15. Juni 1904
»Meisterin!« Ikaris kam auf mich zugeeilt. Ich konnte ihm ansehen, dass er viele Fragen hatte, aber klug genug war, sie nicht zu stellen. Er wusste, er hatte sein Glück herausgefordert, indem er mit meinen Feinden kooperiert hatte. Nun wollte er mich überzeugen, ihm den Schirm zu überreichen. Gehorsam krempelte er seinen Arm hoch und enthüllte mir einen gut gefüllten Tausendfüßler. Wie erwartet hatte er hier viele Sündige gefunden und das Blut kam mir gelegen. Mein Schirm war hungrig, wie immer, wenn ich seinen Schutz besonders in Anspruch genommen hatte.
Ich nahm Ikaris die Hälfte der Inkara ab.
»Was ist mit dem Rest, Meisterin?«, fragte er überrascht.
»Der ist für deinen neuen Schirm.« Ich überreichte ihm meine neuste Errungenschaft. Am liebsten hätte ich mit Ikaris’ Ernennung gewartet, aber der Schirm war immer noch an den meisten Stellen weiß, was seinen Ursprung verriet. Mein Blut hatte nur einen kleinen Teil gefärbt, und ich fürchtete, wir mussten ihm zeitnah einen Deal anbieten, damit er endgültig auf unsere Seite wechselte. Ikaris als Träger anzubieten, würde ein Experiment sein. Ich wusste nicht genau, ob es funktionieren würde, aber wie zuvor folgte ich meinem Instinkt und vertraute auf meine Bestimmung. »Gib ihm das Blut. Zeige ihm, was du ihm zu bieten hast, wenn du sein Träger bist.«
»Meisterin … Ich … ich danke euch.« Ikaris starrte auf die Chance, die ich ihm bot, und ich spürte seine Aufregung. Eine Aufregung, die ich nur zu gut nachempfinden konnte. Genau so hatte ich auf Haug Hawthornes Schirm gesehen und mir seinen Schutz herbeigesehnt. Seine Macht. Seine Unabhängigkeit.
Ikaris’ Finger schlossen sich zögerlich um den Griff. Der Tausendfüßler war seine Hand hinaufgekrabbelt und bot dem neuen Schirm seine Gaben an. Plötzlich verschwammen die Linien des Tattoos und es löste sich auf. An seiner Stelle überzogen Adern Ikaris’ Arm, über die das Blut zum Schirm lief und das Weiß darin zurückdrängte, bis er ein kräftiges, feuchtes Rot annahm. Als die Opfer abgegeben waren, verblassten die Adern und Ikaris drehte sich um.
Ich sah sofort, dass er sich verändert hatte. Seine Haltung. Seine Augen. Er war nicht länger mein Schakai. Er war mächtiger, stärker, und er nahm die Welt nun so wie ich wahr. Wie ein Red Umbrella.
»Komm«, flüsterte ich und führte ihn zu einem Rettungsboot, welches völlig überfüllt war. Panische Menschen stapelten sich darin übereinander. Wenn sie es so herunterließen, würde es untergehen. Gerade beschloss ich, dass es ein guter Plan wäre, die Sündigen unter ihnen in den East River zu werfen und dem Rest die Erinnerungen zu nehmen, da hörte ich, wie Ikaris nach Luft schnappte. Ich drehte mich um und folgte seinem Blick. Durch den Rauch kam eine Gestalt auf uns zu. Wie ein Schatten glitt sie an den übrigen Passagieren vorbei, direkt auf uns zu.
»Nell …«
Auch das noch. Ich hatte so sehr gehofft, sie losgeworden zu sein.
Sie hatte sich verändert. Irgendwie bewegte sie sich anmutiger und zugleich selbstsicherer. Über ihrem Kopf spannte sich ein weißer Schirm, der ihr eine neue Stärke verlieh. Sie hatte es also geschafft, eine White Umbrella zu werden, und war dumm genug, mich zu konfrontieren.
Auch wenn ich das brennende Schiff nur allzu gerne bereits verlassen hätte, war ich für ihren Idealismus dankbar, denn er gab mir die Möglichkeit, einen weiteren Schirm zu erlangen. Und dieses Mal war ich, was einen Kampf anging, äußert zuversichtlich, denn wir waren in der Überzahl.
Auch wenn Ikaris aussah, als hätte er einen Geist gesehen.
Nell ballte wütend ihre Fäuste, als sie ihn erblickte. »Was hast du getan, Iki?«
Iki? Der Spitzname klang lächerlich. Kein Wunder, dass ihre Beziehung keine Zukunft hatte.
»Er hat das Richtige getan«, antwortete ich gelangweilt an seiner Stelle. »Er wollte leben. Komm drüber hinweg.«
Aber sie dachte nicht daran. »Du hast uns verraten. Du hast mich verraten!«
»Und du hast mich belogen«, konterte Ikaris.
»Mein Onkel ist tot.« Schmerz flackerte in ihren Augen. »Warum hast du nicht wie besprochen das Silberpulver in ihr Getränk gemischt? Ich habe dir vertraut.«
»Du wolltest, dass ich mein Leben für eure Sache gebe. Aber ich wollte nicht sterben.« Er hielt sich an seinem neuen Schirm fest, und ich sah, wie etwas in ihrem Blick starb.
»Ist das … sein Schirm? Du hast seinen Schirm gestohlen?«
»Ich bitte dich. Geh einfach«, stotterte Ikaris. »Ich will dir nicht wehtun.«
»Ich schon«, schaltete ich mich ein.
Und auch Nell war offenbar kampfeslustig. Mit einer eleganten Bewegung spannte sie ihren Schirm auf und legte ihn über ihre Schulter, bevor sie anfing, ihn zu drehen. Ikaris brach zusammen und wimmerte. Interessant. Anscheinend war er gegen die Macht der Schirme nicht immun und das, obwohl er einen Schirm führte. Mein alter Meister hatte geglaubt, dass nur jene mit dem Blut der Engel und wahrhaft Unschuldige in das Innere eines Schirmes gucken können, ohne von ihrer Schuld überwältigt zu werden. Damit hatte er wohl recht gehabt, denn Ikaris war nichts von beidem.
Für einen Moment beobachtete ich beinahe fasziniert, wie er sich von Schuldgefühlen gequält am Boden wand. Ich konnte das nicht nachvollziehen, hatte ich doch bisher nie so etwas wie Reue empfunden.
Als ich mir sicher war, dass er sich nicht von selbst befreien konnte, schritt ich ein. Ich enthüllte erneut die Spitze meines Schirmes und stach zu. Nell versuchte den Angriff mit ihrem Schirm abzuwehren. Mit einer schnellen Bewegung schlug sie nach mir, doch ich wich geschickt aus und versenkte die Klinge in ihrer Seite. Sie taumelte zurück, ihre Hand auf die Wunde gepresst.
Anders als ihr Onkel war Nell nicht durch Silberstaub geschwächt und die Wunden würden heilen. Ikaris kauerte schwer atmend auf dem Boden, während ich versuchte, Nells Schirm mit meinem Blut zu beschmieren. Sie wich zurück und klammerte sich mit zitternden Händen an den Griff.
»Hilf mir«, rief ich Ikaris zu. »Zusammen kriegen wir sie.«
So weit ließ Nell es nicht kommen. Sie reckte ihr Kinn und öffnete erneut den Schirm, den sie auf ihrer Schulter ablegte.
»Das wirkt bei mir nicht«, sagte ich gelangweilt, aber sie hatte nicht vor ihn gegen mich zu verwenden. Sie hob ihn an und schloss ihn über ihrem Kopf. In dem Moment, als er sie verschluckte, fingen beide Feuer.
Ikaris schrie. Es war ihm hoffentlich eine Lehre, sich in Zukunft nicht mehr zu verlieben.
»Hör auf zu heulen«, befahl ich und wandte mich dem Rettungsboot zu.
»Ich wollte nicht, dass sie stirbt«, schniefte Ikaris hinter mir. Wütend wirbelte ich herum.
»Wie dachtest du denn, wie das Ganze hier ausgeht? Dass wir gemeinsam um einen Regenbogen der Versöhnung tanzen? In dem Moment, als du den Schirm gewählt hast, hast du sie zum Tode verurteilt.«
»Ich wollte sie doch nur beschützen … Ich …« Er kam offenbar wieder zu Verstand und verstummte schlagartig. Ich war kurz davor ihn zu töten. Meine Finger legten sich um seinen Hals und er wehrte sich nicht einmal. »Ich kenne dich. Du hältst dich für clever, aber du darfst nie vergessen, dass du mir gehörst. Du. Dein Schirm. Und dein Leben. Wenn du es nicht willst, sag es mir. Nur zu. Folge deiner Nell.«
Er schluckte schwer, schwieg aber.
»Nicht? Gut«, knurrte ich. »Ich werde dich bei jeder Gelegenheit daran erinnern, was du mir schuldig bist, damit du nicht auf die Idee kommst mich erneut zu hintergehen.«
»Ja, Meisterin.«
Obwohl mir ein Schirm entwischt war, war dieser Tag etwas Besonderes. An diesem Tag wurde die Red Umbrella Society geboren.
Im gleißenden Feuer.