Nach dem Tode Kants (1804) tritt seine Philosophie bald in den Hintergrund; durch mehrere Jahrzehnte wird sie durch andere Denkbewegungen verdrängt. Auf der einen Seite entwickelt sich, zwar von Kant her, aber in jeder Richtung weit über ihn hinausgehend, das idealistische Denken (Fichte, Schelling, Hegel). Auf der anderen Seite kommt es, als kritische Reaktion darauf, zum Vordringen des Positivismus (Comte) und Materialismus (Büchner, Vogt, Moleschott), bei den Linkshegelianern zur atheistischen Religionskritik (Feuerbach) und später zum dialektischen Materialismus (Marx und Engels). Im ganzen ist die Mitte des 19. Jahrhunderts gekennzeichnet durch einen Tiefstand philosophischen Denkens. Dagegen erhebt sich der Ruf: Zurück zu Kant! Schon Kuno Fischers Kantwerk (in seiner Geschichte der neueren Philosophie, 1852 bis 1877) trägt viel zu neuem Kantverständnis bei. Noch mehr gibt Otto Liebmanns Schrift »Kant und die Epigonen« (1865) den entscheidenden Anstoß zur neukantischen Bewegung – durch den Aufruf, der am Ende jedes Kapitels wiederkehrt: »[…] also muss zu Kant zurückgegangen werden«.
Nun setzt eine Kanterneuerung ein, bald als Neukantianismus bezeichnet, der zu einer der mächtigsten Geistesbewegungen vieler Jahrzehnte wird und bis um die Mitte des 20. Jahrhunderts fortwirkt. Eine Reihe bedeutender Werke über Kant (Kuno Fischer, Hermann Cohen, Friedrich Paulsen, Hans Vaihinger, Karl Vorländer u. a.) erforscht seine Philosophie. Zugleich entwickelt sich aber der Neukantianismus in verschiedene Richtungen. Im Allgemeinen hält er an der These Kants von der Unmöglichkeit der Metaphysik fest; Kant gilt einseitig als Antimetaphysiker (diese Auffassung wird erst durch Friedrich Paulsen, später besonders durch Max Wundt und Martin Heidegger durchbrochen). Wenn es aber keine Metaphysik gibt noch geben kann, was ist dann noch Philosophie, nachdem die empirischen Gegenstandsbereiche Aufgaben der Einzelwissenschaften sind? Die Antwort darauf: Die Philosophie hat keinen eigenen Sachbereich, ihre Funktion liegt in »Wissenschaftstheorie«, d. h. in erkenntnistheoretischer und methodologischer Reflexion der positiven Wissenschaften. Hierin unterscheiden sich die beiden bedeutendsten Schulen des Neukantianismus: Die Marburger Schule befasst sich mit einer Theorie der exakten Naturwissenschaften, die Badische Schule mit einer Theorie der Geschichte und Kulturwissenschaft oder, wie man bald sagen wird, der Geisteswissenschaften, in denen sich das Wertproblem stellt.
Die Hauptvertreter der Marburger Schule sind Hermann Cohen und Paul Natorp; aus ihr hervorgegangen sind u. a. Ernst Cassirer und Nicolai Hartmann, die jedoch völlig eigene Wege gehen.
Hermann Cohen (geboren 1842 in Coswig, gestorben 1918 in Berlin; Professor in Marburg) ist der Begründer der Marburger Schule. Er befasst sich vor allem mit Kant, versteht die Kritik Kants als Theorie der Erfahrung (Kants Theorie der Erfahrung, 1871) und entwickelt von daher ein eigenes System der Logik, Ethik und Ästhetik (System der Philosophie, 3 Bde. 1902-1912). Er entwickelt von Kant her eine Theorie der mathematischen Naturwissenschaften auf dem Standpunkt eines »logischen Idealismus«: Es ist ein Idealismus, insofern er das Ding an sich ausschalten will; ohne vorgegebenes, von außen stammendes Empfindungsmaterial soll die transzendentale Konstitution der Erkenntnis, genauer der mathematisch-naturwissenschaftlichen Erkenntnis, erforscht werden. Es geht nicht urn die Erkenntnis konkreter Einzelobjekte, sondern nur um die allgemeinen, daher formalen Bedingungen wissenschaftlicher Erkenntnis. Es ist daher nicht ein metaphysischer, sondern ein logischer Idealismus, der allein die formal apriorischen Bedingungen der Erfahrung untersucht, aber jegliche Metaphysik als unmöglich ablehnt.
Daneben wird Paul Natorp (geboren 1854 in Düsseldorf, Professor in Marburg, dort 1924 gestorben) einer der bedeutendsten Vertreter der Marburger Schule. Auch er vertritt einen logischen Idealismus (Die logischen Grundlagen der exakten Wissenschaften, 1910), deutet die Ideenlehre Platons in diesem Sinn als rein logisches Apriori des Denkens (Platons Ideenlehre, 1903) und befasst sich darüber hinaus mit psychologischen und sozialpädagogischen Problemen (Sozialpädagogik, 1899).
Von der Marburger Schule ausgegangen ist Ernst Cassirer (geboren 1874 in Breslau, 1919-1933 Professor in Hamburg, 1935-1941 in Göteborg, seit 1941 in New York, gestorben 1945 in Princeton). Sein Hauptwerk »Philosophie der symbolischen Formen« (3 Bde., 1923-29) ist heute von neuem, nämlich im Problemkreis der Sprache und der Hermeneutik von großer Bedeutung (daneben: Substanzbegriff und Funktionsbegriff, 1910. Das Erkenntnisproblem in der Philosophie und Wissenschaft der neueren Zeit, 3 Bde., 1906-20).
Mit seiner Theorie des Symbols geht Cassirer über die Lehre Kants hinaus, auch wenn er kantischen Grundpositionen weiterhin verpflichtet bleibt, und legt eine eigenständige philosophische Konzeption vor. Der Mensch ist das Wesen des Symbols. Durch eine einheitliche Energie des Geistes schafft er fortschreitend eine Vielheit von symbolischen Formen – Mythos, Sprache, Religion, Kunst, Wissenschaft –, durch die er die Welt sinnverstehend erkennt. Symbol und Bezeichnetes sind nicht voneinander trennbar. Es gibt kein bloßes Faktum, kein reines Ansich. Alles Sinnliche ist nach einer bestimmten Funktion des Sinnes geformt. Auf der Stufe der Ausdrucksfunktionen, die dem Mythos und manchen Kunst- und Sprachformen zukommen, fällt Zeichen und Bezeichnetes zusammen. In der normalen Erkenntnis und der ihr entsprechenden Alltagssprache ist die Darstellungsfunktion am Werk, durch die wir Dinge als Inbegriffe von Beziehungen repräsentativer Vorstellungen erfassen. Die Wissenschaft ist als nächste Stufe durch die reine Bedeutungsfunktion gekennzeichnet, die sich begrifflicher Symbolik bedient und Relationen darstellt.
Literatur: Müller 2010; Recki 2013; Schwemmer 1997
Ebenfalls vom Marburger Neukantianismus herkommend, geht auch Nicolai Hartmann (geboren 1882 in Riga, gestorben 1950 in Göttingen; Professor in Berlin und Göttingen) schon früh eigene Wege. Er löst sich völlig vom logischen Idealismus und dringt zu einem Realismus der Erkenntnis vor (Metaphysik der Erkenntnis, 1921). Bis um die Mitte des 20. Jahrhunderts galt er als einer der bedeutendsten deutschen Philosophen, doch gehört seine Kategorialanalyse schon in den Bereich neuerer Ontologien und seine Ethik in den Zusammenhang des wertphilosophischen Problems – deutliches Anzeichen dafür, wie sehr sich der Marburger Neukantianismus überholt hat.
Der letzte, der in Marburg selbst die Tradition aufrechterhielt, war Julius Ebbinghaus (geb. 1885 in Berlin, seit 1930 Professor in Marburg, dort 1981 gest.), der sich in zahlreichen Werken mit Kant (Kantkritik und Kantinterpretation, 1924. Kant und das 20. Jahrhundert, 1954, u. a.), ansonsten vor allem mit Rechts- und Staatsphilosophie befasst.
Die Badische Schule (auch Südwestdeutsche Schule genannt, bes. an den Universitäten Heidelberg und Freiburg) vertritt eine andere Richtung neukantischen Denkens. In Marburg ging es um eine Theorie der Naturwissenschaften, hier geht es um eine Theorie der Geschichts- und Kulturwissenschaften (besonders seit W. Dilthey »Geisteswissenschaften« genannt). Die wichtigsten Vertreter dieser Schule sind W. Windelband und H. Rickert; doch geht ihr Anliegen viel breiter in die philosophische Diskussion der letzten Jahrzehnte ein.
Wilhelm Windelband (geboren 1848 in Potsdam, Professor in Heidelberg, dort 1915 gestorben) ist vor allem Philosophiehistoriker, der bedeutende Werke über die Philosophie des Altertums (1888) und der Neuzeit (2 Bde. 1878-80) herausgibt, dazu das ideengeschichtlich geistvolle »Lehrbuch der Geschichte der Philosophie« (1892). Wissenschaftstheoretisch stammt von ihm die Unterscheidung zwischen verallgemeinernden oder »nomothetischen« (allgemeine Gesetze erstellenden) und individualisierenden oder »ideographischen« (das einzelne beschreibende und zu verstehen suchende) Wissenschaften (Geschichte und Naturwissenschaft, 1894). Damit ist der grundlegende Unterschied zwischen zwei wesentlich verschiedenen Typen der Wissenschaft herausgestellt. Die Eigenart geschichtlich-kultureller Wissenschaften – neben Naturwissenschaften – wird damit zum Problem, das in der Folgezeit vielfältig nachwirkt.
Dieses Problem nimmt Heinrich Rickert (geboren 1863 in Danzig, Professor in Heidelberg, dort 1936 gestorben) auf. Auch er sucht den methodologischen Unterschied zwischen Naturwissenschaft und Kultur-(Geistes-)Wissenschaft herauszuarbeiten (Die Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung 1896-1902. Kulturwissenschaft und Naturwissenschaft, 1899). Dies war bisher noch nicht ausdrücklich geschehen. Bei Kant und noch weithin im 19. Jahrhundert gilt exakte Naturwissenschaft als die einzige Idealnorm der Wissenschaftlichkeit überhaupt.
Ansätze, historische Wissenschaften in ihrer Eigenständigkeit zu begreifen, finden sich erst bei Johann Gustav Droysen (geb. 1808 in Treptow an der Rega in Pommern, gest. 1884 in Berlin; Professor in Berlin, Kiel, Jena und wieder in Berlin; Hauptwerk: Grundriss der Historik, 1868), später vor allem bei Wilhelm Dilthey (geb. 1833 in Biebrich, heute Teil Wiesbadens, gest. 1911 in Seis bei Bozen; Professor in Basel, Kiel, Breslau und Berlin. Wichtige Werke: Einleitung in die Geisteswissenschaften, 1883; Der Aufbau der geschichtlichen Welt, 1910).
In diesem Zusammenhang steht auch Rickert, der zwar den Begriff der Geisteswissenschaft ablehnt und von Geschichts- und Kulturwissenschaft spricht, aber den entscheidenden Unterschied macht: Die Natur ist durch Gesetze zu erklären, die Geschichte und die geschichtliche Kultur aus Werten zu verstehen: Die Unterscheidung zwischen »Erklären« (der Natur) und »Verstehen« (der Geschichte) stammt, vorbereitet durch Friedrich Schleiermacher, schon von Droysen; sie wird von Windelband im Gegensatz nomothetischer und ideographischer Wissenschaften formuliert. Wenn aber geschichtliche Erscheinungen aus Werten zu verstehen sind, so stellt sich die Frage nach dem Wesen des Wertes, des Sollens, also das ethische und wertphilosophische Problem.
Schon von Windelband wird die Frage in diese Richtung verwiesen. Er ist im Gefolge Kants Idealist. Die Erkenntnis hat nicht eine objektive Wirklichkeit zu erfassen. Eine Aussage ist nicht deshalb wahr, weil sie der Wirklichkeit entspricht, sondern weil sie so gedacht werden soll, d. h. weil und insofern sie apriorischen Gesetzen des Erkennens entspricht. Nicht das Sollen gründet in der Wahrheit, sondern die Wahrheit im Sollen (des Denkens). Ebenso im ethischen Bereich: Wenn ich etwas tun soll, so gründet das Sollen nicht in der objektiven Gutheit der Handlung, sondern die Gutheit im apriorischen Sollen. Wahr und Gut ist, was gedacht oder getan werden soll. Damit stellt sich aber das Problem des Sollens, der Werte, das von Rickert entschieden aufgegriffen wird, aber in einem weiteren Problemzusammenhang steht.
Das Problem ist schon durch Kants scharfe Unterscheidung zwischen theoretischem Wissen und praktischem Handeln gestellt. Wenn die Erfahrung nur die Erscheinung erreicht und diese das sittliche Handeln nicht zu bestimmen vermag, wodurch sind dann die Inhalte sittlicher Verbindlichkeit konstituiert? Wenn es auch ein formal-apriorisches Sittengesetz gibt, was sollen wir (sachlich, inhaltlich) tun? Dieselbe Frage stellt sich vom empiristisch-positivistischen Denken der Zeit her: Wenn die Erkenntnis auf bloße Feststellung empirischer Fakten beschränkt ist, kann daraus keine sittliche Verbindlichkeit folgen; wenn wir aber sittlich handeln sollen, woher stammen die Inhalte sittlicher Verpflichtung?
Dieses Problem wurde – längst vor dem Neukantianismus – von Hermann Lotze aufgenommen (geboren 1817 in Bautzen, gestorben 1881 in Berlin, Professor in Göttingen). Er ist Metaphysiker (Metaphysik, 1841), der in vieler Hinsicht Leibniz folgt, ohne dessen Rationalismus zu teilen, die Monadenlehre übernimmt, die Allbeseeltheit der Natur lehrt und an einer unendlichen Zentralmonade, dem transzendenten und persönlichen Gott, festhält. Er vertritt einen christlichen Theismus gegenüber allen Formen des Pantheismus und Atheismus seiner Zeit. Sein Bemühen, gegenüber jeder Relativierung die unbedingte Geltung sittlicher Werte und sittlichen Sollens zu wahren, führt ihn zum Ansatz der Wertphilosophie, der in der Folge immer wieder aufgegriffen wird. Er kann in drei Begriffen zusammengefasst werden: Wert, Gelten und Fühlen.
Wenn hier und in der späteren Wertphilosophie immer wieder scharf unterschieden wird zwischen Sein und Wert, so sind nicht nur, aber in erster Linie ethische Werte gemeint (Güte, Gerechtigkeit usw.). Solche Werte »sind« nicht, sondern sie »gelten«, d. h. sie bestehen nicht wie reale Dinge, sondern sie haben eine eigene, wenn auch objektive Seinsweise, die als Geltung bezeichnet wird.
Daraus ergibt sich der Unterschied zwischen Sein und Gelten. Ein konkretes Einzelding »ist« oder existiert; aber ein Satz, ein Urteil oder ein logisches Gesetz »ist« nicht, sondern es »gilt«. Ebenso ein Wert, besonders ein ethischer Wert; er gehört einer völlig anderen Sphäre an, wenn diese auch eine Beziehung auf das Sein, nämlich Normcharakter für das hat, was ist oder sein soll. Dabei ist zu beachten: Die »Geltung« ist nicht auf das Wertphänomen beschränkt, sondern betrifft auch logische Denkgesetze wie ästhetische Normen; auch Bernhard Bolzano (Prag 1781-1848) beruft sich in seiner Logik und Wissenschaftstheorie ebenso auf objektive Geltung. Diese setzt voraus, dass das Sein oder die Wirklichkeit im Sinne des positivistisch-mechanistischen Denkens aufgefasst wird: Das Sein ist wertfrei, kann darum keine Normen des Handelns geben. Weil es aber objektive Werte und Normen des Handelns gibt, werden diese seinsfrei, in einem völlig anderen Bereich des »Geltens« angesetzt. Man hat diese Auffassung (wenig zutreffend) als Wertdualismus bezeichnet; gemeint ist ein Dualismus zwischen Sein und Wert, Sein und Gelten.
Daraus ergibt sich weiter der Unterschied zwischen Erkennen und Fühlen. Nach Lotze erkennt der Verstand das Sein, die Vernunft fühlt den Wert. Damit wird das alte, von neuem durch Kant und Hegel aufgenommene Begriffspaar von Verstand und Vernunft wieder eingeführt, aber so, dass der Verstand dem wertfreien Sein positiver mathematischnaturwissenschaftlicher Erkenntnis zugeordnet bleibt, die Vernunft jedoch darüber hinaus den Bereich geltender Werte erreicht. Aber die Vernunft erfasst die Werte nicht in rationaler Erkenntnis, sondern in irrationalem Gefühl, das aber durchaus als objektives und intentionales Vermögen verstanden wird.
Damit sind die Grundlagen der Wertphilosophie gegeben, die aber viele Fragen stellt, die noch offen bleiben: sowohl (objektiv) nach der Seinsweise des »Geltens« der Werte, als auch (subjektiv) nach der Eigenart des »Fühlens« der Werte. Diese Fragen werden aufgegriffen und verschiedentlich weiter verfolgt.
In der Badischen Schule, schon bei W. Windelband, noch mehr bei Heinrich Rickert, stellt sich im Zusammenhang der Geschichts- und Kulturwissenschaften das Problem der Werte. Rickert unterscheidet: Die Natur ist zu erklären aus Gesetzen, die Geschichte und die geschichtlichen Kulturen sind zu verstehen aus Werten. Sie bilden durchaus verschiedene Regionen. Wenn Rickert sie auch durch den umfassenden Begriff des Seins bezeichnet, so bleibt es ein äquivoker Seinsbegriff, der sowohl das existierende Sein (realer Einzeldinge) als auch das nicht-existierende Sein (geltender Werte und Normen) umfasst. Die Geltung der Werte wird in einem platonischen Sinn als ideale, über-reale, aber normgebende Seinssphäre aufgefasst. Doch sollen die Werte in die reale Welt eingeführt, in ihr verwirklicht werden, insofern ist der wertende, den Wert verwirklichende Akt des Menschen der »Seinsknoten«, der die ideale mit der realen Welt verknüpft.
Franz Brentano (geboren 1838 in Marienberg bei Boppard am Rhein, Neffe des Dichters Clemens Brentano, erst katholischer Priester, verlässt den Beruf und die Kirche, wird Professor der Philosophie in Würzburg und Wien, lebt als Privatgelehrter in Florenz und stirbt 1917 in Zürich) ist ein philosophisch und psychologisch richtungweisender Denker seiner Zeit (Psychologie vom empirischen Standpunkte, 1874. Vom Ursprung sittlicher Erkenntnis, 1889, u. a.). Auch er nimmt das Wertproblem auf. Werterfassung ist Sache des Gefühls, nicht Sache rationaler Erkenntnis. Ebenso wie die Erkenntnis intentional objektbezogen ist, so ist auch das Fühlen des Gemüts auf ein Objekt bezogen. Und wie das letzte Kriterium wahrer Erkenntnis die Evidenz ist, d. h. unmittelbare Einsicht in einen objektiven Sachverhalt, so gibt es auch eine nicht rückführbare Quasi-Evidenz des Wertfühlens in der »als richtig charakterisierten Liebe«. Die Liebe, das Wertgefühl, weiß spontan um die eigene Richtigkeit, sie weiß unmittelbar darum, dass sie objektiv gültige Werte erfasst. Worin aber die Werte objektiv fundiert sind, in welcher Weise sie dem wertenden Akt objektiv vorgegeben sind, bleibt bei Brentano im Dunkel. Er greift mehr den subjektiven (psychologischen) Aspekt des Wertfühlens auf, ohne den objektiven Aspekt zu klären. Darum auch seine Entwicklung: Während er zuvor an der objektiven Geltung der Werte festhalten will, verfällt er immer mehr einem Subjektivismus und Psychologismus, dem eine objektive Fundierung fehlt.
Von seinem Lehrer Brentano abhängig ist Alexius Meinong (geb. 1853 in Lemberg, Professor in Graz, dort 1920 gestorben, Gründer der Grazer Schule). Parallel zur Phänomenologie E. Husserls, der auch Brentanos Schüler war, entwickelt er eine Gegenstandstheorie. Doch befasst er sich auch mit dem Wertproblem (Psychologisch-ethische Untersuchungen zur Werttheorie, 1894) und spricht von »emotionaler Präsentation«. Diese ist nicht ein rationaler, sondern ein emotionaler Akt (des Gefühls), der aber nicht rein subjektiv, sondern objektiv bestimmt ist, d. h. analog zum Erkenntnisakt intentional objektive Werte »präsentiert«.
Dies wird in der phänomenologischen Schule besonders von Max Scheler (geboren 1874 in München, Professor in Köln und in Frankfurt a. M., wo er 1928 starb) aufgenommen und fortentwickelt (Der Formalismus in der Ethik und die materiale Wertethik, 1913-16. Vom Umsturz der Werte, 1919. Wesen und Formen der Sympathie, 1923). Die realen Dinge sind wertfrei, sie werden aber zu Gütern, insofern in ihnen Werte realisiert sind. Die Wertqualitäten bilden ein eigenes Reich idealer Ordnung, ihnen kommt »letzte Unabhängigkeit vom Sein« zu. Wie die Phänomenologie die Unmittelbarkeit einer Wesenschau lehrt, so auch die unmittelbare Erfassung der Werte, bei Scheler durch »intentionales Fühlen«. Damit meint er, ähnlich wie Brentano und Meinong, einerseits ein emotionales, nicht rationales Geschehen, andererseits aber einen intentionalen Akt, der objektiv gegebene und geltende Werte erfasst.
Der letzte bedeutende Philosoph, der eine solche Wertlehre vertritt, ist der bereits oben erwähnte Nicolai Hartmann, der vom Marburger Neukantianismus herkommend zu einem realistisch ontologischen Denken vordringt. In seiner »Ethik« (1925) erweist er sich als abhängig von Scheler. Auch für ihn ist (unter objektivem Aspekt) das Sein wertfrei; die Werte gründen nicht im Sein, sondern bilden eine eigene Sphäre idealer Wesenheiten gegenüber der realen Wirklichkeit, als Region objektiv geltender Wertqualitäten. Andererseits (unter subjektivem Aspekt) ist auch für ihn die Werterfassung nicht Sache rationalen Erkennens, sondern emotionalen, aber intentionalen Fühlens, dem sich die Wertqualitäten erschließen.
Eine Wertphilosophie dieser Art wirft mehr Probleme auf, als sie zu lösen vermag. Auf der einen Seite (objektiv) setzt sie ein positivistisches Seinsverständnis voraus, das keine verbindlichen Werte, erst recht kein sittliches Sollen zu begründen vermag. Dagegen die Werte als objektive, aber ideale Qualitäten anzusetzen, bedeutet einen platonischen Idealismus allgemeiner Wesenheiten. Auf der anderen Seite (subjektiv) ist das intentionale Wertfühlen ebenso problematisch. Sittliches Sollen wird nicht nur emotional gefühlt, sondern intellektuell erkannt. Seine verbindliche Geltung behauptet sich auch gegen das Gewicht des Gefühls.
In diesem Sinn hat, von Scheler herkommend, Dietrich von Hildebrand eine wesentliche Korrektur vorgenommen (geboren 1889 in Florenz, 1924-1933 Professor in München, 1941-1960 an der Fordham University in New York, gestorben 1976 in New Rochelle im Staat New York), der die Werte nicht als ideale Wertqualitäten, sondern als reale Seinsqualitäten auffasst, die nicht durch emotionales Gefühl, sondern durch intellektuelle Einsicht erfasst werden (Christliche Ethik, 1959).
Dieser ganze Problemkomplex steht im Gefolge Kants: Auf dem Hintergrund seiner Erkenntnistheorie (KrV) bemüht sich der Neukantianismus um eine Methodenlehre der Naturwissenschaften (Marburger Schule), und der Geschichte und Kulturwissenschaft (Badische Schule), worin das Wertproblem auftaucht. Die Wertphilosophie (von Lotze bis Scheler und Nicolai Hartmann) steht in der Auseinandersetzung mit der formalen Ethik Kants (KpV) und will einen neuen Zugang zu inhaltlichen Wertqualitäten erschließen, der sich aber – nach dem völligen Scheitern einer solchen Wertphilosophie – nur durch den Rückgang auf eine ontologisch-anthropologische Begründung der Werte, ihrer Geltung und sittlichen Verbindlichkeit als möglich erweist.
Literatur:Ollig 1987; Pascher 1997