerzen nicht nachlassen, sollte sie sich die Hand röntgen lassen.»

«Ach, wie schade!» Vicky hatte sich wirklich auf das Mittagessen mit Ann gefreut. «Aber wir holen das nach, oder?»

«Klar.» Ein Lächeln erschien auf Anns schmalem Gesicht. «Soll ich dich mit ins Dorf nehmen?» Die alte Molkerei, in der sich neben einer ganzen Menge anderer Läden auch Vickys Galerie und Anns Vintage and Couture befanden, lag ein Stückchen außerhalb von Swinton.

Vicky schüttelte den Kopf. Sie ging gerne zu Fuß, und vor allem, seit sie Anfang des Jahres nach Swinton gezogen war, nutzte sie jede Gelegenheit dazu. Das Meer, das direkt vor der Haustür lag, die Marschwiesen, die sich davor ausbreiteten, die dramatische Kulisse der Gebirgskette Range of an Awful Hand , deren fünf zerklüftete Bergspitzen malerisch weiß bestäubt waren, und die sanft gewellte Hügelkulisse davor … All das war einfach so zauberhaft! Bei ihrem ersten Besuch in Swinton hatte sich Vicky nicht nur in Graham verliebt, sondern auch in die Natur. Grahams verstorbene Frau Patricia, die ursprünglich nicht von hier stammte, hatte diese Gegend immer als Miniaturausgabe von Schottland bezeichnet, denn hier gab es alles, was dieses Land ausmachte: Wald, Hügel, Hochland, das Meer …

Als Vicky in die Main Road einbog, sah sie, dass Shonas Lieferwagen vor dem Flowers by Chrissy stand, einem süßen kleinen Blumenladen. Grahams Schwester, die davorstand, hatte sie nicht bemerkt, denn sie war gerade in ein Telefonat vertieft. Und anscheinend war es kein besonders erfreuliches, wie ihre versteinerte Miene vermuten ließ. Jetzt war Shona fertig und stopfte das Handy zurück in ihre Handtasche. Einen Moment stand sie mit hängenden Schultern da, dann trat sie mit voller Wucht gegen den Vorderreifen ihres Lieferwagens. Nicht nur ein- , sondern gleich viermal! Dann schlug sie die Hände vors Gesicht.

Vicky zögerte. Inzwischen war Shona zwar viel netter zu ihr als noch im letzten Jahr, aber Freundinnen, so wie Ann und sie, waren sie bisher nicht. Dazu verhielt Shona sich ihr gegenüber immer noch viel zu reserviert. Ob sie überhaupt Freundinnen hatte?, fragte sich Vicky. Wenn überhaupt, dann sah sie Grahams Schwester mal zusammen mit Liam, die meiste Zeit aber arbeitete sie in ihrem Café, ging mit ihrer Labradorhündin Bonnie spazieren oder war einfach zu Hause. Vicky zögerte noch einen Moment, dann gab sie sich einen Ruck und ging zu ihr hinüber.

«Hey!», sagte sie. «Was hat der arme Lieferwagen dir denn getan? Ich habe gesehen, wie du ihm zugesetzt hast.»

Shona ließ die Hände sinken und schaute auf. Tränen standen in ihren Augen, und sie wirkte müde und unendlich niedergeschlagen.

«Ach herrje!» Vicky tätschelte unbeholfen ihren Arm. So hatte sie die selbstbewusste, beherrschte Shona ja noch nie gesehen! «Was ist denn los?»

Shona zögerte, und kurz dachte Vicky, dass sie ihr nicht antworten würde, aber dann sprudelte es aus ihr hervor: «Ich wollte das Bayview Cottage kaufen und nur noch übers Wochenende darüber schlafen. Aber anscheinend gibt es Leute, die über so eine Anschaffung nicht nachdenken müssen. Morgen früh um zehn wollen sie schon kommen, um den Vertrag zu unterschreiben.» Ihre Unterlippe zitterte, und sie presste die Lippen fest aufeinander.

«Das Bayview Cottage?» Vicky hatte den Namen schon einmal gehört, konnte ihn aber nicht ganz zuordnen.

«Das Cottage der Spinner-Schwestern. Es liegt ein Stück außerhalb in den Hügeln.»

Ach ja! Jetzt erinnerte Vicky sich. Im letzten Jahr war sie von Shona einmal heftig angeraunzt worden, als sie gesagt hatte, dass es für alle besser sei, wenn die Spinner-Schwestern ihren Führerschein abgeben und in ein Pflegeheim ziehen würden. Bei ihren wöchentlichen Fahrten ins Dorf hätten sie Vicky einmal fast über den Haufen gefahren.

«So ein Yuppie-Ehepaar aus Glasgow wird es kaufen», schniefte Shona. «Die beiden wollen alles plattmachen: das Cottage abreißen lassen und einen Bungalow hinstellen, und dort, wo jetzt noch die Gartenhütte steht, soll ein Pool hin. Dabei wollen sie da oben noch nicht mal dauerhaft wohnen, sondern nur hin und wieder am Wochenende.»

Oje! Vicky erinnerte sich jetzt an einen Spaziergang durch die Hügel. Als Graham und sie an dem Cottage vorbeigekommen waren, hatte Graham ihr erzählt, dass Shona sich als Kind und auch als Jugendliche häufig dort aufgehalten hatte. Sie war mit dem Enkel einer der beiden Schwestern zusammen gewesen. Das erklärte natürlich, dass sie so an dem Cottage hing.

«Ich wollte gerade zum Lunch gehen. Magst du mich vielleicht begleiten?», fragte Vicky vorsichtig und rechnete damit, eine Abfuhr zu kassieren.

Doch zu Vickys Überraschung willigte Shona ein. «Ich muss nur noch schnell die neuen Blumengestecke für das Café abholen. Sylvie hat mich angerufen, als ich gerade in den Laden gehen wollte.»

«Ich helfe dir. Und danach fahren wir ins Craft , und du erzählst mir alles ganz von vorne, ja?»