Die Geschichte der modernen Gesellschaft ist die Geschichte von der Vereinzelung des Menschen. Aus dem aufklärerischen Ideal, den Einzelnen aus den Zwängen von Klasse und Herkunft zu befreien, wurde in den letzten 200 Jahren ein neuer Zwang: der Zwang zur Erfindung des Selbst. Das moderne Ideal des Menschen ist das des selfmademan, der auf niemanden und nichts angewiesen sein will. Wir sind ein Heer vereinsamter Egomanen. Herren der Lage auf allen Ebenen, und stets auf der Jagd nach unserem persönlichen Glück. Bis an die Grenze zur Erschöpfung. Alles, was diesem Ziel im Wege steht, wird beiseitegeräumt. Ein anderer Mensch in unserem Leben? Das scheint nur zu funktionieren, wenn es perfekt passt und die Reibungslosigkeit unserer Lebensplanerfüllung gewährleistet bleibt.
Zur geistigen Grundausstattung unserer Zeit gehören moderne Vermessungstools für unsere Unabhängigkeitszone. Psychotherapie und Esoterik sind die Endoskope unseres Entwicklungspotentials: Was muss ich noch tun, um alles aus mir herauszuholen? Das ökonomische Denken vereinnahmt inzwischen sämtliche Lebensbereiche und verlangt von uns, ein rational actor zu werden, der sich immer der Lösung mit dem größten Eigennutz zuwendet. »Lass dich nicht verarschen!« lautet die moderne Vulgärformel des Homo oeconomicus, die ein Elektronikdiscounter zeitweise zu seinem Werbespruch gemacht hat. Die Verheißung des »perfekten Ichs« als Lebensziel und die Überhöhung des Individuums in Mode-, Medien- und Arbeitswelt entziehen der Idee eines »Wir« den Boden.
Die Liebe steht aufgrund der Vereinzelungstendenzen der Moderne seit jeher unter Behauptungsdruck. Dabei ist die moderne Liebe selbst ein junges Konzept. Die Idee, Liebe und Hausgemeinschaft zu verbinden beziehungsweise die Hausgemeinschaft freiwillig auf dem Gefühl der Liebe aufzubauen, ist kaum älter als 200 Jahre. Der gänzlich freie Wille bei der Partnerwahl ist selbst in der westlichen Welt ungefähr 100 Jahre jung. In Eheratgebern, die nach dem Krieg auf den Markt gekommen sind, steht nicht das Ideal des am besten passenden Menschen oder die Einzigartigkeit der geliebten Person im Vordergrund, sondern die konkrete »Gattungsqualität« des Partners (»eine gute Hausfrau ist, wer ...«).47 Teilweise gab es noch in den 50er Jahren arrangierte Ehen in Deutschland. Und wer in den 60er Jahren (oder auch noch später) außerehelich ein Kind zeugte, durfte sich auf die Ausübung des Ehezwangs durch die Familie freuen.
Die Liebesbeziehung von heute zeichnet sich durch den »Allinclusive-Gedanken« aus. Erst, wenn alles passt, sind wir eventuell bereit, uns tatsächlich zu verlieben. Die moderne Liebe beruht auf dem Versuch, die Wirtschaftsgemeinschaft des 19. Jahrhunderts mit der Idee der Romantik zu vereinen und beides mit religiösem Eifer auf die Spitze der Perfektion zu treiben. Aber nur solange wir uns dadurch nicht selbst einschränken. »Gemeinsam einsam« scheint der neue kleinste gemeinsame Nenner der Liebe zu sein: so viel Beziehung wie nötig, um nach außen nicht als defizitäre Singlegestalt auffällig zu werden, mit so viel Freiheitsbehauptung wie nur irgend möglich.
Liebe wird heute in den Mustern der Arbeitswelt erfasst. Das fängt damit an, dass Dates heute »Termine« sind, für die man sich von der Arbeit freinimmt. Die Treffen sind nicht selten ausgestaltet wie Bewerbungsgespräche, in denen beide Kandidaten ihre jeweilige Vollkommenheit anpreisen müssen.
Die Ansprüche an den Partner und an die Beziehung steigen, so scheint es, immer mehr und gleichen damit den ökonomischen Bedürfnissen seit dem Frühkapitalismus.48 Wenn wir uns heute auf ernsthafter Partnersuche befinden, begegnen wir uns mit Unruhe und unter Zugzwang, vermischt mit Erwartungsdruck und höchsten Ansprüchen an uns und unser Gegenüber. Wir entscheiden uns zeitlich später füreinander und nach längerer und gründlicherer Suche.49 Wir probieren – anders als früher – vor der Ehe verschiedene Partner aus, bevor wir uns für den einen entscheiden, und lassen uns trotzdem häufiger scheiden als je zuvor.50
Unsere Art zu lieben ist geprägt von einer pragmatischen Illusion: Wir denken, rechnen, prüfen, wägen ab und vergleichen. Um dann doch an die Vorstellung von der einzig wahren Liebe zu glauben – zumindest (wieder?) für eine gewisse Zeit. Wir reden uns die Illusion von der Berechenbarkeit der Partnerwahl schön. Und so vernünftig wir auch sind, gehen wir der Illusion immer wieder aufs Neue auf den Leim.
»Müde bin ich, geh zur Ruh, mache meine Augen zu. Lieber Gott bevor ich schlaf, bitte ich Dich noch um was. Schick mir mal nen netten Mann, der auch wirklich alles kann. Der mir Komplimente macht, nicht über meinen Hintern lacht, mich stets nur auf den Händen trägt, sich Geburtstage einprägt, Sex nur will, wenn ich grad mag und mich liebt wie am ersten Tag. Soll die Füße mir massieren und mich schick zum Essen führen. Er soll treu und zärtlich sein und mein bester Freund obendrein.« (M., 39, Statementtext auf einem Onlineprofil)
Warum wird die Auswahlentscheidung heute immer penibler organisiert? Soziologen beobachten seit geraumer Zeit ein Phänomen, das »soziale Regression« genannt wird.51 Darunter ist ein Rückgang gesellschaftlicher Bindungsformen zu verstehen. Der Übergang zur modernen Gesellschaft leitet eine Individualisierung ein, ein »Herauslösen des Menschen aus traditionell gewachsenen Bindungen, Glaubenssystemen und Sozialbeziehungen«52 (Beck-Gernsheim). Der Mensch vereinzelt zunehmend. Vereine, Kirchen, Stammtischrunden, Familienstrukturen verlieren in Bezug auf die Zeit, die man ihnen widmet, an Bedeutung. Umso wichtiger wird die Beziehung zu der »einen« Lebensperson, die sämtlichen Ansprüchen gerecht werden muss.
Die Auswahlentscheidung kann sich somit nicht einfach nur auf die Liebe stützen, sondern muss andere Kriterien beinhalten. Durch die Kriterienorientierung soll zukünftiges Konfliktpotential vermieden und die Stabilität der Beziehung gesichert werden. Je verlässlicher beide über den jeweils anderen im Bilde sind, desto unwahrscheinlicher sind plötzliche Abweichungen vom Normverhalten. Ein Studienkollege von mir, der aus adeligem Hause stammt und zudem katholisch ist, begründete die Auswahl seiner Frau, die den gleichen Hintergrund teilt, mit genau dieser Reduktion des Konfliktpotentials.
Kennzeichnend für die moderne Liebesbeziehung ist die kriterienorientierte statt wesensorientierte Partnerwahl. Letztere wäre leicht, denn das Wesen ist, dass »etwas ist, wie es ist« (Heidegger).53 Kriterien hingegen sind unübersichtlich. Die Moderne hält für die liebesbedürftige Masse noch ein paar mehr Fallen bereit als das 18. Jahrhundert. Heute kann man neben Reichtum und Gesellschaftsstand noch zusätzlich auswählen nach neuen und unterschiedlichen Lebens- und Wertvorstellungen, der Kompatibilität von Arbeitszeiten, Lebensmodellen jenseits von Familie und Fortpflanzung sowie sexuellen Orientierungen.
Eine gemeinsame Weltsicht ist nur schwer herstellbar. Uns ist nicht nur das Gegenüber fremd, sondern auch wir selbst. Die Beziehungsprotagonisten müssen heute zuerst die Frage klären: Wer bin ich? Danach die Frage: Wer bist du? Und schließlich, nunmehr fast unmöglich: Wer sind wir beide? Wer in Großstädten wie New York, Berlin oder Paris einen Partner sucht, trifft auf Kulturkreise aus aller Welt, eine Vielzahl von Sprachen, Religionen, Sekten und unzählige unterschiedliche Lifestyle-Typen. Hinzu kommen ständig wechselnde Mann-Frau-Rollenbilder, Neurosen und Besonderheiten à la »wenn mich eine Biene sticht, sterbe ich« oder »ich bin allergisch gegen Rosmarin sowie alle Früchte«. Da ist es nicht leicht für den modernen Single, das »richtige« Paket zu schnüren. In der westlichen Moderne scheint es zu viele Parallelwelten, zu viele unterschiedliche Lebenskonzepte zu geben, als dass die Partnerschaft als Bestätigungsform des Way of life noch zeitgemäß wäre. Kriterien werden mit zunehmendem Lebensalter immer spezieller, die Fähigkeit, Kompromisse einzugehen, nimmt eher ab – auch wenn die Sehnsucht nach einem Partner zunimmt.
Das ist auch dem Umstand geschuldet, dass Partnerwahl oftmals Statuswahl bedeutet. Wer glaubt, dass das Problem der »unstandesgemäßen Heirat« ein Problem des Adels im 19. Jahrhundert ist, dem sei ein Blick auf die Mittelschicht von heute empfohlen. Das heutige Bürgertum, vor allem das Bildungsbürgertum, hat einen weitaus ausgeprägteren Standesdünkel als vielleicht der Hochadel.54 Geheiratet wird heute meistens (zu 71 %55) schichtintern, also unter seinesgleichen. Liebe als gesellschaftliche Zufallslotterie existiert nicht (mehr). In den 60er Jahren war es nicht außergewöhnlich, wenn der Firmenchef seine Sekretärin oder der Chefarzt eine Krankenschwester heiratete. Heutzutage sind der gleiche Bildungsgrad und die gleiche Titelebene fast ein Muss. Untersuchungen haben gezeigt, dass insbesondere Akademikerinnen bei ihrem Suchverhalten in Internetportalen Männer mit nichtakademischem Hintergrund in überwiegendem Maße ignorieren.56 Sie bleiben sogar lieber allein, als »nach unten« zu heiraten.57 Wir erinnern uns: »Sorry, ich date nur graduates.«
Eine amerikanische Medizinstudentin erzählte mir, dass ihre Beziehung zu einem Mann wegen unterschiedlicher Bildungswege in die Brüche gegangen ist. Das wunderte mich, denn er war auch Medizinstudent. Nach und nach kam heraus, dass er für den gleichen speziellen Masterstudiengang im Fach Medizin einen Platz an einer amerikanischen Universität zugewiesen bekommen hatte, die im Universitätsranking einen (!) Platz unter ihrer Universität lag. Dies habe zu »Problemen« geführt. An der Entfernung lag es nicht. Als sich mein Gesicht in ein Fragezeichen verwandelte, platzte sie heraus: »Sorry, aber ich muss an meinen sozialen Status denken!« Ihre Universität war die Johns Hopkins University auf Platz 1, seine war Harvard auf Platz 2.
Dieses Beispiel mag ein extremes sein. Vielleicht war das Ranking der Universitäten auch nicht der wahre Grund für das Zerwürfnis. Aber allein die Vorstellung, dass derartige Erwägungen heute eine Rolle spielen könnten, macht stutzig. Denn es zeigt, dass manchmal nicht mehr nur eine in groben Zügen existierende Zugehörigkeit zu einer Bildungsschicht entscheidend ist (wo auch Berufsakademieabschlüsse, Fachhochschulabschlüsse etc. akzeptiert sind, solange man grob gesagt »nicht putzen geht«). Vielmehr kann das Homogamiestreben zu einem fast schon totalitären Differenzdenken führen, das ein immer feinmaschigeres Netz aus Exzellenzkriterien, Rankings und Statussymbolen schafft, die den schichtenimmanenten Bewegungsradius immer mehr einschränken. Derartiges Verhalten spricht Bände über die enorme Unsicherheit der bildungsnahen Schicht bezüglich ihres Status und der Erwartungen, mit der sie sich konfrontiert sieht. Erstaunlich sind vor allem die enge Anknüpfung an externe Kriterien und die Bereitschaft, diese für die Ausgestaltung einer Privatbeziehung wesentlich werden zu lassen.
Wer darüber im Bilde ist, welche Rolle die Examensnoten für deutsche Juristen spielen, den wird folgendes Beispiel nicht wundern: Ein Pärchen, beide sind ambitionierte Jurastudenten, legt zeitgleich das Erste juristische Staatsexamen ab. Sie erreicht eine sogenannte Prädikatsnote, mit der sie zu den besten 15 % der Absolventen gehört. Das Erreichen dieser Note gilt gemeinhin als juristischer Ritterschlag, durch den der Zugang zu den begehrten Tätigkeiten im öffentlichen Dienst (Richter, Staatsanwalt) oder in den großen Anwaltskanzleien näher rückt. Er erreicht diese Note nicht. Sie trennen sich, und zwar genau aus diesem Grund. Es war, als hätte die Examensnote eine Schneise gezogen, zwischen glamouröser Businesswelt auf der einen und dem Dasein des kleinen Winkeladvokaten auf der anderen Seite. Die gemeinsame Weltsicht hatte sich aufgelöst. Nun wiederholt er das Examen ein Jahr später und erreicht eine Note, mit der er unter die besten 3 % seines Jahrgangs kommt. Und? Sie haben es erraten: Die beiden kommen wieder zusammen.
Derartige Beispiele mögen Kopfschütteln hervorrufen. Es ist jedoch nicht nur ein Akademiker- oder Schichtenproblem, dass heutzutage nach einem Ideal gesucht wird, von dem man heimlich ohnehin weiß, dass es dieses nicht gibt. Die Konsum- und Arbeitstaktung der Gesellschaft macht vor kaum einer Beziehung mehr halt. Deren Einfluss ist so stark geworden, dass es nicht damit getan ist, einfach zu sagen, man solle mal »nicht so hohe Ansprüche haben«. Denn das würde uns ja ebenfalls unglücklich machen. Es führt kein Weg daran vorbei, die sozialpsychologischen Grundlagen des Zusammenlebens zu verändern. In Anbetracht dieser als Hauptsächlichkeiten empfundenen Sachzwänge ist die romantische Liebe nicht mehr das »schichtenübergreifende Phänomen«, das sie einmal war. Früher galt es als romantisch, sich über festgefahrene Standesgrenzen hinwegzusetzen. Liebe war soziales Dynamit. Die moderne Romantik ist dagegen ein verengtes Funktionskonzept, eine Art sozialer Zement geworden, der die pragmatische, schichteninterne Auswahl festigen soll.
Natürlich stellt sich generell die Frage, ob es so etwas wie kriterienfreie Liebe überhaupt geben kann. Vermutlich hat fast jeder sie bereits erlebt, aber zu einem Zeitpunkt, als er sie noch nicht einordnen konnte: die sogenannte erste Liebe. Die erste Liebe ist vielleicht die reinste Liebe, die es gibt. Sie ist von gesellschaftlichen Mustern am wenigsten beeinflusst. »Ein göttlich Wesen ist das Kind, so lange es nicht in die Chamäleonsfarbe der Menschen getaucht ist«, schreibt Hölderlin an seinen Freund.58 Die Liebenden (so oft sie auch belächelt werden) scheren sich gemeinsam nicht um Konventionen. Es ist ihnen egal, ob die Eltern mit dieser ersten Liaison oder Schwärmerei einverstanden sind – oft sind sie es nicht. Die erste Liebe muss sich nicht selten gegen einen gesellschaftlichen Normenapparat (»Ihr seid noch zu jung«, »Er ist nicht der Richtige für dich«, »Du wirst noch schwanger, und dann haben wir den Salat«) durchsetzen. Und es gelingt ihr.
Ich kann mich erinnern, dass die Mädchen in der 6. Klasse meines Gymnasiums alle einen Jungen am tollsten fanden, der im Grunde aussah wie ein Mädchen: Er hatte ein Knuddelgesicht, längere blonde Locken, war eher klein und auch nicht besonders sportlich. Aber so »süß«. Das Mädchen, das ich mir auserkoren hatte, war weder die Klassenschönheit, noch kannte ich wesentliche Charaktermerkmale von ihr. Vermutlich fiele sie mir heute gar nicht mehr auf.
Unterschiede in der Motivation für die Partnerauswahl können sich auch durch das gesellschaftliche System ergeben. Für Menschen wie meine Eltern, die sich im kommunistisch geprägten Polen der 70er Jahre kennenlernten, galt Liebe als »Ideal« und war wichtiger als der Status der Person. Die Kirche warb für das Gefühl der Liebe und sah sie als ein Geschenk Gottes. Gedichte von Romantikern wie Adam Mickiewicz und die Nocturnes von Chopin gehörten zum Alltag. Ein sozialer Aufstieg war durch das Heiraten nur begrenzt möglich. Frauen konnten ohnehin bereits studieren und taten das auch. Akademiker suchten auch nicht zwangsläufig nach Akademikern. Das Finanzielle war zweitrangig. Man traf sich auf den gleichen Festen, ging in die gleichen Kneipen. Alle verdienten in etwa gleich viel, Bergbauarbeiter sogar etwas besser als Professoren. Nach welchen Kriterien hätte man seinen Partner also wählen sollen? Was zählte, war das Gefühl und ob man »ein gutes Paar« abgab. Man lernte sich kennen, heiratete früh, besuchte noch einen Aufklärungskurs der katholischen Kirche, und das war’s.
Friedrich Engels schrieb in einem frühen Traktat, dass die wahre romantische Liebe nur in der kommunistischen Welt möglich sei. Denn der Arbeiter könne sich durch die Liebe nicht gesellschaftlich verbessern und könne daher nur aus Liebe heiraten. Dass in der Arbeiterromantik von Engels auch viele Klischees bedient werden, versteht sich von selbst. Doch auch in Polen und anderen kommunistischen Ländern haben sich Familienstruktur und Heiratsverhalten nach dem Systemwechsel stark verändert. Die Beziehungen sind ökonomischer geworden. Die persönliche Biografie und die Arbeitsmarktbiografie stehen heute nicht selten im Gegensatz zueinander.59 Das Leben wird nach den Anforderungen des Arbeitsmarkts »getaktet«. In der westlichen Welt ist nicht mehr die Religion Widersacher der Liebe, sondern »das Evangelium der Arbeit und des wirtschaftlichen Erfolgs« (Bertrand Russell60). Liebe, so scheint es, ist die Banane des Westens.
»Werde du selbst!« ist der Anspruch der Moderne an das Individuum. Der wichtige und gutgemeinte Appell, das eigene Leben selbst zu gestalten und authentisch zu leben, hat jedoch seine Schattenseiten. Denn dieser Appell lässt sich ebenso als Aufruf zur Verhinderung aller tieferen Kontakte verstehen, die Solidarität, Loyalität und altruistisches Denken verlangen. Wer Verantwortung für andere übernimmt, stellt eigene Wünsche zumindest für eine bestimmte Zeit zurück. Eine Beziehung setzt Kompromissfähigkeit voraus, sie verlangt den Mut, die eigene Freiheitssphäre neu zu vermessen, sich der Selbstbezogenheitsspirale, dem fortwährenden Kreisen um sich selbst zu entziehen und sich dem anderen zu öffnen. Seien wir ehrlich: Macht uns der Kult um das perfekte Selbst wirklich glücklicher? Oder ist er nicht vielmehr ein Nullsummenspiel und die Idee der absoluten Selbstverwirklichung nur ein Trostpreis für die Einsamkeit?
Constanze (27) ist das, was man auch heute noch »eine gute Partie« nennt. Die Hamburgerin ist 1,80 m groß, schlank, hat lange braune Haare, einen gesunden Teint (keine billige Sonnenbankbräune) und auffallend große Brüste. Sie ist intelligent, humorvoll und vielseitig interessiert, zum Beispiel an Reisen, Kochen und Kunst. Hinzu kommt noch ein liebevolles, völlig unarrogantes, fröhliches Wesen. Man kann mit ihr bei einem Bierchen entspannt quatschen oder hochtrabend über Picasso reden. Kurz: Sie ist die Frau, die man für sich gewinnen möchte. Um jeden Preis.
Constanze ist seit fünf Jahren solo. Niemand weiß genau, warum. Sie ist eine begehrenswerte junge Frau, die das Leben liebt und die für Männer attraktiv ist. Anfangs guckte sie sich noch stärker nach Männern um. Inzwischen nicht mehr. Denn sie bekommt momentan viel Aufwertung durch ihren Job. Die Hoffnung auf den idealen Partner hat sie zwar nicht ganz aufgegeben, aber doch eher zurückgestellt. Als Eventmanagerin trifft sie auf viele interessante Männer, hin und wieder auch auf prominente. Spekuliert sie vielleicht auf den »big deal«?
Constanzes zur Schau getragene Unerreichbarkeit macht sie auf den ersten Blick interessant. Sie vermittelt den Eindruck, dass keiner gut genug für sie ist. Dadurch spornt sie den Sportsgeist der Männer an, die genug Selbstbewusstsein haben, um es mit ihr aufzunehmen. Eine Vielzahl wird sie aber abschrecken, denn die meisten wollen keinen Korb riskieren. La Belle bleibt deshalb oft allein.
Die Liebe von Constanze ist ein Gut der Luxusklasse. Sie weiß, dass sie eine begehrte Ware auf dem Liebesmarkt ist. Ihr Problem ist nicht der Mangel an potentiellen Partnern. Anfragen hat sie genug. Ihr Problem ist, dass sie mit der jetzigen Situation zufrieden ist. Sie bezieht eine enorme Befriedigung daraus, eine knappe Ressource zu sein, und treibt die Verknappung selbst voran. Sie strebt nicht mehr nach Erfüllung, da schon die Nichterfüllung eine Form der Erfüllung ist: Würde sie sich für einen Mann entscheiden, wäre das Bild, das sie von sich hat, entzaubert. Denn der Mann, der es wert ist, sie zu »bekommen«, würde ihre Perfektion messbar machen. Das will Constanze nicht. Sie ist im Bewertungsstrudel gefangen: Ihr Unerreichbarkeitsglaube mutiert zur Eigenwertversessenheit.
Constanze ist – ob sie will oder nicht – eine Lovenomikerin. Allerdings mit umgekehrten Vorzeichen. Das, was viele von der Liebe erwarten (nämlich Bestätigung und Anerkennung), zieht Constanze genau aus dem Gegenteil, nämlich aus der Tatsache, dass sie sich auf niemanden einlässt. Für sie zählt nur noch ihr Preis, ihr Marktwert. Sie holt sich ihren täglichen Kick, wenn einer ihrer 830 Facebook-Freunde einen »Daumen hoch« unter eines ihrer 74 Fotos setzt oder eine ihrer Freundinnen einen Kommentar à la »du bist so süß, Liebes« hinterlässt. Den Rest an Bestätigung bekommt sie im Job.
»Teures Fleisch mundet am besten«, schreibt Montaigne.61 In der modernen Liebeswelt haben die Menschen ein unsichtbares Preisschild auf der Stirn. Sie haben das gegenteilige Problem von Constanze: Sie suchen eine Beziehung und wollen ihre Attraktivität steigern, den Preis auf ihrer Stirn erhöhen. Ein Mechanismus dabei besteht darin, eine positive Fremdbewertung in ihr Image einzubauen. In der Verkaufspsychologie spielt es eine wichtige Rolle, dass ein Angebot einzigartig ist: Dadurch, dass es in Kürze nicht mehr zu haben ist (wie bei ebay), oder dadurch, dass andere es als besonders attraktiv einstufen (durch Bewertungen auf Portalen).
Constanze macht aus ökonomischer Sicht vieles »richtig«. Sie muss dabei nur aufpassen, dass Mutter Natur sie nicht austrickst. Irgendwann könnte es passieren, dass sich der Spieß umdreht und sie diejenige sein wird, die mit großer Verzweiflung nach einem Mann sucht. Dass ihr Preis mal astronomisch hoch war, interessiert dann niemanden mehr. Ganz am Ende wartet kein noch tollerer Traummann mehr, sondern faltige Haut, ein weiteres Röllchen und die graue, graue Einsamkeit im Wohlstandsparadies.
Die hübsche Hamburgerin ist vermutlich Opfer dessen, was Verhaltensökonomen den »Endowment-Effekt« nennen. Darunter versteht man die Situation, dass Verkäufer durch die emotionale Nähe zu ihrem Produkt eine andere Vorstellung von dessen Wert haben als der Markt.62 So verbinden Hauseigentümer mit ihrer Immobilie oft einen weit höheren Wert als potentielle Käufer. Sie laden den Preis einer Sache, die ihnen besonders am Herzen liegt, emotional auf. Constanze geht davon aus, dass der Wert ihrer Ressourcen höher ist als der mögliche Wert der Ressourcen, den ein Mann als Austauschleistung geben könnte. Sie verhindert deshalb bewusst einen »Vertragsabschluss«, um sich in der Vorstellung über ihren Eigenwert zu bestätigen.
In unserer beziehungsökonomischen Preispolitik setzt sich nicht der niedrigste Preis durch à la »Geiz ist geil«. Billig ist das Gegenteil von begehrenswert. Deshalb versuchen viele (künstlich), ihren Preis in die Höhe zu treiben. Constanze macht das mehr oder weniger bewusst und riskiert dadurch, in der Singleschleife und der »Akademiker-Falle« zu landen. Der Soziologe Hans-Peter Blossfeld von der Universität Bamberg hat herausgefunden, dass bei Akademikerinnen die Bereitschaft, einen Mann mit niedrigerem Bildungsabschluss zu heiraten, konstant niedrig war.63 Da nicht alle Frauen während des Studiums einen Partner mit gleichem Bildungsabschluss kennenlernen und die Wahrscheinlichkeit im Berufsalltag eher sinkt als steigt, bleibt ein gewisser Prozentsatz an Frauen zwangsläufig allein. Das müsste nicht der Fall sein, wenn Liebe heute nicht durch das Prisma des Preisdenkens betrachtet werden würde.
In dem Pick-Up-Ratgeber Lob des Sexismus von Ludovico Satana (Pseudonym) wird Männern empfohlen, ein Alpha-Männchen-Bild (»Merkmale des Gruppenführers«) von sich zu entwerfen, indem man sich beispielsweise mehrere Freundinnen gleichzeitig hält und unter ihnen eine Hierarchie festlegt.64 Das soll dazu führen, dass die Frauen wie im Hühnerstall versuchen, in der internen Hack- und Rangordnung aufzusteigen und den Mann ganz für sich zu gewinnen. In der monogamen Zweierbeziehung hingegen droht der Alpha-Status des Mannes irgendwann kastriert zu werden (»Betaisierung«). Der Autor plädiert dafür, dass der Mann sein »Preisniveau« bei der Frau oben hält. Sobald er der Frau Unterwerfung signalisiert, sinkt er in ihrem Ansehen und verliert an Anziehungskraft. Dazu passt auch der Spruch: »Willst du was gelten, mach dich selten.«
Der Kult um das Selbst und die Pflege ihres Status hat Constanze in den liebesmäßigen Permafrostzustand versetzt. Der Perfektionierung des eigenen Selbst nach Marktmaßstäben durch die Erhöhung des eigenen Preises steht die Frage gegenüber: Wie muss dann erst der Partner »beschaffen« sein? In Constanzes Fall kann es nur jemand sein, der für sie selbst anbetungswürdig erscheint, ein Messias, der sie in den Himmel hebt, oder jemand, dem es gelingt, sie auf den Boden der Tatsachen zurückzuholen. In jedem Fall niemand geringeres als der totale Erlöser.
In einer Kurzgeschichte von Leo Tolstoi wird ein Diener von seinem Herrn auf den Markt geschickt, um Birnen zu besorgen. Beim Hinausgehen ruft ihm der Herr noch hinterher: »Aber es müssen die besten sein!« Auf dem Markt angekommen, ist der Diener mit der Auswahl überfordert. Wie soll er herausfinden, ob es sich auch tatsächlich um die besten Birnen handelt? Er probiert sämtliche Sorten, entscheidet sich schließlich für eine und kauft mehrere Pfund. Doch sogleich befällt ihn die Ungewissheit: Und wenn nun die einzelnen Birnen auch noch unterschiedlich schmecken? Um ganz sicher zu gehen, beißt er von jeder ein Stückchen ab und bringt sie dem Herrn. Der jagt ihn vom Hof.
Die moderne Liebe ist mit Ansprüchen überfrachtet. Die Beziehungsparteien sind mit der Erfüllung ihrer Rolle überfordert. Die romantische Vorstellung sagt: Es gibt nur den / die eine »Richtige«. Die Auswahlentscheidung ist von vornherein eine »absolute«, ganz oder gar nicht. Dementsprechend viel Wert wird auf die Auswahlentscheidung gelegt. Nichts darf dem Zufall überlassen werden. Die Anbahnung wird geplant, angeschoben, arrangiert, begünstigt – und letztlich ist wie so oft alles umsonst. Wer kennt nicht das Gefühl, einer Person gegenüberzusitzen, von der man mit Fug und Recht gesagt hätte: Sie / er ist perfekt. Perfektes Aussehen, perfektes Alter, gleiche Wertvorstellungen, alle wichtigen Eigenschaften wie Humor, Treue, intellektuelles Niveau, vielleicht noch materielle Absicherung. Aber das besondere Gefühl fehlt und will sich partout nicht einstellen. Man will das Gegenüber am liebsten packen, rütteln und rufen: Warum zur Hölle können wir uns nicht einfach ineinander verlieben?
Optimierung setzt immer Überforderung mit den gegenwärtigen Verhältnissen voraus. Wir gehen unter in einem Meer von Optionen. Für den Soziologen Sven Hillenkamp sind es heute nicht mehr die Zwänge, die den Menschen von seinen Möglichkeiten abhalten, sondern die Vielzahl von Möglichkeiten. In der destruktiven Macht der Unentschlossenheit und der bohrenden Ungewissheit ob der besseren Alternative sieht er ein »Ende der Liebe« aufziehen. Der Reiz des »Noch-nicht« übersteigt das Erregungspotential des Bestehenden letztlich immer: »Kein Partner symbolisiert mehr die Möglichkeiten der Menschen – nur der Nicht-Partner, der begehrte Dritte.«65
Schon im Alltag sind wir mit zahlreichen Optionen konfrontiert und suchen das besonders Perfekte. Im Restaurant kann es kein normales Gericht mehr sein, die Rosmarinkartoffeln müssen ersetzt werden, das Fleisch muss mit anderer Sauce und der Salat mit anderem Dressing serviert werden. Davor dauerte es bereits 20 Minuten, um das Lokal auszuwählen. Hat man sich dann pappsatt gegessen, kann man es sich vor dem Fernseher gemütlich machen. Doch auch hier fordern unzählige Programme eine Entscheidung. Und was macht man in den Werbepausen? Spätestens wenn wir hier umschalten, merken wir, dass wir am liebsten drei Sendungen auf einmal sehen würden. Warum laufen auch immer alle guten Filme gleichzeitig? Schnell verliert man aufgrund der Vielfalt der Optionen das Wesentliche aus den Augen. Der frühere Ausnahmezustand der Befriedigung neuer Bedürfnisse ist heute zum Lebensstil geworden. Bei meiner eigenen Onlinesuche fiel mir auf, wie extrem effizient man diese gestalten kann: Man melde sich in verschiedenen Internetportalen an, klicke mehrere hundert Profile durch, schreibe kurze, witzige Texte und sortiere die persönliche Favoritenliste ständig neu durch. Im echten Leben ist es unmöglich, mit fünf oder mehr Frauen parallel zu kommunizieren, es sei denn, man heißt Rolf Eden.
Der erfolgreiche und vor allem effiziente Verführer betritt heute an einem Abend drei Bars, in denen er sich in Kurzgesprächen die Nummern von jeweils drei bis fünf Frauen besorgt, die er dann in den kommenden Tagen »abtelefonieren« kann. Welche es am Ende wird, ist zu diesem Zeitpunkt ungewiss. Es kann aber auch nach hinten losgehen: So erzählte mir beispielsweise Martin (29), dass er sich häufig dabei ertappt, dass er in einem Club zehn Frauen sieht, die ihm gefallen. Er spricht davon vielleicht acht an, tanzt mit fünf, knutscht mit dreien, bekommt vier Nummern und streunt schließlich unentschlossen bis fünf Uhr morgens allein durch den Club, um noch die eine anzuquatschen, bei der er sich zuvor nicht getraut hat, von der er sich aber die große Erfüllung verspricht. Am Ende merkt er, dass gerade diese sich ein anderer geschnappt hat. Verärgert und »mit leeren Händen« geht er alleine nach Hause, kauft sich an der Ecke noch einen Hot Dog, bekleckert sich das Hemd, und das war’s dann. Anrufen wird er keine der Damen. Das Spiel beginnt beim nächsten Mal von vorn. Martin geht es in etwa so wie dem Diener in der Kurzerzählung von Leo Tolstoi mit den Birnen. Die Idee des Durchprobierens ist dabei nicht neu. Der französische Schriftsteller Charles Duclos beschrieb im Jahr 1742 den Such- und Testprozess eines jungen adeligen Frauenhelds, der erst alle Frauentypen kennenlernen wollte, bevor er sich für einen entschied. Der Soziologe Niklas Luhmann bemerkt hierzu lakonisch: »Aber wer kommt schon so weit? Und kann man sich denn nicht die Mühen der frivolen Liebe ersparen und sich gleich richtig entscheiden – aufgrund der Lektüre?«66 Neu sind unsere Zwanghaftigkeit und der Glaube daran, dass das am strengsten Aussortierte auch tatsächlich das Beste ist. Dabei wissen wir das in Sachen Lieben noch weniger als bei den Birnen.