Kapitel 17 Eliyah

«H ier ist die Bestellung für Tisch Nummer vierzehn.» Isla, deren Hand nach ihrem Fahrradsturz in einem dicken Verband steckte, riss ein wenig unbeholfen das oberste Blatt von ihrem Block und legte es vor Eliyah auf die Theke, dann rauschte sie wieder davon.

Eliyah warf einen Blick darauf: ein Salted Caramel Cupcake, eine Cinnamon Roll, einen Chai Latte – und einen Golden Kurkuma Chai. Was um Himmels willen war das denn? Und wieso konnten nicht wenigstens ein einziges Mal alle Leute an einem Tisch das Gleiche bestellen? Zwar waren alle Gebäckstücke in der Vitrine beschriftet, aber bei der riesigen Auswahl brauchte Eliyah trotzdem immer eine Weile, bis er sich zurechtfand. Und jetzt war auch noch der Teller mit den Cinnamon Rolls leer!

«Isla!», rief Eliyah.

Doch die stand bereits bei dem Pärchen am Fenster und kassierte dort ab. Durch das Fenster hinter ihr sah er, wie ein Kleinbus direkt vor dem Café parkte. Eine Seniorengruppe stieg aus. Oh nein! Die wollten doch hoffentlich nicht alle hier rein? Doch da steuerte schon die Fahrerin, eine kleine, energisch aussehende Frau, die Tür an, und der Rest folgte ihr.

Einen Chai Latte bekam Eliyah, wenn er auf einen Knopf der automatischen Kaffeemaschine drückte, und er musste statt einer Tasse ein hohes Glas unterstellen. Außerdem musste unter allen Umständen ein Herz aus Kakao auf den weißen Schaum gestäubt werden. Vielleicht war ein Golden Kurkuma Chai dasselbe, nur mit einem Herz aus Kurkumagewürz? Gab es hier irgendwo Gewürze?

«Was machst du denn?», fragte Isla, als Eliyah anfing, in einer Schublade zu wühlen.

«Ich suche Kurkuma.»

«Wieso das denn?»

«Weil du einen Golden Kurkuma Chai aufgeschrieben hast. Gehört da denn kein Kurkuma rein?»

«Nein!» Isla klang genervt. «Den Chai bieten wir in zwei Varianten an: Salty Caramel und Golden Kurkuma, und das sind bereits fertige Mischungen. Aber das habe ich dir doch alles erklärt!»

Das konnte gut sein, Isla hatte ihm schließlich eine ganze Menge erklärt … Da war es doch nur verständlich, dass er ab und zu etwas vergaß. Zugegebenermaßen hatte er in den zwei Stunden, die er jetzt im Café aushalf, nicht wenige Fehler gemacht. Doch waren Fehler nicht auch immer eine Möglichkeit zur Weiterentwicklung? Man wuchs daran!

Isla schien das leider nicht so zu sehen. «Geh mal ein Stück zur Seite!» drängte ihn von der Kaffeemaschine weg. «Ich mach alles fertig! Frag du die älteren Herrschaften, die gerade reingekommen sind, was sie wollen.» Ohne seine Antwort abzuwarten, drückte sie ihm den Servierblock in die Hand und machte sich an die Arbeit.

Die Seniorengruppe hatten die Tische neun und zehn zusammengeschoben und sich bereits hingesetzt. Kuchen! Ihr wollt doch sicher Kuchen! Oder ein Stück Torte!, flehte Eliyah stumm. Kuchen und Torten waren herrlich unkompliziert. Von beidem hatte Shona nur zwei Sorten im Angebot. Und bestimmt hatte er Glück! Seniorinnen oder Senioren, die etwas auf sich hielten, würden niemals so etwas Neumodisches wie Cupcakes bestellen – geschweige denn Cakepops oder gar diese aufeinandergeklebten Plätzchen, die so ähnlich wie der französische Präsident hießen.

Doch ältere Leute waren heutzutage auch nicht mehr das, was sie einmal waren. Diese hier trieben es sogar ganz besonders bunt: Nachdem Eliyah die Bestellung aufgenommen hatte, standen nicht nur ein Pistazien- und ein Chai-Latte-Zimt-Macaron auf seinem Block, sondern auch ein Velvet Kiss Cupcake und eine Vanillewolke. Und gleich zwei der älteren Herrschaften wollten einen blauen Cakepop! Lediglich die resolut aussehende Dame, die die Gruppe angeführt hatte, orderte einen Cheesecake. Und kein Einziger von ihnen wollte einen einfachen Kaffee oder Earl Grey trinken, sondern alle bestellten Latte macchiato!

Eliyah würde Stunden brauchen, um diese Bestellung zusammenzustellen. Er spürte, dass seine Stirn feucht wurde, und er verfluchte sich dafür, dass er seiner Mutter gestern nicht energisch ebendiese Stirn geboten hatte, als sie ihm erzählt hatte, dass Shona dringend jemanden brauchte, der ihr im Café half. Natürlich hatte er auch im Reading Fox Kunden bedienen müssen, aber die waren nie in solchen Massen dort aufgelaufen, und sie hatten auch nie alle auf einmal etwas von ihm gewollt! Außerdem waren Bücher sein Metier und nicht diese kitschigen Möchtegern-Torten, die die traurige Tatsache, dass man sie mit einem einzigen Happs verspeisen konnte, hinter komplizierten Namen, grellen Farben und Unmengen von Dekor verbargen.

Begegne der Unordnung mit Ordnung und dem Ungestüm mit Ruhe! , beschwor Eliyah sich. Geflügelte Worte hatten schon immer eine heilsame Wirkung auf ihn gehabt. Er würde jetzt nicht die Nerven in diesem ganzen Chaos verlieren, sondern eins nach dem anderen erledigen. Eins nach dem anderen! Dann mussten die älteren Herrschaften halt ein wenig auf ihre Bestellung warten.

«Geh zu Shona in die Backstube und sag ihr, dass wir neue Sunny Mangos und King Carrots brauchen!», rief Isla ihm im Vorbeilaufen zu. «Die Milch an der Kaffeemaschine ist außerdem fast leer. Du musst eine Palette aus dem Lager holen. Die Bestellung von Tisch vierzehn steht auf dem Tablett!»

Herr, gib mir die Kraft, die Dinge zu ändern, die ich ändern kann, die Gelassenheit, Dinge hinzunehmen, die ich nicht ändern kann, und die Weisheit, das eine vom anderen zu unterscheiden. Er brauchte Gelassenheit! Dringend! Denn ändern konnte er an diesem entsetzlichen Nachmittag nichts, es sei denn, er rief mit verstellter Stimme im Café an und behauptete, er habe eine Bombe darin versteckt. Einen winzigen Moment lang zog Eliyah diese Option tatsächlich in Erwägung.

Nein. Eins nach dem anderen. Schritt für Schritt. Und er würde damit anfangen, zu Shona in die Backstube zu gehen, und ihr sagen, dass die Mango- und die Karotten-Cupcakes aus waren. Auch wenn er vor Shona ehrlich gesagt ein bisschen Angst hatte. Doch wer nicht täglich seine Furcht überwand, der hatte die Lektion des Lebens nicht gelernt. Das hatte schon der amerikanische Philosoph Ralph Waldo Emerson gewusst, und deshalb drückte Eliyah energisch eine der beiden Flügeltüren auf, die zur Backstube führten. Zu energisch. Denn es tat einen dumpfen Knall, und dann hörte er einen Schrei.

 

Eliyah hatte Shona beteuert, dass er die Mischung aus süßer Creme und Teig sofort aufwischen und danach loslaufen würde, um ihr neue Kleidung zu holen (die Mischung hatte sich leider nicht nur auf dem Boden verteilt). Doch Shona hatte ihn nur wütend angefunkelt und erklärt, dass er ihr am allermeisten helfen würde, wenn er sich künftig wieder ganz seinen Büchern widmete. Und nun trieb er sich in den Hügeln herum. Vor Viertel nach sechs durfte er sich nicht zu Hause sehen lassen. Seine Mum wusste schließlich, dass das Café erst um sechs Uhr schloss, und er konnte ihr unmöglich sagen, dass es nicht einmal einen Vormittag gedauert hatte, bis er entlassen worden war. Er wusste auch so noch nicht, wie er ihr erklären sollte, dass seine Dienste im Sweet Little Things nicht mehr gebraucht würden, obwohl Shona so viel zu tun hatte. Schließlich musste sie nicht nur das süße Büfett für seine Mutter und das Literaturkränzchen heute Abend herrichten, sondern steckte auch mitten in der Planung für eine Wettbewerbstorte. Das hatte Isla ihm erzählt und auch dass Shona diesen Wettbewerb unbedingt gewinnen musste.

Da tauchte das Häuschen auch schon vor ihm auf. Ein wenig beneidete er Shona darum. Jetzt, nach einem langen Winter, machte das Cottage zwar nicht viel her. Das Dach sah aus, als wären die Winterstürme ein wenig zu oft darüber hinweggefegt, und es brauchte dringend einen neuen Anstrich. Aber wenn sich erst die leeren Beete in ein Meer von gelben Narzissen und bunten Tulpen verwandelt hätten, dann würde das schmuddelige Weiß des Putzes gar nicht mehr auffallen. Noch weniger im Sommer, wenn Kletterrosen sich daran hochrankten. Und dann diese Ruhe hier oben!

Eliyah beschloss, sich einen Moment auf eine Bank zu setzen, die gesäumt von Weißdorn unter einer ausladenden Eberesche stand, und die Ruhe zu genießen. Es war wirklich ein ganz besonders idyllisches Fleckchen Erde. Er schloss die Augen.

Doch schon bald öffnete er sie wieder, und das nicht nur, weil der Wind hier oben zu dieser Jahreszeit doch noch ganz schön frisch war. Es war das Knattern eines Motors, das ihn aufschauen ließ. Ein ziemlich verbeulter Kleinwagen stieß dieses ungesund klingende Geräusch aus, und er fuhr geradewegs auf das Bayview Cottage zu. Eliyah kniff die Augen zusammen, um besser sehen zu können. Er brauchte dringend eine stärkere Brille, aber noch reichte sein Sehvermögen, um zu erkennen, dass eine ziemlich zwielichtig aussehende Gestalt aus dem Wagen stieg. Es musste sich um einen Mann handeln, vermutete Eliyah aufgrund der hochgewachsenen Statur mit den breiten Schultern, doch so genau konnte er es nicht erkennen, denn die Gestalt trug einen Parka und hatte die Kapuze tief ins Gesicht gezogen. Sie schaute sich verstohlen um, als sie auf die Eingangstür zuging. Eliyah schluckte, und er war froh, dass die dichten Zweige des Weißdorns ihn vor Blicken abschirmten. Das war doch hoffentlich kein Einbrecher! Die Verbrechensrate lag in Swinton und Umgebung seit Jahren konstant bei quasi null. Der letzte Gesetzesbruch war ein Überfall auf Nancy Butchers Postfiliale gewesen. Ein verwirrter Mann aus Bladnoch hatte sich vor ein paar Jahren für Butch Cassidy gehalten, Bankräuber gespielt und von Nancy verlangt, dass sie ihre Kasse für ihn öffnete. Dabei hatte er keine Waffe bei sich getragen und war laut Nancy auch noch mager wie ein Suppenhuhn gewesen, und so hatte die Postbeamtin kurz entschlossen ihren Regenschirm genommen und dem armen Tropf damit eins übergezogen. Genau genommen war es also gar kein richtiges Verbrechen gewesen.

Eliyah konzentrierte sich wieder auf den Mann. Der hatte jetzt etwas aus der Tasche geholt und nestelte damit am Schloss herum. Die Tür schien nicht aufzugehen, also versuchte er es weiter. Hatte er einen Dietrich? Jetzt hatte er es geschafft, die Tür aufzubekommen, und verschwand im Haus – nicht ohne sich jedoch noch ein letztes Mal umzuschauen.

Eliyah zog unwillkürlich den Kopf ein. Was sollte er denn jetzt machen? Die Polizei rufen? Blöderweise hatte Swinton schon seit einiger Zeit keine eigene Dienststelle mehr – es gab ja keine Verbrechen –, und bis die Beamten von Newton Stewart hier wären, wäre der Einbrecher längst weg. Und das vielleicht mit den Besitztümern im Kofferraum, die noch nicht mit Evie und Sylvie umgezogen waren. Das konnte er doch nicht zulassen! Leider hatte auch er keine Waffe bei sich, und auch sein Körper glich bedauerlicherweise eher dem eines Suppenhühnchens als dem eines Gorillas. Er hatte ja noch nicht mal einen Regenschirm!

Eliyah kramte in den Taschen seiner Winterjacke. Das Einzige, was er fand, war sein Schlüsselbund. Und immerhin hatte er auch sein Handy dabei, was nicht oft vorkam. Eliyah atmete erleichtert aus und wählte Islas Nummer.

Zum Glück ging sie sofort ran.

«Es ist jetzt ganz schlecht, Eliyah!», sagte Isla statt einer Begrüßung. «Ich bin noch im Café. Und hier habe ich ja leider keine Hilfe mehr …»

«Warte!», flüsterte Eliyah hinter vorgehaltener Hand, für den Fall, dass der Einbrecher das Gehör einer Fledermaus hatte. «Ich bin gerade vor dem Bayview Cottage, und da bricht jemand ein! Du musst Shona Bescheid sagen, dass sie sofort herkommt!»

«Ein Einbrecher? Am hellen Tag! Sei nicht albern!» Eliyah konnte förmlich hören, wie Isla die Augen verdrehte. «Außerdem ist doch sicher gar nichts Wertvolles mehr in dem Haus.»

«Das weißt du doch gar nicht. Meine Mutter hat erzählt, dass die Wohnung im Seniorenheim ganz kurzfristig frei geworden ist.»

«Ich glaube trotzdem nicht, dass die Arbeitszeit eines Einbrechers freitags um zwölf ist. Es ist bestimmt nur ein Handwerker.»

«Aber wieso sollte denn ein Handwerker sich seine Kapuze so tief ins Gesicht ziehen, dass ich nicht einmal sehen konnte, ob es ein Mann oder eine Frau war – und sich auch noch verstohlen umschauen, wenn er ins Haus geht?»

«Hat er das getan?» Nun klang Isla schon etwas alarmierter.

«Ja. Er hat die Haustür auch nicht sofort aufbekommen, sondern musste einige Zeit an dem Schloss herumfummeln. Ich vermute, dass er einen Dietrich benutzt hat. – Jetzt sag endlich Shona Bescheid!»

«Die macht gerade Mittag, und ich bin ganz allein, was bei den vielen Gästen eine echte Katastrophe ist ...» Plötzlich stieß Isla einen Schrei aus, sodass Eliyah zusammenzuckte. «Da ist Paul! Er geht gerade mit Tyson Gassi. Ich sag ihm, dass er sich sofort auf den Weg machen soll. Mensch, ist das aufregend!»

Aber Eliyah wollte am liebsten sofort von hier weg. Er war einfach kein mutiger Typ. Aber für den Fall, dass der Einbrecher abhaute, bevor Paul hier auftauchte, musste er sich zumindest das Nummernschild seines Wagens notieren.

Mit klopfendem Herzen stand er auf und schlich sich im Schutz der Hecken, die das Bayview Cottage umgaben, zum Haus. Zum Glück war der Wagen halb von einem Busch verborgen. Eliyah warf einen Blick hinein. Das Innere des Wagens sah so chaotisch aus, als würde sein Besitzer darin wohnen. Gut, Kennzeichen notieren und nichts wie weg.

FSO 4 gab Eliyah hastig in sein Handy ein, als die Tür des Cottages aufging.

So schnell kam der Typ schon wieder raus? Eliyah ging blitzschnell in die Hocke, doch es war zu spät. Er hörte, wie sich Schritte dem Auto näherten, und dann blickte ein schmales Gesicht mit Dreitagebart auf ihn herunter, das von einer Kapuze eingerahmt war.

Eliyah schnappte nach Luft, aber nicht vor Schreck, sondern weil er den Mann kannte. Es war Nate Wood! In der Schule war er vier Klassen über ihm gewesen, deshalb hatte Eliyah keinen Kontakt zu ihm gehabt. Aber er hatte sein Buch gelesen, und das war großartig!

Wie blöd, dass er Nate nach all den Jahren auf diese Weise das erste Mal gegenübertreten musste: mit dem Handy in der Hand hinter dem Hinterreifen seines Wagens kauernd.

«Kann ich Ihnen helfen?», fragte Nate.

Fieberhaft suchte Eliyah nach einer unverfänglichen Antwort. Doch es fiel ihm nur eine einzige ein.

«Ja. Würden Sie mir ein Autogramm geben?»