W egen des guten Wetters hatte Isla ein paar Tische draußen aufgestellt. Gerade bediente sie den alten Pete und seine noch viel ältere Border-Collie-Hündin Sally, die tatsächlich auch einen Cupcake bekam.
Shona überlegte kurz, ob sie umdrehen sollte. Sie hatte überhaupt keine Lust, mit jemandem zu sprechen! Aber das ging natürlich nicht, sie musste sich wenigstens kurz bei Isla sehen lassen und ihr sagen, dass sie heute nicht arbeiten würde, auch wenn sie in Edinburgh war. Sicher wusste Isla längst von Colin oder Eliyah, was passiert war.
Vicky, die gerade aus dem Fuchsbau kam, wusste es jedoch nicht. «Solltest du nicht in Edinburgh sein?», fragte sie überrascht.
«Stimmt, das sollte ich.» Shona hörte selbst, wie belegt ihre Stimme klang. «Aber Bonnie hat gestern leider beschlossen, vergammelte Ölsardinen zu verspeisen, und Colin musste ihr ein Brechmittel einflößen.»
«Oh nein!» Vicky riss entsetzt die Augen auf. «Geht es ihr denn wieder gut?»
«Den Umständen entsprechend, ja. Ich habe sie bei Nanette gelassen, weil sie so müde ist.» Sie selbst war auch unglaublich müde. Die ganze Nacht hatte sie kaum ein Auge zugemacht. Zum Glück hatte sie heute nichts groß zu tun und konnte sich nachher noch ein wenig hinlegen.
Überhaupt würde sie in der nächsten Zeit nicht viel zu tun haben. Es gab keine Torte mehr, die geplant und verziert werden musste. Und das Bayview Cottage würde nun auch von jemand anderem renoviert werden. Wenn es nicht jemand kaufte, der es gleich mit der Abrissbirne dem Erdboden gleichmachte. Und Nate … Shona spürte, wie ihre Augen feucht wurden.
«Ach je, du Arme!» Vicky sah sie genauso mitleidig an, wie Eliyah es gestern getan hatte. «Komm, wir setzen uns ein bisschen in die Sonne und trinken einen Kaffee zusammen.»
«Hier?»
«Wieso nicht? Oder ist es ein ungeschriebenes Gesetz, dass man als Cafébesitzerin nicht seine eigenen Plätze belegen darf? In dem Fall bin ich auch bereit, mich mit dir auf den Bordstein zu setzen.» Vicky grinste schelmisch. «Jetzt komm schon! Du siehst aus, als ob du einen doppelten Espresso gut gebrauchen könntest. Und was Süßes. Und dabei erzählst du mir alles.»
«Okay.» Auch Shona musste nun lächeln. «Ich gehe rein und hole uns was.» Sie wollte sich nicht von Isla bedienen lassen. «Soll ich dir einen Latte macchiato machen?» Den trank Vicky am liebsten, mit einem Schuss Karamellsirup.
Vicky nickte. «Und bitte einen dieser leckeren Schwarzwälder-Kirsch-Muffins. Wenn ich die esse, fühle ich mich immer ein bisschen nach München zurückversetzt.»
In der Auslage standen neben einem Teller Brownies nur noch ein paar Erdbeerküsschen und zwei Vanillewolken. Hier musste dringend aufgefüllt werden! Kein Wunder, dass Isla nicht dazu kam, so viel, wie heute hier los war. Auch drinnen war fast jeder Tisch besetzt.
Shona seufzte. Ihr Schläfchen konnte sie vergessen, sie würde Isla unterstützen müssen. Sie stand jetzt hinter der Theke an der Kaffeemaschine, auf dem Nagel an der Wand waren mehrere unerledigte Bestellzettel aufgespießt, und Isla wirkte schon richtig abgekämpft. «Gib mir eine Viertelstunde, dann helfe ich dir!», sagte Shona und ging in die Backstube, um nachzusehen, ob in der Kühlung noch ein paar Chocolate-Cherry-Muffins waren. Doch kaum hatte sie den Raum betreten, blieb sie abrupt stehen. Wo war denn der Karton mit der Torte? Vielleicht hatte Isla ihn weggestellt, er war ja wirklich ziemlich sperrig. Shona ging in ihr Büro, aber auch dort war er nicht. Sie eilte ins Café zurück.
«Wo ist denn die Torte?»
Isla stellte zwei große Tassen Milchkaffee und eine heiße Schokolade auf ein Tablett. «Die Wettbewerbstorte?», fragte sie dann und runzelte die Stirn.
«Welche denn sonst?», fuhr Shona sie an. «Den Cheese Cake meine ich sicher nicht.»
«Schon gut, schon gut!» Isla hob beschwichtigend die Hände, und sofort bereute Shona ihren harschen Ton. «Ich kann mir vorstellen, dass du gestresst bist. Aber dazu gibt es überhaupt keinen Grund. Nate hat mir vor fünf Minuten geschrieben. Er ist gut in Edinburgh angekommen. Und die Torte auch.»
Shona riss die Augen auf. «Ich … ich verstehe nicht. Nate ist mit der Torte nach Edinburgh gefahren?»
Isla sah Shona irritiert an. «Ja, heute Morgen. Hast du denn gar nichts davon gewusst?»
«Alles in Ordnung mit dir?», fragte Vicky, als Shona mit einem Tablett in der Hand zu ihr zurückkam.
Sie nickte. «Die Chocolate-Cherry-Muffins sind leider aus. Aber ich hatte noch ein paar Very Cherrys. Die schmecken auch lecker.» Shona schüttelte benommen den Kopf.
Vicky sah sie forschend an. «Ist sicher alles in Ordnung? Du bist ja ganz blass.»
«Ja, ja.» Shona stellte den Latte macchiato und den Muffin vor Vicky ab. Für sich hatte sie lediglich einen Espresso mitgebracht. Und ein Glas Leitungswasser, denn ihr Mund fühlte sich ganz trocken an. «Ich … ich habe nur gerade von Isla erfahren, dass Nate die Wettbewerbstorte für mich nach Edinburgh gefahren hat.»
«Aber das ist doch toll! Dann nimmst du ja doch an dem Wettbewerb teil!» Vicky klatschte aufgeregt in die Hände. «Wie lieb von Nate! Und davon hat er dir gar nichts erzählt?»
«Nein. Wir … wir sprechen gerade nicht miteinander.» Shona holte tief Luft. «Es ist aus.»
«Es ist aus? Ihr habt doch immer so glücklich gewirkt!» Vicky sah sie entsetzt an.
«Das waren wir auch, aber Nate … hat mich hintergangen.»
Vicky biss sich auf die Unterlippe. «Oh nein! Das tut mir leid. Kennst du sie?»
Sie wirkte so aufrichtig erschüttert, dass Shona fast lachen musste. «Es ist nicht so, wie du denkst. Nate hatte nichts mit einer anderen. Jedenfalls kann ich mir das nicht vorstellen.» Nate war schließlich nicht Alfie … Shona schluckte, und auf einmal hatte sie das Bedürfnis, über alles zu sprechen.
Sie erzählte Vicky von all den Briefen, die sie inzwischen aus ganz Großbritannien bekam. Sie erzählte, wie es zu dem Blog gekommen war, und von ihrem Brief an Alfie. Und sie erzählte ihr von Kurt alias Nate.
«Es ist so demütigend!» Shona verbarg das Gesicht in den Händen. «Was ich ihm alles geschrieben habe und was er jetzt über mich weiß! Er hat mich ausspioniert. Und ich fühle mich so entblößt.»
«Ist das denn wirklich so schlimm, dass er das alles über dich weiß? Ich meine, ihr seid doch zusammen …»
«Wir waren zusammen.»
«Wie auch immer. Aber in einer Beziehung ist es doch normal, dass man darüber spricht, was einen beschäftigt und wie es in einem aussieht, oder nicht? Und klar, es war nicht in Ordnung, was Nate getan hat. Andererseits … Es ist ja nicht so, als hätte er das Schloss deines Tagebuchs aufgebrochen. Er hat lediglich einen Blick auf deinen Laptop geworfen, der offen in deinem Büro stand …»
«Aber wieso hat er mich nicht einfach auf den Blog angesprochen?»
Vicky nahm einen Bissen von ihrem Cupcake. «Also ehrlich gesagt kann ich verstehen, dass er das nicht getan hat», sagte sie vorsichtig. «Du kannst manchmal ganz schön furchteinflößend wirken. Nate hatte bestimmt Angst, dass du vollkommen ausflippst, wenn du erfährst, dass er hinter dein Geheimnis gekommen ist.» Bei dem Wort Geheimnis malte sie mit den Fingern Gänsefüßchen in die Luft. «Ich an seiner Stelle hätte sicher auch nichts gesagt.»
«Hättest du mir an seiner Stelle auch geantwortet?»
Vicky dachte einen Moment nach. «Ich glaube schon», gab sie dann zu. «Versetz dich doch mal in seine Situation: Er mag dich unheimlich gern, vielleicht sogar schon seit Kindertagen. Aber du bist nun mal so, wie du bist …»
«Ein Ungeheuer?»
Vicky lachte auf. «Ich hatte eher an eine Auster gedacht. Verschlossen. Harte Schale. Und dann liest Nate deinen Brief und stellt fest: Hey! Shona ist ja gar nicht so tough, wie sie immer tut. Sie hat ja auch noch eine ganz andere Seite. Natürlich freut er sich darüber und möchte von dieser anderen Seite noch mehr erfahren.»
Shona kippte ihren Espresso hinunter. So ähnlich hatte Nate es tatsächlich auch ausgedrückt … «Du findest also, dass ich überreagiert habe, als ich Nate zum Teufel gejagt habe?»
«Definitiv!» Ein Grübchen erschien auf Vickys Wange.
«Und was soll ich jetzt deiner Meinung nach tun?», fragte Shona.
«Das liegt doch auf der Hand. Setz dich in deinen Lieferwagen und fahr nach Edinburgh! In drei Stunden bist du da.» Vicky steckte sich den Rest ihres Muffins in den Mund. «Und falls du jetzt einwirfst, dass es wegen Bonnie nicht geht: Auf die werde ich aufpassen, und ich lasse sie keine Sekunde aus den Augen!»