Der Tod 2.0

Jetzt starb ich schon zweimal in meinem Leben. Das sollte wirklich nicht zur Gewohnheit werden.

Das erste Mal, als mich eine Motorradgang erledigt hatte, war schon ziemlich heftig gewesen, aber von dem Mann, dem ich mein Herz geöffnet hatte, erschossen zu werden, war nun wirklich nicht zu toppen.

Wie hatte ich das nicht kommen sehen?

Ich wusste, dass ich ein Händchen dafür hatte, mich in Lügner und Betrüger zu verlieben, in Männer, die es nicht ernst meinten, aber bei David hatte ich wirklich geglaubt, jemanden gefunden zu haben, der anders war. Obwohl ich ihn damit aufgezogen hatte, hatte ich ihn dafür bewundert, dass er sein Leben dem Ziel widmete, Ungerechtigkeiten zu bekämpfen.

Und doch hatte er selbst die größte von allen begangen, indem er ausgerechnet auf die Frau, die ihm ihr Herz schenken wollte, geschossen hatte.

Ich starrte auf die wachsende Blutlache. Einen deutlicheren Beweis für meinen Irrtum konnte es nicht geben, trotzdem weigerte sich ein Teil von mir, zu glauben, dass er so etwas wirklich tun konnte.

Gut. Am Anfang hatte er mich spüren lassen, wie wenig er von mir hielt. Ich war die Schakai von Ikaris de Cruz, er ein Detective, der die Red Umbrella Society aufhalten wollte. Ich konnte verstehen, dass er mir gegenüber so misstrauisch, ja feindselig war. Aber je mehr Zeit wir miteinander verbracht hatten, desto mehr schien sein Misstrauen mir gegenüber zu schwinden. Er hatte sich meine Seite der Geschichte angehört und mir geglaubt. Sein Blick war weicher geworden, seine Worte weniger spitz. Er hatte meine Wunden versorgt, Blut aus meinem Teppich geschrubbt und auf mich aufgepasst. Er hatte sich mir wie eine dieser Blumen geöffnet, die nur alle zehn Jahre blühen. Nie würde ich vergessen, wie wir uns zum ersten Mal geküsst haben. Seine Lippen waren weicher, als ich es erwartet hatte. Sanft, aber doch bestimmend. Vorsichtig, aber doch leidenschaftlich. Während seine Hände meinen Körper erkundeten, hinterließen sie eine heiße, prickelnde Gänsehaut.

Warum, David?

War all das überhaupt echt gewesen?

Er schien seine Meinung in dem Moment geändert zu haben, als ich mich mit Ikaris in der Gasse gestritten hatte und von dem Strigoi gerettet worden war. Ich dachte, David hätte in diesem Moment verstanden, dass ich nicht auf der Seite meines Meisters stand. Aber ihm musste in diesem Moment etwas anderes ebenfalls klar geworden sein: Ich hatte eine Verbindung zum Strigoi und konnte damit als Einzige den vermissten roten Schirm finden. Je mehr ich darüber nachdachte, desto mehr begann ich unsere letzten Tage infrage zu stellen.

Wer war diese Penelope Vice, mit der David verschwunden war?

Jeder in New York kannte die einflussreichen Red Umbrellas mit ihren leuchtend roten Schirmen. Sie waren eine geheimnisvolle Gruppe, um die sich so viele Mythen und Legenden rankten, und jeder war von ihnen fasziniert. Aber von einer Frau mit weißem Schirm hatte ich noch nie gehört.

Wer also war diese Person, die engelsgleich in meine Wohnung geschwebt war? Auch wenn sie perfekt und lieblich ausgesehen hatte, lief mir bei der Erinnerung an ihre dunklen Augen ein Schauer über den Rücken. Es schien so, als hätten sie direkt in meine Seele geblickt und mich für schuldig befunden.

Und nun war es vorbei.

Tränen traten in meine Augen und rannen meine Wangen hinunter, um sich mit dem Blut, das den Boden meiner Wohnung tränkte, zu vermischen. Der Schmerz in meiner Brust schwoll so sehr an, dass ich das Gefühl hatte zu explodieren. Ich wollte schreien, aber meinen Lungen fehlte die Kraft. Stattdessen erschauderte mein Körper und brachte die Pfütze aus Blut zum Vibrieren. Ich schluchzte, mehr brachte ich nicht zustande. Bei jeder Bewegung spürte ich, wie das Blut schneller aus dem Einschussloch quoll.

Ich sollte versuchen, an mein Handy zu kommen, aber ich schaffte es nicht einmal, meinen Arm zu heben. Stöhnend sank ich zurück in die Pfütze, die bei jeder Bewegung plätscherte. Das Geräusch erinnerte mich an Regen.

Pitsch Patsch.

Ich liebte den Regen. Als Kinder hatten Remi und ich es geliebt, in Pfützen zu springen.

Pitsch, patsch.

Einmal hatte Mom uns danach verprügelt, weil wir klatschnass nach Hause gekommen waren.

Remi …

Wer würde sich dann um Remi und Mako kümmern? Und wer würde David in den Allerwertesten treten? Ich ballte die Hände zu Fäusten. Wütend knirschte ich mit den Zähnen, aber egal, wie sehr ich versuchte, an meiner Wut und Entschlossenheit festzuhalten, sie entglitt mir langsam. Floss wie das Blut einfach aus mir heraus. Und mit ihm meine Lebenskraft.

»K«, hauchte ich und die Smartwatch an meinem Arm erwachte zum Leben.

»Es sieht nicht gut aus«, bestätigte sie und dabei hörte sie sich beinahe wirklich betroffen an, aber vielleicht war das auch nur die Einbildung einer sterbenden Frau. »Hast du irgendwelche letzten Worte? Ein Testament, welches ich aufzeichnen soll? Ich wette, Remi würde sich über deine Kamikaze-Kaito-Jeanne-Sammlung freuen.«

Ich spürte, wie die Kälte in meinen Körper kroch und ihre gierigen Zähne in mich schlug. Mein Herz wurde mit jedem Schlag schwächer und zu atmen fiel mir immer schwerer, so als würde ich gegen einen Widerstand anatmen. Egal wie sehr ich versuchte, wach zu bleiben, die Müdigkeit brach unbarmherzig über mich herein. Meine Lider wurden schwerer und ich ahnte, dass ich sie nie wieder öffnen würde.

Außer …

Ich horchte in mich hinein, versuchte eine Verbindung zu ihm zu finden. Es war der dumme Gedanke einer Sterbenden, die nicht bereit war zu gehen.

»Hilfe«, flüsterte ich beinahe lautlos, denn meine Stimme versagte bereits. Beinahe sah ich seine kritisch hochgezogene Augenbraue vor meinem inneren Auge. »Hilfe, Meister

Ich wartete, aber nichts geschah.

Niemand wird kommen, Skadi!

»Bewege deinen knackigen Arsch hierher. Ich sterbe, verdammt noch mal.«

Nichts.

Gerade als ich die Hoffnung aufgeben wollte, spürte ich es. Die Kälte, die sich in meinem Nacken ausbreitete wie eine erblühende Frostblume. Normalerweise erstarrte ich bei dem Gefühl, aber dieses Mal zuckte ein Lächeln über meine Lippen, denn ich wusste es.

Er würde kommen.

Ikaris de Cruz. Der Meister, den ich hasste. Aber der Einzige, der mir geben konnte, was ich wollte.

Gerechtigkeit.