Anne Capestan beobachtete Rosière, die ihren Triumph nur schwer verbergen konnte. Zwar musste ihr Dreh wegen der Ermittlung erneut eine Zwangspause einlegen, aber ihre Theorie hatte einen unerwarteten Aufschwung erfahren. Vom hohen Ross einer Frau herunter, die recht gehabt hatte, stellte sie mit neuem Eifer eine ganze Reihe von Nachforschungen an und durchforstete Tom Dicates Leben.
Diament, der mit seinem Handy in der Hand ebenso viel Platz einnahm wie eine Telefonzelle, ging der Ballistik auf die Nerven, während Merlot gerade vom Staatsanwalt zurückgekehrt war und jetzt vor dem Kühlschrank stand und seinen Durst mit tüchtigen Schlucken Whiskey-Perrier stillte, eine Hand ausgestreckt, um sich die Ungeduldigen vom Leib zu halten, die sich einen sofortigen Bericht erhofften.
Dax durchquerte das Wohnzimmer mit hochgekrempelten T-Shirt-Ärmeln, die sein brandneues Tattoo entblößten. Das immer noch rote und geschwollene Herz verkündete in zarten, geschwungenen Buchstaben den Namen seiner Auserwählten: »Lieutenante Évrard«.
Blanche Évrard betrachtete die Hommage zum wiederholten Mal mit entwaffnetem Blick, ehe sie sich zu Rosière gesellte, die mit der einen Hand Dokumente durchblätterte und sich mit der anderen Süßkram in den Mund schob.
»Sieht lecker aus, was ist das?«
Rosière hielt ihr die Tüte hin. »Périgord-Walnüsse im Schokoladenmantel. Mundfäule und dicker Hintern garantiert, aber einfach göttlich.«
Endlich hob jemand ab. Commissaire Capestan stellte auf Lautsprecher und warf einen Blick zum Fernseher hinüber. Fünfzehn Uhr. Bei den Versicherungen gingen die Mittagspausen im August, wie überall, fast nahtlos in den Kaffeeklatsch über.
»Hélène Brunet, Schadensleitung«, drang es knisternd aus dem Apparat.
»Ha, die Schadensleitung hat einen Leitungsschaden«, prustete Orsini und schaute sich nach jemandem um, der seinen Witz zu würdigen wusste.
Er wiederholte ihn noch zweimal halblaut – vergeblich. Schließlich entdeckte er Saint-Lô am anderen Ende des Zimmers, der sich den Bauch hielt und schallend lachte. Hochzufrieden vertiefte der Capitaine sich wieder in die Strafregister von Tom Dicates Mitarbeitern.
»Guten Tag, Madame, Commissaire Capestan hier. Ich hätte ein paar Fragen zum Feuer, das letztes Jahr am Set von Tom Dicate ausgebrochen ist.«
Im vorherigen Sommer war die gesamte Produktion niedergebrannt, als schon zwei Drittel des Films abgedreht waren. Orsini hatte die Info aus den Pressearchiven ausgegraben, und Rosière hatte sich an den Wirbel darum erinnert, deshalb wollte Capestan der Sache auf den Grund gehen. Sie hatte den Namen der Versicherungsgesellschaft in Erfahrung gebracht und bemühte sich nun schon seit über zwei Stunden, die zuständige Sachbearbeiterin an den Appa­rat zu bekommen.
»Ach, unser Lieblingskomiker! Zum Glück leben wir mittlerweile im digitalen Zeitalter, bei all den Mahnungen und Drohbriefen müsste sonst ein ganzes Wäldchen pro Jahr dran glauben. Beim letzten Strohhalmziehen hat Marguerite Tom Dicate abgekriegt, aber die ist gerade im Urlaub, die erreichen Sie nicht.«
»Ich würde es trotzdem gern versuchen, es handelt sich um eine dringende polizeiliche Ermittlung. Haben Sie vielleicht ihre Privatnummer?«
»Ja, natürlich. Meiner Meinung nach hätten Sie zwar bessere Chancen mit Brieftauben oder Buschtrommeln, aber probieren Sie es ruhig. Ich schicke Ihnen Handynummer und Mailadresse.«
Sekunden später ploppte die Nachricht auf Capestans Display auf.
»Vielen Dank, Madame, dann störe ich Sie jetzt nicht weiter.«
»Ach, Sie stören gar nicht. Heute Nachmittag mache ich nicht viel mehr als Büroklammerketten basteln.«
»Auf Wiederhören. Ich rufe Ihre Kollegin an.«
»Auf Wiederhören.«
Ehe Capestan auflegte, vernahm sie noch ein gemurmeltes: »Schicken Sie lieber ein Flugzeug mit Spruchband.«
Nach diversen Sprachnachrichten, SMS und E-Mails musste sie sich eingestehen, dass Hélène Brunet recht gehabt hatte. Wenn Marguerite im Urlaub war, verbuddelte sie ihr Handy anscheinend im Sand. Anne Capestans Blick fiel auf ihren Lieutenant von der CyberCrim, den Joséphine mit einem süßen Lächeln abgefangen hatte.
»Dax, du kannst nicht zufällig ein Handy nur über die Nummer orten, oder?«
Dax bedeutete Joséphine, sich zwei Minuten zu gedulden, er würde gleich zurückkommen.
»Och, wenn das GPS an ist, kann ich ein bisschen stöbern.«
»Super. Hier ist die Nummer.«
Capestan riss ein Blatt aus ihrem Notizbuch und kritzelte darauf die Ziffern mitsamt dem Vermerk: »Beseitige deine Spuren! Verrate es nicht dem Staatsanwalt! Danke für deine Mühe! :)«, dreimal unterstrichen.
Dax nickte ebenfalls dreimal, als er den Zettel las, antwortete: »Bitte«, und machte sich auf den Weg zu seinem Computer. Schon nach ein paar Schritten verschwand er hinter dem hünenhaften Lieutenant Diament, der seinerseits auf dem Weg zu Capestan war.
»Die Ballistik hat den Besitzer der Waffe ermittelt«, sagte er in seinem typisch militärischen Tonfall, vermischt mit einem Hauch kindlicher Aufregung.
»Und?« Capestan spielte mit und übernahm die Rolle der vor Neugier brennenden Chefin.
»Es ist Gaétan Bulinski.«
»Interessant.«
»Wird ihm bestimmt nicht gefallen, mich wiederzusehen«, meinte Diament düster.
Tatsächlich hätte der Lieutenant den Schauspieler bei ihrer letzten Unterredung beinahe ins All geschossen. Aber in diesem Fall würde Gaétan sich sicher zuvorkommender zeigen.
»Da muss er sich wohl zusammenreißen.«
Kaum war Diament weg, kehrte Dax zurück und streckte ihr mit stolzgeschwellter Brust und strahlendem Zahnschmelz den Ausdruck eines Satellitenbilds von Margue­rites metergenauem Aufenthaltsort hin.
»Bravo, Dax, vielen Dank. Das Urlaubsparadies der Guten ist ja nicht weit weg. Könntest du mir noch eine Nummer für diesen Eisstand da raussuchen?« Capestan deutete auf eine winzige Hütte mit Streifenmarkise.
Dank der Eroberung des Weltalls und der Hartnäckigkeit der Polizei brachte der Eisverkäufer der Dame ein paar Minuten später eine Kugel Vanille im Hörnchen und bat sie, sofort die Brigade zu kontaktieren. Während Capestan ihren Hacker noch lobte, bemerkte sie plötzlich das schwarz-blau-grün gestreifte Gesicht ihrer Tochter.
Sie stürzte zum Laufstall. »Was ist denn hier los?«
Begeistert taggte das Baby alles in Reichweite mit einem wasserfesten Marker: Laufstall, Schreibtisch, Beine, Kopf, Kleider, Fußboden, Spielsachen. Dax plusterte sich mit beinahe väterlichem Stolz neben dem kunterbunten Kind auf.
»Ihr war langweilig, also habe ich ihr meine Filzstifte geliehen.«
»Aber … warum? Warum?«
»Na, zum Malen. Gestern hat sie doch auch gemalt.«
»Ja, mit ihren abwaschbaren Kinderstiften!«
Dax’ verwirrte Miene entschärfte Capestans Ärger, sie zwang sich, ruhig zu atmen.
»Schon gut, nicht schlimm, nicht schlimm.« Sie rieb sich die Augen, nur um gleich darauf die Hand wieder wegzureißen, weil sie geschminkt war und ihren Mascara verschmierte.
Nachdem sie ihrer verstimmten Tochter die Stifte abgenommen hatte, kehrte sie an ihren Schreibtisch zurück und griff seufzend nach ihrer Tasse. Zum Glück gab es Kaffee schon mindestens genauso lang wie Kinder.