»Äh … könnten wir Sie vielleicht getrennt vernehmen?«, fragte Brigadier Lewitz.
»Natürlich«, antwortete Véronique Malabarre, während sie ihre Bürsten und Kämme und Klammern in eine goldene Kosmetiktasche räumte.
Reflexartig fegte sie mit der Hand über den Frisiertisch in der Maske. Ihr T-Shirt verrutschte und ließ den Träger eines blauen BH
s erkennen, der in die weiche Schulter schnitt. Sie musterte die Polizisten kurz, dann fing sie an, in einem Friseurkoffer herumzukramen.
»Sicher«, bestätigte Inès Chamarret, die Kleider auf Stangen sortierte. Unter die Polaroids der kostümierten Schauspieler pinnte sie über und über mit unverständlichen Zeichen, Ziffern und Buchstaben bedeckte Schildchen. In ihre Arbeit vertieft, murmelte sie leise vor sich hin: »Bei den ganzen Ausfällen müssen wir alles zurückschicken und neu besorgen, was für eine Plackerei.«
»Mhm«, brummte Zélie Rœlsberg zustimmend, einen Pinsel zwischen den Lippen.
Sie sammelte Concealer, Make-up und Puder in diversen Farbtönen ein, unter den großen, runden Glühbirnen,
die die glänzenden Spiegel rahmten. »Maskenraum: Haare, Make-up, Kostüm«, hatte Lewitz oben auf sein Vernehmungsprotokoll geschrieben.
Die Damen waren alle einverstanden, aber keine verließ das Zimmer. Lewitz rutschte auf seinem Stuhl herum und drehte sich zu Dax, der sich wiederum zu ihm drehte. Anschließend drehten sie sich beide zu den drei Frauen und kapitulierten.
»Kannten Sie Michel Aramédian schon lange? War es angenehm, mit ihm zu arbeiten?«, fragte Lewitz Zélie, Inès und Véronique, die ihm wie geschickte Wetterhähne nacheinander den Rücken zuwandten.
Um sich für diese Aufgabe Mut zu machen, hatte der Brigadier sich vorgestellt, am Steuer eines Peugeots 908 zu sitzen, in der Poleposition beim 24-Stunden-Rennen von Le Mans, wo auch Amateure antreten und sogar den Sieg erringen konnten. Es war sein erstes Mal, seine erste Verdächtigenvernehmung. Dax, sein treuer Freund und selbst Debütant, übernahm die Rolle des Kopiloten. Capestan hatte ihnen noch einmal ihr Vertrauen geschenkt. Vor dem Eintreten hatte Lewitz seinem Freund geraten, die Strecke im Kopf durchzugehen, Kurven und Geraden vorherzusehen. Im Geiste waren sie in die mit Sponsorenlogos bestickten Anzüge geschlüpft und hatten die weichen Lederhandschuhe übergestreift. Als die Helme an die Reihe gekommen waren, hatte Dax lieber seine Frisur schützen wollen, aber Lewitz hatte das Plexiglasvisier geschlossen. Er war so bereit wie noch nie. Er hatte nur nicht mit zwei zusätzlichen Autos gerechnet.
»Er war professionell«, antwortete Zélie, während sie
mit einem dünnen Kosmetiktuch über ihre Fläschchen und Schminksets wischte.
»Sehr professionell«, bestätigte Inès mit einem Lächeln, das eher der Bedeutung ihrer Aufgabe zu gelten schien als dem verstorbenen Regisseur.
»Ein echter Profi«, trumpfte Véronique auf, ohne die Ironie in ihrer Stimme zu verbergen.
Lewitz wurde unruhig. Man brauchte keine Erfahrung, um das Offensichtliche zu erkennen: Die Frauen hörten gar nicht zu, sondern leierten nur Floskeln herunter. Damit würde er den Kofferraum seines Peugeots bestimmt nicht zumüllen.
»Okay. Aber war er nett oder nicht?«
In seiner Stimme hatte wohl leichte Panik durchgeklungen, denn die drei wirbelten gleichzeitig herum und schauten ihn mitleidig an. Der Brigadier lockerte unauffällig die Schultern aus und streckte den Rücken durch.
»Ganz in Ordnung.« Zélie setzte sich mit einer Pobacke auf die Tischplatte. »Aber ziemlich träge.«
Véronique ließ sich auf einen Drehstuhl plumpsen.
»Und langsam.«
Inès lehnte sich an die Tür der Ankleide.
»Und langweilig.«
»Als Actionfilmregisseur?«, hakte Lewitz erstaunt nach. Sein Transformers
-T-Shirt verriet, welches Interesse er dem Genre entgegenbrachte.
»Ja, da ist er irgendwie zufällig gelandet«, erklärte Zélie. »Er hat als Assi bei einem Gangsterfilm angefangen, danach hat ihn der Regisseur noch für einen Krimi angeheuert und ist krank geworden. Michel ist eingesprungen, der Film ist
durch die Decke gegangen, und seitdem hat jeder Agent bei Testosteronstreifen direkt an ihn gedacht.«
»Warum hat er nicht abgelehnt?«, fragte Dax.
Die Maskenbildnerin warf ihm einen nachsichtigen Blick zu.
»Na, wegen des Gelds wahrscheinlich. Und um weiter im Geschäft zu bleiben. Aber er hat oft von einem persönlicheren Projekt in der Pipeline erzählt …«
»Ja, ein Kammerspiel für zwei.« Véronique schmunzelte, bevor sie wieder ernst wurde. »Der Arme, jetzt werden wir nie erfahren, ob er das Zeug zum Autorenfilm hatte.«
»Wussten Sie, dass er immer Mittagsschlaf gehalten hat?« Dax sorgte sich nicht um Überleitungen. »Also, im Produktionsbüro?«
»Das wusste jeder«, antwortete Inès.
»Also, ich nicht.« Véronique drehte sich zu Zélie. »Du?«
»Weiß nicht.«
»Du weißt nicht, ob du’s wusstest?«
»Ich weiß nicht, ob er’s mir irgendwann mal erzählt hat, aber da es mir scheißegal war, wusste ich es wohl, ohne es zu wissen …«
»Er hat es Ihnen erzählt?«, startete Lewitz wieder durch, nachdem er die letzten paar Minuten nur zwischen den dreien hin- und hergeschaut hatte wie ein Stockcar, das sich um die eigene Achse drehte. »War Michel Aramédian ein aufdringlicher Typ, hat er Sie belästigt?«
Der Brigadier war froh, wenigstens eine der Fragen anbringen zu können, die Lebreton ihnen zur Sicherheit auf Karteikarten geschrieben hatte.
»Nein, eigentlich nicht«, meinte Zélie. »Hier gibt’s
Frauenhasser und Kotzbrocken, aber keine Grapscher oder Schlimmeres.«
»O ja, Kotzbrocken definitiv!«, sagte Véronique, und die drei nickten einhellig.
»Tom.«
»Tom.«
»Tom.«
»Tom?«, fragte Lewitz.
»Tom«, bestätigte die Hairstylistin. »Ehrlich, wenn schon ein Serienmörder vorbeischaut, hätte er doch den kaltmachen können.«
»Véro!«, rief Inès.
»Ja, sorry. Wirklich schrecklich, was da passiert ist.« Véronique zog eine Miene, als hätte sie sich mit neunzig in der Stadt erwischen lassen.
Lewitz beschloss, sich an die Haarnadelkurve zu wagen.
»Wie die Überwachungsvideos und mehrere Zeugen bestätigen, haben Sie die Kantine jeweils für circa acht Minuten verlassen. Acht Minuten, in denen Sie niemand sieht. Acht Minuten, die locker ausreichen, um zum Produktionsbüro zu laufen, wo Aramédian schlummert, ihn zu erstechen und zurückzukehren. Was haben Sie in diesen acht Minuten gemacht?«
Das alles in einem Atemzug, ohne Motorstottern, ohne Schleudergefahr. Bestärkt durch die Großtat, musterte Lewitz die Damen mit seiner Harter-Cop-Miene.
»Wir waren auf dem Klo.«
Lewitz und seine Miene tauchten ab. Um Fassung ringend, blätterte der Brigadier in seinen Unterlagen und suchte nach einem Weg, ohne Nöte über Notdürfte zu reden. Er dachte
an seine Mission, an die Chefin, die auf ihn zählte, und holte tief Luft.
»Das behaupten Sie, aber Sie haben keinen Beweis. Kein Alibi.«
Dax schaute seinen Kumpel an. Sicher fragte er sich, warum Lewitz plötzlich so Gas gab.
»Stimmt wohl«, gestand Véronique.
»Doch, klar haben wir Zeugen«, warf Zélie ein.
Halb entsetzt starrten ihre Kolleginnen sie an.
»Zeugen?«
»Mindestens zehn Leute haben uns um zwölf unseren Tee trinken sehen. Und wenn man um zwölf einen Liter Tee trinkt, muss man garantiert zwischen eins und zwei aufs Klo.«
Dax betrachtete eingehend seine Sneaker. Anscheinend baute er darauf, dass Lewitz sie aus dieser peinlichen Situation herausmanövrierte. Der Brigadier blinzelte mehrmals, bevor er weitersprach, als wäre die Sache geklärt.
»Sie bedauern also, dass der Mörder es nicht auf Tom abgesehen hatte …«
»Ich bedauere es nicht, es wundert mich«, stellte Véronique klar.
»Okay, aber trotzdem: Ohne Produzenten gäbe es keinen Film mehr, oder?«
»Doch, natürlich.« Zélie strich mit dem Daumen über den Pinsel, den sie immer bei sich trug. »In unserem Fall würde Clara Dicate übernehmen, Toms Schwester, die Kogeschäftsführerin der Firma.«
»Und die ist besser?«
»Nicht nur besser, sondern gut«, meinte Inès
.
»Also, die Arbeit mit ihr ist nicht gerade ein Annie-Cordy-Chanson«, wandte Véronique ein, »aber was für ein Talent, was für ein Riecher, was für eine Sorgfalt!«
Lewitz beugte sich zu seinem Kumpel und fragte leise: »Wer ist diese Schwester? Haben wir da was?«
Dax schlug sein Notizbuch auf, las seelenruhig die Seiten, fuhr mit dem Zeigefinger eine Zeile nach. Dann schlug er es wieder zu, beugte sich seinerseits zu Lewitz und verkündete laut: »Den Namen hat uns die Empfangsdame für den Besucherausweis genannt. Clara Dicate.«
Zufrieden mit ihrer Leistung säuberten sich die beiden Polizisten die Schuhe auf dem Fußabtreter, den Lewitz aus dem Porsche geholt hatte, und stiegen ein. Dax spürte ein leichtes Jucken am Arm – die Frischhaltefolie über seinem allerersten Tattoo. Für Évrards Geburtstag hatte er sich ihren Namen in einem Herz stechen lassen. Er betete sie an. Neben ihrer strahlenden Schönheit verblassten alle anderen. Der Lieutenant konnte sein Glück immer noch nicht fassen. Endlich hatte er es gefunden, das anständige Mädchen, auf das er gewartet hatte.
Er brannte darauf, das Geschenk seinem Kumpel zu zeigen, der gerade zum dritten Mal die Spiegel des Porsches einstellte.
»Guck mal.« Er enthüllte seinen gewölbten Bizeps.
Lewitz lächelte, dann lehnte er sich abrupt vor und schaute genauer hin.
»Das kannst du doch nicht schreiben!«
Dax verdrehte den Arm, um den Schriftzug zu überprüfen
.
»Warum denn nicht? Das ist ihr Name.«
»Ja, in der Brigade! Aber für ein Herz nimmt man nicht bloß ›Évrard‹.«
»Ach so. Okay.«