Kapitel 20 Shona

Z ehn Tage später lud Graham in den Reading Fox ein. bald würde Eliyah den Buchladen übernehmen, und er wollte seinen Ausstand feiern. Das Abschiedsfest war bereits in vollem Gang, als Shona um kurz vor sieben dort auftauchte.

«Ich dachte schon, du würdest gar nicht mehr kommen», begrüßte ihr Vater sie vorwurfsvoll. Er hatte ihr immer noch nicht ganz verziehen, dass sie ihm nichts von dem geplanten Hauskauf erzählt hatte.

«Klar komme ich zum Ausstand meines Bruders, aber ich bin eben eine viel beschäftigte Frau.» Shona gab ihm einen Kuss auf die stoppelige Wange. Sie kannte ihren Vater lange genug, um zu wissen, dass er mit seinem unfreundlichen Verhalten nur seine Angst vor dem Alleinsein kaschierte.

Shona sah sich im Laden um. Ein bisschen leid tat es ihr ja schon, dass Graham ab März wieder als Lektor arbeiten und das Reading Fox nicht mehr selbst führen würde. Zwar war sie im Gegensatz zum Rest der Familie überhaupt keine Leseratte, aber trotzdem war der Laden viele Jahre ein fester Teil ihres Lebens gewesen. Sie fand es schön, in ihren Pausen hin und wieder hinüberzugehen, sich in einen der vielen gemütlichen Sessel zu setzen und eine Tasse Tee zu trinken. Ob sie diese lieb gewonnene Gewohnheit mit Eliyah als Pächter weiterhin pflegen würde, war fraglich.

Immerhin wollte er nicht viel an dem Laden verändern. Das wäre wirklich schade gewesen! Zwar gab es in Swinton noch zehn weitere Buchantiquariate, aber der Reading Fox war zweifellos nicht nur das älteste und bekannteste, sondern auch das schönste. Schier endlos mit vielen verzweigten Gängen breitete sich der Laden ausgehend von der großen Eingangshalle nach hinten aus, weswegen er von den Einwohnern Swintons liebevoll «Fuchsbau» genannt wurde. Und überall gab es etwas zu entdecken: düstere Landschaftsgemälde an den Wänden, altes Porzellan und nostalgische Wecker in den Regalen, und im Musikzimmer hing sogar ein echtes Skelett von der Decke. Vicky hatte einmal scherzhaft vermutet, der Ärmste baumele dort sicher nur, weil er nicht mehr aus den vielen Gängen herausgefunden hatte.

Graham stand mit einer Kelle in der Hand hinter einem riesigen Steinguttopf und schenkte Bowle aus.

«Nettes Outfit!», begrüßte Shona ihn und zeigte auf das Papierhütchen auf seinem Kopf und die Papierschlangen um seinen Hals.

«Das haben mir Finlay und Gertie zur Feier des Tages verpasst.» Graham verdrehte die Augen. «Willst du auch ein Glas Fruchtbowle?»

Shona nickte. Und sie brauchte etwas zu essen! Sie bediente sich an einem Tablett mit Räucherlachs-Tartar-Häppchen und Scotch Eggs, das gleich neben der alten Registrierkasse auf der Theke stand.

«Wollte Nate nicht mitkommen?» Graham tauchte die Kelle in die Bowle.

«Nein. Du weißt doch, sein Buch … Bis Ende Mai muss er es abgeben.»

«Schade! Ich bin nämlich furchtbar neugierig. Es ist nämlich immer noch nicht die kleinste Information darüber durchgesickert, und ich hatte gehofft, dass ein paar Gläser Bowle seine Zunge lockern würden.» Graham feixte. «Weißt du inzwischen etwas darüber?»

Shona schüttelte den Kopf. Zwar arbeitete Nate nun schon seit zehn Tagen im Sweet Little Things , aber sie hatten über nichts gesprochen, was nicht mit dem Café zusammenhing. Selbst wenn Shona das gewollt hätte, wäre schlicht keine Gelegenheit dazu gewesen. Nate kam pünktlich zu Beginn seiner Schicht, ging in der Mittagspause hinüber zu seinen Eltern, um dort zu essen, und verließ das Café am Ende seiner Schicht sofort. Und dazwischen war meistens ganz schön viel zu tun.

Und selbst wenn sie einmal Zeit für ein privates Gespräch gefunden hätten, würde Nate sicher nicht über sein neues Buch sprechen. In der Hinsicht war er verschlossener als Grahams Registrierkasse. Er sprach ja noch nicht einmal gerne über sein erstes. Shona konnte das überhaupt nicht verstehen. Sie redete gerne über ihre Arbeit und konnte sich stundenlang über ausgefallene Tortenrezepte unterhalten.

Da Graham weiter seine Gäste bedienen musste, hielt sie Ausschau nach jemandem, zu dem sie sich gesellen konnte. Auswahl gab es genug, halb Swinton schien sich im Fuchsbau versammelt zu haben. Sogar Jack Pebbles war da, dabei ließ sich der Besitzer des einzigen Lebensmittelgeschäfts normalerweise niemals auf irgendwelchen gesellschaftlichen Events blicken. Rosie musste ihn mitgeschleppt haben, denn sie stand neben ihm und redete auf ihn ein, während er mit seiner üblich grantigen Miene an einem Gurkensandwich kaute. Als Rosie Shona sah, winkte sie sie zu sich.

«Ich habe etwas für dich.» Rosie kramte aus ihrer riesigen Handtasche einen Schnellhefter hervor. «Die Frau von meinem Cousin ist eine begnadete Bäckerin. Ich habe ein paar Fotos von ihren Torten für dich. Für ihre letzte hat sie sogar einen Preis bekommen.»

«Danke, das ist lieb von dir!», sagte Shona und nahm den Hefter. «Im Moment kann ich jede Inspiration wirklich gut gebrauchen.» Ihr Entwurf für den Wettbewerb war noch lange nicht fertig, dabei war die Bake a Cake schon in drei Wochen!

«Wozu brauchst du Inspiration?» Pebbles zog seine buschigen Augenbrauen zusammen. Anders als Rosie und so ziemlich jeder andere in Swinton wusste er offensichtlich nichts von dem Wettbewerb. «Willst du den Leuten im Ort endlich was Anständiges zu essen anbieten?»

Shona atmete tief ein und aus, mahnte sich innerlich zur Geduld. Schon bei ihrer Eröffnung hatte er gegen den neumodischen Kram gewettert, von dem niemand satt würde. Wie so oft, wenn sie Pebbles begegnete, fragte sie sich, was in seinem Leben eigentlich schiefgegangen war. Laut Dad war er in seiner Jugend nämlich ein richtig netter, lustiger Kerl gewesen.

«Beachte diesen furchtbaren Griesgram nicht!», kam Rosie ihr zu Hilfe. «Und schau dir die Fotos zu Hause einfach mal in Ruhe an. Vielleicht bringen sie dich ja wirklich auf ein paar Ideen.»

Shona bedankte sich bei Rosie und ging weiter zu Sylvie und Evie, die sie am Büfett entdeckt hatte.

«Wie kommt ihr denn hierher?», begrüßte sie die Schwestern. «Ich hoffe, du bist nicht gefahren, Evie!»

Evie schüttelte den Kopf, und ihre Lippen wurden schmal. «Nein, Hugh hat uns abgeholt. Claudia hat mir vor dem Umzug meinen Führerschein abgenommen.»

«Wir haben uns so gefreut, dass dein Bruder uns eingeladen hat», zwitscherte Sylvie. «Es ist so schön, mal wieder unter Leute zu kommen. Und es freut mich sehr für Graham, dass Eliyah den Buchladen übernimmt. Er hätte den Fuchsbau sicher genauso ungern einem Fremden überlassen wie wir unser Häuschen.»

Hatte Shona bereits eine leichte Nervosität verspürt, als Rosie ihr den Schnellhefter in die Hand gedrückt hatte, spürte sie jetzt endgültig Panik in sich aufsteigen, wenn sie an den Wettbewerb dachte. An die hundert Tortenentwürfe hatte sie schon angefertigt, aber alle waren ihr irgendwann banal erschienen. So wie ihre erste Idee mit dem Bayview Cottage zum Beispiel. Inzwischen zweifelte Shona stark daran, dass es die Jury zu Begeisterungsstürmen hinreißen würde, wenn sie aus Marzipan eine Hügellandschaft formte und ein altes, windschiefes Häuschen hineinstellte. Bereits auf dem Entwurf hatte das einfach nur blöd ausgesehen.

Shona war froh, als Vicky und Ann ihr von der Galerie aus zuwinkten. Die beiden hielten ebenfalls ein Glas Bowle in der Hand. Als Shona ihre gut gelaunten, leicht geröteten Gesichter bemerkte, vermutete sie, dass es nicht ihr erstes war.

«Was hast du denn da mitgebracht?», fragte Ann.

«Rosie hat mir zur Inspiration ein paar Fotos von den Torten einer Verwandten mitgebracht.» Shona öffnete den Schnellhefter, und bereits beim ersten Foto prustete sie los. Die Torte, die darauf abgebildet war, stellte ein Holzfass dar, aus dem Whiskey in ein Glas floss.

Auch Vicky kicherte. «Würdest du diese Torte auf der Bake a Cake einreichen, gäbe es sicher eine ganze Menge Männer, die fänden, dass du das Motto des Wettbewerbs vorzüglich getroffen hättest.»

«Wieso?», erkundigte sich Ann verständnislos.

«Das Motto lautet Wo die Liebe wohnt », erklärte ihr Vicky, und nun musste auch Ann lachen.

«Hast du dir denn schon überlegt, wie du das Motto umsetzt?», fragte sie.

«Das ist leider schwierig.» Shona seufzte. «Ich kann damit einfach nichts anfangen. Wo soll die Liebe denn schon wohnen?»

«Also für mich wohnt sie im Honeysuckle Cottage.» Vicky strich sich eine hellblonde Haarsträhne aus der Stirn. «Mein Münchner Apartment war wunderschön, aber ich war immer ein bisschen einsam dort. So viel, wie ich immer gearbeitet habe, konnte ich mir ja nicht mal eine Katze anschaffen. Aber im Honeysuckle Cottage ist immer Leben. Manchmal ist dort fast schon zu viel los, denn hin und wieder wäre es auch mal schön, mit Graham allein zu sein.» Sie zog eine Grimasse. «Aber so hübsch ich das Honeysuckle Cottage auch finde, ich glaube, als Motiv für eine Torte taugt es nicht, oder?»

Shona schüttelte den Kopf. Nein, genauso wenig wie das Bayview Cottage.

«Wo wohnt denn die Liebe für dich, Ann?», fragte sie zunehmend verzweifelt.

«Nirgendwo. Ich würde das Motto des Tortenwettbewerbs eher als Metapher verstehen.» Ann lächelte versonnen und drehte an dem schmalen goldenen Ehering, den sie immer noch am Finger trug, obwohl sie sich schon vor geraumer Zeit von Colin getrennt hatte. «Für mich ist sie in all den Momenten zu finden, in denen ich sie erfahren habe. Und die haben sich so tief in mein Herz eingegraben, dass ich sie niemals vergessen werde.»