Siebtes Kapitel

Liebe Leser, kennt ihr das auch? Ihr spürt, dass etwas in der Luft liegt – doch ihr könnt nicht genau sagen, was es ist. Die Schnurrhaare vibrieren, die Ohren zucken: Es ist ein Gefühl, das man nicht in Worte fassen kann und das doch überdeutlich ist. Als würde jemand mit einem Megafon durch die Gegend laufen und etwas Wichtiges durchsagen – in einer unbekannten Sprache.

Dieses Gefühl hatte ich im Himalaja-Buchcafé. Es war regelrecht überwältigend, als hätten sich unbemerkt tief unter uns tektonische Platten verschoben. Eine Veränderung kündigte sich an, die neue Möglichkeiten und Abenteuer mit sich brachte.

Zum Beispiel war man von offizieller Seite auf Serenas Bildungseinrichtung, die Computerkurse für Teenager bereitstellte und ihnen bei der Jobsuche half, aufmerksam geworden. Das erzählte sie Bronnie eines Nachmittags, als sie auf dem Sofa hinter mir eine Teepause einlegten. Das Gewürzmischungsgeschäft lief so gut wie nie, deshalb konnte sie sich auch eine umfangreiche Erweiterung der Einrichtung leisten. Und das war für sie ein weitaus größerer Grund zur Freude als ein Schulterklopfen von irgendwelchen Beamten. Dennoch – dass die Behörden sie lobend erwähnten, war ganz sicher nicht zu verachten.

Ein paar Tage darauf kam Franc mit einem Blatt Papier in der Hand aus dem Büro des Restaurants. »Hast du das schon gesehen?«, fragte er und hielt Sam das Blatt hin.

»Bronnie hat etwas in der Richtung erwähnt.« Er überflog den Brief, dann hob er die Augenbrauen. »Aber davon hat sie nichts gesagt.«

»Typisch Serena. Sie ist viel zu bescheiden«, sagte Franc.

»Vielleicht will sie es nicht an die große Glocke hängen.«

Franc starrte eine Weile gedankenverloren vor sich hin. »Dann machen wir das für sie«, sagte er geheimnisvoll.

Später hörte ich, wie er mit Sid telefonierte. Neben dem festlichen Anlass an sich ging es in dem Gespräch auch um Serenas Weigerung, viel Wind um die Sache zu machen. Anscheinend hatten die beiden Männer andere Pläne. Leider bekam ich nicht mit, wie diese genau lauteten, da Franc die Bürotür schloss, bevor er den Nachmittag am Telefon verbrachte. Nur gelegentlich tauchte er mit einem aufgeregten Funkeln in den Augen wieder auf. Einmal hörte ich ihn das Wort »Leibwächter« erwähnen.

Und damit nicht genug: Zahra kam während ihrer Ferien regelmäßig ins Café und half Serena mit den Gewürzmischungen. Das Büro des Versandhandels befand sich im ersten Stock, weshalb Zahra darauf bestand, dass ich ebenfalls dorthin umsiedelte. Sie hob mich aus dem Zeitschriftenregal, drückte mich an ihre Brust, trug mich die Treppe hinauf zu ihrem Schreibtisch, auf dem sie sorgfältig eine Fleecedecke ausgebreitet hatte. Dort verbrachte ich die nächsten Stunden mit untergeschlagenen Pfoten und beobachtete sie genau – unterbrochen nur von gelegentlichen Streicheleinheiten und Nickerchen.

Obwohl ich mich insgesamt gar nicht so lang mit ihr dort oben befand, war es doch etwas ganz Besonderes, in Zahras Nähe zu sein. Ich verspürte ein Gefühl der Verbundenheit, das erfreulich neu und anders war. Ein Auftakt. Ein Vorwort. Ein Vorbote dessen, was noch kommen sollte.

Außerdem hatte ich in den letzten Wochen beobachtet, wie sich Angela, Sams neue Verkäuferin, und Conrad nähergekommen waren. Zuerst hatten sie im Buchladen tiefschürfende Gespräche geführt: Conrad hatte sich von Angela Reiseführer für die Region empfehlen lassen, woraufhin ihm Angela mehrere bebilderte Bände zum Thema Bergwandern gezeigt hatte – ein Hobby, das sie, wie sich herausstellte, gemeinsam hatten.

Eines Tages hatten sie beschlossen, nicht länger im Buchladen herumzustehen, sondern sich auf eine Bank im Café zu setzen – diejenige, die dem Zeitschriftenregal am nächsten war. Conrad war vor mehreren Monaten in Dharamsala angekommen und hatte sich seither zu einem Stammgast im Himalaja-Buchcafé entwickelt. Allerdings hatte er meistens allein am Tisch gesessen, und egal, ob er ein Buch las oder am Laptop arbeitete, stets umgab ihn eine Aura der Einsamkeit, als hätte er unsichtbare Schutzmauern um sich errichtet, die die anderen von ihm fernhielten.

Seit er sich jedoch mit Franc im Schatten der Zeder unterhalten hatte, war er wie ausgewechselt. Nun strahlte er Leichtigkeit, Offenheit und die Bereitschaft aus, sich einzubringen. Ich hatte ihn überhaupt noch nie mit einer Frau sprechen sehen, und plötzlich war er in eine lebhafte, angeregte Unterhaltung verwickelt. Angelas blasse Wangen glühten noch mehr als sonst. Während sie Conrad beim Kaffee aufmerksam zuhörte, strich sie sich das Haar aus dem Gesicht, sah ihm in die grünbraunen Augen und musterte eingehend seine feinen Gesichtszüge. Irgendwann ließen sie die schweren, anspruchsvollen Themen ruhen, und bald lachten sie laut. Mir entgingen auch die gelegentlichen Gesprächspausen nicht, in denen sie sich nur stumm in die Augen sahen. Und lächelten.

Als sie schließlich aufstanden, hielt sich Conrad die rechte Schulter. Er hätte sie wohl verspannt, sagte er, woraufhin ihm Angela vorschlug, ihn heute Abend mit in die Yogaschule zu nehmen, die sie seit einigen Wochen zusammen mit Serena besuchte.

»Bringt das denn was?«, fragte Conrad.

»Schon möglich.«

»Ist der Lehrer denn nicht auf Reisen?«

»Stimmt. Ludo ist seit fast zwei Monaten in Deutschland. Anscheinend gefällt es ihm dort ganz gut. Aber er wird von einigen langjährigen Schülern vertreten. Außerdem musst du dir die Yogaschule ansehen. Die Aussicht ist fantastisch!«

»Ich dachte, beim Yoga soll man sich auf die Haltung konzentrieren.« Er lächelte herausfordernd. »Keine Ablenkungen.«

»Richtig«, sagte sie mit funkelnden Augen. »Aber manche Ablenkungen sind angenehmer als andere.«

Seine Heiligkeit befand sich auf einem humanitären Kongress in Neu-Delhi und würde erst spät am Abend zurückkehren, daher beschloss ich, der Yogaschule ebenfalls einen Besuch abzustatten. Ich setzte mich auf meinen Holzhocker im rückwärtigen Teil des Unterrichtsraums und beobachtete die Schüler dabei, wie sie zu meditativen, an den Rhythmus eines indischen Gebets erinnernden Sitarklängen die wohlvertraute Abfolge von Asanas absolvierten.

Solange Ludo in Deutschland weilte, wechselten sich mehrere seiner besten Schüler damit ab, die Rolle des Lehrers einzunehmen. Heute war Ewing an der Reihe, und obwohl er gekonnt und mit Geschmeidigkeit und Kraft durch die verschiedenen Haltungen führte – und mit Humor, wie er einmal bewies, als er beinahe aus der Halbmond-Stellung fiel –, war die Atmosphäre nicht dieselbe. Ohne Ludo fehlte eine gewisse Energie, eine Zielstrebigkeit.

Seine Abwesenheit hatte auch Auswirkungen auf die Teilnehmerzahl. Früher waren es im Durchschnitt etwa 25 Schüler gewesen, die den Unterricht besuchten. Serena zufolge hatte sich in den letzten Wochen die Anzahl der Anwesenden jedoch halbiert. An diesem Abend waren es nur neun Teilnehmer, Angela und der neu hinzugekommene Conrad eingeschlossen.

Daher geschah das, was als Nächstes passierte, zu einem denkbar ungünstigen Zeitpunkt. Nachdem die Schüler am Ende der Stunde etwa zehn Minuten lang in der Shavasana oder Totenstellung gelegen hatten, erklang statt der sanften Musik plötzlich ein stetig lauter werdender Alarm. Ewing stand auf und ging zu dem mit der Stereoanlage verbundenen Laptop hinüber. Der Alarm wurde immer durchdringender. Schließlich gelang es Ewing, die Ursache des Lärms zu identifizieren: »Ein Videoanruf!«, verkündete er. »Es ist Ludo!«

Die Schüler standen auf. »Ich wollte nur mal hören, wie es im Unterricht so läuft.« Ludos unverwechselbare Stimme mit dem deutschen Akzent dröhnte so glasklar aus den Lautsprechern, als wäre er hier bei uns im Raum.

Dabei schlug er einen listigen Ton an, als wüsste er genau, wie sehr uns sein Anruf überraschte. Seit seiner Abreise hatte er lediglich ein paar E-Mails geschrieben.

Die Schüler versammelten sich vor dem Computer und winkten in die Kamera. »Hi, Ludo!« Serena beugte sich zum Bildschirm vor. Franc nickte mit vor dem Herzen zusammengelegten Händen. »Hallo« und »Namaste« riefen die anderen im Chor.

Zur allgemeinen Erheiterung demonstrierte Ewing noch einmal, wie er bei der Ardha Chandrasana beinahe umgefallen war. Serena bemerkte, dass Ewing mit seinem »Gleichgewichts-Chakra«-Album genau die richtige Musikauswahl getroffen hatte. Es herrschte also gute Stimmung, als sie Ludo fragten, wie es ihm in seinem Urlaub erging.

Wie sich herausstellte, fühlte sich Ludo in seinem Geburtsland, bei seiner Familie und den Freunden aus seiner Kindheit pudelwohl. Dennoch musste er ständig an den Himalaja denken und plante, in zwei Wochen zurückzukehren.

Dann fragte er nach Sukie, und Ewing musste ihm gestehen, dass sie ebenso wenig zum Unterricht erschienen war wie Merrilee, die viele Jahre lang ihre Matte neben Sukie ausgebreitet hatte. Und auch Carlos und Jordan, zwei langjährige Schüler, waren abwesend. Schließlich bat Ludo Ewing, die Kamera zu drehen, damit er sehen konnte, wer überhaupt gekommen war.

»Wir sind nur zu neunt«, sagte Ewing.

»Dafür ist Conrad aus der Schweiz zum ersten Mal hier.« Serena versuchte, die positiven Seiten hervorzuheben.

Ich erhaschte einen kurzen Blick auf den Bildschirm, auf dem Ludos gebräuntes Gesicht zu sehen war. Wenn ihm die Neuigkeiten Sorge bereiteten, so ließ er sich nichts anmerken. Er war so entspannt wie immer, und obwohl er sich am anderen Ende der Welt befand und mittels eines Computers kommunizieren musste, verströmte er doch seine typische Souveränität und Gelassenheit. Er versicherte seinen Schülern, bald wieder zurück zu sein, und bevor er das Gespräch beendete, kündete er noch geheimnisvoll eine »Überraschung« an.

Daraufhin machten es sich die Schüler auf der Ansammlung von Kissen, Sitzsäcken und Teppichen auf dem Balkon gemütlich und betrachteten den Sonnenuntergang über dem Himalaja. Zahra, die ebenfalls am Yogaunterricht teilnahm, wenn sie nicht im Internat weilte, setzte sich zwischen Sid und Serena. Ganz instinktiv schmiegte ich mich an ihre Beine, geborgen in der Gesellschaft meiner Lieblingsfamilie.

Serena sah sich mit reuiger Miene um. »Der arme Ludo. Ich hätte ihm wirklich gerne bessere Nachrichten mitgeteilt.«

Sie streichelte mich.

»Weil wir heute nur zu neunt waren, meinst du?«, fragte Ewing.

Sie nickte.

»Das schien ihn gar nicht zu beunruhigen«, meinte Angela.

»Ludo bringt so leicht nichts aus der Ruhe«, sagte Sid. »Wisst ihr noch, als es im Studio vor Jahren das Feuer gab? Da ist er auch ganz ruhig geblieben.«

»Hier hat es gebrannt?«, fragte Angela.

»Genau hier.« Serena lief es kalt den Rücken herunter. »Auf dem Balkon. Zum Glück hat unsere kleine Rinpoche uns gewarnt, sodass wir rechtzeitig handeln konnten. Sonst wäre es viel schlimmer ausgegangen.«

Alle sahen mich an.

Ich ließ den Blick nacheinander über Sid und Serena, Ewig, Franc und die anderen – alten und neuen – Schüler schweifen und bemerkte plötzlich, seit wie langer Zeit wir schon an diesem ganz besonderen Ort zusammenkamen und wie viel wir hier gemeinsam erlebt hatten.

»Als wir das letzte Mal mit Ludo auf dem Balkon gesessen haben«, sagte Serena und holte uns ins Hier und Jetzt zurück, »hat er sich gefragt, was auf lange Sicht aus der Yogaschule werden soll.«

»Das war schon ein bisschen traurig«, sagte Sid. »Er hat vom Loslassen gesprochen und wie es mit dem Studio weitergeht, wenn er uns für immer verlässt.«

In diesem Augenblick erschien eine Wolke am Horizont und schob sich vor die Sonne. Zugleich fuhr ein kühler Windstoß durch das Kangra-Tal. Zahra bekam Gänsehaut auf den bloßen Armen.

»Man muss sich nur heute Abend hier umsehen«, sagte Serena. »Dann kann man sich die Antwort ungefähr vorstellen.«

Eine Weile lang tranken die Schüler schweigend ihren grünen Tee. »Eins ist sicher«, sagte Franc nachdenklich. »Es zeigt, wie wichtig der Guru ist.«

Alle murmelten ihre Zustimmung. »Die Quelle aller Erkenntnis«, fügte Sid hinzu.

»Das Fundament der buddhistischen Praxis«, sagte Franc.

Conrad sah erst den einen und dann den anderen an. »Jetzt sprechen Sie aber nicht nur über Yoga, oder?«

»Das gilt für alle erlernbaren Fähigkeiten«, sagte Franc. »Und somit für die Dharma-Praxis genauso wie für das Yoga.«

»Ihr habt von einem ›Guru‹ gesprochen«, fragte Angela neugierig. »Ist das etwas anderes als ein gewöhnlicher Lehrer?«

Franc nickte. »Die Lehrer an Schulen und Universitäten vermitteln Informationen. Sie helfen uns dabei, bestimmte Themengebiete zu verstehen und Sachverhalte zu begreifen. Es geht also um Wissensvermittlung.

Mit der Weisheit verhält es sich anders. Hier geht es um die Weitergabe von Einsichten, die die Macht haben, uns zu verändern. Eine Einsicht kann erst dann Veränderung bewirken, wenn unser Verständnis dafür tief genug ist. Dann wird aus Wissen Weisheit.« Franc sah sich unter den älteren Schülern um. »Da stimmt ihr mir doch zu, oder?«

Die anderen nickten. »Der Guru ist die Verkörperung der Weisheit«, erklärte Sid weiter. »Alles, was er tut, sagt oder denkt, ist ein Ausdruck von Weisheit.«

»Also erläutert ein Guru nicht nur bestimmte Dinge, er zeigt einem auch, wie etwas gemacht wird?«, fragte Conrad, der noch Klärungsbedarf hatte. »Er lässt Worten Taten folgen, ja?«

Wieder ertönte zustimmendes Gemurmel. »Und das ist noch nicht alles«, sagte Serena. »Schau dich um.« Sie machte eine ausladende Geste. »Wir sind nur zu neunt, und ich kann niemandem einen Vorwurf machen, der nicht gekommen ist. Was ich damit sagen will: Ohne Ludo ist es nicht dasselbe.«

Zustimmendes Gemurmel.

Sofort fiel mir die Fensterbank in den leeren Gemächern des Dalai Lama ein. Ohne ihn war es dort auch nicht dasselbe. Deshalb war ich ja auch hier beim Yoga.

»Ein Guru tut mehr, als nur zu erklären und zu verkörpern«, fuhr Serena fort. »Er motiviert und inspiriert auch.«

»Wie ein Personal Trainer?«, fragte Conrad.

»Guter Vergleich!«, sagte Franc.

Hoch über unserer kleinen Gruppe ragten die in tiefem, sattem Orange glühenden Berge auf. Sie wirkten wie Wächter oder alte Freunde. Die reflektierten Sonnenstrahlen schillerten in der Dämmerung und tauchten den Balkon in ein sich ständig veränderndes, tanzendes Licht.

»Im Himalaja«, sagte Sid, »wird der Beziehung zwischen Guru und Schüler höchste Bedeutung beigemessen. Sie ist viel wichtiger als das, was du weißt und sogar was du glaubst oder praktizierst. Insbesondere in Fragen der spirituellen Entwicklung ist die direkte Verbindung zwischen Lehrer und Schüler entscheidend. Zwischen erleuchtetem Meister und Novizen. Das alles findet auf einer Ebene jenseits der Sprache statt.« Er legte die Hände vor dem Herzen zusammen. »Es ist ein …« Er zuckte mit den Schultern und suchte nach den richtigen Worten. »Wie soll man es beschreiben, ein Wissen, ein Verständnis, das den Schüler mit solcher Wucht trifft, dass er nicht länger an der Wahrheit zweifelt, die durch den Lehrer verkörpert wird. Manchmal äußert sich das auch in einem strahlenden Wohlbefinden, wenn der Schüler – womöglich zum ersten Mal – das Gefühl hat, ganz und gar akzeptiert zu werden. Reine Liebe zu erfahren.«

Die anderen starrten Sid so gespannt an, als hätte er vor, ihnen dies alles unverzüglich zu demonstrieren. Zahra sah ihren Vater mit Bewunderung an, dann beugte sie sich vor und legte kurz ihren Kopf auf seine Schulter.

Sid blickte mit einem schiefen Grinsen in die Runde. »Das alles sind noetische Phänomene.«

»Also etwas, das wir ohne Worte verstehen?«, fragte Zahra und schmiegte sich an ihn.

Ihr Vater nickte.

»Ich habe gehört, dass der Guru wie eine Lupe ist«, sagte Ewing. »Von Buddha sind 84.000 Belehrungen überliefert, aber welche sind für mich oder dich relevant? Mit welchen individuellen geistigen Hindernissen haben wir zu kämpfen? Der Guru sucht die für uns wichtigen Belehrungen und Praktiken heraus.«

»Er ist gütiger als Buddha selbst«, sagte Serena.

»Gütiger als Buddha?«, fragte Angela verblüfft. »Ist das nicht ein bisschen … geringschätzig?«

Serena schüttelte den Kopf. »Shakyamuni, der historische Buddha, kann nicht mehr länger körperlich bei uns sein, um uns zu helfen. Unsere Lehrer schon. Deshalb erweisen sie uns die größere Güte, indem sie uns zeigen, wie man der Unzufriedenheit ein Ende bereitet und dauerhafte Glückseligkeit erlangt. Insofern kann man durchaus behaupten, dass sie gütiger als Buddha sind.«

»Dazu gibt es sogar ein Sprichwort«, sagte Franc, während Angela noch über Serenas Worte nachdachte. »Kein Guru, kein Buddha.«

Serena nickte.

»Beinahe alles, was wir über Buddha wissen«, fuhr Franc fort, »wissen wir von unserem Lehrer. Die Verbindung, die wir zur Dharma-Praxis spüren, kommt von unserem Lehrer. Dazu gibt es viele Geschichten. Beispielsweise erschuf der große Yogi und Lehrer Naropa einmal eine Manifestation der Gottheit Hevajra am Himmel und weckte seinen Schüler Marpa, um sie ihm zu zeigen. Naropa fragte Marpa, vor wem er zuerst auf die Knie fallen wollte: vor dem Gott Hevajra oder vor ihm, seinem Guru. Marpa wählte Hevajra, da er Naropa ja ständig um sich hatte. Naropa berichtigte ihn, indem er ihn darauf hinwies, dass es ohne Guru keinen Buddha gibt.«

Alle dachten über diese Geschichte nach. »Daddy, sagst du nicht immer, dass der Geist des Gurus und der Geist Buddhas ein und dasselbe sind?«, fragte Zahra ihren Vater. »Dass der Guru wie der Buddha ist?«

Sid nickte. »Ja, das ist ein nützlicher Gedanke. Nicht um unseres Gurus, sondern um unserer selbst willen natürlich. Unseren Gurus ist es egal, was wir von ihnen halten – so etwas interessiert sie schon längst nicht mehr. Aber für uns gilt: Wenn wir jemanden wertschätzen, dann legen wir auch großen Wert auf seinen Rat. Sich ihren Rat zu Herzen zu nehmen heißt also, das Maximum aus der Lehrer-Schüler-Beziehung herauszuholen.«

Als die Sonne hinter dem Horizont verschwand, färbten sich die goldenen Flüsse, die die Bergkuppen hinunterstürzten, tiefrot. Gemeinsam dachte unsere kleine Versammlung auf dem Balkon über die unerwartete Lektion zur zentralen Bedeutung eines Gurus nach. Durch Ludos Abwesenheit waren wir auf dieses Thema gekommen, durch seinen überraschenden Anruf hatten wir es vertieft.

»Diese Geschichten über Gurus und ihre Schüler klingen wirklich ganz großartig«, sagte Conrad. »Schüler und Lehrer müssen sich in der Tat sehr nahe gewesen sein. Ist das heutzutage immer noch möglich? Besonders für uns Westler, denen so etwas nicht vertraut ist? Verstehen Sie mich nicht falsch, ein Lehrer wie Geshe Wangpo ist sehr beeindruckend, aber mir auch irgendwie … fremd. Er ist Tibeter. Ich bin Schweizer. Selbst wenn er mich als Schüler annehmen würde – könnte ich denn wirklich diese Verbindung spüren, von der Sie da geredet haben?«

Sid streckte die Hand aus und drückte sanft Conrads Schulter. »Gut, dass Sie Ihren Zweifeln so ehrlich Ausdruck verleihen. Lassen Sie sich mit der Suche nach einem Lehrer ruhig Zeit. Nur weil dieser oder jener unbedingt einen ganz bestimmten Guru als Lehrer haben will, heißt das nicht, dass besagter Guru auch für Sie geeignet ist.«

»Früher hatte ich einen Physiklehrer namens Dr. Stevens, die kompetenteste Lehrkraft der ganzen Schule«, erinnerte sich Ewing. »Aber trotz seiner akademischen Meriten war ich ein schlechter Schüler. In seinem Fach war er brillant, er beschäftigte sich mit Quantenphysik und kompliziertesten Berechnungen, und die Klassenkameraden mit naturwissenschaftlicher Begabung fanden ihn alle toll. Ich nicht. Er behandelte die Grundlagen so kursorisch, dass ich nicht mitkam. Wenn wir versuchten, ihm unsere Probleme zu erklären, konnte er überhaupt nicht nachvollziehen, woran es bei uns haperte. Er begriff einfach nicht, weshalb wir nichts verstanden. Für ihn war das alles sonnenklar.

Glücklicherweise wurde er irgendwann von Mr. Bell abgelöst. Der hatte zwar keinen Doktortitel, konnte unsere Schwierigkeiten aber verstehen, weil er selbst einmal ähnliche Hindernisse zu bewältigen gehabt hatte. Für mich war er als Lehrer viel geeigneter. Und genauso verhält es sich mit dem Dharma. Der Guru, den alle für brillant halten oder der die höchsten akademischen Weihen hat, muss nicht unbedingt der richtige für uns sein.«

»Ein Lehrer muss bestimmte Bedingungen erfüllen und bestimmte Eigenschaften aufweisen«, sagte Serena. »Wie du schon sagst, Ewing: Es geht nicht nur um die fachlichen Qualifikationen. Unser Guru muss nicht der berühmteste oder charismatischste sein. Er muss nicht ständig durch die Welt fliegen und hier seinen Segen spenden und dort Einweihungen vollziehen.«

»So einen Lama wird man sowieso kaum zu Gesicht bekommen«, gab Franc zu bedenken. »Geschweige denn eine Beziehung zu ihm aufbauen.«

»Was diese besondere Beziehung angeht …« Conrad sah erst Serena und dann Sid mit ernster Miene an. »Wie schön es sein muss, die richtige Person kennenzulernen. Sie als etwas ganz Besonderes zu erkennen.«

»Und wie!«, platzte es aus Angela heraus. Sie sah Conrad in die Augen und dann schnell wieder weg, als wäre ihr plötzlich die Doppeldeutigkeit ihrer Bemerkung aufgefallen. Selbst im Zwielicht war nicht zu übersehen, wie sich ihre Wangen röteten.

»Es ist in der Tat sehr schön«, sagte Sid schnell, um ihr ein noch tieferes Erröten zu ersparen. »Deshalb ist es auch so wichtig, den richtigen Guru zu finden. Man könnte sagen, dass damit unsere Dharma-Reise ihren Anfang nimmt. ›Erkennen‹ ist hier tatsächlich das richtige Wort. Wir Buddhisten glauben, dass der Guru, wenn er – oder sie – jemanden als Schüler annimmt, auch die Verantwortung dafür übernimmt, ihn zur Erleuchtung zu führen. Egal, wie viele Leben das dauert.«

»Also könnte mein Guru schon einmal mein Guru gewesen sein?«, fragte Conrad mit funkelnden Augen.

Sid nickte. »Ganz genau.«

»Viele Leben, viele Lehrer – oder nur einer«, bemerkte Ewing schmunzelnd.

Conrad schüttelte den Kopf. »Ich hätte mir nicht träumen lassen, wie wichtig so ein Guru ist.«

Franc lehnte an einem großen Polsterkissen. Er war der Unterhaltung eine Weile lang mit geschlossenen Augen gefolgt. »Im Dharma ist der Guru alles, und alles ist der Guru«, sagte er mit tiefster Überzeugung. »Der Guru ist Loslösung, denn er zeigt uns, dass unsere Probleme nicht draußen in der Welt, sondern in unserem Verstand zu suchen sind – und dort können wir sie auch lösen. Der Guru ist Bodhichitta, weil er uns zeigt, dass der Pfad zur Erleuchtung darin besteht, anderen dabei zu helfen, ihr Potenzial voll auszuschöpfen. Man könnte sagen, dass er die Verkörperung des Bodhichitta ist. Und schließlich ist der Guru Shunyata, denn wenn wir in seiner Gegenwart meditieren und geistiger Einklang herrscht, ist das die unmittelbare Erfahrung der Nicht-Dualität. Wir überwinden das Konzept von Innen und Außen, von Selbst und Anderem, und erleben für gewisse Zeit den endlosen Frieden seiner und unserer Buddhanatur.«

In der zunehmenden Dunkelheit schimmerten die Eiskappen der Berge in zartem Rosa. Francs Worte waren so klar und kamen gleichzeitig so sehr von Herzen, dass Serena wortlos den Arm ausstreckte und seine Hand drückte.

In diesem Augenblick wandte sich Zahra Serena zu. »Was war das Beste, was dein Guru je für dich getan hat?«, fragte sie geradeheraus und mit unverblümter Teenagerneugierde.

Eine gute Frage, klipp und klar gestellt. Sie verdiente eine Antwort.

Es dauerte einen Augenblick, bis Serena die richtigen Worte fand. »Er hat mir Vertrauen gegeben«, sagte sie schließlich. »Nicht das Vertrauen in eine überirdische Kraft oder ein Glaubenssystem, sondern in mich selbst. Das Vertrauen, dass alles, was ich brauche, genau hier ist.« Sie berührte ihr Herz. »Ich muss es nur zu voller Reife bringen.«

Nachdem sich die Runde aufgelöst hatte, blieben Serena, Sid und Zahra im Studio, um Ewing beim Aufräumen und Staubsaugen zu helfen. Staubsaugen, liebe Leser – die schrecklichste aller Hausarbeiten. Oder kennt ihr eine Katze, die dem infernalischen Lärm dieser grässlichen Apparate etwas abgewinnen kann?

Ich verließ die Yogaschule des Herabschauenden Hundes und machte mich auf den Heimweg. Conrad und Angela gingen ein kurzes Stück vor mir. Ich hörte sie im Zwielicht reden und leise lachen, Angelas hohe und Conrads tiefe Stimme hoben und senkten sich. Sie ließen die Arme an den Seiten herabbaumeln, und womöglich lag es am Yoga – immerhin machte das Dehnen und Strecken die Gelenke und Glieder geschmeidig und biegsam –, dass sich ihre Handrücken des Öfteren berührten und aneinanderstrichen. Oder hatte dies noch einen anderen Grund?

Am Fuße des Hügels, auf dem sich das Yogastudio befand, trennten wir uns an einer Kreuzung. Die beiden wandten sich nach links, ich mich nach rechts in Richtung Namgyal-Kloster. Ich hielt inne, als eine Gruppe Radfahrer mit lauten Stimmen und surrenden Rädern um die Ecke geschossen kam und die Sicht auf Angela und Conrad verdeckte.

Als sie vorüber waren, sah ich, dass die beiden etwas weitergegangen und vor einem Schaufenster stehen geblieben waren. Sie hielten sich an den Händen.

Womöglich lag es an den vielen Gesprächen zum Thema, die ich in den letzten Wochen gehört hatte, doch ich gewöhnte mich zunehmend daran, einen auftauchenden Gedanken loszulassen. Vielleicht hatte mich auch Yogi Tarchin dazu inspiriert, als er im Turmzimmer von der wahren Natur des Bewusstseins gesprochen hatte. Oder etwa Franc mit seinem geistigen Einklang? Wie dem auch sei – auf dem Rückweg zum Namgyal-Kloster folgte ich dem spontanen Impuls, den ausgetretenen Pfad zu verlassen. Es schien völlig unwillkürlich zu geschehen – immerhin dachte ich gar nicht aktiv darüber nach. Ich war einfach nur in diesem Moment, und wo die Ursache aller weiteren Geschehnisse lag, ließ sich nicht genau festmachen. War es eine Erkenntnis, ein Gespür? Eine Ahnung, der ich bereitwillig nachgab?

Ich ging weiter die Straße hinunter, bis ich den Garten erreichte, den ich abends nur selten besuchte. Alles war still, als ich über den Rasen und an der leeren Sitzbank vorbeischlich. Ich kroch den Steingarten hinauf, ohne der Katzenminze Beachtung zu schenken, und überquerte die Terrasse des Altenheims. Wiewohl es noch früh am Abend war, lag sie verlassen da. Die Schiebetüren waren geschlossen und die Vorhänge zugezogen.

Auf der Suche nach einem anderen Eingang folgte ich dem Pflasterweg, der das Gebäude umgab, bis ich die Vorderseite erreichte. Hier war ich noch nie gewesen. Hinter dem rissigen Asphalt des verlassenen Parkplatzes erkannte ich die hell erleuchtete, weiß getünchte Fassade des Altenheims – und den Haupteingang selbst mit dem Empfangsbereich dahinter. Die Tür stand offen.

Ich schlich mich hinein. Der Empfang war nicht besetzt, doch ich hörte Stimmen und das Klappern von Geschirr. Offenbar war gerade Abendessenszeit. Ich wagte mich weiter den Flur hinunter, und da mir das Gebäude nicht vertraut war, folgte ich einfach dem Instinkt, der mich – wenn auch unter völlig anderen Umständen – schon einmal so sicher an mein Ziel geführt hatte.

In Hildas Zimmer brannte nur eine einsame, schummrige Lampe in der Ecke, das Bett stand nach wie vor am Ende des Raums neben dem Fenster. Die Vorhänge waren noch zurückgezogen – vielleicht, damit sie den Sonnenuntergang genießen hatte können?

Sie lag reglos und allein in den Schatten vor dem dunklen Fenster. Ich lief auf sie zu, sprang auf den Besucherstuhl, dann zum Fensterbrett und von dort aus auf das Bett. Da ich aufgrund meines Handicaps nicht besonders geschickt bin, landete ich recht unelegant neben Hildas Füßen. Sie reagierte nicht. Hatte sie mich überhaupt bemerkt?

Der Kopf auf dem Kissen war auf die rechte Seite gedreht. Ihre Augen waren geschlossen, ihr Gesicht kreidebleich. Nur die Luftschläuche in der Nase zitterten leicht. Ihr Körper schien auf Kindsgröße geschrumpft zu sein. Vorsichtig trat ich in die Lücke zwischen dem rechten Arm, der auf der Bettdecke lag, und ihrem Körper, drehte mich neben ihrem Ellenbogen im Kreis, glättete das Laken mit meinen Pfoten und ließ mich schließlich darauf nieder, sodass sie meine Wärme an ihrem Arm und mein Fell an ihren Fingerspitzen spüren konnte.

Ich schnurrte und richtete meine saphirblauen Augen auf ihr Gesicht. Und da wusste ich plötzlich ganz klar und deutlich, was mich hierhergeführt hatte. Ich hatte diesen sechsten Sinn, diesen Impuls nicht infrage gestellt, sondern war ihm einfach gefolgt. Und jetzt zählte nur, ihr mitzuteilen, dass sie nicht allein war. Dass sie diesen nächsten, wichtigen Übergang aus eigener Kraft vollziehen musste, dass sie dies aber in der Gegenwart und der liebenden Güte eines mitfühlenden Wesens tun würde.

Sehr zu meinem Bedauern öffnete sie nicht noch einmal die Augen. Sie hatte nicht die Kraft dazu – aber schließlich und endlich ging es hier auch nicht um mich. In diesem stillen, heiligen Moment gab es nur uns beide. Die Geräusche des Altenheims um uns herum schienen zu einer anderen Welt zu gehören. Dann schlossen sich die Finger ihrer rechten Hand kurz um mein flauschiges Fell, eine Bestätigung, dass sie meine Gegenwart gespürt hatte. Und kurze Zeit später verzogen sich ihre Lippen zu einem Lächeln.

Das war genug. Die Verbindung war hergestellt – sie wusste, dass ich bei ihr war. Je weiter ihre Energie schwand, desto lauter wurde mein Schnurren. Ihr schwacher Atem flackerte wie die Flamme einer verlöschenden Kerze.

Sterbende sollen ja angeblich einen Todesseufzer ausstoßen. Hilda tat nichts dergleichen. Stattdessen wurde ihr Atem allmählich flacher, als würde sie sich sanft aus ihrem gebrechlichen Körper zurückziehen. Es war ein völlig natürlicher Vorgang. Das Zittern der Luftschläuche ließ allmählich nach und hörte schließlich ganz auf.

Dem tibetischen Buddhismus zufolge ist der Tod des Körpers nicht das Ende des Sterbeprozesses. Obwohl alle Lebensfunktionen aussetzen, verbleibt das Bewusstsein noch eine Weile im Körper. Das kann bei einem normalen Menschen nur wenige Augenblicke, aber auch viel länger dauern. In dieser Phase kommt es zur Auflösung der geistigen Aktivität. Die verschiedenen Elemente des Bewusstseins stellen nacheinander die Arbeit ein – bis auf jene subtile Bewusstseinsform im Herzzentrum.

Während dies geschah, schnurrte ich weiter, brachte durch die Vibrationen meinen Wunsch nach tiefer Glückseligkeit und einer neuen, noch herrlicheren Realitätserfahrung und schließlich ihrer Erleuchtung zum Ausdruck.

Die Lamas behaupten, dass der Geisteszustand zum Zeitpunkt des Todes große Auswirkungen auf das die Zukunft bestimmende Karma hat. Daher zählen die letzten Bewusstseinsmomente zu den wichtigsten unseres Lebens. Der sanfte Druck ihrer Hand und das Lächeln auf Hildas Gesicht ließen darauf schließen, dass sie am Ende zumindest etwas Freude und Frieden gefunden hatte. Ich jedenfalls hatte eine tiefe Ruhe und aufrichtig empfundene Dankbarkeit gespürt.

Liebe Leser, ich weiß nicht, wie lange ich bei Hilda saß – und ob das, was dann geschah, meiner Einbildungskraft zuzuschreiben ist. Doch nach mehreren Minuten in dieser friedlichen Blase, in der Hilda und ich schwebten – einem Ort, an dem das offene Herz und der offene Geist noch Kontakt aufnehmen konnten, wenn auch nur auf elementarste Weise –, spürte ich eine Veränderung, eine Freisetzung von Energie.

Sie hatte ihren Körper und damit auch seine Beschränkungen abgestreift – so schwere Beschränkungen, dass es ihr lange Zeit nicht einmal mehr möglich gewesen war, aus eigener Kraft zu atmen. Und im nächsten Augenblick war sie auch schon verschwunden.

Kurze Zeit später entschloss ich mich ebenfalls zum Aufbruch. Ich sprang von ihrem Bett aufs Fensterbrett, dann auf den Stuhl und schließlich auf den Boden. Anschließend durchquerte ich das Zimmer, schlüpfte den Flur entlang und vorbei am immer noch unbesetzten Empfang. Dann kehrte ich auf dem Pflasterweg zur Terrasse zurück.

Es war eine wolkenlose Nacht. Mond und Sterne tauchten den Steingarten in ein ätherisches Licht und kleideten die Felsen in geheimnisvolles Weiß. Die Schmucklilienblätter wogten wie silberne Wellen im Nachtwind. Wie die meisten Katzen bin ich nachtaktiv, und in den Stunden, in denen der Mond am Himmel steht, erfahre ich Geheimnisse, die im gleißenden Tageslicht verborgen bleiben. Nachts fühle ich mich der Welt der Geister näher als sonst – es ist eine Zeit der Offenbarungen, der Intuition und des Staunens.

Ich zwängte mich in der Dunkelheit zwischen den sternenbeschienenen Blumenstielen hindurch und verließ das Beet auf der anderen Seite. Jetzt war die Bank plötzlich besetzt und der Garten nicht länger still. Conrad und Angela lagen sich unter den Ästen der Zeder in den Armen und küssten sich. Sie waren so miteinander beschäftigt, dass sie mich gar nicht bemerkten, als ich in einiger Entfernung den Rasen überquerte. Wahrscheinlich hätten sie es auch nicht mitbekommen, wenn statt einer kleinen Schneelöwin acht ausgewachsene Exemplare vorbeimarschiert wären – und zwar von der Sorte, die paarweise an allen vier Ecken die Throne der größten Buddhastatuen in den Tempeln des Himalaja stützten.

Auf den Stufen, die zur Straße hinunterführten, richtete ich den Blick auf die Berge. Die schneebedeckten Gipfel schienen wie durch Zauberei in der Luft zu schweben. Hinter mir hörte ich den Atem junger Liebender, und irgendwo da draußen suchte das subtile Bewusstsein, das einst Hilda gewesen war, eine neue Manifestation.

Wo würde es landen? Und bei wem? Wie war ihr Karma beschaffen, welche neue Erfahrung in welchem Lebensbereich und als welches Lebewesen stand ihr bevor? Wenn man sich die Elemente im Kreislauf des Lebens bewusst macht, erfasst einen zwangsläufig ein Staunen über die unendlichen Möglichkeiten – und die tiefe Gewissheit, dass hinter dem Schleier der alltäglichen Erscheinungen alles gut ist. Solange wir liebende Güte praktizieren und damit die Grundlage für positive Resultate in der Zukunft legen, müssen wir vor nichts Angst haben.

Dennoch – auf dem Nachhauseweg gewann meine bohrende, selbstsüchtige Neugier, die unbedingt alle Geheimnisse aufklären wollte, die Oberhand, und ich dachte wie so oft über die Lücke in meinem eigenen Lebenskreislauf nach: jene Jahrzehnte währende Zeit zwischen meinem Leben als Hund des Dalai Lama im Jahr 1960 und meiner Manifestation als seine Katze vor sieben Jahren.

Wo hatte es mich in der Zwischenzeit hinverschlagen, mit wem war ich verbunden gewesen? Liebe Leser, vielleicht lag es an dem Zauber dieser ganz speziellen Nacht, dass ich das Gefühl hatte, dies alles würde sich bald aufklären.

Als ich ins Kloster zurückkehrte, bog auch gerade der Wagen, der Seine Heiligkeit von Neu-Delhi hierhergebracht hatte, in den Innenhof. Kurz darauf stieg der Dalai Lama aus dem Fond, streckte die Beine und den Rücken und kam zu mir herüber.

»Guten Abend, meine kleine Schneelöwin! Wie schön, dich zu sehen.« Er beugte sich zu mir herunter, um mich zu streicheln.

Dann verließen auch Oliver – offensichtlich waren sie gemeinsam gereist – und zwei stämmige Leibwächter das Auto.

»Jetzt ist es viel schöner als tagsüber«, bemerkte Seine Heiligkeit nach einem Blick durch den nur vom Mondlicht und den Sternen erhellten Innenhof und sprach mir damit aus der Seele. Der Tempel lag im Dunklen, die Außenbeleuchtung und die Lichter im Inneren waren längst gelöscht. Anders als sonst jedoch stand die Tempeltür offen. Wir konnten durch den Spalt bis zur Buddhastatue in der Mitte des Raumes blicken, wo stets mehrere Lichter brannten. Sie flackerten wie Kerzen, ein schimmerndes Opfer an die Gegenwart der Erleuchtung.

So sah man den Tempel nur selten. Aus einer spontanen Eingebung heraus hob mich Seine Heiligkeit hoch und hielt mich fest, während er die Stufen hinaufging, die Sandalen abstreifte und den Tempel betrat. Oliver und die Leibwächter folgten ihm auf dem Fuße.

Eine Weile lang standen wir nur stumm da und ließen die Umgebung auf uns wirken. Die großen bunten Thangkas waren in der Finsternis kaum zu erkennen. Die vielen Farben und Ornamente, die den Tempel schmückten, verloren sich in der Dunkelheit. Unweigerlich richtete sich unser Blick auf die einzige Lichtquelle und die prächtige Statue, die sie beleuchtete, das goldene Gesicht und die blauen Augen des Buddha Shakyamuni.

»Jetzt kennst du die vier Geheimnisse«, flüsterte Seine Heiligkeit in mein Ohr. »Loslösung, Bodhichitta, Shunyata und Guruyoga. Verstehst du nun, weshalb jeder Buddha eine visuelle Erinnerung daran ist?«

Von den Armen des Dalai Lama aus betrachtete ich den Buddha. Verzweifelt bemühte ich mich, zu verstehen, was Seine Heiligkeit meinte, doch es war vergebens. Ich konnte nirgendwo vier Elemente erkennen – es sei denn, der Dalai Lama meinte die vier Extremitäten des Buddha, doch das kam mir eher unwahrscheinlich vor. Es war, als würde er in den Rätseln der Zwielichtsprache sprechen.

Ich halte es nur begrenzte Zeit in den Armen eines Menschen aus, ohne mich unwohl zu fühlen, und so setzte mich Seine Heiligkeit ab, bevor ich ihn darum bitten musste. Ich lief zum nächstgelegenen Objekt – einem Stuhl – hinüber und rieb mein Kinn und dann den übrigen Körper in einer Zurschaustellung indirekter Zuneigung am Stuhlbein. Dabei vibrierte mein steil nach oben gerichteter Schwanz, wie es bei uns Katzen so üblich ist, wenn wir uns ganz besonders wohlfühlen. Der Dalai Lama bemerkte das beinahe elektrische Zittern und kicherte.

Auch die anderen hinter uns beobachteten mich. »Sonderbare Katze«, meinte ein Leibwächter.

»Na, das ist ja mal eine Tautologie«, bemerkte Oliver daraufhin.

»Eine Tautologie?«, fragte Seine Heiligkeit.

»Wenn man ein Wort mit einem anderen wiederholt, zum Beispiel ›sonderbar‹ und ›Katze‹. Alle Katzen sind sonderbar, nicht wahr?«

Der Dalai Lama sah mich mit ernster Miene an. Schließlich nickte er. »Stimmt. Unberechenbar. Rätselhaft.« Er beugte sich vor, um mich zu streicheln. »Und deshalb mögen wir sie so gerne.«