Wirtschaft und Politik

Südengland ist in elf Grafschaften unterteilt: Berkshire, Devon, Dorset, Hampshire mit der Isle of Wight, Kent, Somerset, Surrey, Sussex (East und West) und Wiltshire. Eine Sonderstellung genießt das Herzogtum Cornwall mit den Isles of Scilly und das Metropolitan County rund um Bristol.
Zusammen leben in allen Grafschaften (Counties) Südenglands knapp elf Millionen Menschen, das entspricht rund 22 Prozent der englischen Bevölkerung. Die höchste Bevölkerungsdichte besitzt die Hafenstadt Bristol, besonders spärlich besiedelt ist Cornwall, wo statistisch gesehen 134 Einwohner auf einem Quadratkilometer leben. Großstädtische Ballungsgebiete sind neben Bristol die beiden Schwesterstädte Bournemouth und Poole, die Region um Plymouth sowie die beiden Hafenstädte Southampton und Portsmouth. In politischer Hinsicht haben die Grafschaften keine Entscheidungskompetenzen, die mit den deutschen Bundesländern auch nur annähernd vergleichbar wären. Auch die übergeordneten Regionen (in diesem Fall: South East und South West) werden nicht durch parlamentarische Vertreter repräsentiert.
Das Vereinigte Königreich von Großbritannien und Nordirland ist eine parlamentarisch-demokratische Erbmonarchie, an deren Spitze das durch Königin Elizabeth II. vertretene Haus Windsor steht. Seit einem 2011 getroffenen Beschluss der Commonwealth-Staaten ist das jeweils erstgeborene Kind unabhängig von seinem Geschlecht der unmittelbare Thronfolger. Außerdem muss der Monarch Mitglied der Anglikanischen Kirche sein, da er gleichzeitig als deren Oberhaupt fungiert; er darf daher auch keine Katholikin ehelichen. Das im fünfjährigen Turnus gewählte Parlament besteht aus dem im Mehrheitswahlrecht gewählten Unterhaus (House of Commons) und dem politisch unbedeutenden Oberhaus (House of Lords). Das wichtigste politische Amt hat der vom König ernannte Premierminister inne; er besitzt eine größere Machtfülle als der deutsche Bundeskanzler. So kann der Prime Minister eigenständig Minister berufen oder den Monarchen zur Auflösung des Parlamentes veranlassen. Die bedeutendsten Parteien sind die Labour Party und die Konservativen, Tories genannt. Zwar ist Großbritannien Mitglied der Europäischen Union, doch bevorzugt man nicht nur in der Währungsfrage eine Politik der Splendid Isolation. Der Kontinent ist zwar nur 33 Kilometer entfernt, England und das restliche Europa trennen aber in mentaler Hinsicht bekanntlich Welten. Für Winston Churchill, der jahrzehntelang auf seinem vielgeliebten Landsitz Chartwell in Kent lebte, war der Kanal keine Wasserstraße, sondern „eine Weltanschauung“.
Punk isn't dead
Sieht man von einigen Problembereichen wie beispielsweise der Autoindustrie ab, so floriert die britische Wirtschaft seit Ende der 1990er-Jahre in ungeheurem Ausmaß. Während die Zahl der Einkommensmillionäre innerhalb von zehn Jahren von 6600 auf 48.000 gestiegen ist, klafft allerdings die Schere zwischen Arm und Reich immer weiter auseinander. Gleichwohl bedeutet ein hohes Einkommen nicht zwangsläufig ein Leben in überschwänglichem Luxus. Die südenglischen Lebenshaltungskosten liegen erheblich über dem westeuropäischen Durchschnitt. Von der Arbeitslosigkeit besonders betroffen sind neben den Londoner Stadtvierteln Hackney, Tower Hamlets und Haringey auch die Städte Bristol und Portsmouth sowie manche Regionen von Cornwall, in denen jeder sechste Einwohner ohne Arbeit und ohne Perspektive ist. Ganz anders stellt sich die wirtschaftliche Situation im Südosten dar: Die Arbeitslosenquote liegt häufig unter zwei Prozent, die Zukunftsaussichten sind ausgezeichnet. Die Grafschaften Kent, Berkshire und Surrey profitieren selbstverständlich von ihrer räumlichen Nähe zu London. Selbst in Winchester leben Pendler, die jeden Tag in überfüllten Zügen in die Londoner City fahren. Gemeinhin spricht man daher vom Stockbroker Belt, da hauptsächlich Bezieher höherer Einkommen ihren Traum vom Haus im Grünen verwirklicht haben. Schon George Orwell lästerte 1936 darüber, „die parasitäre Klasse der Dividenden-Besitzer“ lebe aus klimatischen Gründen im Süden von London. Verständlich, dass die Wahlkreise meist von den Konservativen dominiert werden.
Größtenteils sind die Erwerbstätigen heute im Dienstleistungssektor beschäftigt, in Bristol kommt der Luft- und Raumfahrtindustrie eine größere Bedeutung zu. Sieht man einmal von der Themsemetropole ab, so ist Southampton vor Dover die bedeutendste südenglische Hafenstadt. Die internationale Schiffbaukrise hat auch die britischen Werften erschüttert, ähnlich schlecht ist es um die Fischereiindustrie bestellt. Die Erträge sind wegen Überfischung seit Jahren rückläufig, sodass mittlerweile nur noch zwei Drittel der verspeisten Fische aus heimischen Gewässern stammen. In vergleichbarer Weise hat auch die Bedeutung der Landwirtschaft abgenommen: Nur noch zwei Prozent der Menschen in Südengland verdienen damit ihr Geld. Die in Tweedjacken und Stiefel gekleideten Gutsbesitzer sind ein Stück lebendige Fassade.
Ein bedeutender Wirtschaftsfaktor ist auch der Tourismus. Bis zum 18. Jahrhundert war das Ziel einer Englandreise in erster Linie London; die Stadt bot Kunst, Wissenschaft, warenästhetischen Genuss und das Erlebnis politischer Öffentlichkeit und weltstädtischen Lebensgefühls. Erst im Zeitalter des Massentourismus richtete sich das Interesse verstärkt auf andere Regionen. Gegenwärtig sind Cornwall und Devon die beliebtesten englischen Reiseziele. Mit Canterbury, Stonehenge, Bath sowie der für ihre Fossilien berühmten Küste von Dorset und dem benachbarten East Devon finden sich in Südengland zudem vier historische Stätten, die zum Weltkulturerbe der UNESCO gehören. Im West County ist jeder zehnte Arbeitsplatz von der Tourismusindustrie abhängig.
Thomas Cook, der Erfinder des Massentourismus
Die Geburtsstunde des organisierten Tourismus schlug bekanntlich 1845 in England, als Thomas Cook das erste Reisebüro gründete. Cook, ein gelernter Tischler und engagierter Wanderprediger, hatte 1841 seine erste Gesellschaftsreise von Leicester nach Loughborough organisiert, um 570 Mitstreitern die Teilnahme an einer Veranstaltung gegen Alkoholmissbrauch zu ermöglichen - Tee und Gebäck inklusive. Nur vier Jahre später verkaufte der Pionier des Massentourismus Reisen, Ferienaufenthalte und Ausflüge mit der Eisenbahn. Zur Weltausstellung 1851 in London gelang es ihm, seinen Kunden Sonderzüge und spezielle Einlasskonditionen zu bieten. Durch direkte Vertragsbindung von Beförderungsunternehmen und Beherbergungsbetrieben sowie die Einrichtung von Reiseschecks und Kreditbriefen konnte er seine Klientel bestens unterbringen und ausstatten.
Die englische Mehrwertsteuer beträgt 20 Prozent, der Pfundkurs hat sich längst wieder stabilisiert. Das merken besonders die Touristen, die jetzt etwas tiefer in die Urlaubskasse greifen müssen als in den Vorjahren. Eine Teilnahme der Briten an der Europäischen Währungsunion liegt derzeit noch in weiter Ferne.
„Und dann England - Südengland, wahrscheinlich die gepflegteste Landschaft der Welt. Wenn man hier durchfährt, fällt es schwer zu glauben - besonders wenn man sich mit den eleganten Polstern eines Schiffszuges unterm Hintern friedlich von einer Seekrankheit erholt-, dass irgendwo wirklich etwas passiert. Erdbeben in Japan, Hungersnöte in China, Revolutionen in Mexiko? Keine Angst, die Milch wird morgen früh vor deiner Tür stehen, der New Statesman wird am Freitag erscheinen.“
George Orwell, Mein Katalonien (1937)