»Alle?«
»Alle. Bis auf Lebreton, der gerade Nachforschungen anstellt«, antwortete Torrez, ohne von seinen Unterlagen aufzublicken. »Heute Morgen waren zwei oder drei hier, aber die sind wieder verschwunden.«
Commissaire Capestan hatte Rosière dazu verpflichtet, höchstpersönlich jeden ihrer Polizisten-Schrägstrich-Schauspieler über den Film aufzuklären. Offenbar hatten sie es gut aufgenommen, setzten weiterhin ihr Vertrauen in die Regisseurin und ließen die Brigade im Stich.
»Keiner ermittelt mehr? Wir haben keine Polizisten mehr?«
»Nein. Nur noch Schauspieler.«
Capestan hatte die Abwesenheit der Filmcrew auf Außen­dreh genutzt, um sich im Studio genauer umzuschauen. Sie hatte die Verleiher zu ihrem Equipment befragt, diskret die Garderoben und Büros unter die Lupe genommen und sich mit den jungen Damen unterhalten, die ihr über den Weg gelaufen waren. Voller Eindrücke, auf die sie sich noch keinen richtigen Reim machen konnte, war sie am späten Nachmittag ins Kommissariat zurückgekehrt, um sich mit ihrem Team zu besprechen. Als sie allerdings von Zimmer zu Zimmer gewandert war, hatte sie nur verlassene ­Sessel, leere Gläser, eine dunkle Küche und eine geschlossene Terras­sentür vorgefunden. Joséphine, die das Ganze für ein Spiel gehalten hatte, war ihr eifrig glucksend hinterhergekrabbelt und Kopf voraus gegen ihre Wade geprallt, als sie abrupt vor Torrez’ Bürotür stehen geblieben war. Pflichtbewusst und einsam wie immer saß der Fels an seinem Arbeitsplatz und ließ sich trotz der sengenden Hitze den Rücken von der Sonne wärmen, die durch die geöffneten Fenster hereinfiel. Begleitet von Nicolas Peyracs Habanera aus dem alten Kassettenrekorder, füllte der Lieutenant Seite um Seite. Der Sänger schmetterte sich zu einem liebes­tollen Akkordeon die Seele aus dem Leib und hatte keinen Schimmer von den Protokollstapeln, die sich neben den Lautsprechern auftürmten.
»Rosière ruft uns an, damit wir ihr den Hintern retten, und jetzt ist ihr alles egal?«
»Künstler«, kommentierte Torrez trocken. »Am Ende zählt nur das Werk, der Rest ist Deko.«
»Hat sie dir Bescheid gegeben, dass es in dem Film um uns geht?«
»Ja.«
»Alles in Ordnung?«
Capestan machte sich Gedanken um ihren Partner, schließ­lich hatte er von allen den schlechtesten Ruf: Er war der Pechvogel, der Unglücksbringer. Außerdem ein verlässlicher, rücksichtsvoller Ehemann und Vater, der sich immer und jederzeit um seine Familie sorgte. Die öffentliche Zurschaustellung einer so düsteren Reputation würde ihnen das Leben bestimmt nicht erleichtern .
»Ja. Ich vertraue ihr wohl.«
Bei dieser Aussage erkannte Capestan, dass sie selbst allmählich an Eva Rosière zweifelte. Wenn die Autorin imstande war, hinter dem Rücken der Brigade einen Blockbuster zu drehen, der all ihre Wehwehchen vor einem Millionenpublikum offenbarte, wenn die Schreiberei sie so im Griff hatte, dass sie ihr alles unterordnete, könnte sie dann nicht auch im Namen der Kunst einen Mord begehen, ihn verschleiern und zu guter Letzt ihre Kolleginnen und Kollegen bitten, sie zu entlasten?
Endlich schaute Torrez auf und legte den Kuli weg. »Aber ich kann nicht fassen, dass Orsini meine Rolle spielt.«
Capestan verkniff sich ein: »Was soll ich mit Dax erst sagen?« Joséphine war mittlerweile zwischen ihren Beinen hindurchgekrabbelt, um das Büro zu erforschen. Das Kabel der Stehlampe erschien ihr wohl vielversprechend, denn sie steuerte mit einem eroberungslustigen »Jaja!« darauf zu. In Sekundenschnelle scannte Torrez seinen Schreibtisch, leerte sein Federmäppchen bis auf Stiftkappen, die zu groß waren, um sie zu verschlucken, fügte drei zusammengeknüllte Papierkugeln hinzu und warf es dem Baby vor die Nase. Nach einem dankbaren Lächeln für seinen Wohltäter stürzte es sich sofort auf die Minischatztruhe und interessierte sich für nichts anderes mehr. Anne Capestan schwor sich, noch am selben Abend ein Dutzend solcher Mäppchen zu kaufen.
»Was diesen Schauspieler angeht, Achille Niessen: Laut seiner Aussage hat er ein Nickerchen gehalten, oder? Hat er irgendwelchen Besuch erwähnt?«
Torrez beugte sich vor, zog eine Schublade auf und holte die Protokolle der Vernehmungen heraus, die er rasch durchblätterte.
»Nein, nichts.«
»Clara Dicate, die Schwester des Produzenten, hat behauptet, aus seiner Garderobe Stimmen gehört zu haben. Das sollten wir überprüfen.«
Capestan ließ sich auf den Stuhl vor Torrez’ Schreibtisch fallen und beobachtete ihre Tochter, die unermüdlich das Mäppchen leerte und wieder füllte.
»Hast du irgendeine Idee? Wer war es?«
Torrez kratzte sich die Stahlwolle am Kinn, die er jeden Morgen mühsam abrasierte, nur damit sie umso dichter nachwuchs. »Es zeichnet sich was ab, aber ein paar Puzzlestücke passen nicht, ich erkenne noch kein Gesamtbild. Und du?«
»Ich erkenne gar nichts. Mir rutscht alles durch die Finger.«
Capestans Gedanken und Eindrücke steckten in Heliumballons. Immer wenn sie in ihrem Gehirn kramte, flogen sie davon, und die Polizistin, die mit beiden Beinen fest auf der Erde verankert war, konnte dem bunten Reigen nur mit leerem Kopf von unten zusehen. Sobald sie versuchte, sich zu konzentrieren, meldete sich ihre Tochter, forderte lautstark Essen, Trinken, Schnuller, Küsschen, Kuscheltuch, Heia oder Pipi. Sie schlief nicht mehr und schaffte es kaum noch, ihre Aufmerksamkeit auf eine Sache zu richten. Instinktiv zückte sie ihren Taschenkalender, als wäre das Datum nicht sowieso in ihre Pupille eintätowiert und somit dauerhaft in ihrem Sichtfeld. 10. August. Pauls Entlassung. Morgen.
Seufzend steckte sie den Kalender wieder ein und unterdrückte die Tränen der Ungeduld. Sie musste sich um ihren Fall kümmern. Alle Spuren verbinden. Dafür war sie hergekommen.
»Eigentlich hatte ich geplant, die neun Verdächtigen und ihre Motive noch einmal zusammenzuschreiben, gemeinsam alles durchzugehen, aber gut …«
»Ach, das haben sie gestern Abend schon gemacht. Die Partie hat die ganze Nacht gedauert. Natürlich hat Évrard gewonnen, allerdings weiß ich nicht mehr, mit wem.«
Capestan musste wohl ziemlich dumm oder verzweifelt aus der Wäsche geschaut haben, denn ihr Partner stemmte den gedrungenen Körper aus seinem Stuhl, umrundete den Schreibtisch und schnappte sich Joséphine, die sich wiederum ihr Mäppchen schnappte. Anschließend bedeutete er Capestan mitzukommen.
Er drückte auf den Lichtschalter, und das sanfte Orange der Fransenlampe gesellte sich zu den Sonnenstrahlen und tauchte den Billardtisch in eine Festbeleuchtung. Auf dem grünen Stoff lag das Cluedo -Spielbrett. Es war doppelt so groß wie vorher, und die Zimmer im alten Herrenhaus hatten inzwischen andere Namen. Das Detektivspiel folgte nun dem Grundriss des Filmstudios.
Der Wintergarten war dem Empfang gewichen, das Musikzimmer der Haupthalle und die Küche der Kantine. Die Felder für Speisezimmer und Keller in der Mitte des Spielbretts hatten sich in Maske und Set verwandelt, ergänzt durch VIP -Garderoben und Regie. Die oberste Zimmerreihe bestand aus Lager, Requisite und Produktionsbüro.
Torrez setzte sich Joséphine auf die Hüfte, um freie Sicht zu haben .
»Was Ausstattung und Entfernungen angeht, ist das Ganze eher grob, aber die Anordnung …«
»Ja.« Capestan staunte. »Das kommt ziemlich genau hin. Und hübsch ist es außerdem. Optisch hat mir Cluedo schon immer gefallen, aber den Spielverlauf fand ich ein bisschen langweilig. Zu viel ist dem Zufall überlassen: Jeder kann der Täter sein, unabhängig von Motiv und Wesen.«
»Stimmt, das ist im echten Leben besser.«
»Eindeutig. Schauen wir uns mal die Karten an. Die hat unser Softwaregenie doch bestimmt auch angepasst.«
Die Gesichter der Verdächtigen im Mordfall ­Michel Aramédian prangten statt der klassischen Cluedo -Figuren auf den Spielkarten.
»Gar nicht schlecht«, bemerkte Capestan, die mit der Kreativität ihres Teams bestens vertraut war.
»Ja, aber …«
Torrez zögerte kurz und biss sich auf die Lippe. Darauf folgte nur selten ein erfreulicher Satz.
»Er hat alles bei Copytop in der Rue du Renard drucken lassen.«
In Sekundenbruchteilen spielten sich in Capestans Kopf diverse Szenarien ab. Sie rieb sich die Schläfen.
»Und?«
»Der Angestellte dort hat die Schauspieler erkannt – Achille Niessen, Gaétan Bulinski, Luna Sellia – und sofort den Zusammenhang zu den aktuellen Zeitungsmeldungen hergestellt. Völlig aus dem Häuschen hat er gefragt, ob er das Spiel auf Instagram posten darf.«
»Was Dax natürlich verneint hat«, erwiderte Capestan, obwohl sie längst vom Gegenteil überzeugt war .
»Er hat sogar mit erhobenen Daumen posiert. Und den Hashtag #RealLifeCluedo vorgeschlagen.«
Dagegen ist Joséphine doch ganz artig, dachte Capestan, während sie nach einer Karte griff und sie umdrehte. Auf der Rückseite standen die jeweiligen Zeitspannen, potenziellen Motive und Eindrücke vom Verhör. Sie warf ihrem Partner einen resignierten Blick zu, doch der lächelte beruhigend.
»Nein, der Typ hat nur die Vorderseiten fotografiert. Dax war mit der Rückseite nicht zufrieden: zu viel Text. Er hat die Schriftgröße verringern müssen, das hat ihm nicht gefallen.«
»Ein Hoch auf die Perfektionisten!« Stöhnend stieß Capestan gegen die winzigen Metallwaffen des Gesellschaftsspiels.
Die Pistole legte sie in die frühere Eingangshalle, die jetzt die Requisite war, den Dolch und das Gift ins Produktionsbüro. Dann strich sie mit dem Zeigefinger über die Spiel­figuren und hielt einen Moment inne.
»Für Rosière haben sie keine Karte gebastelt?«
Torrez verlagerte das Gewicht aufs andere Bein. Joséphine, die die Veränderung im Tonfall ihrer Mutter bemerkt hatte, hörte auf zu brabbeln.
»Nein.«
Der Lieutenant schwieg kurz, streichelte die Stirn des Mädchens und fragte: »Hätten sie denn eine basteln sollen?«
Commissaire Capestan ließ den Blick über den Billardtisch schweifen und nahm sich Zeit für ihre Lüge. »Nein, natürlich nicht«, sagte sie schließlich .
Sie mischte die Karten und breitete die Verdächtigen aus. Torrez setzte Joséphine in ihr Reisebettchen, verschwand ins Wohnzimmer und kehrte mit den Armen voll Spielzeug aus dem Laufstall zurück. Anschließend schob er zwei Barhocker für Capestan und sich an den Billardtisch. Die Partie konnte beginnen. Capestan rollte eine Kugel über den grünen Stoff und stoppte sie an der Ecke des Spielbretts.
»Der Brand bei Tom Dicates letztem Film gehört auch dazu.«
Torrez wechselte von seiner Rolle des wohlinformierten Polizisten, der alle Details des Falls kannte, in die des Croupiers, platzierte die Karten und stellte sie vor: »Karte 1: Luna Sellia als Fräulein Gloria Roth. Zeit: maximal sieben Minuten zwischen der Rückkehr vom Mittagessen und dem Fund der Leiche, um von der Eingangshalle bis zum Büro zu laufen, den Mord zu begehen und zu flüchten. Motiv: Wurde des Diebstahls beschuldigt, obwohl Aramédian in Wahrheit das fragliche Armband entwendet hatte. Ihre ­Vernehmung hat nichts ergeben, sie war umringt von Manager, Anwalt, Bodyguards und hat nur in Floskeln geredet«, fasste Torrez zusammen. »Eins wissen wir bei ihr dafür sicher: Sie hätte ­Michel Aramédian und Tom Dicate nicht verwechselt, weil sie gerade vom Mittagessen mit Letzterem zurückkam. Rein körperlich kann sie es mit jemandem von der Statur des Opfers nicht aufnehmen, was das Ketamin erklären würde, mental allerdings ist sie meiner Meinung nach durchaus zu einem solchen Verbrechen in der Lage. Ihr Vater war schon im Knast, genau wie ihr älterer Bruder, sie selbst hat für kleinere Delikte ein paar Monate auf Bewährung bekommen. Und um sich Drogen zu verschaffen, hätte sie bloß die Handtasche ausleeren müssen.«
Capestan stellte Lunas rote Spielfigur in die Haupthalle.
»Karte 2: Achille Niessen als Reverend Grün. Zeit: fünfzehn Minuten zwischen dreizehn Uhr fünfzehn und dreizehn Uhr dreißig, um von seiner Garderobe ins Büro nebenan zu gelangen, das Opfer zu erdolchen und zurückzuschleichen. Motiv: Sein letzter Film geht gerade durch die Decke, und er wird mit Angeboten überschüttet. Wenn er aus Dicates Film rauskommt, kann er richtig Karriere machen, sogar in den USA . Wir sprechen hier von Millionendeals.«
Fragend reichte Capestan Torrez die grüne Spielfigur. Der Lieutenant platzierte sie in den VIP -Garderoben.
»Er gibt sich lässig und entspannt, aber Merlot hält ihn für einen zu allem entschlossenen Typen mit großem Ego. Der Capitaine hat so getan, als würde er ihn nicht kennen, und ihn kaum zu Wort kommen lassen, das hat ihm gar nicht gefallen. Laut Merlots Erfahrungen bei der Sitte können Erfolgshunger und Machtrausch zu Verbrechen führen, gegen die ein Mord noch harmlos wirkt. Seiner Meinung nach entspricht Achille Niessen diesem Profil …
Karte 3: Gaétan Bulinski als Professor Bloom. Zeit: ungefähr vierzig Minuten, abzüglich der Spanne zwischen dreizehn Uhr achtzehn und dreizehn Uhr dreiundzwanzig, als die Kamera in der Haupthalle ihn beim Verlassen des Gebäudes und der anschließenden Rückkehr filmt. Motiv: unbekannt. Laut Rosière wollte er weg, weil sein Kumpel den ganzen Ruhm einheimste. Das ist zwar dürftig, aber vielleicht gibt es da noch mehr. Wir haben seine frühere Zusammenarbeit mit Aramédian und Dicate unter die Lupe genommen, allerdings nichts Handfestes gefunden.«
Capestan stellte die violette Spielfigur ebenfalls in die VIP -Garderoben.
»Karte 4: Clara Dicate als Oberst von Gatow. Zeit: zehn Minuten zwischen dreizehn Uhr fünfundzwanzig und dreizehn Uhr fünfunddreißig, direkt vor dem Tatort. Motiv: Nach dem Brand besitzt sie bereits genauso viele Anteile an der Produktionsfirma wie ihr Bruder. Beim geringsten Problem während dieses Drehs, und das wäre ein Mord, würde der Aufsichtsrat ihr die alleinige Leitung der Firma übergeben. Vor allem war sie mit dem Opfer verabredet – und das könnte alles bedeuten: Erpressung und und und. Wie Luna Sellia hat Clara Dicate nicht die körperlichen Voraussetzungen für den Mord, wohl aber das Temperament.«
Torrez platzierte die gelbe Spielfigur eigenmächtig vor dem Produktionsbüro.
»Karte 5: Inès Chamarret, Zélie Rœlsberg und Véronique Malabarre als Frau Weiß. Zeit: jeweils circa acht Minuten, als sie die Kantine verlassen, um zur Toilette zu gehen. Acht Minuten sind ein bisschen knapp für den Weg bis zum Produktionsbüro auf der anderen Seite des Studios und zurück. Dazu noch der Mord, und es wird richtig eng. Motiv: Der Produzent zahlt schlecht. Die drei bekommen nur eine Pauschale, obwohl die Überstunden quasi schon im Drehplan stehen. Tom Dicate ist der gesamten Crew gegenüber beleidigend, nachlässig und despotisch, aber das kennt man beim Film, genau wie in der Wirtschaft, dafür begeht man keinen Mord. Im Moment sieht es hier also ähnlich aus wie bei Bulinski: Wir wissen noch nicht genug. «
»Dax hat nur eine Karte für alle drei gemacht?«
»Ja. Was unsere Ermittlung betrifft, sind die Damen bis dato vergleichbar. Natürlich können wir uns irren …«
»Okay.« Capestan stellte die weiße Spielfigur in die Kantine. »Letzte Karte.«
»Karte 6: Benoît Marteau alias Ben Big Ben als Baronin von Porz. Zeit: zehn Minuten zwischen dreizehn Uhr vierzig und dreizehn Uhr fünfzig, um von der Maske, wo er nach dem Mittagessen angeblich gelesen hat, zum Produktionsbüro zu kommen. Motiv: Seine kleine Schwester ist von Tom Dicate von einem Tag auf den anderen wegen grober Fahrlässigkeit entlassen und in der gesamten Branche schlechtgeredet worden. Außerdem wusste nur sie von der unbezahlten Prämie beim letzten Film und dass ein Brand den Produzenten ruinieren würde. Womöglich hatten die Geschwister schon damals eine Rechnung mit Dicate offen. Sarah Marteau ist jedenfalls bis heute arbeitslos und leidet an Depressionen.«
»Ein Detail, das Benoît uns bei seiner Vernehmung verschwiegen hat«, merkte Capestan an. Und während sie die blaue Spielfigur in die Maske stellte, fügte sie hinzu: »Die Baronin passt gar nicht zu ihm.«
»Stimmt, aber Lebreton wollte unbedingt, dass Clara ­Dicate Oberst von Gatow ist, also blieb nichts anderes
üb­rig.«
Capestan nickte, als handelte es sich bei der ganzen Sache um eine völlig gängige Ermittlungsmethode. Anschließend schnappte sie sich drei zusätzliche Spielfiguren aus dem Plastiktütchen und platzierte sie auf dem Spielbrett: eine schwarze für den Regisseur im Produktionsbüro, eine graue für den Produzenten in der Haupthalle, eine rosafarbene für Rosière am Set.
Die Fliesen in Schachbrettoptik, die Bücherregale in der Bibliothek, die grünen Polstermöbel im Salon, die Pflanzen im Wintergarten: Die Cluedo -Zimmer standen im harten Kontrast zu den schlichten, modernen Hallen des Filmstudios. Trotzdem machte das mit den Figuren, Waffen und Bildchen versehene Spielbrett Capestans schläfriges Gehirn munter. Wege zeichneten sich ein, kreuzten sich, ver­anschaulichten und fixierten ihre flüchtigen Gedanken. Ein Sonnenstrahl fiel schräg durchs Fenster herein und beleuchtete die Miniaturpistole.
»Wurde Gaétan Bulinskis Waffe aus seiner Garderobe ­gestohlen?«
»Ja. Aber lange vor dem Schuss auf Tom Dicate, sogar noch vor dem Mord.«
Auf einmal ertönte das Trampeln einer Elefantenherde aus dem Wohnzimmer. Von der Kunst entbunden, waren die Polizisten in ihr Gehege zurückgekehrt. Schrank­türen klapperten, der Kühlschrank ächzte, Wasser rauschte aus dem Hahn in die Spüle, und die Stimmen über­lagerten sich zu einer Gesprächssymphonie. Quietschende Gummisohlen näherten sich dem Billardzimmer und damit ­Capestan, ­Torrez und Joséphine, die ihre Duplo-Steine sinken ließ.
Évrard steckte den Kopf durch die Tür, und ohne die drei auch nur zu begrüßen, rief sie über die Schulter: »Kommt schnell, die spielen ohne uns!«
Die Elefantenherde setzte sich wieder in Bewegung und stürmte den kleinen Raum, prallte gegen Wände und ­Möbel. Torrez breitete die Arme aus, um das Spielbrett und die wohlplatzierten Figuren zu schützen, während sich der Rest der Brigade wie Broker an der New Yorker Börse gegenseitig überschrie.
»Oberst von Gatow mit dem Kerzenleuchter in der Maske!«
»Am Set gibt es keinen Kerzenleuchter, Lewitz. Wir haben uns auf Pistole, Dolch und Gift beschränkt«, erinnerte Évrard.
»In der Requisite liegen Seile und Rohre und bestimmt auch ein Kerzenleuchter«, erwiderte Lewitz.
Sofort stellten alle die unglaubwürdigsten Hypothesen auf, aus Spaß am Spiel und der gemeinsamen Freude.
Capestan trat zu Dax, der gerade eine Karte im Mord­kuvert verschwinden ließ, und fragte sich jetzt schon, welche.
»Dax, könntest du bitte das Skype-Konto von Reverend Grün knacken und herausfinden, ob er am Tattag zwischen dreizehn und vierzehn Uhr mit jemandem telefoniert hat? Oberst von Gatow hat ihn angeblich reden hören, aber mit dem Handy hat man im Studio keinen Empfang, deswegen müssen wir ein Gespräch über Internet ausschließen, bevor wir einen Besucher und damit einen neuen Verdächtigen in Betracht ziehen.«
»Im Spiel oder in echt?«, fragte Dax, der schon genug Schwierigkeiten hatte, zwischen Film und Realität hin- und herzuswitchen, auch ohne diese dritte Dimension.
»In echt, in echt. Achille Niessens Skype-Konto.«
Das Klingeln des Festnetzapparats schallte durch die Wohnung. Sofort wirbelte Capestan zu ihrer Tochter herum, aber bei so viel Tohuwabohu schlief Joséphine sowieso nicht. Torrez rutschte wie ein schwerfälliger Puma von seinem Hocker und tapste auf Lebretons Schreibtisch im Wohnzimmer zu, um den Anruf anzunehmen und gleichzeitig dem Pulk seiner Kollegen zu entfliehen, die ihn über das Spiel ganz vergessen hatten. Mit dem Hörer am Ohr bewegte er sich zurück in Richtung Billardzimmer.
Nachdem er eine Weile lang schweigend gelauscht hatte, bedeckte er das Mikrofon mit der Hand und flüsterte ­Capestan zu: »Der Staatsanwalt. Er hat die Mail mit den neuesten Protokollen gelesen und Rosières Vorführung und eine Hausdurchsuchung angeordnet. Was machen wir jetzt?«