Einleitung: Verlieb’ dich doch
einfach, »Huskywoman44«!

Wir befinden uns auf einer populären, kostenfreien Onlinedatingseite. Auf dem Foto sehen wir ein Frauengesicht, das man inmitten von circa 20 weißen Hunden kaum erkennen kann. Unter Hobbys lesen wir: Huskys!

Statementtext: »Meine Hunde gehen mir über alles.«

In der Rubrik »Du solltest«, liest man, wen wundert’s: »... meine Hunde mögen.«

Ja schön. Und wo liegt nun das Problem? Ist es nicht legitim, sich einen Menschen zu suchen, der auch zu einem passt? Sicherlich. Und doch hat diese übermäßig ausdifferenzierte Suche mit ihrer Bewerbungslogik, wie man sie heutzutage oft in Onlinebörsen findet, etwas Anmaßendes. Ganz zu schweigen davon, dass man sich mit dieser »Wünsch-dir-was-Vorstellung« vom eigenen Partner selbst im Weg steht. Die Partnersuche beginnt heute nicht mit einem Sichöffnen gegenüber einem neuen Menschen, sondern mit einer Verschlussreaktion. Sätze wie: »Alle unter 1,75 m und über 35 Jahre brauchen es gar nicht erst zu versuchen«, liest man auf jedem zweiten Onlineprofil. Amor schießt erst ab 1,76 m oder ab Körbchengröße Doppel-D? Oder ab gleicher Hundevernarrtheit? Welche Vorstellung von Liebe haben wir eigentlich?

Der moderne Mensch weiß immer schon genau, was er will. So wie Anne, 33 Jahre alt, Redakteurin aus Süddeutschland. Sie hat den Beruf, den sie liebt, die Freunde, die sie braucht, die Familie um sich herum, die ihr guttut. Aber es fehlt der Mann. Sie fragt sich: Bin ich denn nicht liebenswert mit all den Attributen, die mich auszeichnen? Das so toll gemeisterte Studium, die sportliche Figur, das Interesse an Kunst, gutem Essen und Reisen? In ihrer Verzweiflung darüber, dass das wichtigste Element ihres sonst so perfekten Lebens noch immer fehlt, begibt sie sich auf eine zwanghafte Suche nach dem »Richtigen«. Sie weiß, wie alt er sein soll (»zwischen 35 und 45«), wie groß (»mindestens 1,83 m«) und wofür er sich zu interessieren hat (»am liebsten auch für das Segeln«). Ihr Bild vom perfekten Mann wird immer ausdifferenzierter und klarer, die Umsetzung des Plans in die Realität aufgrund ihres starren Beuteschemas dagegen immer nebulöser. Das Verlieben ist hier nur noch eine Erwartungserfüllungsfreude, kein Überraschungserlebnis mehr. Anne handelt wie ein Kind zu Weihnachten, das schon genau weiß, was es bekommen wird, aber trotzdem versucht, sich möglichst authentisch zu freuen. Die Romantik gerät zum bloßen Hintergrundrauschen aus der immer gleichen, beliebig kombinierbaren Herzchen-Kerzen-und-Diddl-Bild-Symbolik.

Bestimmte Eigenschaften zu suchen und zu wollen, ist keine Schande. Das gilt auch für die banalsten Äußerlichkeiten wie muskulöse Oberarme oder große Brüste. Das überhöhte Gerede von den inneren Werten war immer etwas für zu kurz gekommene Moralisten. Schluss damit. Problematisch wird es jedoch, wenn wir zu Eigenschaftsträgern reduziert werden. Wenn wir nur noch die Summe von etwas sind und nicht mehr wir selbst zählen. Wenn wir sein müssen, wie andere es von uns erwarten. Gibt es eine größere Erniedrigung, als einem Menschen den Eindruck zu vermitteln, dass er nicht als er selbst zählt, sondern nur als derjenige, den man in ihm sehen will? Die Reduktion des anderen auf die pure Funktion des Gutfinders, Selbstbestätigers und Stabilisators der eigenen Lebenswelt ist die große Anmaßung, die der modernen Partnersuche anhaftet. Liebe scheint nur noch zum Preis der eigenen Selbstaufgabe möglich zu sein.

Hinter der Kriteriensuche steht stets ein Appell zur Selbstverrenkung und Deformation. »Sei so, nein anders! Ach, ich weiß auch nicht.« Es treffen nicht zwei Menschen aufeinander, sondern zwei formschön gestaltete Cluster möglicherweise kompatibler Eigenschaften, die sich in Face-to-Face-Gesprächen (früher nannte man das Rendezvous) auf die gegenseitige Passgenauigkeit abklopfen. Ohne die Bereitschaft zur ständigen Selbstoptimierung scheint der Weg zur Liebe ohnehin verbaut. Doch gerade aus diesem subtilen »erst wenn, dann« soll so etwas wie Liebe erwachsen, die doch nur sich selbst genügen soll? Haben wir sie noch alle?

Die moderne Art zu lieben beruht auf einem Widerspruch: Obwohl wir immer geplanter, effizienter und kalkulierter an die Partnersuche herangehen, verlieben wir uns seltener, wechseln die Partner häufiger als früher, heiraten später, trennen uns öfter und leben so zahlreich alleine wie noch nie.1 Die Ratgeberliteratur kennt dafür grob gesagt nur zwei Lösungen: Entweder sind wir selbst schuld oder die anderen. Wir können uns aussuchen, ob wir unser Leben ändern und aufhören, uns Sorgen zu machen – oder ob wir gleich anfangen, uns selbst zu lieben, denn dann ist es ja egal, wen wir heiraten. Alternativ kann man sich damit trösten, dass Männer »Scheißkerle« sind und dass die Geschlechter auf unterschiedlichen Planeten leben, die mal Mars und Venus heißen und mal Fußball und Schuhe. Sie gehört fast unter Denkmalschutz, die infantile Massentröstung der Ratgeberliteratur.

So selbstbezüglich, wie der moderne Mensch gern charakterisiert wird, ist er mitnichten. Die moderne Art zu lieben beruht auch heute noch auf einer Kopplung an gesellschaftliche Codes und den herrschenden ökonomischen Zeitgeist. Wir wählen nach vernünftigen Maßstäben aus und rechtfertigen diese Wahl anschließend mit romantischen Ritualen und Zeichen. Wir sind dauerverliebt in eine Vorstellung vom »perfekten Partner« und suchen diesen in jedem Menschen, der uns begegnet. Wie beim Erwerb eines mangelhaften Produkts melden wir nach einiger Zeit Änderungswünsche an und fordern Anpassungsleistungen ab. Bleiben diese aus, lösen wir uns und beginnen die Suche von Neuem. Der Glaube an den »perfekten Partner« und die »perfekte Liebe« ist der mächtigste Glaubenssatz unserer modernen Privatreligion. Die Götze ist unser Vorstellungsbild. Uns nach dem bloßen Gefühl zu richten, erscheint uns verdächtig und naiv.

Muss es deshalb gleich ein Manifest sein? Und dann noch eins zur Verteidigung der Romantik? Ja, es muss. Die romantische Idee war nie so gefährdet wie jetzt. Sie hat es in den letzten 250 Jahren aus dem Kreis einiger subversiver Studienfreunde namens Schlegel, Novalis, Tieck und Brentano zur Massenkultur Hollywoods gebracht, sie hat Kirchenmacht, Staatsmacht und Ideologien überlebt – um nun vom Einzelnen selbst den Garaus gemacht zu bekommen. Gegen externe Bedrohungen entwickelte sich die Romantik prächtig – gegen die interne Bedrohung in unseren Köpfen ist sie machtlos. Unser eigenes ökonomisches Denken, das sich laut dem französischen Philosophen Gilles Deleuze gasförmig in alle Lebensbereiche schleicht, zerstört die Liebe.

Schiller besang Liebe und Freundschaft noch als Glücksgriff oder »großen Wurf«, der einem gelingen müsse, wenn man eines Freundes Freund oder eines Weibes Mann sein wolle. Der Homo oeconomicus will nicht mehr freudetrunken »Millionen Menschen umschlingen«, er klickt sich viel lieber mit mechanisch-debilem Scannerblick durch Tausende Onlineprofile. Der große Wurf ist ein Matching-Point-Ergebnis von 100 oder mehr Punkten. Laut einer aktuellen Studie des US-Psychologen Dan Ariely (»Fühlen nützt nichts, hilft aber«) treffen sich Onlinedater mit weniger als einem Prozent der angeklickten Personen. Fragen wir uns selbst: Lieben wir effektiver? Finden wir effizienter? Oder gehen wir lediglich einer vulgären Romantikkultur auf den Leim?

Schon Novalis wusste: Nicht Zahlen und Figuren sind Schlüssel aller Kreaturen. Wir hingegen sind überzeugt davon, unseren persönlichsten, intimsten Bereich ausgestalten zu können wie einen All-inclusive-Urlaub. Die »geliebte« Person soll uns sagen, wer wir sind (Identitätsfunktion), unseren Status bei Freunden und der Umwelt erhöhen oder bewahren (Anerkennungsfunktion) sowie für ein dauerhaftes Wohlbefinden durch die Erbringung emotionaler und sexueller Dienste (Wellnessfunktion) sorgen. Wir ahnen es bereits: Wir überfordern die Liebe, wenn wir ihr »wesensfremde« Kriterien unterschieben und ihr dadurch eine neue Bedeutung aufzwingen. Und trotzdem können wir irgendwie nicht anders: Wir lieben »die Liebe«, planen das Verliebtsein, ritualisieren Intimität und Romantik, steuern Gefühle, umzäunen sie mit rechtlichen Regelungen und betten sie in gesellschaftliche Muster ein. Und je planvoller wir dabei scheitern, desto liebesbedürftiger werden wir.

Liebe wird auch heute noch von der Gesellschaft gemacht. Dabei ist sie keine gesellschaftliche Erfindung. Dass zwei Menschen das Gefühl verspüren können, füreinander bestimmt zu sein, ist älter als die Erfindung von Minnesang, höfischer Liebe und Romantik. Den berühmten Satz von La Rochefoucauld (17. Jahrhundert), dass manche gar nicht wüssten, was Liebe ist, wenn sie davon nicht in einem Buch gelesen hätten, darf man nicht wörtlich nehmen: Im Moment der ersten Liebe hat man selten bereits ein Dutzend Liebesromane gelesen. Das Hohelied der Liebe im Alten Testament entstand, als Nomadenvölker durch Palästina und Ägypten zogen und das Phänomen der »Gesellschaft« noch gar nicht existierte, und dass man von einem anderen Menschen auf fast religiöse Art »besessen« sein kann, wusste schon das Liebespärchen aus der altpersischen Liebesgeschichte Leila und Madschun (12. Jahrhundert).

Zugleich ist es vermutlich unmöglich, genau zu definieren, was Liebe ist. Zahlreiche Philosophen, Schriftsteller, Wissenschaftler und Kirchenväter haben sich daran die Zähne ausgebissen. Heine hatte ganz recht: »Was Liebe ist, hat noch keiner herausgebracht.«2 Und es ist auch gut, dass das so ist. Die Definitionsversuche zeugen von reger Phantasie, aber nicht selten auch von früher Kapitulation.

Für Platon war Liebe schlicht »göttlicher Wahnsinn«.3 Der französische Schriftsteller Stendhal verglich die Gefühlsbildung der Liebe etwas obskur mit dem Prozess der Kristallbildung in einem Salzbergwerk.4 Schopenhauer kam Freud zuvor und glaubte gar nicht an die Liebe, sondern nur an sexuelle Anziehung: »Alle Verliebtheit, wie ätherisch [fein, geistig] sie sich auch gebärden mag, wurzelt allein im Geschlechtstriebe.«5 Der Soziologe Niklas Luhmann schließlich mochte gar nicht mehr von einem Gefühl oder von Bedürfnissen sprechen, sondern von einem gesellschaftlichen »Kommunikationscode«, also einer Art, miteinander in bestimmter formalisierter Weise umzugehen.6 Nimmt man dazu noch die wissenschaftlichen Erkenntnisse aus Psychologie, Hirnforschung, Biologie, Chemie und Zoologie, ist man schnell verwirrt und geneigt, von einem »unordentlichen Gefühl« (Richard David Precht) oder einem »Chaos der Liebe« (Ulrich Beck) zu sprechen. Dabei leidet unsere moderne Liebe tatsächlich genau unter dem Gegenteil: Sie ist eingebettet in die enge Struktur des Optimierungsdenkens, unterliegt selbstauferlegten Kontrollen, wird im ökonomischen Denken verfunktionalisiert. Kurz: Wir wollen das romantische Kribbeln, aber ohne Risiko.

Woran alle von Platon über Heine bis Luhmann gescheitert sind, nämlich die Liebe zu definieren, scheint dem ökonomischen Weltgeist mühelos möglich zu sein: Liebe wird uns präsentiert als ein Paket aus Wellnessgefühlen, Anerkennung und Selbstbestätigung in den Größen S, M, L und XL.

Liebe ist zu einem Verfügungsgegenstand geworden, zu einer Ressource, auf die wir glauben, einen Anspruch zu haben. Gefühle, so scheint es, sind eine messbare Größe geworden, das Ergebnis auf einer Skala, deren Pegel dann am stärksten ausschlägt, wenn das innere Wunschbild auf das äußere trifft. Das Perfekte ist dann gerade noch gut genug. Im Falle von »Huskywoman44« ist es vermutlich ein in der Nähe von Eschweiler in einem Wald lebender Trapper, Sternzeichen Eskimo. Viel Glück bei der Suche!

Stets nach dem Idealen, Perfekten und Besten streben zu müssen und sich ebenso darzustellen, ist eine gefährliche Marotte unserer Zeit, die am Ende die Liebe zerstört. Die Onlinekommunikation zwingt die Teilnehmer fast schon automatisch in eine Werbesprache hinein, die sich von der Produktanpreisung kaum mehr unterscheidet. Früher war das offenbar anders. In dem Billy-Wilder-Film Ariane – Liebe am Nachmittag (1957) bekommt Gary Cooper von einer Frau den Satz zu hören, dass sie sich zu dünn finde, einen zu langen Nacken und zu große Ohren habe, worauf er antwortet: »Das mag ja sein, aber ich mag die Art, wie alles zusammenhängt.« Ob er sich wohl auf diese Beschreibung auf einer Onlineplattform hin gemeldet hätte? Die Frau war übrigens Audrey Hepburn.