Alle Schauspieler waren weg. Die Technik hatte, nachdem sich die erste Panik gelegt hat, Vernunft angenommen, immerhin war kein weiteres Verbrechen gefolgt. Fünfhundertsieben Stunden Arbeit pro Jahr, um den Anspruch auf Arbeitslosengeld nicht zu verlieren, hielten davon ab, bei jeder kleinen Leiche gleich die Flucht zu ergreifen. Die Schauspieler allerdings wollten ihr Image nicht gefährden. Ein Mord ginge ja noch an, der könnte dem Film sogar eine Extraportion Nervenkitzel verleihen und die Promo ankurbeln, aber der Abflug der beiden Stars machte das Ganze zum Himmelfahrtskommando. Achille hatte die Gelegenheit beim Schopf gepackt, seine Agentin hatte im richtigen Moment die richtige Klausel ausgegraben, und er war auf und davon. Gaétan hatte zuerst auf den Regiestuhl spekuliert, aber als Eva Rosière schneller gewesen war, hatte auch er dieses von seinem Kumpel für fahruntüchtig befundene Schiff verlassen. Dass Luna mit der Unterstützung der Fernsehsender geblieben war, hatte ihre übrigen Kollegen nicht überzeugt. Klar: Ein Film, den die Stars der Branche verschmähten, aber eine RnB-Sängerin ehrte, kam einem zweifachen Verlust der Schauspielehre gleich .
Aktuell hatte Rosière also niemanden mehr vor der Linse außer Luna. Nicht einmal Komparsen, denn auf dem Drehplan standen die Innenszenen im trauten Kommissariat. Heute sollte sie die erste Szene ihres Lebens drehen – vor leerer Kulisse. Sie war weder traurig noch enttäuscht, nicht einmal besorgt wegen der schwerwiegenden Ermittlung gegen sie. Nur völlig neben der Spur. Ohne jede Lösung.
Tom hatte ihr die Neuigkeit gerade, kurz vor Arbeitsbeginn, verkündet. Rosière war schon seit fünf Uhr morgens da. Mit einem schlaftrunkenen und miesepeterigen Pilou im Schoß hatte sie in einer Ecke des Sets gesessen und alles geplant, notiert, antizipiert, ganze Notizbücher vollgekritzelt, Listen erstellt, tausend Dinge in den auf die Schnelle gekauften Handbüchern nachgeschlagen. Wie viele hochkatapultierte Autoren wusste sie eigentlich, dass sie auf ihr Technikteam zählen konnte, aber sie hatte sich schon immer alles selbst beigebracht. Deshalb hatte sie mit 16- und 32-mm-Objektiven herumprobiert und ein grobes, so schlecht gezeichnetes Storyboard entworfen, dass nur sie darauf einen Hocker von einer Cancan-Tänzerin unterscheiden konnte. Aber sie hatte sich für ihre neue Aufgabe gerüstet. Ein Film VON Eva Rosière. Sie war die Chefin.
Und zack, innerhalb von drei Minuten erklärte Tom, dass niemand mehr da sei, den sie führen könnte.
»Ich hab ganz Paris abtelefoniert, die Agenten machen dicht oder versuchen, mir Nulpen fürs Dreifache anzudrehen. Du wolltest den Job unbedingt, also besorg dir selbst deine Juwelen zum Discountpreis. Aber ich warne dich, wenn ich auch nur für einen einzigen Drehtag zusätzlich blechen soll, schmeiße ich alles hin. Jetzt kannst du beweisen, was du draufhast.«
Sie hatte weder die Zeit gehabt noch das Risiko eingehen wollen, ihm zu raten, einen anderen Ton anzuschlagen. Sie war still in Panik ausgebrochen, aus ihrer Ecke herausgekommen, um sich umzuschauen, und seitdem stand sie hier untätig herum. Kurz hatte sie darüber nachgedacht, Capestans Mann Paul anzurufen, aber der saß im Gefängnis, war also verhindert. Die geschminkte, gestylte, drehbereite Luna beobachtete sie skeptisch, was sie noch mehr entmutigte.
Plötzlich tauchte Louis-Baptiste Lebreton auf. Pilou schoss pfeilschnell los und schlitterte kläffend über den Wachsbeton, bis er gegen die Beine des Polizisten prallte. Anschließend sprang er freudig im Kreis und wedelte so heftig mit dem Schwanz, als wollte er einen Hubschrauber abheben lassen. Sein Freund war da, er war wirklich da! Lebre­ton warf dem Hund ein Lächeln zu. Beim Anblick seiner vertrauten Hollywoodschönheit fiel Rosière ein Stein vom Herzen. Da war er, ihr Schauspieler, ihr Hauptdarsteller, ihr Star. Dieser Mann war wie geschaffen für die große Leinwand.
»Hallo, Eva, wir sind heute zu siebt, wir schauen uns weiter um, nicht wundern. Bis …«
»Wie lange brauchst du, um zwei Seiten Text zu lernen?«
»Wie bitte?« Lebretons Lächeln wurde unsicher.
Mit drei wogenden Schritten war Rosière neben ihm.
»Nein, warte, wir drucken alles groß aus und halten es neben die Kamera. So arbeitet Depardieu auch, wenn er blau ist, also nimmt es dir als Debütant sicher keiner krumm.«
»Was krummnehmen? Wieso Debütant? «
Rosière legte Lebreton die reich beringten Hände auf die Schultern. »Du bist meine neue Hauptrolle, Louis-Baptiste, du musst einfach Ja sagen, du bist meine letzte Rettung. Du hast doch bestimmt schon immer davon geträumt, Schauspieler zu werden, oder?«
»Nicht sonderlich. Eigentlich überhaupt nicht. Ich glaube, dafür bin ich der Falsche, frag einen Profi. Es ist ja nett, dass du gleich an deine Freunde denkst, aber nein. Wirklich nicht. Danke, Eva.«
»Es geht nicht drum, dir einen Gefallen zu tun. Hör zu.«
Rosière erklärte ihrem Partner, wie alles zusammenhing. Der bemerkte mit einer gewissen Ironie, dass bei ihr im ­Moment so einiges gerettet werden müsse, Unschuld, Karriere, was Rosière weder ein Lachen noch Protest entlockte, sie wollte nur eins: Louis-Baptiste Lebreton, das Ebenbild aller Halbgötter, vor ihre Linse bekommen, ihren Text sprechen hören. Nach langem Hin und Her gab der Commandant widerwillig nach.
Inzwischen waren sie beim dritten Take. Nach und nach waren auch Dax, Évrard, Lewitz, Orsini, Diament und Saint-Lô an den Set geschlendert. Sie hatten ihre Ermittlung für ein paar Minuten unterbrochen und frönten dem simplen Vergnügen, sich über einen Kollegen lustig zu machen, der den großen Zampano markierte.
Rosière allerdings starrte sprachlos auf ihren Monitor, die Augen aufgerissen wie ein Fisch auf dem Trockenen. Keine Texthänger oder Positionsfehler, Aussprache und Sprech­intention wirkten nicht übertrieben, Lebreton klang noch ein bisschen amateurhaft, aber das war nicht tragisch. Trotzdem hatte er so viel Ausstrahlung wie eine Stehlampe ohne Glühbirne. Der charismatischste Mann, den sie kannte, behielt seine Leuchtkraft dem echten Leben vor. Vor der ­Kamera wurde er zum Stock, zum Ektoplasma, zum Model für Socken und Schlafanzüge. Der Aufnahmeleiter mit seinen dreißig Jahren Erfahrung beobachtete Rosière aus dem Augenwinkel, die Anfängerin, die gerade erst die Macht der Objektive entdeckte, Partikel zu filtern und Moleküle neu zu verteilen, um zu verklären oder zu vergraben.
Weil sie ganz sichergehen wollte – und keine Ahnung hatte, was sie sonst tun sollte –, drehte sie einen Take nach dem anderen, bis sie schließlich kapitulierte. Sie dankte ihrem Partner überschwänglich, nahm ihn am Handgelenk und führte ihn taktvoll ein Stück weg.
»Du bist der Beste, mein Großer, aber du hast recht, die Dreharbeiten dauern noch Wochen, und ich will unsere Freundschaft nicht überstrapazieren. Ich reiße mich zusammen und überleg mir was anderes.«
Lebreton musterte sie schweigend, verlagerte das Gewicht aufs andere Bein und sagte: »Ich war schlecht.«
»Richtig beschissen.« Und ohne weiteres Federlesen wandte Rosière sich an ihre übrigen Kollegen, die sich, sehr zur Verärgerung der Filmcrew, feixend um den Set drängten. »Hält sich hier irgendwer für Al Pacino?«
Évrards Hände stießen einen verwirrten Dax nach vorn. Rosière traute sich nicht zu fragen, ob wirklich niemand anderes wollte.
»Okay, dann gebe ich dir den Text.«
»Welchen Text?«
»Den für die Szene gerade. «
»Ach so, nein, danke, die haben wir schon so oft gesehen, ich habe keine Lust, sie noch mal zu lesen.«
»Erinnerst du dich denn gut genug, um sie zu spielen?«
Dax deutete mit dem Daumen auf Luna. »Klar, ich kann sogar ihre Antworten mitmachen.«
»Nein, nein, nur den Part des Manns. Ich zeige dir deine Markierungen, und Zélie pudert dich ein bisschen ab.«
»Okay, aber meine Haare bleiben, wie sie sind«, meinte der Lieutenant und strich sich über die steif gegelte Frisur.
Zwanzig Minuten später gab Eva Rosière atemlos und starr vor Erstaunen das Kommando für den zweiten Take.
»Ist er nicht schön?«, flüsterte Blanche Évrard.
Rosière nickte perplex.
»Ja. Wunderschön.«
Am Set spielte Dax gerade völlig natürlich den Ball zurück an Luna. Er strahlte Stil, Lässigkeit, eine seltene Präsenz aus. Ganz männlich schaute er ihr in die Augen, bis sie mit einer ungewohnt frischen Vergnügtheit die Große Versöhnung einläutete, wie Rosière es nannte. Sofort wurde Dax rot und senkte den Blick, was seiner Figur etwas bezaubernd Schüchternes verlieh. Er trat von einem Fuß auf den anderen und betrachtete die Sohlen seiner Schuhe, während er seinen Text sprach.
»Und dazu noch gut«, fügte Évrard liebestoll hinzu.
»Ja!«, bestätigte Rosière, die es immer noch nicht fassen konnte.
Ihre Augen huschten zwischen Set und Monitor hin und her, als müsste sie überprüfen, dass es sich tatsächlich um denselben Mann handelte .
»Sein Blick ist so …« Évrard suchte nach dem richtigen Wort.
»Wach! Sein Blick ist hellwach, und er wirkt intelligent«, beendete Rosière ungläubig ihren Satz.
Sie drehte sich zum Kameramann und flüsterte ihm etwas zu. Der kontrollierte ein paar Einstellungen und schüttelte den Kopf, woraufhin Rosière sich wieder vor ihrem Regiemonitor postierte und die Szene mit einem breiten Lächeln auf dem verblüfften Gesicht verfolgte.
Blanche Évrard fragte sich, warum ihre Kollegin so überrascht war. Natürlich war Dax großartig. Wie diese Luna ihn anschaute, gefiel ihr allerdings ganz und gar nicht. Die sollte ihr nur nicht ins frisch abgesteckte Gehege kommen. Sie spielte zwar eine knallharte Polizistin, aber die echte knallharte Polizistin war Évrard. Luna war bloß Sängerin. Und Schauspielerin. Und potenzielle Mörderin. Trotzdem …
Évrards Augen verschleierten sich vor Glück. Dax. Anfangs hatte sie ihn, genau wie alle, für unglaublich dumm, unterbelichtet, hirnverbrannt gehalten. Aber nach und nach war ihr noch etwas anderes ins Herz gesprungen: Dax war mutig, zuverlässig, aufmerksam, freundlich und abso-
lut ehrlich – Qualitäten, die kein noch so hoher IQ ­garantie-
ren konnte. Und er war witzig. Klar, meistens unfreiwillig, aber das war nicht weniger amüsant, und er hatte ein dickes
Fell.
Zum ersten Mal in ihrem Leben fühlte Évrard sich gesehen, gehört, geliebt. Der Nichtsnutz Dax war ihr Ein und Alles, ein Wunder .
»Danke!«, beendete Rosière die Szene und klatschte begeistert Beifall.
Die gesamte Crew stimmte ein und würdigte die Verwandlung eines hilfsbereiten Polizisten in einen außer­ordentlich vielversprechenden Schauspieler.
»Bravo, Dax, das war hervorragend«, rief die Regisseurin und studierte ihren neuen Hauptdarsteller mit konzentrierter Miene auf dem Monitor.
»Vielen Dank, Capitaine. Müssen wir nicht noch mal von vorn anfangen? Ich habe vergessen, wo meine Markierungen sind, und den ganzen Boden abgesucht, aber nichts gefunden.«
»Nein, keine Sorge, das war perfekt so.«
Dax’ Kollegen aus der Brigade klatschten nicht, sondern schwiegen fasziniert und betrachteten den Lieutenant mit neuen Augen. Blanche Évrard strahlte vor Stolz. Rosière gesellte sich zu ihnen.
»Na, wer will noch sein Glück versuchen?«
Langsam hoben sich die Hände, und die Münder verzogen sich fröhlich. Ein Stück abseits strich Louis-Baptiste Lebre­ton sich das Haar zurück und bemerkte: »Ich ermittele dann wohl mal allein weiter.«