Kapitel 21 Shona

E rst nach Mitternacht löste sich die Party auf. Shona blieb bis zum Schluss, um Graham, Vicky und Eliyah im Reading Fox beim Aufräumen zu helfen, und erst als das letzte Glas gespült war, verabschiedete sie sich. So richtig Lust, ins Hillcrest House zurückzukehren, hatte sie allerdings immer noch nicht, und so beschloss sie noch ein paar Meter durch den Ort zu spazieren. Beim Gehen waren ihr schon immer die besten Ideen gekommen, und allmählich sollte ihre Muse wirklich mal aus dem Winterschlaf aufwachen! Es blieb nicht mehr viel Zeit.

Shona suchte in ihren Manteltaschen nach ihrer Mütze. Tagsüber war es recht warm gewesen, doch mit Einbruch der Dämmerung hatte der Winter dem nahenden Frühling klargemacht, dass er sich noch ein bisschen gedulden musste. Shonas warmer Atem bildete Wölkchen in der kalten Luft. Als Alfie, Nate und sie noch Kinder gewesen waren, hatten sie bei solchem Wetter oft so getan, als würden sie an einer Zigarette ziehen und den Rauch ausstoßen. Shona schob die Erinnerung weg. Dass sie die Vergangenheit nicht einfach Vergangenheit sein lassen konnte!

Ein Brief kam Shona in den Sinn, den sie vor ein paar Wochen bekommen hatte. Mauerblümchen hatte ihn an einen gut aussehenden Fremden geschrieben. Warum sie ihn so bezeichnete, konnte Shona nicht nachvollziehen, denn aus dem Brief ging hervor, dass die beiden befreundet waren und manchmal wohl auch ein bisschen mehr als das. Der Brief war ziemlich chaotisch geschrieben – so chaotisch wie ihre Beziehung, hatte seine Verfasserin angemerkt –, aber eine Passage war Shona trotzdem so genau in Erinnerung geblieben:

Vielleicht ist es deshalb so schwer, Freunde ziehen zu lassen: Anders als Beziehungen haben Freundschaften keinen Anfang und kein Ende. Es gibt kein Startdatum und auch nicht den Satz «Es ist aus».

War es dieses Unabgeschlossene, das dafür sorgte, dass sie einfach nicht von Nate loskam?

Shona stellte den Kragen hoch und vergrub die Hände tief in den Manteltaschen. Das Klappern ihrer Absätze auf dem Asphalt war das einzige Geräusch in der ansonsten stillen Main Road. Es war dunkel, lediglich die Straßenlaternen spendeten etwas Licht, und ein Laden in der alten Molkerei war noch erleuchtet.

Das große Gebäude lag ein wenig außerhalb von Swinton in Richtung der Marschwiesen, und es hatte jahrzehntelang leer gestanden, bevor sich nach einer umfangreichen Renovierung ein paar süße kleine Geschäfte darin angesiedelt hatten. Neben Anns Vintage & Couture und der Galerie, die Vicky bald eröffnen würde, gab es dort auch eine Kunstschmiede, einen Tee- und Geschenkladen, den Blumenladen, in dem Shona immer den Blumenschmuck für das Sweet Little Things kaufte, und das Carl & Clarke , einen Imbiss mit gesundem Fast Food.

Erst dachte Shona, dass der schwache Lichtschein von dem Imbiss ausging. Carl und Clarke, zwei Londoner, hatten ihn erst vor ein paar Wochen eröffnet und arbeiteten oft bis weit nach Feierabend. Doch es war Anns Secondhand-Boutique, die noch erleuchtet war. Sie lag ganz am Ende, gleich neben Vickys Kunstgalerie, und das Erste, was Shona auffiel, war, dass das Brautkleid von Valentino weg war. Die Puppe, die es immer trug, war nackt. Seltsam! Das Valentino-Kleid war nämlich das einzige Kleidungsstück in der Boutique, das nicht verkäuflich war.

Shona legte ihre Hand auf die Klinke, die Ladentür war nicht verschlossen. Hallo! Ist hier jemand?, wollte sie schon rufen, doch dann sah sie Ann. Sie stand vor dem großen Spiegel zwischen den beiden Umkleiden und hielt das schmal geschnittene Kleid aus matt glänzender Seide an sich gepresst. Dabei wiegte sie sich mit geschlossenen Augen träumerisch hin und her, tanzte selbstvergessen zu einer imaginären Musik.

Anscheinend gab es auch in Anns Leben ein Kapitel, das noch nicht abgeschlossen war, dachte Shona und zog sich leise zurück. Sie wollte nicht, dass Ann sie dabei ertappte, wie sie sie in diesem intimen Moment beobachtete.

«Wieso stellst du das Kleid eigentlich im Schaufenster aus, wenn du es sowieso nicht verkaufen willst?», hatte Shona sie vor einiger Zeit einmal gefragt.

«Weil es mich daran erinnern soll, mein Herz nie wieder leichtfertig zu verschenken», hatte Anns mysteriöse Antwort gelautet. Was sie wohl mit diesem Kleid verband? Auf ihrer Hochzeit hatte sie es nicht getragen, das wusste Shona, denn bis zu ihrer Trennung hatte in Colins Arztpraxis ein Hochzeitsfoto auf dem Schreibtisch gestanden, und das Kleid, das Ann darauf anhatte, sah anders aus. Shona hätte nur zu gerne nachgehakt, doch leider hatten Anns fest zusammengepresste Lippen ihr deutlich gezeigt, dass sie nicht vorhatte, näher auf dieses Thema einzugehen.

Shona musste daran denken, was Ann heute Abend gesagt hatte: Für mich ist die Liebe in all den Momenten zu finden, in denen ich sie erfahren habe. Und die haben sich so tief in meinem Herzen eingegraben, dass ich sie niemals vergessen werde .

Das Brautkleid musste sie an einen dieser kostbaren Momente erinnern.

 

Auf dem Platz vor der alten Molkerei blieb Shona stehen und schaute hinauf in den Sternenhimmel. Liebe – das war schon eine seltsame Angelegenheit. Sie war süß und bitter zugleich, sorgte dafür, dass man sich in einem Moment federleicht fühlte und im nächsten tränenschwer. Liebe lag in Finlays süßem Kindergeruch, in dem Shona meinte, immer noch einen Hauch der Milch wahrnehmen zu können, mit der sie ihn früher, als er noch ein Baby gewesen war, so oft gefüttert hatte. Und in Dads Hand, die heute Abend kurz auf ihrer Schulter geruht hatte, als er sie fragte, ob sie denn ohne die regelmäßigen Mahlzeiten, die er ihr kochte, überhaupt zurechtkäme. Liebe war Bonnies weiches Fell, in das sie ihr Gesicht grub, wenn sie mal wieder Trost brauchte, genauso wie Franky, ihr alter blank geliebter Stoffhase, der nachts immer noch über ihre Träume wachte. Liebe ließ sich nicht vorhersehen und nicht erzwingen. Aber man konnte sie auch nicht verhindern …

Shona schlang die Arme fester um ihren Oberkörper, der kalte Märzwind spielte mit ihren Haaren, und auf einmal stieg eine Erinnerung an eine andere sternklare Nacht in ihr auf, auch eine Märznacht, wenn auch eine viel mildere, und sie hatte zusammen mit Alfie und Nate auf der grünen Bank unter dem Kirschbaum gesessen. Es war die Nacht gewesen, in der sie sich ewige Freundschaft geschworen hatten.

Sie ertappte sich dabei, wie sie bei der Erinnerung lächelte. Denn nie zuvor und niemals danach hatte sie sich so geliebt gefühlt wie in dieser magischen Nacht, eingesponnen in den Kokon ihrer Freundschaft. Die Worte für immer hatten sich nicht nur wie eine Floskel angefühlt.

Auf einmal wusste Shona ganz genau, wie die Torte für den Wettbewerb aussehen würde: dreistöckig mit einem Kirschbaum darauf, dessen rosafarbene Blüten sich über die ganze Torte ergießen würden. Und wenn sie es irgendwie schaffte, dies aus Marzipan zu formen, und es nicht unmöglich oder kitschig aussah – dann würde eine kleine Hütte unter diesem Baum stehen, mit drei Menschen davor, die sich an den Händen hielten.