»Was tun Sie«, wurde Herr K. gefragt, »wenn Sie einen Menschen
lieben?« »Ich mache einen Entwurf von ihm«, sagte Herr K., »und sorge dafür, dass er ihm ähnlich wird.« »Was? Der Entwurf?«
»Nein«, sagte Herr K., »der Mensch.«
Bertolt Brecht
Wenige Minuten nachdem ich mein Profil auf einer Onlineplattform hochgeladen habe, bekomme ich eine erste Nachricht. Nennen wir sie »Missbeautiful28«, arabische Wurzeln und nach eigenen Angaben gutaussehend (»bin sehr hübsch, glaub mir«). Ein Foto hat sie zwar nicht vorzuweisen (suboptimal irgendwie), dafür will sie telefonieren. Dass sie Personalchefin in einem Unternehmen ist, überhöre ich irgendwie. Das stellt sich als großer Fehler heraus. Bei unserem »Telefoninterview« werde ich auf Herz und Nieren geprüft wie ein Lämmchen auf einem arabischen Basar. Aus der anfänglich begeisterten Scheherezade wird eine kleine Ratingagentin. »Wo siehst du dich in zehn Jahren?« »Weiß nicht so recht, ich lebe im Hier und Jetzt.« »Hmm, das gibt jetzt aber einen kleinen Minuspunkt, hihi«. Ich komme erst mal auf ein solides »AA+«, schätze ich. Nach der Karrierefrage und meiner Antwort, die in Richtung eines Bohemien-Lebens in Berlin geht, bin ich bei »BB-«. »Das gibt jetzt leider wieder einen Minuspunkt.« Diesmal schon ohne »hihi«. Sie meint es wirklich ernst. Als wir meine Moralvorstellungen erörtern, bin ich eine griechische Staatsanleihe: Ramschniveau und Kandidat für die »geordnete Insolvenz«.
Dating ist Rating. Es muss bei der Partnerwahl heutzutage scheinbar mindestens ein »Triple-A« sein, bei positivem Ausblick. Die Zahlen sprechen eine deutliche Sprache: Mehr als ein Viertel der deutschen Haushalte in Großstädten sind Singlehaushalte, das sind circa 16 Millionen Menschen. Auf die Frage: »Warum leben Sie allein?« in der Umfrage einer Internetagentur bei ihren 10 000 Mitgliedern lautete die häufigste Antwort: »Ich bin zu anspruchsvoll.«14 Die Einsamkeit ist weniger quälend als das Bewusstsein, einen Kompromisspartner an der Seite zu haben.
Unsere Art zu lieben beruht heute verstärkt auf dem Austausch von Benefits (Gratifikationen). Darunter sind nicht nur die Ressourcen zu verstehen, von denen der französische Soziologe Pierre Bourdieu (1930 – 2002) in seinem Buch Die feinen Unterschiede spricht.15 Er meint damit Geld, Intelligenz, Bildung, Körpereigenschaften, Wohnort und Titel, also Kriterien, die den Habitus des Menschen ausmachen und auch heute noch die Partnerwahl beeinflussen.
In unserer Vorstellung von Liebe als Austauschbeziehung gehören zu Gratifikationen auch ganz normale Alltagshandlungen materieller oder immaterieller Art. Das können Geschenke, Urlaubsreisen, Einladungen zu Veranstaltungen sein, aber auch wiederkehrende persönlich-affektive Dienstleistungen psychischer, physischer und intellektueller Art. Wir kommerzialisieren unser Intimleben und machen aus natürlichen Handlungen kleine Gefühlseinheiten, die man addieren, subtrahieren oder zum Gegenstand einer Bilanz machen kann. Oberstes Ziel ist ein ausgeglichenes Emotionsressourcenkonto. Wenn wir in die roten Zahlen rutschen, ist es an der Zeit, »mal zu reden«.
Wenn die Frau beim Shoppen etwas Traumatisches erlebt hat (z. B., indem die Verkäuferin ihr ein Kleid in Größe 40 statt 38 angeboten hat), erwartet sie von ihrem Mann zu Hause psychische Unterstützung (Zuhören, Nicken, Nachfragen, Selbstbestätigung vermitteln, sanften Themenwechsel einleiten ...). Wenn der Mann sie dabei noch berührt und sie in den Arm nimmt, kommt die physische Komponente dazu. Fängt er dann an zu dozieren und die Welt zu erklären, während sie aufmerksam zuhört und ihn dadurch aufwertet, erweist sie ihm im Austausch einen intellektuellen Dienst. So ist der »Freund mit Extras« (friend with benefits) eben derjenige, bei dem man sich nach dem Sex auch noch genüsslich ausheulen kann.
In unserer modernen Liebesvorstellung beruht der Austausch von Benefits auf dem Kalkül, möglichst nicht zu kurz zu kommen. Die Beziehung folgt der Logik des Abonnements. Der Paartherapeut und Psychologe Arnold Retzer charakterisiert die Ehe oder Partnerschaft als »eine Beziehung zweier autonomer geschäftsfähiger Individuen (...), die zwecks Maximierung ihrer individuellen Gewinne in einem Austauschverhältnis stehen«.16 Beide Partner können ihr Verhältnis zueinander durch den Entzug oder die Gewährung von Benefits regeln.
Die auf Kalkül basierende Bindung ist damit maßgeblich von Kategorien des »Dürfens« oder »Sollens« geprägt. Jede Handlung wird mit einem »Plus« oder »Minus« bewertet. Kommt er mal wieder zu spät aus der Kneipe, muss er ihre Gnade wiedergewinnen, indem er eine Dienstleistung erbringt. Er muss zeigen, dass er wieder »auf Linie« ist, indem er den Entzug an Respekt (»Ist mir doch egal, wann ich heimkomme!«) mit der Gewährung eines emotionalen Benefits (»Guck mal, wie ich mich jetzt für dich ins Zeug lege!«) ausgleicht. Er macht also den Abwasch, obwohl er viel lieber vor dem Fernseher gesessen hätte. All dies kann sich ohne jegliche wörtliche Kommunikation abspielen.
In unserer ökonomischen Liebesart setzen wir diese privaten »candystorms« nach Bedarf ein, wann immer sie uns nützlich erscheinen. Im Vordergrund steht stets ein symbolisch-ökonomischer Akt, kein aufrichtiges Gefühl. Die Höhe der zu leistenden Gratifikation richtet sich dabei nach dem Zersetzungsgrad der Beziehung und dem Bedürfnis nach deren Aufrechterhaltung. Am Anfang können noch immaterielle Benefits ausreichen, später nicht mal mehr materielle. Die Harmonie, derentwegen man die Beziehung sucht, muss mitunter teuer erkauft werden. Je mehr man von der zugewiesenen Rolle abweicht, desto höher wird der Preis der Wiedergutmachung.
Besonders stark tritt das Tauschprinzip dann zutage, wenn die Liebe schon verschwunden ist und es auch keinen Grund mehr gibt, deren Existenz zu heucheln. Dann wird das Verhältnis im Extremfall nur noch von Gratifikationen und Zugeständnissen regiert.
So manchem dient auch schon die intakte Beziehung als Gradmesser für die Eigenwertbestimmung. Liebe wird dann verwechselt mit der Leidensfähigkeit des Partners. Es sind oft kleine Dinge, an denen wir den Eigenwert überprüfen wollen, zum Beispiel, indem wir die Bereitschaft des anderen testen, etwas für uns zu tun. Wir erzwingen so eine Aussage über unseren Selbstwert. Weil wir uns der Liebe nicht wirklich sicher sind, suchen wir immer wieder die Rückkoppelung des Beweises.
Um diesen Mechanismus auszulösen, reicht oft schon der banale Versuch, sich mit Menschen, die sich in durchökonomisierten Beziehungen befinden, zu verabreden. Allein, ohne den Partner. Warum auch nicht? Nicht selten beginnt bei den Pärchen dann die Verhandlungsphase (»Du darfst, aber nur wenn ...«). Es werden Preise festgesetzt, Verbote und Gebote aufgestellt (»aber nur bis Mitternacht«) und Kontrollmittel aufgefahren (»Wo bist du? Warum antwortest du nicht auf meine SMS?«). So oberflächlich unsere Beziehungen auf der Gefühlsebene geworden sind, so gratifikationsorientiert sind sie im Inneren. Unser Glück in der modernen Liebeswelt ist offenbar erst dann perfekt, wenn wir es geschafft haben, ein Monopol für den anderen zu sein.
Benefits haben also einen festen Platz in unserer modernen Liebesbeziehung. Anders als in der herkömmlichen werden Art, Häufigkeit und Wert des Benefits ausdrücklich angesprochen und eingefordert.
Die US-Soziologin Arlie Russell Hochschild spricht in solchen Fällen auch von »Gefühlsarbeit«. In ihrem Buch Das gekaufte Herz stellt sie Situationen in der Arbeitswelt und im Privatleben vor, in denen wir Gefühle vorspielen, damit sich andere Menschen besser fühlen. Es geht um lächelnde Stewardessen und Kellnerinnen oder den Fall, dass man von Freunden gezwungen wird, auf der Tanzfläche einer Diskothek mitzutanzen, damit sich die ganze Gruppe besser fühlt.17
Geben und Nehmen – ist das nicht Wesen und Zweck einer Liebesbeziehung? Vielleicht sogar einer jeden zwischenmenschlichen Beziehung? Es stimmt: Der Austausch von »etwas« ist als sinnstiftende Handlung bereits Urvölkern bekannt, hat kulturprägenden Charakter und ist nicht selten ein Kommunikationscode für die Beziehung zu anderen Menschen. Der britische Anthropologe polnischer Herkunft Bronisław Malinowski (1884 – 1942) hat bei Indianerstämmen im westlichen Pazifik beobachtet, dass der marktähnliche Austausch bekannt ist und sogar zeremoniellen Charakter besitzt.18 Bei den Trobriandern, den Bewohnern einer Inselgruppe im Südpazifik, beobachtete Malinowski unterschiedliche Austauscharten, wie z. B. das Geschenk zwischen Eheleuten ohne Erwartung einer Gegenleistung (pure gift) oder den (häufigeren) Austausch von gleichwertigen Geschenken unter Freunden.19
Der französische Soziologe und Durkheim-Schüler Marcel Mauss (1872 – 1950) hat in seinem Essay über die Gabe (Essai sur le don) den spezifischen Charakter des Gabenaustauschs bei Urvölkern untersucht. Er nimmt zwar an, dass das Phänomen des Marktes, auf dem Güter getauscht werden, allen Kulturen bekannt ist, die soziale Bedeutung dieses Vorgangs jedoch unterschiedlich ist.20 So stellte er fest, dass zum Beispiel bei den Maori, den Ureinwohnern Neuseelands, der Austausch der Gabe religiösen Charakter hat und den Geist des Schenkers symbolisiert. Der Austausch ist letztlich ein geistiger und hat die natürliche Folge, dass der Beschenkte dem Schenker auch etwas von seinem Geist geben will. Was hier zählt, ist nicht die Bereicherung einer Person zu Lasten der anderen, sondern die Geste. Mauss will entdeckt haben, dass dem Menschen eine Moral innewohnt, die mehr beinhaltet, als das Interesse eines Händlers.21
In den Tauschgeschäften der modernen Liebe ist das jedoch kein natürlicher Prozess mehr. Der Austausch ist für uns ein rituell entleertes Vorgehen, das in unserer durchnormierten Gesellschaft keine besondere Bedeutung hat. So gesehen haben wir die Liebe nicht nur von den Füßen auf den Kopf gestellt, sondern noch ein paar Mal um ihre eigene Achse gedreht: Während bei Urvölkern das ökonomische Denken selbst in Austauschbeziehungen verpönt schien, haben wir es sogar in der intimsten Sphäre zugelassen. Nicht selten übernimmt die ökonomische Zielsetzung sogar die Regie über die Liebe: im Inneren durch Gratifikationen und im Äußeren durch Verträge. Ob Ratenkredite, Hypotheken oder Bausparvertrag: In unserer modernen Beziehungswelt sind wir eingesponnen in einen Kokon aus Abmachungen und gemeinsam übernommenen Verpflichtungen, um deren Erfüllung willen die »Liebe« nicht selten mitspielen muss, ob sie will oder nicht.
Ricardo ist Salsalehrer, um die 40, nicht steinreich, aber er hat ein Faible für alte Möbel, gute Weine und teure Rumsorten sowie Reisen und Musik. Ernsthafte Beziehungen: bisher keine. Ricardo möchte in keiner Beziehung sein, die darauf auf gebaut ist, dass er der Frau allein gehören soll. Die Herausforderung besteht für ihn darin, eine Frau zu erobern: Der Genuss des süßen Sieges ist für ihn Lebenselexir genug. Irgendwann und völlig ungeplant passiert es dann aber schließlich doch. Ricardo verliebt sich bis in die Haarspitzen seines Latino-Pferdeschwanzes. Raffaela ist an ihm nicht uninteressiert, macht ihm jedoch klar, dass sie sich als Trophäe zu schade ist. Sie stellt ihm eine feste Beziehung in Aussicht. Allerdings nur, wenn sie die Einzige ist.
Ricardo findet sich mit einer klassischen Opportunitätskostenrechnung konfrontiert. Unter Opportunitätskosten ist eine Rentabilitätsrechnung zu verstehen, die den Preis eines Gutes nicht nach dessen eigenem Wert berechnet, sondern nach dem Wert der Güter, auf die man zugunsten dieses einen Gutes verzichtet.22
Ricardo kann seinen Gefühlen nicht freien Lauf lassen. Er kann seine Entscheidung für Raffaela aufgrund seines Konsumdrangs in puncto Frauen nur nach einer Abwägung von Kosten und Nutzen der Beziehung fällen. Er ist der klassische Lovenomiker. Für ihn zählt nicht Raffaela als Person, sondern die Gesamtrechnung. Und dazu gehört auch der Wert des Spaßverzichts in Bezug auf andere Frauen. Liebe ergibt für ihn nur Sinn, wenn sein persönlicher Gewinn so hoch ist, dass er dadurch den Verlust wieder ausgleichen kann.
Ökonomen sprechen deshalb auch von »Kosten der Reue« oder von »entgangenen Gewinnen«. Raffaela ist nach wie vor begehrenswert, aber sie hat einen zweiten Preis, einen sogenannten Schattenpreis. Ricardo handelt wie ein Firmenbesitzer, dem ein Bürogebäude gehört. Er kann es selbst nutzen (Raffaela) oder von anderen nutzen lassen (andere Frauen). Im ersten Fall hat er einen direkten Nutzen durch eine intime Liebesbeziehung zu einer tollen Frau. Im zweiten Fall bekommt er auf der Intimitätsskala weniger, dafür zahlen ihm die vielen Verehrerinnen eine gute »Miete« in Form von wechselndem Sex und Anerkennung bei gleichzeitiger Sicherung seiner Freiheit. Ricardo befindet sich also in einer klassischen Zwickmühle: Er muss entscheiden, ob der Wert der Ressource Raffaela oder der Wert der Ressource »andere Frauen plus Freiheit« für ihn höher einzustufen ist.
Die Opportunitätskosten sagen aus, um wie viel die Produktion eines Gutes reduziert werden muss, um eine Einheit eines anderen Gutes produzieren zu können. Vorausgesetzt, es stehen überhaupt zwei Produkte zur Wahl. In unserem Fall muss Ricardo die Produktion des Gutes »andere Frauen plus Freiheit« auf null reduzieren. Es gibt keine Mischkalkulation. Die wechselnden »Freundinnen« hätten zwar nichts dagegen, wenn Ricardo sich noch mit anderen trifft, da sie ohnehin an keiner festen Bindung interessiert sind. Aber der Exklusivitätsanspruch Raffaelas macht eine »Mischproduktion« unmöglich. Aus Raffaelas Sicht (die hier die Bedingungen stellt) gibt es keine Kombination von »ein wenig Treue« und »ein wenig Spaß«.
Ricardo ist in Anbetracht der zahlreichen Möglichkeiten, die sich ihm bieten, überfordert. Gleichzeitig kann er den Wert der unterschiedlichen Alternativen nicht bemessen. Wie will er wissen, ob es mit Raffaela tatsächlich so toll werden würde, wie er es vermutet? Sich nach kurzer Zeit wieder zu trennen, ist für ihn keine Alternative, da er sie nicht verletzen will. Ebenso wenig weiß er jedoch, ob ihn die zahlreichen Verehrerinnen, die er noch »konsumieren« könnte, nicht irgendwann ebenso langweilen würden. Der Weg zu Raffaela wäre dann allerdings versperrt. In seiner Überlegung spielt auch das Urteil seiner Freunde und der Umwelt eine Rolle: Bedeutet die Beziehung zu Raffaela eine Aufwertung seiner Person, oder verliert sein Ruhm an Glanz, wenn er zum »Pantoffelhelden« mutiert?
Ricardos Beispiel verdeutlicht, wie Entscheidungsfreiheit auf der einen und ökonomisches Denken auf der anderen Seite zwangsläufig Unzufriedenheit produzieren. Durch die Zwickmühle der Opportunitätskosten hat Ricardo bei jeder Entscheidung, die er fällt (in Zukunft zölibatär zu leben ist keine Option!), das Gefühl, einen »Preis« zahlen zu müssen. Er ist der moderne Mensch, den der Soziologe Sven Hillenkamp in seinem Buch Das Ende der Liebe so beschreibt: frei zwar, aber leidend an der Qual der Unentschlossenheit. Es gibt nur eine Möglichkeit, der Zwickmühle zu entfliehen, und diese liegt in der radikalen Änderung der Bewertungskriterien für seine Entscheidung. Würde Ricardo keine ökonomische Entscheidung mehr, sondern eine emotionale treffen, gäbe es keine Zwickmühle. Denn dann hat er keine Wahl: Er ist verliebt in Raffaela. Er »muss« nur noch den Mut aufbringen, sich diesem Gefühl hinzugeben. Das Gefühl hat bereits gewählt. Und das Gefühl rechnet nicht nach.
Uns ist das Verständnis dafür verlorengegangen, was es heißt, bedingungslos zu lieben. Wir »lieben« den anderen aufgrund von Eigenschaften, sind uns aber gleichzeitig unsicher darüber, ob diese Eigenschaften anerkennungswürdig genug sind. Das Konzept der modernen Liebe besteht aus einer gesellschaftlich genormten Passform für das persönliche Zusammensein. Die »Liebe« ist ein Untersystem der Gesellschaft, ihr kleinster Teilbereich. Sie ist keine ausschließliche Intimbeziehung mehr, sondern eine öffentliche Angelegenheit.
Unsere Art zu lieben sucht händeringend nach Öffentlichkeit, durch Liebesbekundungen, öffentliche Rituale und Symbole. Pärchen finden sich beim Datinggame (Herzblatt), heiraten bei Linda de Mols Traumhochzeit, verlieben sich zwischen Schweinen, Kuhmist und seltsam guckenden Eltern bei Bauer sucht Frau oder beim Stöbern in Katalogen mit thailändischen Frauen, während Kameras auf sie gerichtet sind. Dadurch ist die moderne Liebe durchlässig für gesellschaftliche Bewertungskriterien. Nur vordergründig ist sie selbst die nach außen getragene Legitimation für die Bindung. Denn, was die Partner »Liebe« nennen, ist tatsächlich eine »kommunikative Gemengelage«, die sich aus Wertungen und Ansprüchen der Umwelt ergibt. Aufgrund der Durchlässigkeit der Liebe für externe Ansprüche besteht ständig ein Vergleichsmoment mit anderen Lebensformen und der Hang zur Bewertung des eigenen Ichs, der Qualität der Beziehung oder ihres Glamourfaktors.
Der Partner muss heute mit den Freunden scherzen können, den Eltern gefallen und den Segen der Oma haben. Die Liebe ist kein außergesellschaftliches Phänomen mehr wie in der romantischen Vorstellung, sondern ein innergesellschaftliches. Dies zeigt sich klar und deutlich an der nach wie vor hohen Bedeutung der kirchlichen Trauung. Obwohl in der westlichen Welt die Bedeutung der Kirche im Alltag gewaltig gesunken ist, ist der Traum von der »Hochzeit in Weiß«, die durch einen Priester vollzogen wird, ein sich immer noch hartnäckig haltendes romantisches Ideal. Die fehlende katholische Konfessionszugehörigkeit eines Partners, die sonst im Leben kaum mehr eine Rolle spielt, kann so plötzlich auch heute noch ein Eheverhinderungsgrund sein.
Die Liebe fällt nicht erst vom Himmel und stellt sich dann der Gesellschaft entgegen wie in den Liebesromanen des 19. Jahrhunderts oder in der Vorstellung der Romantiker. Sie wird heute von der Gesellschaft hervorgebracht. So erklärt sich auch, dass Beziehungsformen »in Mode« oder »außer Mode« geraten können.
Die moderne Liebe wird aus der Mitte der Gesellschaft heraus »geboren«. Das hat Folgen für die Kommunikation zwischen den Partnern. Denn dadurch, dass der Stellenwert des Einzelnen von der Akzeptanz des Partners durch die Umwelt abhängt, steht sein Verhalten ständig unter Beobachtung. Wahrgenommen wird diese Aufgabe oft vom Partner selbst. Der Partner wird zum Polizisten der Gesellschaft, der das Verhalten des anderen auf Normkonformität überprüft, beurteilt und schließlich auch den Urteilsspruch fällt (natürlich erst, nachdem die externe Jury ein Votum abgegeben hat). Der Partner wird zum Wertfaktor. Verhält er sich gut, wertet er uns auf, verhält er sich schlecht, wertet er uns ab. Wenn er dumme Witze erzählt, rollt sie mit den Augen. Sie hat ein paar Pfund zugelegt, er zieht sie im Schwimmbad damit auf, um vor seinen Freunden besser dazustehen: die Wirkung auf die Umwelt ist wichtiger, als die Loyalität dem Partner gegenüber. Statt in Situationen gelegentlicher Unsicherheit auf der Seite des Partners zu stehen, wird er in Frage gestellt. Der Konflikt, den der Partner in Zeiten der Wertunsicherheit mit der Umwelt austrägt, mündet nicht in dem Gefühl der Gleichgültigkeit, sondern in Peinlichkeit und einem Rechtfertigungsbedürfnis nach außen.
So wie die Beziehung im Anfangsstadium angesagt oder »in« ist, kann sie nach kurzer Zeit bereits »out« sein. Das Festhalten am Partner, die Loyalität ihm gegenüber, gilt als rückständig. So wie die Konsumwelt jede Ware irgendwann von ihrem zeitlichen Zustand her nicht nur als »alt«, sondern als »veraltet«, also nicht mehr zeitgemäß, abstempeln muss (um neuen Umsatz zu schaffen), so scheint auch die moderne Beziehung nur ein begrenztes Haltbarkeitsdatum zu haben.
Damit verändert sich auch die Bedeutung des Gefühlsbegriffs. Das Gefühl ist nicht mehr das, was man naturgemäß tatsächlich fühlt, sondern etwas, das man fühlen soll. Das Gefühl wird zu einem öffentlich-ökonomischen Imperativ: »Liebe stets nur dann, wenn du dich dadurch aufwertest, den Respekt deiner Umwelt verdienst und dabei einen guten Deal abschließt!« Es wird zum Maßstab eines Wertes, zu einer Währung. Es ist nur dann richtig, wenn es einen darüber hinausgehenden, gesellschaftlichen Zweck erreicht, also einen »Sinnüberschuss« produziert. Da in der modernen Liebesbeziehung keine Einheit mehr erreicht wird, sondern beide Menschen im Grunde getrennt bleiben, steht nicht die Beziehung (also die neue Welt) im Mittelpunkt, sondern immer nur der jeweils Einzelne.
Der Sozialpsychologe Erich Fromm (1900 – 1980) hat diese Form der Beziehung als »Haben-Modus« betitelt.23 Wir sind nicht mehr in einer Beziehung, sondern haben einen Partner. Die »richtige« Beziehung ist Teil des eigenen, perfekten Leistungsprofils. Es wird kein Mensch geliebt, sondern ein Partner auf Zeit verpflichtet, eine Rolle zu spielen. Die Liebe ist nicht mehr Zweck an sich, sondern ein Mittel zum Zweck. Menschen werden entpersonalisiert, sie werden auf Eigenschaften reduziert und konkurrieren dadurch mit anderen Eigenschaftsträgern. Sie sind austauschbar.
Im Allgemeinen misstrauen wir heute der Liebe. Denn das, was uns als »wahre Liebe« präsentiert wird, ist nicht die Steigerung und Bewahrung des Anfangsgefühls. Es ist vielmehr der Anfang vom Ende des Kribbelns. Und da, wo die knisternde Erotik ausbleibt, vermuten wir den großen Betrug: Die Liebe übertrifft das Gefühl des Verliebtseins ja doch nicht! Warum heiraten wir dann heute überhaupt? Im immer noch häufigen Bekenntnis zur Ehe kommen der Drang nach einer gesellschaftlichen, öffentlichen Form der Beziehungsrechtfertigung zum Tragen sowie die Hoffnung auf eine noch intensivere Gefühlserfahrung als die des Verliebtseins. Die hohen Scheidungsraten beweisen die Enttäuschung, die dieses gesellschaftliche Konstrukt meist produziert.
Für ein kopfloses Sichverlieben, für einen Zusammenstoß der Planeten ohne Rücksicht auf Verluste sind wir nicht zu haben. Wir vermuten hinter der Liebe eine Rechnung, die zu unseren Ungunsten ausgeht. Und wir sind skeptisch, wenn wir etwas geschenkt bekommen. Liebe fällt ebenso wenig vom Himmel, wie das Geld auf der Straße liegt. Tut sie es doch, dann steckt dahinter das Kreditprinzip: Konsumiere jetzt, zahle später. Wir haben Angst, uns zu verschulden. Denn was wir am Anfang an Emotionen bekommen, fürchten wir auf lange Sicht mit einem Einbüßen an neuen Gefühlen erkaufen zu müssen. Dann nämlich stecken wir in einer Beziehung fest und müssten auf neue Flatter- und Kribbelgefühle verzichten.
Das Geschenk der Liebe wird so zu einer Art trojanischem Pferd, das uns letztlich in eine Situation bringen soll, aus der wir nicht mehr herauskommen. Die Liebe wird als bestechendes Gefühl eingeordnet. Sie besticht uns, etwas zu nehmen, ohne dafür zu bezahlen. Der Liebesempfänger wird »angefüttert«: mit Gefühlsaufwallungen, »Schmetterlingen«, einem kompletten Aufleben von Geist und Körper. Es ist wie beim Obsthändler. Man bekommt eine süße Apfelsine geschenkt und kauft dann aus Pflichtgefühl ein Kilo überteuerter Sauerkirschen.
Die moderne Liebespartnerschaft ist deshalb nicht gänzlich gefühllos. Doch tiefe Gefühle werden als störend empfunden, denn sie hemmen die Funktionsfähigkeit in der sonstigen Lebenswelt. Echte Gefühle weichen dem temporären Wellnessgefühl des »Vergnügens«.24 Wir stehen jeden Morgen auf und fragen uns: »Hm, was könnte mir mein Partner denn heute wieder Gutes tun?« Wir sind Gefühlsjunkies. Wie Drogenabhängige brauchen wir die regelmäßige Selbstbestätigung durch den Partner und die Aufrechterhaltung eines positiven Erregungsniveaus. Der Partner existiert zu unserer »Unterhaltung«. Er muss uns ständig »guttun«.
Je wirklichkeitsgetreuer wir in der Lage sind, uns die Echtheit unserer Gefühle vorzuspielen, desto höherwertiger stufen wir unsere Beziehung ein (»Ich glaube, er liebt mich wirklich, oh mein Gott!«). Da wir die dauerhafte Sicherheit und Geborgenheit der bedingungslosen Liebe nicht erfahren, bleibt uns nur der zeitlich wiederkehrende Emotionskick.
Weil uns die echte Liebe viel zu risikoreich ist, suchen wir immer wieder aufs Neue die zeitlich begrenzte Bestätigung im Verliebtseins-stadium. Dadurch setzen wir immer wieder ein Karussell in Gang, das auf Dauer zu Frustration führt: Wenn wir uns kriterienorientiert für Partner entscheiden, setzen wir uns selbst ebenfalls zwangsläufig einer Bewertungssituation aus, die wir irgendwann nicht mehr ertragen können. Denn dann müssen wir stets entsprechend unserem Profil handeln, da wir sonst die Enttäuschung der Erwartungen des Partners (und damit verbunden den Liebesentzug) riskieren.
Unser modernes »Liebeskarussell« ist somit auf die hartnäckige Umgehung der echten Liebe eingefahren. In Kurzform lässt sich das folgendermaßen zusammenfassen: Wir beginnen mit einer profilorientierten Suche, gekoppelt mit der Erwartung an den anderen, nicht gleichzeitig auch ein Profil zu suchen, sondern uns bitte möglichst bedingungslos und kriterienlos zu begegnen. Wir treten in die Werbephase ein, verstellen uns und verkaufen uns für den anderen als vollkommenes Produkt. Man kommt zusammen.
Es folgt die Erregungsphase: Wir glauben, das perfekte Profil gefunden zu haben und für den anderen darzustellen und versuchen, diesen Zustand möglichst lange aufrechtzuhalten. Wir schauspielern uns gegenseitig unsere Liebe vor. Wie gut, dass uns die Umwelt stabilisiert (»meine Freundin meinte auch, dass du ein ganz Süßer bist«), uns auf das Gefühl zu verlassen wäre ja naiv.
Halten die Leistungsversprechen auch im Alltag? Da es uns vor allem darum geht, kommt nun fast zwangsläufig die Enttäuschungsphase: Die Maske fällt, das Profil bekommt Lücken und Widersprüche, die so nicht vereinbart waren. Auch hierzu hat die Umwelt eine Meinung: »Er hat sich schon verändert ... du solltest das tun, womit du dich wohlfühlst.«
Nun läuten unsere Alarmglocken. Moment mal, wieso werde ich plötzlich dauernd kritisiert? Was passt dir denn nicht mehr an mir? Und wieso soll ich mich auf einmal ändern? Ich werde mich doch wohl noch entwickeln dürfen! Es folgt eine Phase der Auseinandersetzung mit dem neuen, dem tatsächlichen Bild. Entweder gelingt eine Anpassung an dieses neue Bild oder eine Anpassung des Gegenübers an das eigene Bild oder es folgen Konsequenzen. Und dann folgt die Auflösungsphase: Die Anpassungsbemühungen sind gescheitert, die Erwartungen sind enttäuscht worden.