Die Energie von sechs Kilo Orangen strömte durch Anne Capestans Adern. Der weite Himmel verhieß eine Zukunft ohne Mauern, geteilte Tage, filmreife Glücksmomente. Und dann waren da noch die acht Stunden. Acht Stunden ununterbrochener Schlaf. Die änderten alles. Sie hatte den Eindruck, zu sich selbst zurückzufinden, die Kontrolle über ihren Körper und Geist wiederzuerlangen. Jede Einzelheit an diesem Morgen belebte sie. Das Frühstück zu dritt, die zwanzig Minuten Fußmarsch allein, die frische Morgenluft ohne Sturmböen des Geschreis, die klaren Gedanken ohne Kurzschlüsse, weil Joséphine an der Besteckschublade zerrte.
Von außen betrachtet, schritt Capestan ganz normal aus, aber innerlich machte sie Luftsprünge. Ihre Beine stürmten in Richtung Kommissariat, freuten sich unter dem kurzen Rock über die wärmende Sonne und feierten den Sommer, der mitten im August endlich begann. Sie erklomm die Treppe bis in den fünften Stock, ohne den Aufzug überhaupt in Erwägung zu ziehen, in den man den Buggy schräg hineinquetschen musste, um sich anschließend die Knöchel an den Rädern und die Schienbeine am Rahmen zu stoßen. Kraftvoll streifte sie sich die Sandalen auf der Fußmatte ab.
Anne Capestan betrat ihr Reich wie eine Hochleistungssportlerin in der letzten Phase eines Wettkampfs. Jetzt musste sie liefern.
Sie winkte Lebreton kurz zu, öffnete Torrez’ Bürotür einen Spalt und rief eine schnelle Begrüßung hinein. Zurück im Wohnzimmer, schnappte sie sich die dicke Akte auf ihrem Schreibtisch und klebte die vielen Post-its mit vagen Eindrücken, halben Wörtern, bruchstückhaften Gedanken und unabgeschlossenen Überlegungen hinein, die überall herumlagen. Danach packte sie alles auf den Couchtisch vor dem Whiteboard, holte das Cluedo -Spiel aus dem Billardzimmer und breitete es auf dem flauschigen Wollteppich aus, den Rosière vorigen Winter gekauft und Merlot bereits mit drei so perfekten Weinflecken verziert hatte, dass sie als Muster durchgingen. Dann marschierte sie in die Küche, um sich einen Kaffee zu machen. Ungeduldig und voller Vorfreude rieb sie sich die Hände. Sie spürte, wie ihre Neuronen sich regten, in alle Richtungen flitzten. Heute Abend. Bis heute Abend würde sie ihre Intuition und die Fakten zusammenführen.
Konzentriert saß sie auf dem Sofa und blätterte in den Dokumenten. Diese Drogensache beschäftigte sie. Ketamin kaufen, heimlich über das Kokain kippen, darauf bauen, dass das Opfer es schnupfte: so viele zusätzliche Schritte, so viele zusätzliche Risiken. Und wofür? Wenn der Mörder es wirklich auf ­Michel Aramédian abgesehen hatte, hätte er ihn nicht erst betäuben müssen: Der Gute hatte jeden Tag zur gleichen Zeit sein Nickerchen gehalten. Obendrein hatte er zwar am Tattag gekokst, aber das war eine Ausnahme gewesen, kaum vorhersehbar. Wenn der Mörder jedoch eigentlich Tom Dicate im Visier gehabt hatte, wäre der Ketamingebrauch schon logischer: Letzterer konsumierte reichlich Drogen und machte keinen Mittagsschlaf. Nur puderte er sich erst ab dem Nachmittag die Nase. Sofern der Mörder sein Verbrechen also für die Mittagspause geplant hatte, musste er es schlicht nicht gewusst haben. Ebenso wenig wie die Tatsache, dass Tom auswärts essen würde. Doch eine so aufwendige Vorbereitung widersprach all den Unwägbarkeiten, der Täter konnte nicht gleichzeitig ein Planer und ahnungslos sein. Das Ketamin passte nicht ins Bild.
Commissaire Capestan ging noch einmal die Vernehmungsprotokolle durch. Achille Niessen, Gaétan Bulinski, Luna Sellia … Bei Zélie Rœlsberg, Véronique Malabarre und Inès Chamarret stolperte sie schließlich über einen Satz. Sie richtete sich auf. Ihr Blick glitt über die Rotweinflecken, wieder und wieder, bevor sie erneut Luna Sellias Protokoll zur Hand nahm. Nein, darin standen nicht nur leere Floskeln, die Schauspielerin hatte sich einen Moment lang vergessen und Informationen preisgegeben, die eine nähere Betrachtung verdienten. Capestan dachte an Clara Dicates und ­Michel Aramédians Verabredung zurück, an Gaétan Bulinskis Waffe, die schon nach wenigen Drehtagen verschwunden war, an Rosières Wutausbruch, als sie den Vertragszusatz entdeckt hatte.
Die Brigade hatte zu viele Fährten gleichzeitig verfolgt, Rosière hatte sie vom Kurs abgebracht. Mit einem Satz war Capestan auf den Beinen. Sie hatte das Rätsel gelöst. Jetzt musste sie nur noch so schnell wie möglich die Beweise finden, die ihre These stützten und die sie bisher vernachlässigt hatten.
Zuerst das Praktische. Sie marschierte zu Torrez’ Büro, klopfte dreimal und riss die Tür auf, bevor ihr Partner mit seinem »Herein« fertig war.
»José, gibst du mir bitte die Liste mit den Gegenständen aus den Schränken am Tatort?«
Torrez hob zwei Mappen hoch und legte sie wieder ab, stand auf und ging zur Lampe, unter der sich diverse lose Blätter stapelten. Beim Anblick seines T-Shirts musste Capes­tan lächeln. Darauf prangten die Abdrücke von sechs bunten Kinderhänden in allen Größen, verziert mit Farbklecksen. Torrez folgte ihrem Blick.
»Tja, Nudelketten kann man einfacher verschwinden lassen, wenn man im Büro ankommt. Da ist sie ja!« Er zog ein Dokument hervor. »Also: ein Tacker, Werbegeschenk, ein Lineal, Werbegeschenk, ein Paar saubere Socken, Werbe­geschenk, ein Kalender, Werbegeschenk, ein Digitalwecker, Werbegeschenk, eine Küchenwaage, Werbegesch…«
»Halt, das reicht mir schon, danke!«, unterbrach Capestan ihn, schon halb auf dem Rückweg ins Wohnzimmer, das Handy in der Hand.
Sie öffnete die Favoritenliste in ihren Kontakten und rief Rosière an.
»Eva, ich werde dich jetzt bitten, mir und auch dir selbst gegenüber wirklich ehrlich zu sein. Aramédian hatte es nicht verdient, als Koautor genannt zu werden, oder?«
Stille am anderen Ende der Leitung. Im Hintergrund hörte Capestan mehrere Stimmen, die die Regisseurin ­ihrerseits mit Fragen löcherten. War Rosières Schweigen wohl dem Nachdenken oder der Unaufmerksamkeit geschuldet?
»Anne, ich versichere dir, es gab absolut keinen Grund, warum er den Titel oder die Rechte eines Drehbuchautors hätte bekommen sollen.«
»Okay, danke. Falls Orsini gerade, statt zu ermitteln, drehbereit neben dir steht, würde ich ihn gern sprechen.«
»Ich reiche dich weiter.«
»Hallo, Anne«, ertönte die beschämte Stimme des Capitaine. »Brauchst du mich?«
Capestan hätte am liebsten »Nein, zum Glück nicht« geantwortet, weil es ausnahmsweise einmal stimmte, aber sie wollte ihn nicht verletzen.
»Ist dir beim Diebesgut aus Aramédians Wohnung tatsächlich nichts Auffälliges untergekommen? Ein Brief, ein Vertrag, eine Speicherkarte, ein USB -Stick?«
»Nein, aber … nun ja … durch die Dreharbeiten hinke ich ein wenig hinterher, die Durchsicht ist noch nicht ganz abgeschlossen.«
»Was heißt das? Wie viele Säcke von den fünf fehlen?«
»Vier. Und die Hälfte der USB -Sticks.«
»Hoffentlich bist du wirklich gut in diesem Film«, be­endete Capestan das Gespräch und legte auf.
Lebreton war nicht an seinem Platz, wahrscheinlich rauchte er auf der Terrasse. Capestan gesellte sich zu ihm. Der Commandant hatte die langen Beine auf einem der Liege­stühle ausgestreckt, und sein linker Daumen betätigte ohne Unterlass die Leertaste des Laptops auf seinem Schoß, während die rechte Hand die Zigarette hielt. Eine Haarsträhne hing ihm ins Gesicht, doch er nahm sich nicht die Zeit, sie wegzustreichen.
»Entschuldige, Louis-Baptiste, aber was treibst du da?«
»Ich verfolge das Ketamin zurück. Ich gleiche die Infos der PJ , der Drogenfahndung und der Tierärzte ab … Ich habe noch nicht mal Paris durch, ganz zu schweigen vom Umland. Und du? Du hast deinen Polizistinnenblick drauf. Ist lange her.«
Capestan lächelte und versuchte gar nicht erst, den Triumph zu verbergen, den sie mit Sicherheit ausstrahlte.
»Ja, ich hab da was. Mir fehlt nur noch das Motiv, aber das steckt bestimmt in den Säcken aus der Wohnung des Regisseurs. Vier davon müssen noch durchgesehen werden.«
»Ist das aussichtsreicher als meine Tierärzte?«
»Ich glaube schon.«
Lebreton drückte seine Zigarette im tönernen Aschenbecher aus, klappte seinen Laptop zu und stand auf. Mit einer kleinen Verbeugung gab er Capestan zu verstehen, dass er ihr folgen würde, um Müllsäcke zu durchwühlen.
Im Gang trafen sie Torrez, der sich wie immer eng an die Wand presste, um sie nicht zu streifen. Capestan nutzte die Gelegenheit und betraute den Lieutenant mit der Klärung der letzten noch offenen Frage.
»Könntest du bitte die Versicherungsgesellschaft anrufen und nachhaken, ob bei Aramédians Film in Sachen Vor­untersuchungen, Verhandlungen, Prämien alles reibungslos verlaufen ist? «
Zwei Stunden später waren Capestan und Lebreton immer noch am Werk. In Orsinis Büro sah es aus, als wäre der Schlitten eines bipolaren Weihnachtsmanns explodiert. Die verrücktesten Gegenstände stapelten sich auf Teppich und Möbeln: Schuhe, Hämmer, eine aufblasbare Gummipalme, eine Elvis-Büste, ein Eierbecher im Jacquardmuster, eine Taschenlampe, zwei Sturmhauben, sechs Schnee­kugeln, eine Mundharmonika, eine Biografie von Alain Delon mit Gaétan Bulinskis Namen auf der Innenseite, eine Dose mit einem unerschöpflichen Grasvorrat und haufenweise Schlüsselanhänger. Diese Dinge nahmen zwar viel Platz ein, hatten aber keine eingehende Untersuchung erfordert. Für den im Vergleich kleinen Haufen an Notizbüchern, Mappen und Briefen brauchten sie dafür ewig, alles musste genau gelesen und ausgewertet werden. Ganz zu schweigen von den USB -Sticks, von denen wahrscheinlich jeder virenverseucht war. Irgendwann würden sie wohl einen der wenigen, altersschwachen Computer der Brigade opfern müssen, aber Capestan gab die Hoffnung nicht auf, ihr Motiv auch so aufzustöbern.
Plötzlich brach Lebreton in schallendes Gelächter aus und hielt ihr einen Umschlag hin.
»Hast du das hier gesucht?«