Drittes Kapitel

Man könnte meinen, dass eine so weithin bekannte Katze mit so vielen Namen wie ich einen weiteren Titel kaum zur Kenntnis nehmen würde. Doch wenn ihr das denkt, liebe Leser, dann täuscht ihr euch!

Denn dieser Name war anders als alle anderen. Er wurde mir nicht aufgrund meines Mitbewohners verliehen (KSH), auch war er nicht das Resultat gewisser Umstände (Swami) oder meiner vorteilhaften Gene (Schönste Kreatur auf Erden). Nein, diesen Namen habe ich mir ehrlich verdient, weil ich einer Berufung gefolgt bin. Und er sorgt für tiefe Glückseligkeit – eine Glückseligkeit, die sich fundamental von der kurzlebigen, wenn auch beträchtlichen Freude über, sagen wir, ein Tellerchen mit Mrs. Trincis gehackter Hühnerleber unterschiedet.

Dabei hätte ich meine neue Berufung niemals entdeckt, wäre ich nicht eines milden Dienstagabends über den Innenhof in den Tempel des Namgyal-Klosters spaziert.

Wie gerne würde ich berichten, dass mich der Ruf Geshe Wangpos, der zu den verehrtesten Lamas des Klosters gehörte, an jenem Abend von der Fensterbank gelockt hätte. Doch bedauerlicherweise war es lediglich simple Neugier, die mich antrieb.

Franc und Serena waren in der Vergangenheit regelmäßig zu Geshe-las Lehrvorträgen am Dienstagabend gekommen, hatten sich aber in den letzten Monaten kaum noch blicken lassen. Nun interessiere mich, ob die von Yogi Tarchin ausgelösten Ereignisse der letzten Woche sie dazu bewegt hatte, wieder einmal auf den Sitzkissen im Tempel Platz zu nehmen.

Während sich Seine Heiligkeit lebhaft mit Oliver über die Übersetzung eines neuen Buches unterhielt, schlich ich mich nach unten, über den gepflasterten Innenhof und die gegenüberliegende Treppe hinauf. Dann sprang ich in eine Nische im hinteren Teil des Tempels, die im Lauf der Jahre zu meinem Stammplatz geworden war. Von hier aus konnte ich alles beobachten, was in diesem außergewöhnlichen Raum vor sich ging.

Der Abend war meine liebste Tempelbesuchszeit. Wenn es dunkel wurde, erweckte ein wahres Meer der als Opfergabe dargebrachten Butterlampen die goldenen Gesichter der Buddhastatuen mit ihrem flackernden Licht zum Leben. Die Wandbehänge und anderer Zierrat flatterten leicht in der Abendbrise und erfüllten den Raum mit Prana. An diesem ganz besonderen Ort konnte man die Anwesenheit, die Energie der unzähligen Buddhas und Bodhisattvas förmlich spüren. Ihre erleuchteten Geister wurden von den heiligen Gegenständen und den Ritualen, die hier stattfanden, angezogen wie Gänse von einem Lotossee. Je mehr Zuhörer eintrafen und auf den kastanienbraunen Meditationskissen Platz nahmen, desto stärker wurde dieses Gefühl der Kontaktfreude und Offenheit.

Geshe Wangpos Dienstagsvorlesungen basierten auf dem Lamrim oder »Pfad zur Erleuchtung« – dem wichtigsten Text der Lehrtradition der buddhistischen Schule seiner Heiligkeit. Obwohl es sich beim Großteil der Anwesenden um Mönche aus dem Namgyal-Kloster handelte, standen die Vorlesungen auch den gewöhnlichen Bürgern Dharamsalas offen. Und in der Tat nahmen einige von ihnen daran teil: Ich sah Sam, der den Buchladen des Himalaja-Buchcafés leitete, und seine kanadische Frau Bronnie, außerdem Ewing Klipspringer und Merrilee aus dem Yogaunterricht. Ludo, der sonst immer erschien, fehlte heute aus bekannten Gründen. Serena traf kurz nach mir ein. Sie war völlig verwandelt – der Stress, der sie dazu gebracht hatte, davonzustürmen und den Dalai Lama einfach stehen zu lassen, war wie weggeblasen. Anscheinend hatte diese Episode eine Veränderung unausweichlich gemacht, die schon längst überfällig gewesen war: Sie hatte losgelassen. Franc folgte unmittelbar darauf und setzte sich auf ein Kissen neben sie. Ich sah, wie sich die beiden zulächelten.

Schließlich betrat Geshe Wangpo den Tempel durch den Haupteingang, und das leise Gemurmel machte augenblicklich einer stummen Ehrfurcht Platz. Wie viele Tibeter war er stämmig und muskulös von Gestalt, doch er verströmte nicht nur unbändige Kraft, sondern auch noch eine weitere faszinierende Qualität: unermessliche Güte.

Geshe Wangpo nahm seinen Platz auf dem Lehrerthron ein. Nach den üblichen Lamrim-Rezitationen befand sich der Verstand der Anwesenden in meditativer Versenkung, und Geshe-la ließ den Blick über die erwartungsvollen Gesichter schweifen. »Heute möchte ich über eine Praxis sprechen, die einen der Grundbausteine des tibetischen Buddhismus darstellt, und inwiefern sie sich von anderen Traditionen und buddhistischen Linien unterscheidet«, sagte er. »Uns stehen viele ausgezeichnete Praktiken oder geistige Werkzeuge zur Verfügung – unterschiedliche Praktiken für Menschen mit unterschiedlichem Temperament. Unsere Tradition kennt keine Einheitsgrößen!«

Leises Gekicher erfüllte den Raum. Mir fiel auf, wie verschieden die Persönlichkeiten von Franc, Ludo, Mrs. Trinci und Oliver waren – und trotzdem hatte jeder von ihnen sein Leben durch die Ausübung unterschiedlicher Dharma-Praktiken verändert.

»Es ist völlig egal, welche Meditationspraxis oder Technik euch zusagt – solange ihr dieses zentrale Prinzip nicht beherzigt, ist sie nur von begrenztem Wert.«

Geshe Wangpo hatte die Fähigkeit, seine Lektionen dergestalt zu präsentieren, dass man ihm gebannt zuhörte. Es war, als würde er eine spannende Geschichte erzählen, die seinen Zuhörern den Atem raubte. Selbst wenn sie glaubten, bereits alles zu wissen, hingen sie doch an seinen Lippen und warteten gespannt darauf, dass er ihre Vermutungen bestätigte.

»Im Buddhismus wird Liebe als der Wunsch definiert, anderen zur Glückseligkeit zu verhelfen. Es ist eine immer gültige Wahrheit, dass wir danach trachten müssen, für das Glück anderer zu sorgen. Wer gibt, der wird empfangen.«

Er ließ den Blick über die vor ihm sitzenden und gebannt lauschenden Mönche und anderen Teilnehmer schweifen. »Doch über die Liebe möchte ich heute nicht sprechen.« Seinen blitzenden Augen konnte sich keiner im Raum entziehen.

»Im Buddhismus definieren wir Mitgefühl als den Wunsch, andere von ihrem Leid zu befreien«, fuhr er fort. »Durch die Liebe entsteht der Wunsch, andere mögen Glückseligkeit erfahren, obwohl sie mit Sorgen beladen und mutlos, verärgert oder einsam sind oder sich sonst in einer Notlage befinden. Durch die Herausbildung von Mitgefühl werden wir zur Hilfe motiviert. Ohne Mitgefühl wären wir teilnahmslos. Durch Mitgefühl entwickeln wir Einfühlungsvermögen. Wir können uns vorstellen, wie es ist, in der Haut der anderen zu stecken, und wollen ihr Leid mildern, als wären wir selbst damit geschlagen. Doch so ehrenhaft das auch sein mag« – er machte eine Pause – »heute soll es auch nicht um das Mitgefühl gehen.«

Das Röhren einer Harley-Davidson, die über eine Straße in der Nähe bretterte, störte den Frieden des Tempels. Doch sobald der Lärm vorüber war, schien die Ruhe noch viel tiefer. Es war wie ein die Luft reinigendes Gewitter oder wie die Erleichterung, wenn ein schriller Autoalarm endlich verstummt und einem einige Augenblicke der vollständigen Ruhe vergönnt sind.

»Ich habe Liebe und Mitgefühl an den Anfang meines Vortrags gestellt, weil sie die Voraussetzungen für die Praxis sind, über die ich eigentlich mit euch sprechen will. Den Beweggrund, aus dem wir überhaupt etwas tun.

Als ganz gewöhnliche Lebewesen stoßen wir an Grenzen, wenn wir anderen helfen wollen. Wir können einem Freund in Trauer oder Enttäuschung zur Seite stehen, doch wir können nicht verhindern, dass er auch in Zukunft trauern wird oder Enttäuschungen hinzunehmen hat. Wir können Bedürftigen finanziell unter die Arme greifen, aber kein Geld der Welt schützt sie beispielsweise vor emotionalen Rückschlägen oder Krankheiten.

Im Leben begegnen wir vielen verschiedenen Problemen. Jeder von uns muss mit einer sich ständig verändernden Welt zurechtkommen. Solange wir in der Alltagsrealität aus Geburt, Altern, Krankheit und Tod gefangen sind, müssen wir mit Unwägbarkeiten und Schwierigkeiten leben. Wir müssen damit leben, dass die einzige Sicherheit darin besteht, irgendwann in der Zukunft alles, was wir besitzen und geleistet haben, und jeden, den wir lieben, zu verlieren. Wir werden dieses Leben verlassen und die Realität niemals wieder auf diese Weise wahrnehmen.

Ein tibetischer Buddhist kann ein solches Schicksal nicht hinnehmen, weder für sich noch für andere. Wir wollen mehr, als den anderen nur vorübergehend zur Seite zu stehen. Wir wollen mehr als nur begrenzte Hilfe. Wir wollen eine langfristige Lösung.«

Ich sah mich im Tempel um. Aller Augen waren erwartungsvoll auf Geshe Wangpo gerichtet.

»Man bezeichnet Buddha als erleuchtet, weil er dauerhafte Erfüllung und Freiheit gefunden hat. Zwei Jahrtausende vor der Quantenphysik erkannte er bereits, dass die scheinbar greifbare Realität in Wahrheit nur eine Projektion unseres Verstandes ist. Wenn wir unseren Verstand verändern, verändern wir auch unsere Wirklichkeitserfahrung. Man könnte sagen, dass Buddha das ultimative Selbstentfaltungsprogramm entwickelt hat, mit dem wir nicht nur die konventionelle Realität, das gewöhnliche Leben und den Tod überwinden, sondern auch einen Zustand der ewigen Glückseligkeit erreichen können.

Und das wollen wir sowohl für uns selbst als auch für andere. Keine Notbehelfe, die sich an einer unzureichenden Realitätsvorstellung orientieren. Sondern eine dauerhafte Lösung, die darauf gründet, wie die Dinge in Wahrheit sind.«

Geshe-la beugte sich vor und senkte bedeutungsschwer die Stimme. »Der Wunsch, Erleuchtung um aller Lebewesen willen zu suchen, wird als Bodhichitta bezeichnet. Das ist unsere wichtigste Praxis. Indem wir uns wünschen, anderen zum Glück zu verhelfen und sie nicht nur kurzfristig, sondern dauerhaft vom Leid zu befreien, machen wir Bodhichitta zu unserer Lebensaufgabe. Wir wollen die Buddhaschaft erlangen, um allen anderen Lebewesen dabei zu helfen, ebenfalls diesen Zustand zu erreichen. Eine selbstlosere und weitsichtigere Absicht ist unvorstellbar.«

Geshe Wangpos Fazit war so erhebend, dass es wie eine Welle durch den Tempel rauschte und ein Lächeln auf die Gesichter derjenigen Anwesenden zauberte, die diese Schlussfolgerung bereits erahnt hatten.

»Bodhichitta ist nicht nur die größte vorstellbare Form von Altruismus, sondern auch in sich selbst eine direkte Ursache der Erleuchtung.« Der Lama bedachte sein Publikum mit einem milden Lächeln. »Warum ist das so?«

Aus der ersten Reihe waren mehrere gemurmelte Antworten zu hören. »Karma«, sagte ein Mönch schließlich mit fester, klarer Stimme.

Geshe Wangpo nickte. »Sehr gut. Wenn unsere Handlungen von Bodhichitta motiviert sind, hat ein und dieselbe Tat völlig andere Auswirkungen. Wie ihr sicher wisst, gehören zu den Faktoren, die dem Karma sein Gewicht verleihen, nicht nur das Objekt, sondern auch – was viel wichtiger ist – die Absicht.

Durch Bodhichitta reinigt man sich am gründlichsten von allem Negativen und sammelt am effektivsten positive Wirkungen an, da das Objekt unserer Motivation jedes lebende Wesen im Universum ist. Wir wollen nicht nur einer Person, einer Gruppe von Menschen oder anderen Kreaturen helfen. Nein! Es geht um alle Lebewesen, und die sind unzählig.« Er wartete, bis seine Zuhörer diese Worte verarbeitet hatten.

»Und was die Absicht angeht: Wir wollen, dass sie erleuchtet werden – eine edlere Motivation kann es nicht geben. Wir wollen nicht nur, dass Kranke gesund werden, Mittellose das bekommen, was sie brauchen, oder Unglückliche Trost finden. Wir sorgen uns nicht allein um die Bedürfnisse dieses Lebens, des Hier und Jetzt, sondern wollen, dass alle dauerhaft vom Samsara befreit werden und vollständige und vollkommene Erleuchtung finden. Es heißt, dass selbst ein Körnchen, das man mit ehrlicher Bodhichitta-Absicht einem Vogel zu fressen gibt, unabsehbare Konsequenzen hat. So mächtig ist Bodhichitta. Ja,« – und damit wandte sich Geshe Wangpo wieder dem Mönch zu – »Karma ist eine Ursache dafür, dass uns Bodhichitta zur Erleuchtung führt. Gibt es noch weitere?«

Mir war schon früher aufgefallen, dass Geshe Wangpo während seines Unterrichts lieber das Publikum miteinbezog, als lange Monologe zu halten. Das hatte zur Folge, dass die Veranstaltung weniger einem Vortrag als einem Gespräch ähnelte, an dem die Zuhörer aktiv teilnehmen konnten.

Ich konnte die vielen Antworten auf die Frage nicht so richtig verstehen, doch irgendwann rief er: »Ganz genau! Wir sind, was wir denken. Und wenn wir uns mit Bodhichitta vertraut machen und unsere alltäglichen Handlungen danach ausrichten, üben wir Schritt für Schritt unseren Verstand und gewöhnen ihn an den Erleuchtungsgeist, wie Bodhichitta auch genannt wird.

Für den Anfang müssen wir nicht anders handeln als zuvor, doch wir sollten uns dabei nach Möglichkeit auf die Bodhichitta-Motivation besinnen. Wenn wir beispielsweise Tee für einen Freund zubereiten oder eine Münze in eine Spendenbüchse werfen, besinnen wir uns: Möge diese Handlung Ursache meiner Erleuchtung um aller Lebewesen willen sein. Je öfter wir diesen Satz wiederholen, desto stärker wird er Teil unseres Gewohnheitsdenkens, genau wie die Maske irgendwann zur Person selbst wird. Das ist buddhistische Psychologie.« Er lächelte. »Im Westen nennt man das Lernen am Modell – wir orientieren uns in unserem Verhalten an jemandem, der das Ziel, das wir uns gesetzt haben, bereits erreicht hat. Das ist genau dasselbe.«

»Aber wenn ich das tue, komme ich mir irgendwie unehrlich vor.« Dieser unverwechselbare Tennessee-Akzent gehörte Merrilee, einer langjährigen Schülerin Ludos in der Yogaschule des Herabschauenden Hundes. »Ich hätte die Münze doch sowieso in die Büchse geworfen.«

Geshe Wangpo sah zu ihr hinüber und nickte. »Besonders in der Anfangsphase müssen wir unserem Bodhichitta auf die Sprünge helfen.« Er verstummte und setzte ein boshaftes Grinsen auf. »Zunächst ist es mehr Schein als Sein! Fake it till you make it.«

Hier und da ertönte Gelächter im Raum.

»Die Bedeutung von Bodhichitta zu verstehen ist eine Lebensaufgabe. Wir müssen ebendort anfangen, wo wir gerade stehen. Mit der Zeit wird unser Vertrauen auf Bodhichitta durch Zuhören, Nachdenken und Meditieren den Punkt erreichen, an dem es von Herzen kommt. Ganz spontan. Und dann werden unsere Handlungen ein wahrer Quell der Freude für uns und für andere.«

Eine Zeit lang dachten alle in der Gönpa schweigend über seine Worte nach. Nur die Zierknöpfe am unteren Abschluss der Thangkas schlugen in der sanften Brise, die durch die Fenster wehte, leicht gegen die Wand. Sonst war alles ruhig.

Dann durchbrach eine Stimme die Stille: »Aber wer bin ich denn, dass mir die Erleuchtung zuteilwerden sollte?« Sie gehörte einem jungen Mann, allem Anschein nach einem Rucksacktouristen aus Europa. Ich hatte ihn noch nie zuvor im Tempel gesehen. Er saß aufrecht auf seinem Meditationskissen, hatte verwuscheltes schwarzes Haar, olivfarbene Haut, feine Gesichtszüge und war von einer melancholischen Aura umgeben.

Geshe Wangpo sah ihn mit durchdringendem Mitgefühl an. »Wer bist du denn, dass sie dir nicht zuteilwerden sollte? Auch Buddha war einst ein gewöhnlicher Mann. Ein fehlbarer Mann. Zum Glück für uns hat er nicht nur die Erleuchtung erlangt, sondern uns auch noch den schnellsten Weg dorthin gezeigt.« Geshe Wangpo erwiderte unverwandt den Blick des jungen Mannes, und irgendwie beschlich mich der Eindruck, als würde ihn irgendetwas dazu anleiten, die folgende Erklärung nicht nur an ihn, sondern an alle Zuhörer zu richten.

»Die Vorstellung, nicht fähig zur Erleuchtung zu sein, ist genau das – nur eine Vorstellung. Ein Gedanke. Ein Konzept, das jeder realen Grundlage entbehrt. Und weil diese Vorstellung keinen Nutzen für dich hat« – er zuckte mit den Schultern – »solltest du sie loslassen. Verleihe ihr keine zusätzliche Kraft, indem du ihr deine Aufmerksamkeit schenkst. Gestehe ihr keine Wirklichkeit zu, die sie gar nicht besitzt.«

Wie so oft, wenn ich hochgelehrten Lamas lauschte, kam es mir auch an diesem Dienstagabend im Tempel bei Geshe Wangpo so vor, als wäre die Erleuchtung tatsächlich möglich, als wäre sie zum Greifen nah, als müsste man nur von einem Raum in den anderen treten. Dies lag zweifellos nicht nur an Geshe-las Worten, sondern auch an seiner Präsenz. Er vermittelte uns eine winzige Ahnung davon, wie sich die Erleuchtung anfühlen musste, und damit traten alle Alltagssorgen und profanen Gedanken in den Hintergrund. Stattdessen empfand man tiefen und zeitlosen Frieden.

Dieses durch die Weisheit von Bodhichitta hervorgerufene Gefühl verließ mich auch in der nächsten Zeit nicht.

Ein paar Tage später sprang ich gerade auf die Fensterbank, um die morgendlichen Sinneseindrücke zu genießen, als mir plötzlich ein verführerischer Duft in die Nase stieg. Ein Duft, der einst fester Bestandteil meines Lebens gewesen war, den ich jedoch seit Monaten nicht mehr wahrgenommen hatte. Ein Duft, den ich beinahe vergessen hatte. Ich konnte nicht anders – ich musste mich auf die Suche nach seinem Ursprung machen.

Ich lief die Treppe hinunter, durchquerte den Innenhof und schlüpfte durch das Palasttor. Doch anstatt mich wie sonst nach rechts in Richtung Himalaja-Buchcafé zu wenden, schlug ich die entgegengesetzte Richtung ein. Ein kurzes Stück die Straße hinunter befand sich auf derselben Seite wie das Namgyal-Kloster ein kleiner Garten und dahinter ein Altenheim.

Den liebevoll gepflegten Garten mit seinen üppigen Blumenbeeten und dem sorgfältig gestutzten Rasen hatte ich bereits kurz nach meiner Ankunft in Dharamsala erkundet. Eine stattliche Zeder ragte in seiner Mitte auf. Darunter stand eine Holzbank, auf der aber nur selten jemand saß.

Irgendwann hatte ich herausgefunden, dass derjenige, der sich mit solcher Hingabe um den Garten kümmerte, niemand anders war als ein Mann, den ich in meinen Anfangstagen im Namgyal-Kloster als meinen ganz persönlichen Erzfeind betrachtet hatte: der Chauffeur seiner Heiligkeit. Ich hatte den großen, stämmigen Mann zunächst für ungehobelt und unfähig zu jener diplomatischen Freundlichkeit gehalten, die die übrigen Mitarbeiter Seiner Heiligkeit auszeichnete. An einem meiner ersten Tage im Namgyal hatte ich eine Maus unter den Bodendielen gehört. Es war mir gelungen, sie zu fangen. Triumphierend war ich mit dem Schädling im Maul in das Assistentenbüro stolziert. Doch dort hatte plötzlich jeder alles liegen und stehen lassen, um die Maus – die noch lebte – zu retten und sich über mein ungebührliches Betragen zu empören. Der Chauffeur Seiner Heiligkeit hatte mich nur kurz angesehen und prompt einen Spitznamen für mich parat gehabt: Mausie-Tung.

Diesen Namen hatte ich sofort gehasst – und schlimmer noch: Weil er so teuflisch gut passte, hatte ich große Angst gehabt, ihn nicht mehr loszuwerden und auf ewig mit diesem Übel assoziiert zu werden. Ich schlich beleidigt davon. Dabei richtete sich mein Zorn selbstverständlich nicht gegen mich selbst, weil ich so sklavisch meinen Instinkten gefolgt war und darüber das Prinzip der Gewaltlosigkeit vergessen hatte. Nein, es war ja viel einfacher, wütend auf den Chauffeur zu sein. Glücklicherweise erfuhr der Spitzname keine nennenswerte Verbreitung: Der Chauffeur blieb der Einzige, der mich so nannte.

Im Lauf der Jahre lernte ich ihn besser kennen und sah ihn bald in einem ganz anderen Licht. Seine massige Statur mochte insbesondere einer kleinen Katze mit schwachen Beinchen bedrohlich vorkommen, sein Wesen jedoch war von großer Freundlichkeit. Er kümmerte sich aus reiner Herzensgüte um das kleine Stück Niemandsland neben dem Altenheim, um den Bewohnern in ihren letzten Lebenstagen eine Freude zu machen.

Der auf den ersten Blick so schroffe Riese hatte auch mir etwas Gutes tun wollen, obwohl mir das anfangs völlig entgangen war. Doch als er den Garten angelegt hatte, hatte seine liebende Güte nicht allein den Bewohnern des Altenheims gegolten. Vor mehreren Jahren hatte mich genau dieser Duft aus dem Schlaf gerissen, der auch heute Morgen meine Aufmerksamkeit erregt hatte. Damals hatte mich mein Instinkt direkt in jenen Garten und zu mehreren Pflanzen mit herzförmigen Blättern und weißen Blüten geführt. Erst später erfuhr ich, dass es sich um Katzenminze handelte – und dass sie der Chauffeur zu meiner ganz persönlichen Erquickung gepflanzt hatte.

Heute mühte ich mich also wie damals die wenigen Steinstufen hinauf, die von der Straße in den Garten führten, überquerte den Rasen zu dem Blumenbeet, aus dem der betörende Duft aufstieg. Ich kaute auf den grünen Halmen herum, leckte an den Stängeln und rieb mein Gesicht an den Blättern. Ein unbezähmbarer Drang überkam mich, und ich warf mich mitten in das Beet, wobei ich Stiele zerquetschte und Blüten auf mich regnen ließ.

Doch das war mir völlig egal. Ich gab mich hemmungslos meinem Verlangen nach diesem berauschenden Duft hin, streckte mich inmitten der Katzenminze aus, rollte mich wieder zusammen, schnurrte und frohlockte und genoss jeden wonnigen Augenblick!

Irgendwann ließ die Anziehungskraft des Duftes nach. So war es immer. Anstatt mich weiter durch die Katzenminze zu rollen, genoss ich träge die Nachwirkung des rauschhaften Zustands.

Eine halbe Stunde später kroch ich aus dem Beet und schüttelte die Blätter von mir ab. Nach einer kleinen Katzenwäsche sah ich zum Altenheim hinüber. Erst jetzt bemerkte ich, dass auf der Terrasse eine Gruppe von sechs Bewohnern in Korbstühlen neben einem Teewagen saß. Etwas weiter entfernt hatten es sich zwei weitere Senioren gemütlich gemacht. Selbstverständlich waren sie mir auch bei meinen früheren Besuchen aufgefallen, doch ich hatte ihnen keine große Beachtung geschenkt – schließlich saßen sie stumm und steif wie die Statuen da. Nur gelegentlich hob einer seine Teetasse oder setzte sie wieder ab. Ich pflegte zwar nach meiner Katzenminze-Ekstase in wohliger Zufriedenheit den Garten zu durchstreifen, die Terrasse des Altenheims dagegen war mir nie besonders interessant erschienen.

Was heute jedoch meine Aufmerksamkeit erregte, waren weniger die Senioren selbst, sondern das, was sich hinter ihnen befand: eine offen stehende Tür!

Eine gläserne Schiebetür, die bis dato stets verschlossen gewesen war, wovon ich mich selbstverständlich bei früheren Besuchen überzeugt hatte. Mehr als einmal hatte ich meine Nase an der Scheibe plattgedrückt und vergeblich zu erkennen versucht, was sich hinter dem getönten Glas und den Vorhängen wohl befinden mochte. Doch vergebens. Heute aber standen mir Tür und Tor offen. Konnte es eine deutlichere Einladung geben?

Ich kletterte den sanft ansteigenden kleinen Steingarten hinauf und schlich durch ein Blumenbeet. Sobald ich zwischen den Schmucklilien auftauchte, gerieten die zum Morgentee auf der Terrasse versammelten Senioren in helle Aufregung.

»Was für eine schöne Katze!«, rief eine.

»Hübsche Fellzeichnung«, bemerkte eine weitere.

»Sind ihre Augen wirklich blau?«, fragte ein Dritter.

Versteht sich, dass ich als Schönste Kreatur auf Erden anhimmelnde Bewunderung bis zum Überdruss kenne. Manchmal wünsche ich mir sogar, inkognito durch die Straßen ziehen zu können wie eine ganz gewöhnliche, triste Katze von unbestimmter Fellfarbe. Aber nein! Wo ich auch hinkomme, dreht man sich nach mir um.

Doch dass auch die Altenheimbewohner auf der bisher so ruhigen Terrasse plötzlich auf mich deuteten und aufgeregte Rufe ausstießen, erstaunte mich aus einem einfachen Grund: Ich hätte sie nicht für dazu fähig gehalten. Darüber hinaus hatte ich sie stets nur als Einheit betrachtet, als eine homogene Gruppe, deren Mitglieder sich nicht groß voneinander unterschieden. An diesem Morgen begriff ich, dass es sich um Individuen handelte. Mit eigenen Namen. Ich blieb auf der Terrasse stehen und ließ mich von einer alten Dame – Rita, wie ich später herausfinden sollte – streicheln und mir Komplimente für meinen flauschigen Schwanz machen, bevor ich mich zu meinem eigentlichen Ziel weiterbewegte – in das Altenheim hinein.

Ich fand mich in einem großen Aufenthaltsraum wieder. An den Wänden standen Stühle, Sofas und niedrige Tische mit Zeitschriften, den aktuellen Tageszeitungen und Lampen, die warmes Licht spendeten. Geschmackvolle Bilder hingen an den Wänden. Am bemerkenswertesten fand ich jedoch die zehn Personen, die statuengleich in ihren Sesseln saßen. Irgendwann hatte ich einmal jemanden von einem Wachsmuseum reden hören – genau so stellte ich mir die Figuren dort vor. Einige hatten den Kopf auf der Rückenlehne des Sessels abgelegt, anderen war er zur Seite gekippt. Wieder andere starrten teilnahmslos ins Nichts. Sie regten sich kaum.

Als ich mich weiter umsah, fiel mir nur eine Frau auf, die nicht im Halbschlaf dahindämmerte. Geeta saß ganz alleine da und bewegte den Mund, als würde sie mit jemandem sprechen. Doch es war kein Laut zu hören.

Christopher – ein großer Mann mit einem weißen Haarschopf – bemerkte mich als Erster. »Eine Katze!«, rief er so begeistert aus, als hätte soeben die Königin von Saba höchstselbst den Raum betreten.

Christopher hatte mehr oder weniger ein ganzes Sofa für sich allein in Beschlag genommen. Da ich nicht hinausgeworfen werden wollte, ohne mich gründlich umgesehen zu haben, belohnte ich seine Begeisterung, indem ich hinüberlief und zu ihm aufs Sofa sprang. Ohne zu zögern, streckte er die Hand aus und streichelte mich kichernd.

»Ach, das bringt Erinnerungen zurück!«, sagte er mit brüchiger Stimme, von Gefühlen überwältigt. »Unser Jack ist vor mehr als zwanzig Jahren gestorben. Seither habe ich keine Katze mehr gestreichelt …«

Ich sah ihn mit meinen großen, saphirblauen Augen an und bemerkte, dass sich seine mit Tränen füllten. Seine großen, von Altersflecken übersäten Hände zitterten, und sein Jackett mit den ausgefransten Ärmeln hatte auch schon bessere Zeiten gesehen.

Normalerweise hätte ich mich schnell wieder aus seinen Armen gewunden, doch er streichelte mich mit solcher Gemütsregung, dass ich unwillkürlich an Geshe-las Lektion von letztem Dienstag erinnert wurde. Und daher dachte ich: Möge diese Handlung Ursache meiner vollständigen Erleuchtung um aller Lebewesen willen sein. Ein Gedanke, bei dem mir die Behandlung, die mir soeben widerfuhr, sofort um einiges angenehmer vorkam, liebe Leser. Ich schmiegte mich sogar an ihn und schnurrte.

»Ach, ein richtiger Engel!«, verkündete Christopher.

Auch die anderen erwachten nun aus ihrer Lethargie. Mehrere versuchten, mich mit Handbewegungen und Zungenschnalzen zu sich zu locken. Ich rieb mich noch einmal an Christophers Brust und seinem Arm, wobei ich die Haare meines cremefarbenen Fells großzügig darauf verteilte, dann verließ ich das Sofa und kehrte auf den Teppich zurück.

Die anderen Heimbewohner riefen nun noch lauter und winkten energischer. Ich entschied mich für eine muntere Frau im Rollstuhl, die auf ihren Schoß klopfte. Aufgrund meiner schwachen Hinterbeine kann ich nicht besonders gut springen, doch Yvette war so begeistert von mir, dass sie die mangelnde Anmut gar nicht bemerkte. Sie streichelte mich eifrig. »Ach, nun sieh sich einer diese Augen an«, säuselte sie.

Weitere alte Damen standen auf und humpelten zu mir herüber. Die Hände mit den vielen Ringen, der schlechte Atem und die allgemein stickige und nach Medikamenten riechende Luft waren alles andere als angenehm. Doch wie schon auf dem Sofa des Alten wiederholte ich die Bodhichitta-Motivation: Möge diese Handlung Ursache meiner vollständigen Erleuchtung um aller Lebewesen willen sein. Und wieder kam es mir gar nicht mehr so schlimm vor, zum Zentrum der Aufmerksamkeit erklärt und geknetet und gedrückt zu werden.

Und Aufmerksamkeit erregte ich, so viel war sicher. Ein Bewohner verkündete, dass ich ganz ohne Frage der Höhepunkt des Tages sei. Ach was, wies ihn ein weiterer schnell zurecht – der Woche! Vielleicht sogar des Monats! Das Interesse, die Freude und Begeisterung im Raum waren deutlich zu spüren. Jetzt saß keiner mehr herum wie eine Wachsfigur. Alle hatten nur noch Augen für mich.

Ich verließ Yvettes Rollstuhl und gesellte mich zu mehreren Senioren auf einem Sofa – fest entschlossen, mich an jeden Anwesenden zu schmiegen und dabei die Bodhichitta-Motivation zu wiederholen. Hatte Geshe-la nicht gesagt, dass sich diese Absicht umso stärker in unseren Gedanken festsetzt, je öfter wir sie wiederholen? Aus der Maske wird die Person selbst. Buddhistische Psychologie. Noch während ich die Absicht wiederholte, spürte ich, dass ich mehr tun wollte. Hätte ich mich doch nur vervielfältigen können, um mich um jeden Einzelnen zu kümmern.

Einer Legende zufolge war Avalokiteshvara, der Buddha des Mitgefühls, kurz davor, das Nirwana zu erreichen, als er sich umsah und ein Kaninchen in Nöten erblickte. Er brachte es nicht über sich, das Tier weiter leiden zu lassen, und so sagte er Amitabha Buddha, dass er zurückkehren und dem Kaninchen helfen musste. Dabei bemerkte Amitabha, dass es im Samsara viele leidende Wesen gab. Um Avalokiteshvara bei seinem Vorhaben zu unterstützen, verlieh ihm Amitabha tausend Hände und Arme.

Hätte ich in diesem Moment doch nur tausend Pfoten und flauschige Schwänze gehabt!

Während ich meine Runde drehte, bemerkte ich eine blasse, ausgezehrte Frau, die ganz allein in einem Sessel in einer Nische saß. Sie hatte Luftschläuche in der Nase und schien kaum noch die Kraft aufzubringen, ihren Kopf zu heben. Ihre Hände hingen schlaff an den Seiten herab, doch ihre freundlichen, interessierten Augen waren auf mich gerichtet.

Ich lief zu ihr hinüber und sprang auf das Kissen neben ihr. Sie trug nur einen dünnen Morgenmantel. Ihre Arme waren spindeldürr, die Wangen eingesunken. Auf ihrer Stirn zeichneten sich deutlich die Adern unter der Haut ab. Doch als sie mich mit dankbarer Herzlichkeit anblickte, änderte sich ihre Miene, und durch ihr Lächeln war sie wie verwandelt.

Sie hob einen Arm und streichelte mich. Ich schnurrte wohlig und so laut ich konnte, während ich erneut die Bodhichitta-Motivation wiederholte. Dabei lauschte ich den Kommentaren der Umstehenden.

»Sie hat seit Monaten nicht gelächelt«, sagte eine Stimme.

»Ich hätte nicht gedacht, dass sie ihre Hände überhaupt noch bewegen kann«, warf eine zweite ein.

»Sie hat immer über ihre Katzen gesprochen, als wären es ihre Kinder«, fiel einer dritten ein.

So ging es immer weiter, und es wurde immer lauter im Aufenthaltsraum, bis eine weitere Stimme den Lärm übertönte – eine klare, etwas jüngere, aber sehr durchsetzungsfähige Stimme.

»Wir haben Besuch?« Ich sah eine matronenhafte Altenpflegerin in weißer Uniform, die mich mit kühlem Blick musterte.

»Sehen Sie sich mal Hilda an!«, rief ein Heimbewohner. »Wir wussten gar nicht, dass sie ihre Arme noch bewegen kann.«

»Das Tier sollte nicht so nahe bei ihr sein.« Die Pflegerin kam immer näher heran »Sie hat bereits Atembeschwerden. Sie könnte einen allergischen Schock bekommen!«

»Sie ist Katzen gewohnt. Sie hatte jahrelang welche«, warf eine zitternde Stimme ein.

»Sie liebt Katzen!« Christopher sprach das Offensichtliche aus.

»Aber diese kommt doch … direkt von der Straße«, sagte die Pflegerin und deutete auf die offen stehende Tür. »Sie könnte alle möglichen Krankheiten mit sich herumschleppen.«

Ich warf ihr einen herrischen, gebieterischen und gleichzeitig vernichtenden Blick zu. Krankheiten? Ich? Sie wusste wohl nicht, wen sie hier vor sich hatte.

»Hier geht es ja hoch her!«, stellte eine weitere Stimme fest. Sie gehörte einen Mann mit einem Stethoskop um den Hals, der den Raum durch denselben Flur betrat wie die Pflegerin vorhin. Er warf uns einen Blick zu. »Verstehe«, sagte er.

»Es ist sicher besser, wenn wir das Tier entfernen«, sagte die Pflegerin.

»Wie kommen Sie denn auf die Idee, Mrs. Chapman?«

»Nun ja … der Asthmakranken wegen.«

Der Mann sah sich mit liebenswürdigem Blick um. »Hat hier jemand eine Katzenallergie?«

»Ja, ich!«, sagte die Pflegerin.

»Ich meinte eigentlich die Bewohner. Ihnen kann ich bei Bedarf gerne ein Antihistaminikum verschreiben.«

In der Vergangenheit war mir erst eine einzige Person mit einer Katzenhaarallergie begegnet. Die allerdings hatte mir das Leben sauer gemacht und sogar versucht, mich aus dem Himalaja-Buchcafé zu verbannen. Doch so weit war es dank der Geistesgegenwart des Oberkellners Kusali nicht gekommen. Trotzdem – seither hegte ich katzophoben Menschen gegenüber ein gesundes Misstrauen.

»Hilda hat bereits Atembeschwerden«, bemerkte die Pflegerin.

»Aber sehen Sie sich die Frau doch an«, sagte der Arzt. »Sie ist wie verwandelt.«

Mrs. Chapman legte den Kopf schief. »Ja.« Allmählich wurde ihr klar, dass sie auf verlorenem Posten stand. »Sieht wohl so aus.«

»Haustiere können eine sehr segensreiche therapeutische Wirkung haben. Freuen Sie sich nicht alle über unseren Gast?«, fragte er in die Runde.

Er erntete begeisterte Zustimmung.

Ich hatte zwar noch nicht viel Zeit auf Hildas Stuhl verbracht, doch ich spürte, dass sie müde wurde. Ich sprang herunter und lief durch den Raum zur Tür. Unter dem enttäuschten Seufzen der Heimbewohner entschwand ich ebenso unvermittelt und geheimnisvoll, wie ich gekommen war.

Ich stattete dem Altenheim einen weiteren Besuch ab, liebe Leser. Nicht an demselben Tag, noch nicht mal in derselben Woche. Doch als ich in der darauffolgenden Woche auf meiner Fensterbank lag, roch ich abermals den unverwechselbaren, verführerischen Duft der Katzenminze. Da es ein wunderschöner, klarer Vormittag war, beschloss ich, dem Garten einen weiteren Besuch abzustatten. Erneut amüsierte ich mich prächtig und bemerkte dabei auch wieder die alten Leute auf der Terrasse.

Diesmal erfolgte ihre Reaktion weitaus schneller und begeisterter. »Sie ist zurück!«, rief ein Mann mit leuchtenden Augen, als ich noch halb in den Schmucklilien steckte. »Da drüben!« Er deutete auf mich.

Nur Augenblicke später versuchte jeder auf der Terrasse, mich zu sich zu locken. Ich ging von einem zum anderen, schmiegte mich innig an jedes Bein und wiederholte dabei meine Bodhichitta-Motivation. Dann entstand eine Unruhe im Aufenthaltsraum, als sich die alten Leutchen aus den Sesseln erhoben und auf den Weg zur Terrasse machten.

Ich ersparte ihnen die Mühe, indem ich ihnen entgegenkam. Von allen Heimbewohnern wollte ich ganz besonders eine wiedersehen, und die war nicht auf der Terrasse. Ich schlich durch die Tür, sah mich um, genoss das strahlende Lächeln und die winkenden Arme, die freudigen und sogar flehentlichen Rufe.

Sie saß an genau derselben Stelle wie beim letzten Mal, reglos und offensichtlich auch nicht mehr in der Lage zu sprechen. Und doch war ihr Blick erneut voll warmer Zuneigung. Ich steuerte direkt auf sie zu.

»Ach, Hilda ist die Glückliche«, rief Yvette ohne den kleinsten Funken Missgunst, als freute sie sich insgeheim über die Richtung, die ich eingeschlagen hatte.

»Genau wie beim letzten Mal«, sagte eine andere.

»Da hat sie sich von allen streicheln lassen«, bemerkte eine Dritte.

»Wer? Hilda?«, fragte ein Mann mit gespielter Ahnungslosigkeit.

»Christopher, du Frechdachs«, ermahnte ihn jemand.

Und so wechselten die schlagfertigen Bemerkungen hin und her, während ich zu Hilda hinaufsprang und schnurrte, als sie mich streichelte. Ich stieß leicht mit dem Kopf gegen ihr Herz, sah ihr dann in die Augen und spürte, wie sehr sie den Kontakt mit einer Katze vermisst hatte und wie überaus erfreut sie über meinen Besuch war. Und währenddessen wiederholte ich ständig meine Bodhichitta-Motivation.

Als ich meine Runde drehte, erkannte ich gewisse Bewohner an dem Stoff der Kleidung, die sie trugen, am Klirren eines Armbands oder einem bestimmten Gesichtsausdruck. Wieder nahm ich sie nicht als anonyme Gruppe, sondern als Individuen wahr. Ich spürte, was jeder von ihnen fühlte, wenn er mich auf dem Schoß hatte, mein Fell an seinem Arm spürte, mich schnurren hörte, und ich begriff, welch große Freude ich ihnen allen bereitete. Und dabei, liebe Leser, überkam mich selbst auch eine tiefe Glückseligkeit, die von ganz anderer Natur war als die Freude über die Katzenminze, die einem das Wasser im Mund zusammenlaufen und die Haut kribbeln lässt. Nein, es war das Gefühl tiefen Wohlbefindens, das sich einstellt, wenn man gibt und nicht nimmt. Wenn man sich den Herzen und Köpfen der anderen in Liebe verbunden fühlt.

Doch nicht jeder im Altenheim war bereit für eine solche Verbindung. Noch nicht, zumindest. Es dauerte nicht lange, da kam Mrs. Chapman, um nach der Ursache der Unruhe zu sehen. Sobald sie mich erblickte, hatte sie ihre Antwort. Sie brachte es zwar nicht über sich, mich vom Schoß einer im Rollstuhl sitzenden Dame zu entfernen, besonders begeistert über meinen Anblick war sie aber auch nicht.

Dies änderte sich erst, als ich mich Christopher zuwandte. Der »Frechdachs« war etwas jünger als die anderen und hatte ein schelmisches Funkeln in den Augen. Als ich auf seinen Schoß sprang, bemerkte ich kleine Farbflecken auf seiner Cordhose. Seinen Fingern haftete ein starker, aber nicht unangenehmer Geruch an, den ich schon bald erkannte: Ölfarbe.

Die Pflegerin sah nach ihren Schützlingen auf der Terrasse, während sich das muntere Treiben im Aufenthaltsraum fortsetzte. Kurz darauf betrat eine weitere Frau den Raum. Sie wirkte fröhlich, strahlte aber auch eine gewisse Strenge aus. Schnell hatte sie herausgefunden, wer für die Aufregung verantwortlich war, und kam auf mich zu.

»Also du bist das also. Von dir habe ich schon so viel gehört!«, rief sie, ging in die Hocke und streichelte mich. »Wirklich wunderschön. Sicher eine Rassekatze«, bemerkte sie.

Die Pflegerin war zurück und blickte über die Schulter der Frau.

»Sie hat richtig Leben in die Bude gebracht. So aus dem Häuschen waren die Bewohner noch nie.«

»Mrs. Chapman hat sie für uns aufgetrieben.« Christopher sah mit einem Funkeln in den Augen zur Pflegerin auf. »Das ist eine Therapiekatze.«

»Gute Idee, Claire!« Die Frau wandte sich zur Pflegerin um. »Eine echte Bereicherung. Ich hoffe, dass wir unsere vierbeinige Besucherin in Zukunft noch öfter begrüßen dürfen.«

Eine unerwartete Wendung, doch Mrs. Chapman strich nur zu gerne die Lorbeeren ein. »Sehr gern«, sagte sie. »Sie ist hier jederzeit willkommen.«

Mehrere Wochen später saß ich auf meiner Fensterbank, während der Dalai Lama, Tenzin und Oliver ihre Tagesabschlussbesprechung abhielten.

»Gibt es noch etwas Neues?«, fragte Seine Heiligkeit, nachdem die offiziellen Angelegenheiten abgehandelt waren.

Die drei Männer lehnten sich zurück. »Ja, es gibt eine Neuigkeit, was ein bestimmtes Mitglied Eures Haushalts angeht«, sagte Oliver belustigt.

»Ach ja?« Der Dalai Lama blickte mal wieder verschmitzt drein.

»Vor ein paar Tagen habe ich Marianne Ponter in der Stadt getroffen – Ihr wisst schon, die Leiterin des Altenheims gleich in der Nähe.« Er deutete mit dem Kopf in die entsprechende Richtung.

»Aber natürlich.«

»Sie hat mir von einer großen Neuerung dort erzählt. Seit Jahren versuchen sie schon, das Interesse der Heimbewohner zu wecken, Konversation und Aktivität zu fördern.«

»So bleibt man jung«, bemerkte Seine Heiligkeit.

»Ganz genau.« Oliver nickte. »Sie haben alles Mögliche ausprobiert. Brettspiele, Computerspiele, Ausflüge, Tai-Chi. Doch nichts war annähernd so effektiv wie die Besuche einer Therapiekatze.«

Der Dalai Lama und Tenzin sahen sich ratlos an.

»Angeblich ist das heutzutage das Mittel der Wahl in solchen Einrichtungen. Wenn die Bewohner Katzen oder Hunde haben, mit denen sie spielen können, erfüllt das das ganze Heim mit neuem Leben.«

Seine Heiligkeit und Tenzin nickten. »In Gegenwart unserer Haustiere«, bemerkte der Dalai Lama, »können wir ganz wir selbst sein. Wir müssen niemandem etwas vormachen.«

»Sie erinnern uns an unsere Kindheit«, fügte Tenzin hinzu.

»Marianne zufolge ist diese Therapiekatze ein ganz besonders hübsches Exemplar. Angeblich hat sie große blaue Augen und ein kohlschwarzes Gesicht. Und sie humpelt leicht.«

Alle drei wandten sich zu mir um.

»Marianne sagt, dass sie ausgezeichnet mit den Patienten arbeitet, insbesondere mit den gebrechlicheren. Eine Bewohnerin beispielsweise hat sich seit Wochen kaum bewegt, brachte aber genug Energie auf, um die Therapiekatze zu streicheln.«

»Therapiekatze.« Nun hatte auch Seine Heiligkeit den neuen Titel ausgesprochen. Er sah mich an. »Wir Buddhisten können natürlich auch einfach Bodhikatzva sagen.«

Die Männer lachten.

»Es freut mich, dass sie eine Quelle der Liebe und des Mitgefühls ist«, fuhr der Dalai Lama fort. »Wenn dies vom Bodhichitta motiviert ist, dann stellt es eines der wichtigsten Elemente unserer Praxis dar.«

»Ein weiteres der vier Elemente, die Ihr bereits erwähnt habt.« Damit schlug Oliver den Bogen zu dem Gespräch, das sie vor nicht allzu langer Zeit geführt hatten.

»Ah, richtig«, sagte Seine Heiligkeit lächelnd. »Die vier Geheimnisse des Glücks.«

Kurz darauf verabschiedeten sich die Assistenten. Seine Heiligkeit kam zur Fensterbank herüber, und wir genossen eine Weile lang in Stille die Gesellschaft des anderen. Er musste mir weder zu meinem erleuchteten Handeln gratulieren noch mich zu größeren Anstrengungen ermutigen. So gering mein Beitrag auch gewesen sein mochte – ich hatte am eigenen Leib das herzerwärmende Gefühl erfahren, das sich bei der Ausübung von Bodhichitta einstellt. Selbst wenn es am Anfang tatsächlich mehr Schein als Sein gewesen sein mochte, waren die Resultate durchaus spürbar. Warum sollte ich also damit aufhören wollen?

»Und damit kommen wir zum zweiten Element, an das wir erinnert werden, wenn wir einen Buddha sehen …«, sagte der Dalai Lama lediglich und betrachtete den Wandbehang, auf dem Shakyamuni Buddha abgebildet war. »Siehst du auch genau hin, meine kleine Schneelöwin?«

Und wie ich hinsah. Ich suchte verzweifelt nach den vier Elementen. Doch ich konnte immer noch nichts erkennen.

Am nächsten Morgen stattete ich dem Altenheim einen weiteren Besuch ab. Diesmal ließ ich sogar die Katzenminze links liegen, stattdessen lief ich schnurstracks über den Rasen und den Steingarten hinauf. Dann zwängte ich mich durch die Schmucklilien und stand auf der Terrasse, wo ich wie ein geliebter Freund begrüßt wurde. Sobald ich den Aufenthaltsraum betreten hatte, suchte ich Hilda und ließ mich auf der Armlehne ihres Sessels nieder. Sie streichelte mich. »Schätzchen«, sagte sie plötzlich laut und deutlich.

Zu behaupten, dass daraufhin alle in helle Aufregung gerieten, wäre noch maßlos untertrieben, liebe Leser. Es war das erste Wort, das Hilda in mehr als zwei Jahren gesprochen hatte!

Als ich das Altenheim wieder verließ, war ich bester Laune. Nicht nur, weil ich die zweite Pfote auf den Pfad zum spirituellen Glück gesetzt hatte. Nein, ich freute mich auch noch auf etwas anderes.

Anstatt zum Namgyal-Kloster zurückzukehren, wandte ich mich in die entgegengesetzte Richtung und lief weiter die Straße entlang, bis ich den Stadtrand erreichte. Der Weg war von hohen Kiefern gesäumt, alles war mit üppigem Grün bewachsen. Über breite Einfahrten gelangte man zu den Anwesen, die so weit von der Straße abgesetzt waren, dass ich nur einen Giebel hier und ein Dach dort erkennen konnte.

Tara Crescent Nummer 21 war zu einem meiner Lieblingsplätze auf der ganzen Welt geworden. Als ich dort ankam, eilte ich direkt die Einfahrt hinunter. Hier wohnten Serena, ihr Mann Sid und Zahra, Sids Tochter aus erster Ehe.

In der Küche im Namgyal hatte ich mehrere Gesprächsfetzen zwischen Mrs. Trinci und Serena aufgeschnappt und daraus geschlossen, dass das Schuljahr vorbei war und Zahra vor zwei Tagen aus dem Internat gekommen war. Dabei hätte ich sie nicht einmal belauschen müssen, ich hätte es auch so gespürt. Meine katzeneigene Intuition hätte mich auf diese Veränderung, diesen Energieschub aufmerksam gemacht, und es hätte mich wie magnetisch die Straße hinauf zu der Villa gezogen, die ich zum ersten Mal betreten hatte, als die Renovierungsarbeiten noch in vollem Gange gewesen und Sid und Serena noch nicht eingezogen waren.

Die Auffahrt machte eine Kurve, und zum ersten Mal seit Monaten erblickte ich das Haus, einen weitläufigen Bungalow mit Souterrain, der vollständig von einer breiten Veranda umgeben war. Einen ganz besonderen Blickfang stellte jedoch der efeubewachsene Turm dar, der zwei Stockwerke hoch über dem Nordflügel des Hauses aufragte. Ganz oben befand sich ein Raum mit großen Panoramafenstern in alle vier Himmelsrichtungen.

Dieser Raum gehörte Zahra und mir – der ideale Ausguck, um die Sonne, den Mond, die Sterne und die schneebedeckten Gipfel des Himalaja zu betrachten. Hier hatten wir es uns zu allen Tages- und Jahreszeiten bequem gemacht und schöne gemeinsame Stunden verbracht, und von hier konnten wir nicht nur wie Devas aus den höheren Daseinsebenen die Welt von oben betrachten, sondern auch den Duft der Himalajakiefern und Wildblumen genießen, der durch die geöffneten Fenster strömte. In Kombination mit den Glocken und dem Gesang, die vom weit entfernten Namgyal-Kloster zu uns drangen, entstand eine ganz besondere Atmosphäre. Ich konnte es kaum abwarten, heute mit Zahra im Turmzimmer zu sitzen.

Auf der Hälfte der Auffahrt hörte ich bereits ihr charakteristisches Lachen aus dem Haus schallen und beschleunigte meinen Schritt. Wenn sie aus dem Internat nach Hause kam, fiel unser Wiedersehen immer ganz besonders fröhlich aus. Voller Vorfreude lief ich über den Rasen neben der mit Schotter bedeckten Auffahrt.

Das Haus war nicht mehr weit, da blickte ich auf und sah ihn – den grausamen Kater, der mich vor mehreren Wochen vor Mr. Patels Laden angegriffen hatte! Ich erkannte den großen, muskulösen Körper sofort. Sein Gesicht konnte ich nicht sehen, da er sich im Sonnenschein zusammengerollt hatte und döste. Mitten auf dem Verandatisch. Als wäre er hier zu Hause.