D ie arme Bonnie! Und die arme Shona! Betroffen legte Ann das Telefon auf die Station zurück.
Sie hatte Colin eigentlich nur angerufen, um ihn zu fragen, was er denn davon hielt, dass Isla im Mai ihre neue Stelle in einer Whiskey-Destillerie bei Edinburgh antreten wollte und sich noch immer nicht nach einem Zimmer umgeschaut hatte. Dabei war jetzt Anfang April! Sie beneidete die Jugend um ihre Sorglosigkeit. Und Colin.
«Das Kind ist erwachsen», hatte ihr Ex-Mann lediglich gesagt. «Sie muss ihre eigenen Erfahrungen machen.»
«Beinhaltet das auch, unter einer Brücke schlafen zu müssen?», hatte Ann sarkastisch erwidert.
«Zur Not bezahle ich ihr für die erste Zeit ein B & B. Oder ein Hotelzimmer», war die lapidare Antwort gewesen.
Ann schnaubte. So war Colin schon immer gewesen! Er dachte, dass sich mit Geld alles regeln ließ. Davon hatte er ja auch genug. Und das nicht, weil er als Dorfarzt so viel verdiente, sondern weil sein Job ihm schlicht keine Zeit ließ, es auszugeben. Aber dass er Isla ein Zimmer bezahlte, nur weil sie zu sorglos – oder zu faul – war, sich selbst darum zu kümmern, das würde sie zu verhindern wissen. Wenn Daddy immer einsprang, würde Isla schließlich nie lernen, Verantwortung für das zu übernehmen, was sie tat. Oder nicht tat. Und das hatte Shona ihm auch genau so gesagt.
Da Colin zwar sehr stoisch sein konnte, aber nicht dumm war, hatte er schnell gemerkt, dass dieses Gespräch in einem handfesten Streit enden würde, wenn er nicht das Thema wechselte. Deshalb hatte er genau das getan und ihr erzählt, dass er gestern Abend, kurz vor Ende seiner Sprechstunde, noch eine ungewöhnliche Patientin gehabt hatte: Bonnie Belle. Die Hündin hatte etwas Verdorbenes gefressen.
Bevor sie die Boutique um zehn Uhr öffnete, musste Ann unbedingt beim Hillcrest House vorbeifahren und sich erkundigen, ob Bonnie die Nacht gut überstanden hatte. Sie wollte sich gar nicht ausmalen, was Shona durchgemacht hatte. Die Hündin war wie ein Kind für sie.
Shona war mit Bonnie im Garten, als sie eintraf. «Gott sei Dank, es geht ihr gut!», sagte Ann, als die Hündin schwanzwedelnd auf sie zugelaufen kam.
«Ja.» Shona sah unglaublich müde aus, aber sie lächelte. «Sie ist immer noch etwas wacklig auf den Beinen, aber immerhin hat sie heute Morgen schon wieder ein bisschen gefressen. Weißt du es von Colin?»
Ann nickte.
«Ich bin ihm so dankbar.» Shona streichelte Bonnie über den Kopf. «Bei einer Vergiftung kommt es auf jede Minute an. Weißt du, womit ich ihm eine Freude machen könnte? Geld wollte er nicht annehmen.»
Womit konnte man Colin eine Freude machen? Ann überlegte. Abgesehen davon, dass er gelegentlich eine Partie Boule auf der Gemeindewiese spielte, machte er ja nichts außer arbeiten. Während ihrer Ehe hatte ihn immer am meisten gefreut, wenn das Essen auf dem Tisch stand, wenn er nach Hause kam.
«Kauf ihm einen Gutschein von irgendeinem Lieferdienst!», schlug Ann vor.
«Gute Idee! Bieten Carl & Clarke nicht so etwas an?»
«Stimmt. Aber vielleicht fragst du lieber Joe oder Liam.» Ann zog eine Grimasse. «Bei Carl und Clarke gibt es ja nur Smoothies, Bowls und Wraps, und ich bezweifele, dass Colin bei solchen Sachen überhaupt weiß, was es ist.» Nein, mit einem solchen Gutschein würde Shona ihrem Ex-Mann keine Freude machen! Schon als es vor Jahren an Weihnachten einmal Mousse au Chocolat statt eines Plumpuddings zum Dessert gegeben hatte, hatte er sie komisch angeschaut. Ann dachte einen Moment nach, dann sagte sie: «Aber weißt du was: Colin kann ruhig mal was Neues ausprobieren! Soll ich dir einen Gutschein mitbringen? Ich muss mir sowieso noch was zum Frühstück holen.»
Noch Anfang des letzten Jahres hatte sich ein piefiger Eisenwarenladen in den Räumen befunden, in denen jetzt das Carl & Clarke war. Bei ihren wenigen Besuchen dort hatte Ann immer leichte Beklemmungen bekommen, so eng und vollgestopft war es dort gewesen. Das war nun ganz anders. Frisch und luftig, mit weißen Möbeln und apfelgrün gestrichenen Wänden, empfing das Bistro seine Kunden. An den Wänden hingen stylische Food-Fotografien, und natürlich gab es auch ein Regal mit Büchern, in denen geschmökert werden durfte. Daneben lehnte eine große Schiefertafel an der Wand, auf der stand: Always read something that will make you look good if you die in the middle of it. Ann schmunzelte. Carl und Clarke hatten schon einen ganz eigenen Sinn für Humor. Aber sie kamen gut an. Trotz der frühen Uhrzeit war jeder Tisch besetzt.
Anfangs war Ann sich ganz und gar nicht sicher gewesen, ob sich der Laden mit seinem für Swintoner Verhältnisse ungewöhnlichen Konzept würde halten können. Aber offenbar waren nicht alle Einwohner so konservativ wie Colin, der sich am liebsten von Fish and Chips, Würstchen und Haggis ernährte. Dorothy, Evelyn und Hugh saßen zum Beispiel an einem der kleinen Tische. Und Nate. Vor ihm stand eine Bowl, die noch genauso kunstvoll mit Nüssen und Beeren angerichtet war, wie sie die Küche verlassen hatte.
Er war jetzt mit Shona zusammen. Das wusste Ann natürlich nicht von Shona selbst, die war in solchen Dingen furchtbar verschlossen. Vicky hatte es ihr erzählt, und letzte Woche war Ann an den beiden vorbeigefahren, als sie ein Selfie vor dem Straßenschild des Lover’s Walk gemacht hatten, einer Straße, bei der sich Ann schon immer gefragt hatte, wie sie zu diesem romantischen Namen gekommen war. Der romantischste Anblick, der sich dort je geboten hatte, waren tatsächlich Shona und Nate, wie sie eng umschlungen unter dem Schild standen und in die Handykamera strahlten. Ann wusste noch, dass sie sich gefragt hatte, ob Colin und sie jemals so glücklich zusammen ausgesehen hatten. Sie konnte es sich nicht vorstellen.
Sie war Anfang zwanzig gewesen, als sie mit Colin zusammengekommen war. Er war der sichere Hafen gewesen, nach dem sie sich damals verzweifelt gesehnt hatte. Natürlich hatte sie ihn gemocht, sogar sehr. Sie mochte ihn heute noch, auch wenn sie jeden Tag dankbar dafür war, nicht mehr mit ihm zusammenwohnen zu müssen. Aber Colin hatte nie solches Herzklopfen in ihr ausgelöst, wie Ray es getan hatte. Allerdings hatte er ihr auch nie so wehgetan …
«Darf ich mich zu dir setzen?», fragte sie Nate.
Nate legte sein Handy weg und schaute auf. «Klar.» Die Schatten unter seinen Augen ließen vermuten, dass er nicht besonders gut geschlafen hatte. Sicher hatte auch er sich furchtbare Sorgen um Bonnie gemacht.
Ann setzte sich ihm gegenüber und warf einen Blick in die Karte. Sie entschied sich für die Apple Crumble Bowl und einen Smoothie mit dem vielversprechenden Namen Forever Young .
«Ich komme gerade von Shona», sagte Ann, nachdem sie bei Clarke bestellt hatte.
«Von Shona?» Nate runzelte die Stirn. «Die ist doch in Edinburgh.»
«Ist die Messe etwa heute?» Ann hatte natürlich gewusst, dass Shona dorthin wollte, aber sie hatte so viel gearbeitet in der letzten Zeit, dass die Zeit nur so verflogen war. «Ach je, dann hat sie wohl wegen Bonnie darauf verzichtet.»
«Wegen Bonnie …» Nate schien gar nichts mehr zu verstehen. «Was ist denn mit Bonnie?»
«Das weißt du gar nicht?»
Nate schüttelte den Kopf. Er wirkte alarmiert. Hatte er denn seit gestern gar nicht mehr mit Shona gesprochen?
«Bonnie hat etwas Verdorbenes gefressen. Aber keine Sorge», schob Ann nach, «gerade ist sie schon wieder im Garten herumgetollt. Shona war mit ihr bei Colin, und der hat Bonnie ein Brechmittel gespritzt.»
Clarke brachte ihr einen giftgrünen Smoothie. «Die Bowl kommt gleich», sagte er und schenkte ihr sein gewinnendes Lächeln. Gepaart mit seinem jungenhaften Aussehen, den verstrubbelten blonden Haaren und dem immer verschmitzten Gesichtsausdruck, ließ Ann dieses Lächeln stets wünschen, dass sie noch einmal Mitte zwanzig wäre – und dass Clarke sich nicht nur für Männer interessierte. Heute jedoch erwiderte sie es nur mechanisch.
«Wie ärgerlich, dass Bonnie ausgerechnet jetzt eine Lebensmittelvergiftung hat. Der Wettbewerb war Shona doch so wichtig!»
«Ist Isla jetzt im Café?», erkundigte sich Nate.
«Ich nehme es an. Irgendjemand muss Shona ja im Sweet Little Things vertreten. Wieso fragst du?»
Nate stand abrupt auf. «Weil ich jetzt dorthin gehe und die Torte hole. Ich werde sie nach Edinburgh bringen. Shona muss diesen Wettbewerb gewinnen.»