Die Retterin

Ich öffnete meine Augen, aber Priscillas Erinnerungen klebten noch immer an mir. Der Gestank des Gefängnisses. Der Schmutz auf der Haut, der sich niemals ganz abwaschen ließ. Und die Hoffnung, die Hoffnung, in dem Mann in Weiß endlich jemanden gefunden zu haben, der mein Leben verbessern konnte.

»Was ist aus Mister Hawthorne geworden?«, fragte ich und versuchte, nicht zu laut mit den Zähnen zu klappern. Der Wind wehte die Erinnerungen an den Traum von meiner Haut und überzog sie mit einer Gänsehaut.

»Er spielte den großzügigen, edlen Retter. Am Anfang lauschte ich seinen Erzählungen voller Faszination und himmelte ihn an. Aber nach und nach erkannte ich die Wahrheit. Die White Umbrellas bildeten sich ein, die Welt retten zu können, aber sie bewirkten nichts. Das Dorf, in dem ich lebte, war voller Sünder, und hat sie das gekümmert? Nein. Sie sind zu dem Mädchen gegangen, das die Titelblätter zierte. Am Anfang habe ich geglaubt, dass sie die einzige Hoffnung für die Welt seien. Dass ihre Mission irgendwie heilig sei. Aber dann habe ich das Leid gesehen. Die Welt versinkt darin. Krieg. Gewalt. Drogen. Korruption. Sie haben nichts verändert. Und trotzdem stoßen sie auf sich an und beglückwünschen sich zu ihrem großen Verdienst.«

Priscilla hob ihre Hand und winkte Damian herbei, der aus dem Schatten tauchte. Ich hatte geglaubt, dass er zur Feier zurückgegangen sei, aber anscheinend ließ er seine geliebte Meisterin nicht aus den Augen. Er brachte ihr ein Tablett mit zwei Gläsern Wein, so rot wie Blut. Eines reichte er Priscilla, das andere mir, aber ich dachte nicht daran, daraus zu trinken. Wer wusste, was sich darin befand. In einem unbeobachteten Moment würde ich es über die Reling kippen.

»Kann ich noch etwas für Euch tun, Meisterin?«, fragte er ergeben.

»Nein. Lass uns allein.«

Damian war die Enttäuschung deutlich anzusehen, als er sich verbeugte und ging. Wahrscheinlich hätte er mich nur allzu gerne im Namen der Gerechtigkeit von Bord gestoßen.

»Es gab eine Zeit, da wollte ich eine von ihnen sein. Ich machte mir Hoffnung, weil Hawthorne mich bei sich aufnahm, aber er war ein Idealist. Er glaubte wie der Rest von ihnen, dass das Privileg, ein White Umbrella zu sein, nur denen zuteilwerden sollte, die das Blut irgendwelcher ominösen Engel in sich tragen. Trotzdem hörte er nicht auf den Rat der anderen, mich meiner Erinnerungen zu berauben und auszusetzen. Er beobachtete mich, war fasziniert von mir und der Tatsache, dass sein Schirm keinerlei Wirkung auf mich hatte. Vielleicht, weil ich in der Tat vollkommen ohne Schuld war, aber er hatte noch eine andere Theorie. Er glaubte, dass in mir ebenfalls Engelsblut fließen könnte und ich einem Stammbaum entstammte, den sie noch nicht kannten.« Priscilla lachte. »Meine Eltern und Engel. Sie waren eher mit Ratten verwandt als mit irgendwelchen göttlichen Kreaturen.«

»Aber weshalb seid Ihr dann immun?«

»Weil ich im Recht bin. Der Tausendfüßler war damals ein Zeichen des Schicksals, dass ich dazu bestimmt bin, die Welt zu verändern. Der Tod meiner Eltern war keine Sünde. Es war Notwendigkeit.«

Ich nahm an, dass sie das bei anderen Mördern nicht so sehen würde. Sie drehte sich die Welt zurecht, wie es ihr passte.

»Haug Hawthorne nahm mich als Schülerin auf und lehrte mich sein Wissen über die Schirme. Er versuchte mich dazu zu bringen, einen eigenen Schirm zu erschaffen. Aber als sein Bemühen ohne Erfolg blieb, spürte ich, wie sein Interesse an mir schwand. Und irgendwann, als ich nicht länger nach seiner Pfeife tanzte, beschloss er, dem Drängen der anderen Umbrellas nachzugeben. Er wollte mir die Erinnerungen nehmen und mich aussetzen. Das konnte ich nicht zulassen.«

»Ihr habt ihn getötet.«

»Ich habe mich selbst getötet oder habe es zumindest versucht«, korrigierte sie und nahm einen Schluck Wein. »Alles, was ich hatte, war eine silberne Haarnadel, und die rammte ich mir in die Brust. Lieber wollte ich sterben, als wieder als Unwissende unter den Menschen zu leben. Ein Leben voller Trivialität und Irrelevanz.

Hawthorne rannte hinaus, um seine Heiler zu holen. Und in diesem Moment ergriff ich mit blutigen Fingern den Schirm. Ich wollte mich an ihm festhalten, denn er war alles, was ich je wollte. Und dann geschah etwas Seltsames. Der Schirm stieß mich nicht ab. Er nahm mein Blut in sich auf. Ich spürte genau die Verbindung, von der Hawthorne immer geredet hatte. Wir teilten unsere Sorgen, Wünsche und allem voran unseren Schmerz. Ich spürte, dass der Schirm hungrig war. Also gab ich ihm mehr von meinem Blut und mit jedem Tropfen verstand er mich besser. Als Hawthorne mit den Heilern zurückkam, erschrak er fürchterlich, den der Schirm hatte sich rot gefärbt. Er wollte ihn mir wegnehmen, aber das konnte ich nicht zulassen und stach mit der Haarnadel zu. Ich hatte nicht vor, ihn zu töten, aber als ich sah, dass seine Wunde nicht heilte, erkannte ich, dass der Tod sein Schicksal war. Er ging in Flammen auf, wie alle White Umbrella, wenn sie sterben. Aber sein Schirm folgte ihm nicht. Er blieb bei mir. Für mich war das ein weiteres Zeichen. Es war nun meine Aufgabe, die Welt zu verbessern.«

»Und die White Umbrellas, Ma’am?«

»Sie haben schon einmal versucht, mich aufzuhalten. Dieser Ort hier, der ist nicht zufällig gewählt.« Sie deutete auf das Schiff, welches friedlich über den Fluss an der beleuchteten Stadt vorbeifuhr. »Kaum einer erinnert sich daran, aber ich und Ikaris waren dabei. Auf der General Slocum , als sie in Flammen aufging.«

»Und was hat das mit Euch und den roten Schirmen zu tun?«

Sie öffnete den Schirm erneut und lud mich ein, darunterzutreten. Ich zögerte nicht lange und nahm neben ihr Platz, um noch einmal in ihre Erinnerungen einzutauchen.

»An diesem Tag streifte ich die Fesseln der weißen Schirme endgültig ab. Es war der Tag der Freiheit.«