Kapitel 31 Shona

D as war Nate!

«Willst du mich umbringen?», fauchte Shona ihn an. Zwar war sie froh, dass sie niemanden überrascht hatte, der ein seltsames Ritual an Alfies Grab vollzog, aber Nates Anwesenheit hier zu dieser Stunde sorgte auch nicht unbedingt dafür, dass sich ihr Herzschlag beruhigte. «Wieso stehst du denn mit der Kapuze über dem Kopf und einer Kerze an der Hand hier rum? Es ist mitten in der Nacht! Machst du einen auf Ku-Klux-Klan? Ich hätte mir gerade vor Angst fast in die Hosen gemacht!»

Im ersten Moment wirkte Nate perplex, doch dann ging er in die Verteidigungshaltung. «Ich wollte nur das Ewige Licht austauschen. Es war ausgegangen.»

«Hättest du das nicht auch tagsüber machen können?»

«Hätte ich.»

«Aber da hattest du wohl Wichtigeres zu tun, was?» Shona biss sich auf die Zunge, kaum dass ihr diese Bemerkung über die Lippen gerutscht war. Das hörte sich ja so an, als wäre sie eifersüchtig auf Chloé.

«Nein!» Nate bedachte sie mit einem langen Blick. So lang, dass es Shona schon ein wenig flau im Magen wurde. «Ich war heute Nachmittag schon mal da», sagte er. «Aber da ist Claudia mit Sylvie und Evie vorgefahren, und ich glaube nicht, dass sie am Grab gerne Gesellschaft gehabt hätten.»

War Chloé dabei? Und wo ist sie jetzt? Diese Fragen lagen Shona auf der Zunge, aber sie würde sich hüten, sie auszusprechen.

«Und du? Wieso kommst du so spät noch hierher?», erkundigte sich Nate.

«Ich … ich war mit Vicky und den Kindern im Galloway Forest Park und habe es erst jetzt geschafft.» Dass sie Alfies zehnten Todestag vergessen hatte, würde Shona sicher nicht zugeben.

«Aber du warst doch heute schon auf dem Friedhof.»

Wovon sprach er? «Nein, war ich nicht.»

«Und wie kommt der dann hierher?» Nate zeigte auf den Blumenstrauß.

«Wieso sollte der denn von mir sein?» Shona schob das Kinn nach vorne.

«Auf Alfies Beerdigung hattest du auch Vergissmeinnicht dabei.»

«Daran kannst du dich noch erinnern?»

Es vergingen ein paar Augenblicke, bis er nickte. «Ich habe damals die Blumen für dich in Alfies Grab geworfen. Genau wie die Kette mit dem Kleeblattanhänger, den Alfie dir geschenkt hatte.»

Das hatte er für sie getan? Shona konnte nicht antworten.

«Ich hoffe, das war in Ordnung?», fragte Nate unsicher.

«Ja, das war in Ordnung.» Shona blinzelte, weil ihre Augen sich auf einmal feucht anfühlten. «Ich habe mich immer gefragt, was aus den Blumen und der Kette geworden ist. Dad wusste es nicht, er hat mich ja damals nach Hause gebracht. Und Graham konnte sich auch nicht daran erinnern.» Shona rang sich ein schwaches Lächeln ab. «Ich habe Alfie damals wohl ganz schön die Show gestohlen mit meinem Ohnmachtsanfall.»

«Dein Auftritt war in der Tat ziemlich dramatisch!» Nates Mundwinkel zuckte.

Einen Moment lang sahen sie sich direkt an, und Shona spürte, wie ihre Knie ganz weich wurden. Sie zwang sich, den Blick abzuwenden. Sie standen hier an Alfies Grab. An seinem zehnten Todestag! «Musst du auch so oft an diese Nacht denken wie ich?», flüsterte sie.

«Ja, das muss ich.» Seine Stimme klang gepresst.

«Ich frage mich, wann genau es passiert ist», sagte Shona und sah, wie sich Nates Brustkorb unter seiner Jacke hob und senkte. Er wusste genau, worauf sie hinauswollte. Was hatten sie in dem Moment gemacht, als Alfie seinen letzten Atemzug getan hatte? Hatten sie sich geküsst? Oder hatten sie da bereits eng umschlungen nebeneinandergelegen und geschlafen?

«Ich mich auch. Und auch, wieso es gerade in dieser Nacht passieren musste.» Er stellte das Ewige Licht auf das Grab. «Es hätte doch auch in jeder anderen Nacht sein können.»

Nein! Denn in anderen Nächten hatte Alfie ihr nicht so dringend etwas zeigen wollen, dass er sich auf sein Motorrad gesetzt hatte, obwohl er viel zu viel getrunken hatte! Eine Träne rollte über Shonas Wange, und sie wandte den Kopf ab, damit Nate sie nicht sah. Schweigend standen sie eine ganze Zeit lang da und schauten auf die flackernde Kerzenflamme, bis Nate schließlich sagte: «Also … ich geh dann mal. Du willst sicher noch ein bisschen mit Alfie allein sein.»

Shona nickte, dabei wäre die ehrliche Antwort eine ganz andere gewesen: Nein! Das will ich nicht! Obwohl sie doch genau deswegen hergekommen war – um mit Alfie ein wenig allein zu sein und mit ihm zu reden! Shona presste die Lippen zusammen. Dass sie Nate hier getroffen hatte, an diesem Ort, um diese Uhrzeit, an diesem Tag, das überforderte sie gerade komplett. Und auch dass sie Nate am liebsten hinterhergelaufen wäre, als er sich umdrehte und davonging. Geh nicht!, schrie alles in ihr. Geh nicht zu Chloé! Verlass mich nicht schon wieder! Du fehlst mir so! Sie musste sich dazu zwingen, den Blick von seinem Rücken zu lösen und sich wieder dem Grab zuzuwenden.

Auf dem Weg zum Friedhof hatte Shona sich überlegt, was sie Alfie alles sagen wollte. Es tut mir so leid. Ich vermisse dich. Dein Tod war so sinnlos. Aber jetzt erschienen ihr all diese Worte auf einmal so furchtbar banal. War das wirklich alles, was sie Alfie heute Nacht zu sagen hatte? Ihre gemeinsame Zeit verblasste immer mehr. Genau wie die Erinnerung an sein Gesicht. Die ersten Jahre hatte Shona sich auch ohne Foto jedes noch so kleine Detail in Erinnerung rufen können: den weichen, herzförmigen Bogen seiner Oberlippe, die etwas breiter war als seine Unterlippe und deshalb immer etwas schmollend wirkte. Das kleine kreisförmige Muttermal neben seinem linken Ohrläppchen. Die kupferfarbenen Sternchen im Grün seiner Iris … Sie wusste immer noch, dass es all das gegeben hatte, aber die dazugehörigen Bilder wollten und wollten einfach nicht mehr in ihr aufsteigen, egal, ob sie die Augen schloss oder in den Sternenhimmel über sich blickte. Dabei hatte sie sich doch lange mit der kindlichen Vorstellung getröstet, dass Alfie auf einem dieser Sterne war und zu ihr hinunterschaute!

Ein paar Sekunden stand Shona noch am Grab, aber das erhoffte Gefühl der Verbundenheit zu Alfie wollte sich einfach nicht einstellen. Schließlich flüsterte sie: «Ich wünschte wirklich, es wäre alles anders gekommen!» Mit dem Zeigefinger malte Shona ein Kreuz in die Luft, dann ging sie. Sie musste sich endlich damit abfinden: Alfie war fort, und sie war allein.

Aber nicht ganz!

Überrascht blieb Shona auf halbem Weg zum Ausgang stehen. Denn auf der Bank vor dem Hügel, auf dem das Mausoleum stand, in dem die Familie McDonald ruhte, saß Nate und rauchte. Als er sie bemerkte, ließ er die Zigarette auf den Boden fallen und trat sie aus.

«War das nicht etwas pietätlos?», fragte Shona und versuchte, das lästige Herzklopfen zu ignorieren, das sie bei Nates Anblick schon wieder befiel.

«Dass ich auf dem Friedhof sitze und rauche? Ich glaube nicht, dass die Bewohner ein Problem damit haben. Sie könnten mir höchstens raten, mit dem Scheiß aufzuhören.»

«Wie kommt es, dass du noch hier bist?»

«Ich dachte, du würdest dich vielleicht wohler fühlen, wenn du nicht allein zurückgehen musst.» Shona hob beide Augenbrauen, und Nate setzte nach: «Okay, ich gebe es zu: Ich fühle mich sicherer, wenn du mich auf dem Rückweg begleitest. Aus einem der neuen Gräber kam so ein komisches Ächzen.»

«Aber das Geräusch kommt doch nur von der frisch aufgehäuften Erde. Weil sie sich nach und nach absenkt.» Shona konnte nicht anders, als leise aufzulachen, und auf einmal spürte sie, wie etwas von ihrer Anspannung von ihr abfiel. Egal, was alles passiert war, und ganz gleich, wie sehr Nate sich verändert hatte – tief in seinem Innern steckte immer noch etwas von dem kleinen Jungen von früher. «Immer noch der gleiche Angsthase wie damals, was?»

Nate hob den Zigarettenstummel auf, stand auf und warf ihn in den Papierkorb. «Du hast also unser Erlebnis in der Geisterbahn nicht vergessen.»

«Wie könnte ich?», fing Shona den Ball auf, den er ihr zuwarf. Wieso hatten sie nicht schon viel früher zusammen über die lustigen Erinnerungen gelacht, die sie miteinander teilten? Es gab doch so viele davon! «Als dieses mottenzerfressene Gespenst auf uns zuflog, hast du so laut geschrien, dass die Geisterbahn gestoppt wurde und ein Mitarbeiter uns durch einen Seitenausgang hinausließ. Dabei waren wir gerade erst losgefahren.»

«Geisterbahnen und Friedhöfe bei Nacht sind nun mal einfach nicht mein Ding.» Er zog eine Grimasse. «Häng das aber bitte nicht an die große Glocke!»

«Hast du Angst, dass ich die Info an die Sun weitergebe?»

«Ich glaube nicht, dass ich für die Yellow Press so interessant bin.»

«Das warst du aber mal!», sagte Shona, und als Nate eine Augenbraue hob, setzte sie nach: «Was denn? Überrascht es dich, dass ich dich gegoogelt habe? Da du uns jahrelang nicht mit deiner Anwesenheit beehrt hast, musste ich mich ja irgendwie auf dem Laufenden halten.»

«Du hättest mich anrufen oder mir schreiben können. Meine Eltern hätten dir jederzeit meine Nummer oder meine Adresse gegeben.» Er sah sie provozierend an, doch Shona hielt seinem Blick stand.

«Du hättest mich auch anrufen oder mir schreiben können. Meine Telefonnummer und meine Adresse sind sogar über all die Jahre gleich geblieben.»

Nun war Nate es, der den Blick senkte. «Ich weiß. Aber irgendwie war das damals gar nicht so einfach. Und je länger ich gewartet habe, desto …»

«Ich weiß», sagte Shona. Ihr war es ja ganz genauso gegangen. Auf einmal fragte sie sich, wieso sie die ganze Zeit einen solchen Groll gegen Nate gehegt hatte. Ja, er war gegangen! Aber sie hatte auch überhaupt keinen Versuch unternommen, ihn aufzuhalten.

«Soll ich dich nach Hause fahren?», fragte Nate, als sie die Friedhofspforte erreicht hatten.

«Nein, ich bin selbst mit dem Auto hier. Bis morgen! Ach nein, du hast ja das Wochenende frei.» Wie praktisch, jetzt, wo Chloé da war!, dachte Shona bitter. «Also bis Montag!» Sie musste zusehen, dass sie ins Bett kam, schließlich wollte sie früh raus, um vor dem Öffnen des Cafés noch ein paar Stunden an der Torte zu arbeiten. Shona wandte sich zum Gehen, doch Nate hielt sie zurück.

«Warte! Ich muss dir noch etwas sagen.»