Renate Gabor geht es schlecht. Vergangenen Freitag ist ihr Malteser-Mischling Mandarine Schatzi kopfüber in einer Punica-Flasche stecken geblieben und erstickt. Renate war für den Abend zum Sommerwendefest mit ihrer Zumba-Gruppe aus, und als sie zurückkam, war schon alles zu spät. Heute stand es in der Zeitung, für achtzig Euro hat sie eine Traueranzeige im Detmolder Kurier schalten lassen. Dort wurde Schatzi um 23.19 Uhr in der Tierarztpraxis Dr. Heidenoldendorf offiziell für tot erklärt, dort sollen die Leute von ihrem Tod erfahren. Seit Stunden sitzt Renate auf ihrer königsblauen Couchgarnitur und schaut auf das Foto in der Anzeige, Mandarine sieht darauf besonders bezaubernd aus. Sie trägt einen Bacardi-Hut.
«Mein abgöttisch geliebtes Herzstück Mandarine Schatzi ist über die Regenbogenbrücke gegangen. Für die Welt war sie nur irgendjemand, für mich war sie die Welt.»
Dicke Tränen vermischen sich mit der Druckerschwärze, Renate weint ohne Unterlass auf Seite zwölf: «Mandarine Schatzi, warum hast du mich verlassen? Mein Liebling, mein einziges Kind.» Renate hat eigentlich wirklich ein Kind, einen Sohn, Thorsten, der kein Hund ist. Aber er ist schwul und eigensinnig und passt nicht in eine Handtasche, Renate findet ihn eher unpraktisch. Mandarine Schatzi konnte sie einfach überallhin mitnehmen.
Sie war so ein engelsgleiches Geschöpf, immer freundlich, immer aufgeweckt und stets dankbar. Im Gegensatz zu Thorsten hat sich Mandarine Schatzi nie beschwert. Sie hat auch nie wütend Türen geknallt, wenn Renate mal einen Mann mit nach Hause brachte. Auch nicht wenn einer der Männer plötzlich nicht mehr gehen wollte, sich als Dieter vorstellte und den Hobbykeller zu einem Wehrmachtsmuseum umdekorierte. Mandarine Schatzi ist immer an ihrer Seite geblieben. Thorsten dagegen ist weggezogen, über zweihundert Kilometer weit, zum Studieren. Renate weiß gar nicht, was er da macht, beim Studieren. Hat er ihr ja nie erzählt.
Einmal hat Thorsten eine Karte geschickt aus Kreta, die klebt an der Kühlschranktür. Kreta also, aha, hatte Renate gedacht und wollte urplötzlich auf eine Insel fahren, um Thorsten auch eine Karte zu schicken, um einen Anlass zu haben, sich mal wieder zu melden. Am Tag darauf reiste sie nach Helgoland, aus dem einfachen Grund, dass sie das mit einem zoll- und steuerfreien Einkauf verbinden konnte.
Auf Helgoland verbrachte sie den halben Tag mit Mandarine Schatzi in einer Parfümerie, probierte Lippenstifte und kaufte so viel Dolce & Gabbana Light Blue, 100 ml, auf Vorrat, dass die Verkäuferin ihr beim Kassieren mit großem Bedauern mitteilte, dass Renate leider die Freigrenze überschritten habe und sie doch besser einige Fläschchen zurückstellen solle. Renate wusste nichts von einer Freigrenze und wurde laut, Wörter wie «Pissnelke» und «Inseläffchen» fielen. Kurzerhand wurde sie der Parfümerie verwiesen und musste zum Runterkommen erst mal schräg gegenüber in Pinkus Eiergrogstube einen Kurzen trinken, wo sie Achim kennenlernte. Der aß eine XL-Frikadelle mit Toast und Senf und erzählte, dass er schon seit über zehn Jahren einmal pro Monat rüber nach Helgoland fahre, für Zigaretten. Früher habe er weniger geraucht, aber damit es sich auch lohnt, sollte man schon so ein bis zwei Packungen pro Tag rauchen. Er gab Renate einen Eiergrog aus und schenkte Mandarine Schatzi ein Stück Frikadelle, sie konnten sich alle gut riechen. Später gab Renate Achim 430 Euro in bar, wovon er ihr noch mehr Dolce & Gabbana Light Blue, 100 ml, kaufte und für sich selbst eine Stange Marlboro, als kleines Dankeschön. Dann fuhren sie zusammen mit der Fähre zurück ans Festland, und auf dem Achterdeck der MS Helgoland kamen sich die beiden näher, aber das ist eine andere Geschichte. Die Postkarte für Thorsten hatte Renate im Eifer des Gefechts jedenfalls komplett vergessen.
Thorstens Karte hängt immer noch am Kühlschrank, seit drei Jahren schon oder länger, direkt neben den tollen Fotos von Mandarine Schatzi; auf dem einen isst sie Erdbeereis am Baggersee und auf dem anderen trägt sie den roten Weihnachtspullover und das blinkende Rentiergeweih. Hach, Mandarine.
Renate sitzt jetzt gekrümmt auf dem Flokati unter der Treppe, wo ihr Herzstück am liebsten lag. Früher hatte die Hündin sogar mit im Bett geschlafen, aber dann kam der Mustafa, und der hatte eine schlimme Tierhaarallergie. Wenn Mandarine Schatzi in der Nähe war, bekam er Keuchhusten mit grünem Auswurf. Deswegen musste die Hündin unter die Treppe verfrachtet werden, und das war so ein Theater. Mandarine Schatzi kam immer wieder zurück ins Bett, sie war ein Gewohnheitstier. Renate musste sie dann lange Zeit mit kleinen Knackwürstchen zu dem Flokati unter der Treppe locken. Es dauerte gut vier Wochen, bis Mandarine sich an ihr neues Plätzchen gewöhnt hatte, die Sache mit Mustafa war in der Zwischenzeit schon wieder vorbei, aber Renate wollte sich den ganzen Zirkus mit der Knackwurstfährte nicht noch mal antun. Auf dem Flokati unter der Treppe riecht es noch nach ihr, auch ihr Bacardi-Hut liegt noch dort. Es ist, als käme sie gleich um die Ecke gerannt.
Mandarine Schatzi war keine gewöhnliche Hündin. Renate hatte sie in Ungarn aus einer Tötungsstation gerettet. Eigentlich wollte sie sich nur das Doppelkinn absaugen lassen, das kostet in Ungarn so gut wie gar nichts, da bekommt man fast noch Geld zurück, so unverschämt günstig ist das. Auf dem Weg zum Best-Western-Hotel in Budapest sah Renate dann die völlig verängstigte Mandarine Schatzi hinter einem Zaun kauern und war sofort schockverliebt; die großen Augen, das zerzauste Fell, die kleinen, dreckigen Pfoten. Sie hat nicht lang überlegt, ließ die Hündin impfen, waschen und föhnen, und beim Rückflug musste sie nicht mal Aufpreis zahlen für das zusätzliche Gepäckstück; Renates eigener Theorie zufolge, weil sie ja kein Doppelkinn mehr hatte und das genau aufging. Aber jetzt ist die Transportbox leer, und Mandarine Schatzi wird nie wieder darin liegen mit ihrer quietschgelben Rassel und dem Angstdurchfall.
Renate hat sich für eine Kristallbestattung entschieden. Dabei wird die Asche zu einem einzigartigen Kristall verarbeitet, in diesem Fall ein Traumfänger mit einem Ensemble von vier kleinen Kristallen. Den Traumfänger will sie direkt über der Couch anbringen. Wenn die Sonne sich dann ihren Weg durch die Window-Color-Diddlmäuse am Fenster ihres kleinen Reihenhauses bahnt, werden die Kristalle das Licht reflektieren und kleine Regenbögen auf die Wände projizieren, und wenn Renate die sieht, wird sie wissen, dass ihre Mandarine Schatzi tatsächlich über die Regenbogenbrücke gegangen ist.
Renate überlegt, Silke anzurufen und von Mandarine Schatzis Ableben zu erzählen, lässt es dann aber doch bleiben. Nach Silkes Abgang kürzlich nach dem Essen im Vapiano ist eindeutig sie am Zug, Renate wird ihr nicht hinterherrennen. Thorsten will garantiert nichts von Mandarine Schatzi wissen, er konnte die Hündin nie leiden und hat auch keinen Hehl daraus gemacht. Mit Juri herrscht momentan Funkstille, sie haben sich gestritten, weil Renate auf Facebook ihrem Exfreund Detlev eine Kettennachricht auf die Pinnwand gepostet hat. Juri hatte die automatisierte Übersetzung benutzt und nur die Worte GLÜCK und LIEBE verstanden, in Kombination mit den zwölf Rosen-Smileys am Ende der Nachricht kam ihm das verdächtig vor. Zu Frank hat sie auch keinen Kontakt mehr, der hat mit seinen täglichen Anrufen und den vielen SMS den Bogen überspannt, Manfred wohnt jetzt auf Lanzarote. Renata von der Aqua-Aerobic ist sauer, weil Renate so lang nicht mehr beim Training erschienen ist, obwohl die beiden eigentlich eine Fahrgemeinschaft bilden. Die Nummer von Willy-Martin hat sie nicht, seinen Nachnamen kennt sie auch nicht, und streng genommen ist er sowieso nur Silkes Freund. Renate fragt sich, wen sie noch anrufen könnte, aber ihr fällt kein Name ein. Da ist niemand mehr.
In der Bahnhofsmission Borken ist im Sommer viel zu tun. Es sind Schulferien, viele Kinder fahren allein mit dem Zug und müssen während des Umsteigens betreut werden. Silke malt mit ihnen Bilder und bastelt 3D-Pappdinosaurier für die Weiterfahrt. Basteln mag sie, die Kinder nicht immer. Ständig stellen sie übergriffige Fragen: Warum hast du keinen Mann? Hast du schon mal Sex gemacht? Magst du Spinat? Und so weiter. Silke ist dann froh, wenn der Anschlusszug einfährt und sie Kind und Pappdino in die Bahn verfrachten kann.
Ansonsten ist bei der Bahnhofsmission kein Tag wie der andere. Immer wieder werden Reisende angespült. Manche haben den letzten Zug verpasst und brauchen für die Nacht eine Herberge, manche haben überhaupt kein Zuhause und freuen sich über die Isomatte im Schlafsaal, andere kommen zum Duschen, Handyaufladen oder für eine warme Mahlzeit. Silke schmiert Brote, kocht Suppe und Kaffee und hört den Menschen zu; den einsamen, den nervösen, den fröhlichen, den überforderten. Ihren Geschichten von wütenden Exmännern, toten Kanarienvögeln und der geplanten Reise nach Usedom.
Silke ist immer für alle da.
Nach Feierabend flieht Willy-Martin in die Welt des Online-Kniffels. Früher hat ihn die Arbeit als Schlagpfleger im Taubenschlag entspannt, aber seit der Herr Graf die Tauben zu den weltbesten ihrer Art emporzüchten möchte, ist rein gar nichts mehr entspannt. Nicht mal Tauben dürfen einfach nur Tauben sein, denkt Willy-Martin.
Beim Online-Kniffel vergisst er seine Probleme, die Tauben, die Sache mit Priyanka B., Mutter Petra und den Hundeklumpen. Und manchmal sogar sich selbst, das ist dann am schönsten. Wenn er Online-Kniffel spielt, muss er nicht niesen. Willy-Martin muss immer niesen, wenn er nervös ist oder etwas Unerwartetes passiert oder wenn er peinlich berührt ist, also im Grunde genommen ziemlich oft, deswegen ist er am liebsten allein oder bei den Tauben, oder halt vor dem PC. Beim Online-Kniffel ist er niemandem etwas schuldig, er muss nur auf «Würfeln» klicken und eine richtige Entscheidung treffen, Full House oder Dreierpasch, Zwei bei Eins oder kleine Straße. Unter seinem Nicknamen HäuptlingRaimundo führt er die Bestenlisten der Monate Juni und Juli an, im Mai hat es leider nur zum dritten Platz gereicht. Auch jetzt ist Willy-Martin in einer sehr exzessiven Online-Kniffel-Phase. Nach der Arbeit rast er nach Hause, bestellt sich fast jeden Abend eine Pizza Hawaii, die er beim Kniffeln verschlingt, danach hüllt er sich und seinen Medion-PC in den dampfenden Qualm seiner E-Zigarette, Geschmacksrichtung Multifrucht, und seufzt zufrieden. Natürlich ist es eine Flucht vor den Problemen, aber es gibt noch einen anderen entscheidenden Grund, der Willy-Martin Abend für Abend in die Tiefen des Internets zieht: DieKnochenbrecherin.
DieKnochenbrecherin ist genauso gefährlich, wie sie klingt, sie belegt Platz zwei der Bestenliste und ist damit Willy-Martins stärkste Gegnerin im Kniffel-Segment von www.spielaffe.de. An ihr beißt sich Willy-Martin jeden Tag aufs Neue virtuell die Zähne aus. Nach einigen abendfüllenden Duellen entdeckt er die Chat-Funktion, mit der man die Mitspieler während eines Duells direkt anschreiben kann. Anfangs traut er sich nicht. Was soll er auch schreiben, «Gut gewürfelt» oder «Toller Pasch»? Ein paar Tage und zwei Dosen Radler später entscheidet er sich für ein dezent höfliches «Guten Abend» und muss nicht lang auf eine Antwort warten. Sie schreiben hin und her, nebenbei kniffeln sie um die Wette, das Spiel wird schnell zur Nebensache. DieKnochenbrecherin heißt eigentlich Kerstin und kommt aus Leer in Ostfriesland, «da ist der Name Programm».
Jeden Abend um 19 Uhr sind Kerstin und Willy-Martin im Online-Kniffel-Chat verabredet, und er freut sich wie nie zuvor darauf, nach Hause zu kommen. Einige Wochen später kennen die zwei sich ziemlich gut, aber gesehen haben sie sich noch nie. Irgendwann macht Kerstin den ersten Schritt und fragt Willy-Martin nach einem Foto von ihm. Er hat sich auf diese Frage vorbereitet. Schon einige Tage zuvor hatte er sicherheitshalber den Selbstauslöser seiner Digitalkamera für ein Foto genutzt, morgens vor der Arbeit, als er sich ungewöhnlich wohl fühlte und seine Haut besonders rein wirkte. Er trug sein kurzärmliges, blau-grau kariertes Sommerhemd, die braunen, frischgewaschenen Locken glänzten im Blitzlicht, seine Brille war einwandfrei geputzt. Er schickt Kerstin das Foto per E-Mail und wartet fünf schrecklich lange Minuten auf eine Antwort. In diesen fünf Minuten sieht Willy-Martin seine Felle schon davonschwimmen; Kerstin ist sicher eine anmutige Schönheit aus dem Norden, rothaarig, mit feinen Sommersprossen auf der blassen Nase, wahrscheinlich hat sie sich HäuptlingRaimundo ganz anders vorgestellt. Das Foto ist eigentlich auch nicht sehr vorteilhaft, jetzt, wo er sich’s genauer anschaut, absolut unvorteilhaft, bestimmt meldet sie sich nie wieder bei ihm, und auch Online-Kniffel werden sie nie wieder spielen. Um nicht niesen zu müssen, holt Willy-Martin sich ein kaltes Colabier aus dem Kühlschrank und starrt, große Schlucke trinkend, weiter auf sein E-Mail-Postfach.
Plötzlich macht es PLING, eine neue Nachricht, mit Anhang sogar. Kerstin ist bei ihm geblieben, Kerstin, oh du gute Kerstin! Er atmet tief durch, stellt das Colabier auf dem PC-Tisch ab und öffnet zitternd die Mail. Sofort kracht ihm ein riesiges Foto entgegen. Kerstin ist wunderschön, sie ist in Willy-Martins Alter, hat gebräunte Haut und schwarze kurze Haare. Auf dem Foto trägt sie einen schwarz-weiß gestreiften Strick-Pullover und sitzt auf einer orangenen Ledergarnitur, in der Hand ein großes, angebissenes Stück Salami. Sie schaut zur Seite und lacht ausgelassen, irgendetwas Erheiterndes scheint während dieser Momentaufnahme passiert zu sein. In der Nachricht unter dem Foto fragt Kerstin Willy-Martin, ob er mal Lust auf Telefonieren hätte, gleich dahinter steht ihre Festnetztelefonnummer.
Willy-Martin ist überwältigt. Da passt ja wirklich alles. Kerstin weiß, wie Willy-Martin aussieht und ist weiterhin an ihm interessiert. Sie isst gerne Salami und nutzt, wie er, auch noch ein Festnetztelefon. Er muss verschnaufen. Vielleicht ist es passiert. Es hat länger gedauert als bei anderen Männern, aber vielleicht hat Willy-Martin jetzt jemanden gefunden.
Chef der Bahnhofsmission Borken ist seit knapp einem Jahr Herr Marquardt, ein alleinstehender, vierzigjähriger Hardcore-Freichrist mit daumendicken Brillengläsern. Bevor er zur Bahnhofsmission kam, war er als freiberuflicher Unternehmensberater tätig, hauptsächlich im Bereich Industriemechanik. Er wurde von großen Firmen engagiert, um Mitarbeitern in Einzelgesprächen Fragen zu stellen wie «Wo geht deine Reise hin?» oder «Wie kannst du deine Stärken optimal für DEIN Unternehmen nutzen?», ein gut bezahlter Job, der Marquardt aber schnell zu monoton wurde. Er wollte mehr, eine neue Challenge, aus nichts etwas Großes schaffen; der freie Posten in der Bahnhofsmission vor zwei Jahren kam ihm da gerade recht. Er will nun das Image der Bahnhofsmission mit aller Kraft «clean» halten. Die Obdachlosen sollen nicht in der Überzahl sein, das schrecke andere Gäste ab, man solle erst gar keine Bindung zu ihnen aufbauen und ihnen nur das Mindestmaß an Nettigkeit entgegenbringen, dann würden sie auch nicht mehr so oft kommen, versuchte Marquardt seinen Mitarbeitern einzubläuen. Wenn Herr Marquardt hinter dem Tresen der Essensausgabe steht, ungefähr einmal pro Woche, dann teilt er Speisen und Getränke in zwei Kategorien ein. Kategorie eins, für Gäste: saisonale Suppe mit zwei Scheiben Brot, dazu ein Apfel, auf Wunsch eine Brezel mit Butter, plus heißer Tee mit Zucker, Sprudelwasser oder trüber Apfelsaft. Kategorie zwei, für Obdachlose: eine Scheibe Brot, keine Brezel, ein kleiner und/oder beschädigter Apfel. Plus Leitungswasser oder Tee ohne Zucker. So könne man sparen und gleichzeitig dafür sorgen, dass sich «die falschen Leute nicht zu wohl fühlen».
Herr Marquardt ist nicht nur Chef, sondern gleichzeitig auch der unbeliebteste Mitarbeiter der Mission. Er versucht hartnäckig, aus dem eigentlichen Ort der Nächstenliebe eine seelenlose Relax-Zone für den gehobenen Mittelstand zu errichten. Sein Ziel ist es, mehr junge Leute anzulocken, Studierende, die vorbeikommen, um ihre Infused-Water-Flaschen aufzufüllen, mal eben was zu googeln oder einen Powernap auf dem Massagesessel zu machen. «Das muffige Image der Suppenküche muss weg!», ruft er, wenn er mal wieder eine Eichenholzbank klein schlägt und durch einen nagelneuen Vintage-Loungesessel ersetzt. Seine Inspiration holt er sich «direkt aus der Großstadt», also aus Essen. Jede Woche verbringt er dort mindestens einmal einen Nachmittag am Hauptbahnhof und schreibt auf, was dort besser läuft als in Borken. Er setzt sich einen Filzhut auf und verbringt inkognito Stunden in der hiesigen Bahnhofsmission, laut seinen Angaben sind die da «ihrer Zeit weit voraus, es gibt sogar Tablets an jedem Tisch!» Weitere Anregungen findet er bei Starbucks und McCafé: «Das ist urban, das zieht die Leute an, da werden auch mal MacBooks aufgeklappt.»
Seit 2012 spendet der Bahnhof Borken die Einnahmen der Kofferschließfächer – vier Euro für zwei Stunden, sieben Euro für vierundzwanzig Stunden – an die Bahnhofsmission, in einem Jahr ist so ein Erlös von 23800 Euro zusammengekommen. Anstatt die Gelder für eine dringend notwendige Sanierung der Missionsküche zu nutzen, zahlte Marquardt einem bärtigen Barista-Schwaben den Preis eines Kleinwagens dafür, dass er der Belegschaft der Bahnhofsmission zeigte, wie man ein Palmenblatt aus Schaum auf einen Karamell-Macchiato träufelt. Der Rest des Geldes floss in eine Siebträgerkaffeemaschine und neue Arbeitskleidung. Zusätzlich zu der vorgeschriebenen blauen Bahnhofsmissionsweste mussten nun alle Schwarz tragen: die Frauen schwarze Jeans und Bluse, die Männer schwarze Leinenhose und Sweatshirt, dazu weiße Adidas-Schuhe mit schwarzen Streifen. «Wir sollten uns als eine Art Concept Store begreifen», hatte Marquardt den neuen Dresscode verteidigt. «Das ist business casual, das spricht die Leute an, holt sie ab. Vor allem die richtigen.» Das Know-how für seine Unternehmensführung zieht Marquardt sich nach eigenen Angaben aus Business-Podcasts von Smart Entrepeneurs, die das «richtige Erfolgs-Mindset» an den Tag legen, um ein Unternehmen nach vorne zu bringen.
«Im Valley ist das gang und gäbe», referierte er, während er einen Kickertisch für den Teamaufenthaltsraum bestellte.
«Aber Herr Marquardt, in dem Zimmer ist kein Platz mehr», warf Silke damals ein. «Da stapeln sich die Ordner, und es reicht gerade so, dass alle sitzen können.»
«Wir sind ja auch nicht zum Sitzen hier!», war seine Antwort.
Marquardt ist ehrgeizig, in seinen Augen glüht eine Vision. Er spürt, dass er der Auserkorene ist, derjenige, der das Konzept «Bahnhofsmission» revolutioniert, neu denkt. Ein Vorreiter, ein Pionier, der Messias des Bahnhofsozialdienstes. Sein neuestes Unterfangen ist die selbstreinigende Klobrille. Mit dieser Anschaffung setzt er die Weichen für ein «einmaliges Toilettenerlebnis» oder, wie er es scherzhaft nennt, «eine Geschäftsreise». Immer wenn er das sagt, muss er laut über seinen eigenen Witz lachen, dabei kneift er die Lider zu kleinen Schlitzen zusammen, und in seinen Mundwinkeln sammeln sich kleine Bläschen aus Speichel, die fröhlich vor sich hin platzen.
Um die Kosten für die selbstreinigende Klobrille wieder reinzukriegen, veranschlagte Marquardt eine Nutzungsgebühr von fünfzig Cent, Angestellten gewährt er einen Rabatt von dreißig Prozent. Er selbst zahlt jedes Mal fünfzig Cent, um mit gutem Beispiel voranzugehen. Alle anderen weigern sich, bei jedem Toilettengang Geld in das dafür vorgesehene goldene Sparschwein zu werfen. Das Schwein bleibt leer, die Fünfzig-Cent-Stücke von Herr Marquardt liegen einsam auf dem Boden des Schweinebauchs. Einmal pro Monat leert er die Dose, zieht die Augenbrauen hoch, lässt eine traurige Menge an Münzen auf den Tisch fallen und sagt Sachen wie: «Na, da haben aber Leute eine ganz schön starke Blase», oder: «Ich bin wohl der Einzige hier, der noch Anstand hat», und dampft beleidigt in den Teamaufenthaltsraum ab, um sich am Kickertisch abzureagieren.
1991: Die Fahrt will kein Ende nehmen. Die Sommerhitze im Regionalexpress schnürt Silke den Hals zu, die Fenster lassen sich nicht öffnen, und es gibt noch nicht mal eine Klimaanlage, die man verfluchen könnte, weil sie kaputt ist. Im Zug herrscht gähnende Leere. Silke erscheint es, als würde der Zugführer nur für sie fahren, als hätte er, wenn sie nicht in letzter Sekunde zugestiegen wäre, hitzefrei wie alle anderen. Sofort beschleicht sie ein schlechtes Gewissen. Ob es vorne im Führerstand auch so heiß ist wie hier hinten? Vielleicht hat der Zugführer eine Herzkrankheit, und ihm wurde vor kurzem ein Bypass gelegt. Wahrscheinlich ist er gerade erst von der Reha zurückgekommen und kann die Hitze gar nicht vertragen.
Sie fingert eine Packung Taschentücher aus ihrer Hosentasche und tupft sich den Schweiß von den Augenbrauen. Eigentlich säße sie jetzt im klimatisierten Büro, den trockenen Wind des kleinen Tischventilators im Gesicht, den sie bei der Tombola der letzten Firmenfeier gewonnen hat. Das Los Nummer vierzehn erhielt einen nagelneuen VHS-Rekorder, Silke hatte die Nummer fünfzehn und bekam den kleinen, batteriebetriebenen Plastikventilator in die Hand gedrückt, nicht ohne einen mitleidigen Blick von Gabi aus der Buchhaltung.
Es war wie so oft in Silkes Leben: kein Hauptgewinn für sie, aber auch keine Niete. Immer genau so viel, dass man dankbar sein musste, aber nie genug, um Freudensprünge zu machen.
Silke räumt die Spülmaschine aus, wieder ein, schaltet sie an, danach das Gleiche von vorn. Zippo sitzt da und schweigt, ganze drei Spülgänge lang. Draußen dämmert es schon, in einer guten Stunde hat Silke Feierabend.
In der Bahnhofsmission herrschte heute reger Betrieb, die selbstreinigende Toilette und die gute Kaffeemaschine haben sich rumgesprochen. Marquardts Konzept geht auf, und inzwischen kommen auch Menschen in die Mission, die in keiner wirklichen Notlage stecken. Die Leute wollen einen leckeren, kostenlosen Karamell-Frappuccino trinken, fragen sogar nach Eiswürfeln und To-go-Bechern. Aber Silke will sich nicht darüber aufregen.
Zippo rührt seinen Kaffee nicht an und knetet auf dem Zuckertütchen rum.
«Keinen Durst?», fragt Silke.
«Hmm», brummt Zippo.
«Was ist dir denn über die Leber gelaufen? Der Marquardt ist doch noch gar nicht da!»
«Bin nicht so in der Stimmung zum Reden.»
Silke legt ihm ein Hanuta neben den kalten Kaffee.
Zippo ist Stammgast in der Bahnhofsmission, ein schlaksiger Zweimetermann mit tellergroßen Händen und langem aschblonden Haar, gelernter Energieelektroniker (Fachrichtung Anlagentechnik), seit acht Jahren obdachlos. Er hat lange Zeit Pfandflaschen gesammelt, aber die Konkurrenz am Bahnhof wurde zu groß, als die Leute anfingen, die Flaschen neben die Mülltonnen zu stellen, statt sie hineinzuwerfen. Das Sammeln wurde zwar einfacher und vor allem ungefährlicher, das Klima unter den Pfandsammelnden aber dadurch auch zunehmend aggressiver. Irgendwann geriet Zippo dann in einen heftigen Streit mit Spezi-Bärbel, der selbsternannten Pfand-Regentin von Borken und Umgebung.
Spezi-Bärbel ist in der Stadt bekannt wie ein bunter Hund; sie ist nicht obdachlos, sondern bessert sich mit dem Pfand ihre Rente auf. Sieben Tage die Woche fährt sie im Schneckentempo mit ihrem Tretroller die Straßen ab, die Leute kennen und grüßen sie und werfen ihr mit einem freundlichen Nicken das Leergut in die großen IKEA-Tüten an ihrem Lenker. Spezi-Bärbel geht immer stark gebückt. Wie sie erzählt, hat sie sich in den achtziger Jahren mal einen Wirbel gebrochen, als sie im Alleingang einen Trinkwasserbrunnen in Ruanda gebaut hat. Wenn Spezi-Bärbel den Leuten auf der Straße diese Geschichte erzählt – und das tut sie oft –, nicken alle mitleidig und trinken dann ihre 1,5-Liter-Flasche Sprite hastig und in einem Zug leer, um der armen, selbstlosen Frau zumindest 25 Cent mitgeben zu können.
Aber Zippo hat die Masche von Spezi-Bärbel durchschaut. Als er im letzten Sommer ein Mittagsschläfchen auf der kleinen Wiese am Bahnhofsvorplatz halten wollte, wurde er unfreiwillig Zeuge eines unschönen Zwischenfalls: Spezi-Bärbel war unterwegs zum Bus, wie immer, wenn die vollen IKEA-Tüten zu schwer geworden waren. Die Türen des Busses waren schon im Begriff zu schließen, als Bärbel aus der Bahnhofshalle angerollt kam, durch die prallgefüllten Taschen an ihrem Lenkrad konnte sie nur bedingt beschleunigen. Sie gab der Busfahrerin auffällige Handzeichen und rief über den gesamten Platz: «Stopp! Halt!», dabei flogen schon die ersten Pfandflaschen zu Boden. Die Busfahrerin bemerkte Spezi-Bärbel aber nicht, warf unbeirrt den Motor an. Zippo, der nicht weit entfernt lag, konnte sehen, wie auf Bärbels Gesicht erst Panik, dann Wut aufflackerte. Sie schaute nach links und rechts und schien sich unbeobachtet zu fühlen, denn plötzlich warf sie sich blitzschnell die zwei vollen Tüten über die Schultern, klappte den Tretroller mit einer routinierten Bewegung zusammen und rannte in einer beachtlichen Geschwindigkeit in Richtung Bus – mit geradem Rücken. Die Busfahrerin ging voll in die Eisen, Spezi-Bärbel hatte es geschafft.
Zippo konnte nicht glauben, was er da gesehen hatte. Spezi-Bärbel war eine Simulantin. Sie war eigentlich topfit und spielte die Krankheitskarte nur aus, um noch mehr Pfand einzusacken. Er hob die auf den Boden gefallenen Flaschen kopfschüttelnd auf und kaufte sich vom Erlös die Angelfachzeitschrift Fisch und Fang.
Als er ein paar Tage später Spezi-Bärbel in einem stehenden Regionalexpress über den Weg lief, wollte sie ihm eine Prosecco-Dose aus der Hand reißen, die er gerade aus einem Mülleimer gefischt hatte. «Das hier ist mein Gebiet!», fauchte sie, und Zippo war der Kragen geplatzt. Er riss die Dose wieder an sich, drohte damit, allen zu erzählen, dass sie eigentlich gesund sei und ihr Leiden nur vortäusche. Spezi-Bärbel drohte daraufhin, sie werde gleich «Tattoo-Carsten holen», der habe einen Listenhund. Der Streit schaukelte sich hoch und endete schließlich damit, dass Zippo resigniert abwinkte, Spezi-Bärbel die Dose überließ und beschloss, sich vollständig aus der Pfandsammelbranche zurückzuziehen. Seitdem hält er sich mit Poesie über Wasser, schreibt kurze Gedichte auf Ansichtskarten der Stadt Borken, meistens über das Wetter.
«Jede Jahreszeit hat ihre Gedichte», pflegt er immer zu sagen. Für ein handgeschriebenes Gedicht auf einer Ansichtskarte nimmt Zippo zwei Euro, für ein spontan vorgetragenes einen Euro. In die Bahnhofsmission kommt er zum Essen und im Winter auch zum Schlafen, mindestens aber einmal pro Tag, um mit Silke einen Kaffee zu trinken. Manchmal repariert er auch Dinge, Lampen oder die Mikrowelle; über die Jahre ist Zippo zum inoffiziellen Hausmeister der Bahnhofsmission geworden.
Silke bezahlt ihn unter der Hand mit dem Geld aus der Kaffeekasse. Er kennt die Räumlichkeiten wie kein Zweiter. Wenn nur Silke da ist, geht er auch selbständig hinter den Tresen und kocht Kaffee. Ab und zu schenkt Zippo ihr eines seiner Gedichte, als kleine Aufmerksamkeit.
In der Hitze aalen
Die Glieder sind flüssig
Der Sonne Strahlen
Werde ich nicht überdrüssig
Silke schenkt ihm dann einen Kaffee, ebenfalls als kleine Aufmerksamkeit.
Silke fragt sich, wie es wohl ist, auf der Straße zu leben, kein Zuhause zu haben, den Menschen und Widrigkeiten schutzlos ausgesetzt zu sein, jeden Tag und jede Nacht. Wenn der Herbst hereinbricht, es grau und nass und kalt wird, Zippo aber noch nicht in der Bahnhofsmission schlafen will, weil er «die Gastfreundschaft nicht strapazieren» und «erst wenn es WIRKLICH kalt ist» zum Übernachten kommen will, gibt es Nächte, in denen Silke vor Sorge um ihn nicht schlafen kann. Wie schnell fängt man sich eine Erkältung ein, und wie schnell verschleppt man diese Erkältung. Wenn sie damals nicht Renate gehabt hätte, wer weiß, ob sie nicht auch auf der Straße gelandet wäre.
Silke nickt Zippo auffordernd zu, damit er mit ihr eine Zigarette rauchen geht. Es ist das erste Mal seit langem, aber jetzt will sie nichts lieber, als an einer Zigarette zu ziehen. Sie gehen raus ans Gleis und stellen sich in das für Raucher markierte Viereck. Zippo reicht Silke wortlos eine Zigarette und öffnet mit einer galanten Handbewegung sein benzinbetriebenes Sturmfeuerzeug.
Sein Zippo ist der einzige Wertgegenstand, den er noch bei sich trägt. «Keine rührende Geschichte, einfach nur ein Feuerzeug», hatte Zippo Silke mal erzählt, als sie mehr über seinen Spitznamen wissen wollte. «Eigentlich heiße ich Wladislaw, aber auf den Straßen hat man es ja schon als Deutscher schwer genug.»
Das Nikotin fährt Silke durch die Adern und lässt ihr Herz schneller schlagen. Kurz bereut sie es, mit dem Rauchen aufgehört zu haben.
«Keinen guten Tag gehabt», nuschelt Zippo verlegen.
«Was war los?», fragt Silke.
Zippo schaut zu Boden und tritt mit dem Fuß auf herumliegende Kippen, wie ein verschämtes Kind. «Das bleibt aber unter uns, oder?»
«Versprochen.»
Langes Schweigen. Zippo ist sichtlich nervös, er zieht an seiner eigentlich schon abgebrannten Zigarette, seine Wangen sind hochrot, er trommelt mit den Fingern auf seinem Hosenbein und kratzt sich dann am Hinterkopf. «Geht um was Medizinisches.»
«Bist du krank?», Silke ist alarmiert.
«Ja, also nein … Ich weiß es doch auch nicht.»
«Was ist los?», Silke fasst Zippo behutsam am Oberarm.
«Ich hab immer Ärger beim Wasserlassen.»
«Ärger beim Wasserlassen?»
«Ja, Ärger beim Wasserlassen.»
«Was heißt das denn?»
«Das heißt, was es heißt», Zippo wird wütend. «Ist auch egal.»
«Nee, Zippo.»
«Du kannst mir eh nicht helfen! Niemand kann mir helfen! Ich hab immer Ärger beim Wasserlassen, aber ich kann auch nicht zum Arzt ohne Versicherung. Ich werd wahrscheinlich einfach nur alt, und das Thema ist jetzt hiermit beendet.»
Zippo tritt mit ruckartigen Bewegungen seine längst erloschene Kippe aus und will gehen, Silke packt ihn fest am Ärmel seiner Jeansjacke und schaut ihm in die Augen. «Donnerstag um neun Uhr, Treffpunkt hier. Ich kenne eine sehr nette Ärztin, wegen Geld musst du dir keinen Kopf machen. Wir haben eine Kaffeekasse für solche Fälle.»
Zippo schaut weg.
«Neun Uhr, okay», sagt er kleinlaut.
«Und jetzt gib mir noch ein, zwei Zigaretten. Bekommst du morgen wieder.»
Zippo drückt Silke mit zitternden Fingern die gesamte Packung Gauloise in die Hand.
«Zum Arzt soll man ja nüchtern gehen. Hab ich mal in der Apotheken Umschau gelesen.» Zippo verabschiedet sich und steuert den Bahnhofsvorplatz an, wo er im Sommer immer am Rand eines städtischen Blumenbeets direkt hinter dem Bushäuschen übernachtet.
1991: Silke schaut aus dem Fenster. Die Wiesen und Felder sehen aus, als hätten sie die Hoffnung auf Regen schon aufgegeben, ein paar Mauersegler nutzen die Gunst der Hitze und jagen Insekten. Ansonsten ist da nicht viel. Silke sieht sich selbst in der Spiegelung des Fensters. Ihre Haare werden von einer großen Klammerspange zusammengehalten, trotz der Hitze ist ihre mintfarbene Bluse bis zum Hals zugeknöpft. Seit Wochen ist keine Wolke mehr am Himmel zu sehen, aber Silke hat es trotzdem geschafft, so kalkweiß zu bleiben, dass ihre Haut grell im Fenster leuchtet. Sie wird wütend. Auf das Wetter, ihren Schweiß, die kreidebleiche Haut. Und auf Roland. Ohne Roland wäre jetzt alles wie immer, sie säße nicht hier im stickigen Regionalexpress, müsste nicht ihr Spiegelbild im Fenster ertragen und wäre nicht wütend. Sie würde wie jeden Dienstag Lasagne al forno in der Kantine essen, dazu gäbe es ein Glas trüben Apfelsaft, alles wie immer.
Aber Roland musste sie ja auf der Arbeit anrufen, gleich morgens, gleich beim ersten Kaffee. Er rief aus Wolfsburg an, von seinem wichtigen Termin, und er klang zornig. Roland wird immer zornig, wenn etwas nicht nach Plan läuft, ganz gleich, ob er selbst daran Schuld ist oder es überhaupt keinen Plan gibt.
«Ich hab meine Unterlagen auf dem Tisch im Flur liegen lassen», pampte er durch den Hörer. Vorwurfsvoll, als sei es Silkes Verantwortung gewesen, ihm die Unterlagen bis ans Auto zu tragen. «Um 16 Uhr ist das Meeting, und ich komm hier vorher nicht mehr weg.» Stille. Roland ging offensichtlich davon aus, dass Silke ihm sofort anbieten würde, die Unterlagen zu ihm nach Wolfsburg zu bringen. Sie tat ihm diesen Gefallen nicht, stattdessen schwieg sie. «Bist du noch da? Da ist wohl eine Störung in der Leitung. Ich brauche die Unterlagen jedenfalls vor 16 Uhr. Wenn du den Zug in einer halben Stunde nimmst, klappt das noch.»
«Ich bin doch selbst auf der Arbeit, Roland. Ich kann ni…»
«Silke, das ist überhaupt keine Diskussion. Wenn das hier heute nicht klappt, können wir uns das Haus abschminken. Ich bin um 15.30 Uhr am Gleis.» Er legte auf.
«Das ist das letzte Mal», zischte Silke, als sie eine halbe Stunde später im Wohnungsflur den Stapel von Rolands Unterlagen in ihre Tasche packte. «Noch mal mach ich so was nicht.»
Silke wird langsam müde, die ungetrunkene Tasse Kaffee macht sich bemerkbar. Noch eine Stunde, dann schnell Roland am Gleis die Dokumente übergeben und wieder zurück nach Hause. Wahrscheinlich wird er nicht mal «Danke» sagen.
Der Schweiß rinnt unter ihren Brüsten, ihr Hals ist rau und trocken. Ausgerechnet heute hat sie ihre Wasserflasche nicht dabei. Sie zieht die Mappe mit den Dokumenten aus der Tasche und fächert sich damit etwas Luft ins Gesicht. Gut, dass Roland das jetzt nicht sehen kann. Beim Gedanken an ihren Mann bekommt Silke blitzartig Angst, dass sie die Blätter zerknickt und er zornig wird. Sie hört abrupt wieder auf zu fächern und schiebt die Mappe zurück in die Tasche. Die Hitze, diese unerträgliche Hitze. Silke atmet flach, sie hatte heute nur einen Apfel zum Frühstück. Sie versucht morgens und abends nicht mehr so viel zu essen, weil Roland neulich im Bad zu ihr gesagt hat, ihr Hintern hätte seit der Hochzeit einen gewaltigen Hagelschaden erlitten. Er fand das witzig, Silke weniger. Roland hat einen Bierbauch, einen richtigen Ranzen, aber Silke würde im Leben nicht auf die Idee kommen, ihm das unter die Nase zu reiben.
Es ist mit Roland schon lange nicht mehr wie zu Beginn ihrer Beziehung. Sie hatten sich auf dem Schützenfest in Borken zum ersten Mal gesehen, Roland kannte den Besitzer des Schützenheims und gab ihr ein Pils nach dem anderen aus. Silke mochte kein Bier, aber sie mochte Roland. Mit seinem dunkelbraunen Schnäuzer und dem wild gemusterten Hemd lehnte er am Tresen und sah ein bisschen aus wie Magnum, was er höchstwahrscheinlich auch bezweckte. Er wirkte charmant und cool, und die anderen schauten neugierig zu ihnen rüber, während sie sich unterhielten. Für Silke war das der pure Nervenkitzel. Einige Wochen später waren sie ein Paar. Silke war achtzehn und Roland neunzehn, als sie zusammenzogen. Roland machte eine Ausbildung zum Industriekaufmann und bekam anschließend eine Stelle bei einem internationalen Zulieferer für Autositze, zwei Stunden entfernt von Borken. Silke hatte gerade erst ihre Stelle als Softwareberaterin bei einer großen IT-Firma im Ort angetreten, und so einigten sie sich darauf, dass sie in Borken wohnen blieben. Roland pendelte zur Arbeit, jeden Tag zwei Stunden hin und zwei Stunden zurück, er hasste es und tat es Silke zuliebe, aber eigentlich vor allem, weil er sich nicht vorstellen konnte, jemals aus Borken wegzuziehen. Die beiden heirateten, weil man das so machte.
Mit den Monaten und Jahren wurde Roland immer unleidlicher. Ihre Gespräche wurden knapper, die Themen belangloser, Rolands Ton ruppiger. Er erwartete von Silke, dass sie sich als Gegenleistung für das Opfer, das er täglich brachte, allein um den Haushalt kümmerte. Ihm seine Hemden bügelte und rauslegte, abends für ihn kochte, Schnittchen ans Sofa brachte, wenn Tatort lief.
Silke wollte keinen Ärger machen und war Roland dankbar, dass sie in Borken blieben, also fügte sie sich und tat, was immer er ihr auftrug. So ist das wohl in einer Ehe, dachte sie ab und an abends im Bett, während Roland laut neben ihr schnarchte. Und es gab ja auch Schlimmeres.
Willy-Martin holt das Taubenfutter aus den Plastikkisten im Schuppen und dosiert die Portionen für jeden einzelnen Vogel. Hoher Rohfettgehalt für Diego, Kanariensaat für Eugenia, Buchweizen und Silberhirse für die kleinen. Er pfeift und ist ganz und gar beschwingt, die Sonne strahlt durch die dünnen Ritzen zwischen den Holzlatten des kleinen Verschlags, die Tauben gurren zufrieden in ihren Käfigen. Ein perfekter Tag.
Es scheint, als hätten Kerstin und Willy-Martin eine ganz besondere Verbindung, eine, die die große Entfernung überbrücken kann und sich trotz der Distanz sehr nah anfühlt. Seit über zwei Wochen telefonieren sie jeden Abend mehrere Stunden. Wenn Willy-Martin an Kerstin denkt, kribbelt es im ganzen Körper, bis in seine Zehenspitzen. Er kann nur das Nötigste essen und trinken, er braucht nur Kerstins Stimme zu hören, und all seine Bedürfnisse sind schlagartig gestillt. Schon morgens auf dem Weg zur Arbeit denkt er an sie, das Gefühl trägt ihn durch den ganzen Tag. Während er den Taubenschlag von dem Herrn Grafen saubermacht, die Nistzellen ausmistet und die Tauben füttert, singt er Kerstins Lieblingslied: «Die immer lacht», eine schmissige House-Ballade von ihrer Namensvetterin Kerstin Ott.
Die … ist die eine, die immer lacht,
die immer lacht,
die immer lacht,
die immer lacht,
Ohhh, die immer lacht,
und nur sie weiß,
es ist nicht, wie es scheint.
Oh, sie weint,
oh, sie weint,
sie weint,
aber nur wenn sie alleine ist.
Denn sie ist, denn sie ist,
die eine,
die eine,
die immer lacht.
Kerstin sagt, wenn sie dieses Lied hört, fühlt sie sich verstanden.
Am Telefon berichtet Willy-Martin Kerstin von seiner Arbeit im Taubenschlag, sie interessiert sich sehr für Tiere. Sie sprechen über Gott und die Welt, Kerstin erzählt von ihrer Kindheit auf einem Schweinehof, ihrer gehbehinderten Schwester Svea, mit der sie schon als Kind in den Sommerferien zu Hause wursten musste. Willy-Martin erzählt von der ungesunden Hundeliebe seiner Mutter Petra und seiner Aversion gegen Tomaten und alle Tomatenerzeugnisse, auch Ketchup! Kerstin erklärt Willy-Martin außerdem, was es mit ihrem Internetpseudonym auf sich hat: Sie ist hauptberuflich Knochenbrecherin, zu Plattdeutsch Knakenbrekerin.
«Das Knochenbrechen ist eine traditionell ostfriesische alternative Heilkunde. Man renkt Gliedmaßen ein und rückt Wirbel wieder an Ort und Stelle, bei Pferden, Hunden, Katzen, Menschen. Überall, wo man mit herkömmlicher Medizin und Schmerzmitteln nicht mehr weiterkommt, kann der Knakenbreker mit seinen wundersamen Handgriffen helfen. Man kann es nicht lernen, die Begabung wird bestenfalls in der Familie weitergegeben», erklärt Kerstin. Schon ihr Großvater war Knakenbreker und schließlich auch ihr Vater. Der aber zeugte zu seiner Enttäuschung ausschließlich Töchter und kam gar nicht erst auf die Idee, dass auch eine Frau Knakenbrekerin werden könnte, deswegen drohte der Beruf in der Familie auszusterben. Als junges Mädchen hat Kerstin ihn einmal beim Wursten beiläufig gefragt, ob er ihr das Knochenbrechen beibringen könne, woraufhin er bestimmt zehn Minuten lang sehr laut und dreckig gelacht hat.
Als Kerstin älter und durch die Arbeit im Schweinestall und ihren Nebenjob in einer Baumschule muskulöser wurde, wuchs ihr Wunsch, Knakenbrekerin zu werden. Sie fühlte sich stark und durchaus in der Lage, ein 1,80 Meter großes Pferd von seinen Hüftbeschwerden zu befreien. Erneut bat sie ihren Vater, ihr das Knakenbreken beizubringen, er musterte sie von oben bis unten, sagte lange gar nichts und knurrte irgendwann trocken: «Na gut. Hast ja stattliche Handballerwaden bekommen. Aber ich will nicht schuld sein, wenn du unter die Hufe gerätst.»
Kerstin hob ihren Vater vor Freude hoch in die Luft und drehte sich mit ihm begeistert im Kreis. Fortan ließ sie sich von ihm in die Geheimnisse des Knakenbrekens einweihen: «Immer vierzig Sekunden Schmerz, danach kommt Erleichterung», «Die Finger genau hier hin, das sind so die Sachen, die gehen direkt auf die Birne», «Lieber ’nen Hundeschwanz im Gesicht als ein Hundegesicht am Schwanz». Drei Jahre begleitete Kerstin ihren Vater bei seinen Einsätzen auf Bauernhöfen, Gestüten, in die Wohnzimmer von Hundebesitzerinnen und in die eigene Praxis in der Hofgarage. Dann ging er in Rente und gab das Knakenbreker-Zepter an Kerstin weiter. Kurz darauf verschluckte sich ihr Vater im Auto an einer Pistazie und erstickte auf dem Standstreifen der B 436 Richtung Logabirum.
Kerstin will sein Andenken in Ehren halten und ist seitdem stolze und einzige Knakenbrekerin in Leer und Umgebung. Als Knakenbrekerin dürfe man keine Schwäche zeigen, erklärt sie Willy-Martin. Seit der medialen Ausschlachtung des Handwerks durch Star-Knakenbreker Tamme Hanken sei der Druck in der Branche enorm gewachsen, bei jeder Behandlung auch immer zwei bis drei flotte Sprüche auf Lager zu haben. Kerstin bezeichnet sich selbst als eine von Natur aus eher ruhige Person, sie leide unter den erwartungsvollen Blicken der Kunden, die sich von ihr während der Behandlung eine freche Performance erhoffen, ein Gag-Feuerwerk. Um niemanden zu enttäuschen, hat sie sich ein festes Repertoire an Sprüchen und Pointen von Tamme Hanken angeeignet, die sie bei jedem Termin abspult wie ein Flugbegleiter die Sicherheitsvorkehrungen im Flugzeug. «Pferde und Frauen haben eines gemeinsam: Gib ihnen Arbeit und Beschäftigung, und sie bleiben gesund.» Oder: «Was der Hund braucht, ist Bier. Malzbier bringt den richtig schön voran.» Oder: «Ein Pferd ist auch nur ein Mensch.» Zu Kerstins Erstaunen kommen die kultigen Sprüche von Tamme Hanken bei ihren Patienten wahnsinnig gut an. Es scheint, als sei ihnen völlig egal, aus welchem Mund sie kommen – Hauptsache, sie kommen. Jetzt, wo Hanken tot ist, muss es halt jemand anderes machen. Die Menschen verlangen nach einer neuen norddeutschen Kultfigur.
Willy-Martin ist tief beeindruckt von Kerstins Geschichte. Kerstin – der Name klingt für ihn wie süßer Nektar im Mundwinkel der Sehnsucht, ein leidenschaftlicher Kuss im Sommerregen. Kerstin, Kerstin, Kerstin … Er schließt die Augen und lächelt. Kerstin läuft barfuß und kichernd vor ihm her, in ihrer Hand ein Stück Salami. Kerstin, oh Kerstin, bitte brich mir die Knochen. Wurste mit mir, Kerstin, wir werden alt zusammen, unsere Kinder werden Tauben züchten und Knochen brechen und wursten, Kerstin, meine Kerstin.
Während er nur den Mist von ein paar Vögeln wegfegt, erlöst Kerstin riesige Pferde und übergewichtige Menschen von ihrem Rückenleiden. Für Willy-Martin ist Kerstin eine echte Traumfrau. Am liebsten würde er schon heute in den Taubenlaster steigen und die mehreren Hundert Kilometer nach Ostfriesland fahren, um sie zwischen Schweinemist und Strohballen zu ehelichen. Aber jetzt heißt es Ruhe bewahren, nicht mit der Tür ins Haus fallen, Kerstin kommen lassen.
Willy-Martin schaut auf die Uhr, noch knapp drei Stunden, dann wird er nach Hause brettern und sehnsuchtsvoll vor dem Festnetztelefon warten, bis sie endlich anruft. Vorher muss er nur noch den Schlag herrichten und Taubeninventur machen. Es kommt immer mal wieder vor, dass Tauben entwischen oder bei einem Trainingsflug Opfer eines Geiersturzflugs werden, mindestens einmal pro Woche müssen sie daher gezählt und auf Verletzungen untersucht werden. Willy-Martin beginnt mit der Zählung bei den Doppelkuppigen Trommeltauben, vier Stück beherbergt der Schlag. Sie sind eine reine Haustaubenrasse von kräftiger Gestalt, ihre Haltung fast waagerecht, hochstirniger Kopf, glattfüßig, schmale Perlaugen. Trommeltauben fliegen keine Wettkämpfe, Pokale für den Herrn Grafen bringen sie aber trotzdem ein, und zwar bei Schönheitswettbewerben in ganz Europa. Willy-Martin hegt und pflegt die vier Vögel ganz besonders, füttert sie mit teurem Spezialfutter und kämmt ihr Gefieder. Alle Doppelkuppigen Trommeltauben sind noch da, er hakt sie gut gelaunt auf seiner Liste ab: Masha, Georgis, Juan und Manuela.
«Top in Schuss, bisschen mehr Unterbauch könntet ihr vertragen!», zwitschert er den Tauben zu und streut eine Extraportion Gerste in ihre Nistzellen. Dabei kann er nicht aufhören zu lächeln. Bald wird er Kerstin den Schlag zeigen, die Doppelkuppigen Trommeltauben, die Orientalischen Roller, die Canaria-Kröpfer, die Schwarzkinn-Fruchttauben. Bald wird Kerstin sie beim Namen kennen: Sabbel, Ferdinand, Pflaume, Wilhelmina, Evelyn, Juan, Dilara, Juliette, Guillaume, Shirin, Cedric, die einbeinige Daphne; sie werden sich kennenlernen, und Kerstin wird Juliette nach dem nächsten Trainingsunfall den Flügel einrenken, die Kosten für die Taubenklinik kann der Herr Graf sich dann sparen.
Als alle Tauben gezählt und gefüttert sind, schließt Willy-Martin zufrieden die Schlagtür ab und fährt in einem Affenzahn zu seinem Festnetztelefon. Beim Aufschließen der Haustür zittern seine Finger, er sprintet die Stufen zur Wohnung hoch und kommt auf halber Strecke erschrocken zum Stehen. Vor seiner Wohnungstür steht eine große Frau im Strickpullover, mit kurzen schwarzen Haaren, zwei große Koffer links und rechts von sich, in ihren Händen eine Hundeleine, die zu einem auf der Fußmatte schlafenden Golden Retriever führt.
«Du bist größer, als ich dachte», strahlt Kerstin ihn an und öffnet die Arme.
Willy-Martin steht wie angewurzelt da, der Schlüssel fällt ihm aus der Hand.
Ein unliebsamer Gast in der Bahnhofsmission ist Gadget-Stefan. Er heißt so, weil er immer von seinen Gadgets erzählt. Stefan ist ein sportlicher Mittvierziger, er trägt neonfarbene Funktionskleidung, Radlerhosen und ergonomische Schuhe, er sieht immer aus, als wäre er bei der Tour de France falsch abgebogen. Dabei kommt er meistens mit dem Bus, im Sommer ab und zu mit seinem Trike. Ein Trike ist ein dreispuriges Liegerad mit zwei gelenkten Rädern vorne und einem angetriebenen Rad hinten. Gadget-Stefan klappt sein Trike meistens in einer aufwendigen Prozedur mitten im Empfangsbereich der Bahnhofsmission zusammen, sodass kein Rein- und Rauskommen mehr möglich ist. Die Leute starren ihn und sein seltsames Gefährt dann an, und er genießt das sichtlich. Sofort beantwortet er Fragen, die niemand gestellt hat. «V-Bremsen, pulverbeschichtet!», ruft er extra laut durch den Raum. Oder: «Carbon-Race-Schalensitz, 70er Kettenblatt, 6-Lochscheibenbremsflansch.» Selten bis nie reagiert jemand auf seine Auskünfte, manchmal hört man leises Husten und Räuspern. Eigentlich kommt Gadget-Stefan aber nur, um seine Gadgets aufzuladen; sobald er das Trike fertig zusammengeklappt und zur Seite geräumt hat, packt er allerlei technische Gerätschaften aus seinem Mammut-Rucksack. Ein iPad, ein iPad Mini, eine 360-Grad-Kamera, einen E-Book-Reader (wasserfest), ein Diensthandy, ein privates Handy, einen Fahrradlautsprecher, ein intelligentes Fahrradschloss, diverse Powerbanks, manchmal auch eine mittelgroße Drohne. Um alles gleichzeitig laden zu können, hat er immer eine Achtfach-Steckdosenleiste dabei. Schon als Gadget-Stefan das erste Mal mit den Gerätschaften ankam, hat Silke ihn zur Rede gestellt. Warum er denn nicht zu Hause laden würde, die Bahnhofsmission sei ja schließlich ein Ort für in Not Geratene. Er sei in Not geraten, antwortete er, schließlich brauche er diese Geräte, um seinen Alltag zu bestreiten, und würde dafür auch jedes Mal zwei Euro in die Kaffeekasse werfen. Am Anfang tat er das sogar, dann gab er nur noch einen Euro, dann gar nichts mehr. Mittlerweile hat er immer zwei Achtfach-Steckdosenleisten dabei und trinkt während des Ladeprozesses eine Tasse Kaffee nach der anderen. Silke und den anderen sind die Hände gebunden, denn Gadget-Stefan ist ein guter Freund von Marquardt, die beiden gehen in die gleiche freichristliche Gemeinde. Gadget-Stefan berät Marquardt in technischen Fragen. Die nächste große Anschaffung in der Bahnhofsmission soll das bargeldlose Bezahlsystem sein. Toilettengänge, eine zweite Portion Suppe oder die Leihgebühr von achtzig Cent für Isomatte und Schlafsack können dann auch mit Bitcoins bezahlt werden.
Als Zippo Gadget-Stefan samt Trike auf den Schultern durch die Eingangstür kommen sieht, rollt er mit den Augen. «Der hat mir heute noch gefehlt», brummt er.
«Moin, Moin!», flötet Gadget-Stefan und zieht sich schnaufend die grellgelben Fahrradhandschuhe aus. «Pull-off-System, Frottee-Einsatz für den Schweiß, reflektierende Logos. Damit sieht mich auch ein Blinder mit Krückstock im Nachtnebel», lacht er laut. «Machste mir ’ne große Latte, drei Stück Zucker und bitte nur zwei Espressi, ich muss noch fahren.» Er schaut Silke nicht mal an.
«Wie heißt das Zauberwort?», grunzt Zippo ihn an.
«Pronto!», antwortet der unbeeindruckt und schließt seine Steckdosenleiste in der von Zippo am weitesten entfernten Ecke des Raumes an und öffnet demonstrativ das Fenster.
«Schlechte Luft hier. Es gibt inzwischen smarte Hochleistungsluftreiniger, vielleicht solltet ihr mal über so was nachdenken. Ihr habt hier ja öfter mit … schlechter Luft zu tun.»
Während er das sagt, streift sein Blick den für die Augusthitze viel zu warm gekleideten Zippo am Tresen.
«Wir haben hier keine schlechte Luft. Aber danke für den Tipp», entgegnet Silke und knallt ihm seinen Latte macchiato auf den Nierentisch direkt neben die Steckdosenleiste, sodass reichlich Kaffee überschwappt.
«Mensch! Muss das sein?», faucht Gadget-Stefan. «So was kann auch ins Auge gehen. Weißt du, was die Sachen kosten?»
«Ich bin inzwischen gut versichert», antwortet Silke ungerührt.
Renate hat ihr Zeitgefühl verloren. Die Tage und Nächte wabern wesenlos vor sich hin, sie verschieben sich, werden eins. Ohne Mandarine Schatzi gibt es für sie keinen Grund mehr, um acht Uhr aufzustehen, der Funkwecker auf dem Nachttisch bleibt stumm. Im Büro hat sie sich krankgemeldet, «Bindehautentzündung, höchst ansteckend, eitrige Lider, das volle Programm». Im Spülbecken stapelt sich das dreckige Geschirr, auf dem Kurzflor-Teppichboden formieren sich die ersten Wollmäuse. Eine große Leere hat sich ausgebreitet in Renate, hat die Zimmer ihrer Wohnung geflutet mit kopfhohen, reißenden Wellen des Nichts und sie unbarmherzig in das Auge der Bedeutungslosigkeit gespült.
Mandarine Schatzi ist weg, und sonst sind auch alle weg, Renate ist ganz allein auf dieser Welt, bitterlich allein. Sie könnte in ihrem Bett oder auf der Couch oder dem Flokati unter der Treppe sterben, niemand würde sie finden, denn niemand würde nach ihr suchen, Wochen, Monate, Jahre würde sie da liegen und verwesen, die Würmer würden in die Hände klatschen vor Freude über dieses Festmahl, das war’s dann, ciao, Renate.
In der ganzen Wohnung sind die Rollläden runtergelassen, Renate findet nach dem Aufstehen nicht mal mehr die Kraft, sich anzuziehen. Sie trägt nur noch einen weißen Frotteebademantel und darunter gar nichts, allerdings kann sie den dazugehörigen Frotteegürtel nicht mehr finden, weshalb der Bademantel eigentlich nur ihre Schultern und den Rücken bedeckt, der Rest liegt frei. Zum Frühstück gibt es meist Hugo auf Eis, dazu zwei wachsweiche Eier und einen großen Block jungen Gouda am Stück. Renate isst vor dem Fernseher, nach dem Essen studiert sie die HÖRZU. Was im Fernsehen läuft, ist Renate egal, sie will nur etwas Leben in die Wohnung bringen, Geräusch, Gespräche, ein Lebenszeichen. Denn sie selbst ist momentan im Stand-by-Modus, der Fernseher übernimmt für sie die Vitalzeichen, leistet Beistand auf Knopfdruck und bringt Zerstreuung. Er ist ihr kastiger Freund, die letzte Verbindung zur Welt hinter den Rollläden, eine lebenserhaltende Maschine.
Es ist 16 Uhr, Renate hat gerade gefrühstückt. Sie sitzt mit einem Weißweinglas Hugo auf der Couch und nickt immer wieder ein. Jedes Mal, wenn sie das tut, schwappt ein Schluck des Prosecco-Cocktails auf ihre nackte Haut, was sie schlagartig wieder wach werden lässt. Sie wischt sich die klebrige Flüssigkeit dann mit dem Ärmel ihres Frotteebademantels von Brust und Bauch, um kurz darauf wieder in einen mitteltiefen Schlaf zu fallen, bis der nächste Schluck danebengeht. Nach dem sechsten Überschwappen und Wegwischen ist der Ärmel ihres Frotteemantels völlig durchnässt, er klebt und stinkt nach Zitronenmelisse, das ist selbst Renate zu viel. Fluchend wirft sie ihn in den Wäschekorb im Bad und sucht in ihrem Schlafzimmer nach einer Alternative. Im Schrank sieht es aus wie auf einem Grabbeltisch beim Textildiscounter. Nur noch wenige einzelne Kleidungsstücke liegen einsam auf den Schrankböden, es sind die schrillen und gänzlich aus der Mode gefallenen, die, die wirklich niemand mehr tragen will, trotz «80 % AUF ALLES, NUR HEUTE». Renate seufzt und schaut sich im Zimmer um, überall haben sich große Berge Wäsche auf dem Boden verteilt, sie hat seit Wochen nicht mehr gewaschen. Kraftlos zieht sie ein korallfarbenes Minikleid aus dem Schrank, das sie seit mindestens zehn Jahren nicht mehr getragen hat. Es ist ihr inzwischen viel zu klein, nicht mal beide Arme bekommt sie durch die Öffnung. Sie wirft das Kleid entnervt zurück in den Schrank und greift zur einzigen gewaschenen Alternative, die ihr noch passt: ihrem pinken Bikini.
Zurück vor dem Fernseher beschließt sie, neue Kleidung zu kaufen. Das Haus verlassen will sie dafür nicht, das geht ja auch gar nicht, im Bikini, da wird sie nur wieder schief angeguckt. Außerdem ist Renate nicht bereit, Menschen zu begegnen, also zieht sie die einzig logische Konsequenz und zappt auf HSE24, einem großen deutschen Homeshopping-Kanal. Sie hat Glück: Gerade werden Jersey-Hausanzüge angeboten, Rippband mit Kordelzug an der Taille, seitliche Eingrifftaschen mit Satinpaspel, erhältlich in den Farben Mahagoni-Bordeaux und Espressobraun-Khaki-Melange, nur 27,27 Euro das Stück.
«Geringer Bestand!», brüllt die Moderatorin und fasst dem Jersey-Hausanzug-Model übergriffig an den Oberschenkel. «Ich kann Ihnen nicht versprechen, dass wir heute Abend noch welche davon dahaben!»
Renates Puls steigt, sie wird nervös und greift sofort zum Hörer. «Ja, richtig, beide Farben. Jeweils dreimal, Expressversand, ja genau, Kundenkarte? Nee, hab ich nicht und will ich au… – einen Lebensbestand an Plastikhaken? Ja gut, würde ich nehmen.»
Der Bestellvorgang geht so schnell und einfach, und Renate fühlt sich schon ein bisschen besser. Sie schaut weiter, Katja Kossowski präsentiert: die großen Beate-Johnen-Wochen! Nur heute noch mal 24 Prozent Rabatt auf die medizinisch basierte Wirkkosmetik, Beate Johnen ist sogar LIVE im Studio!
«Wer kennt es nicht: Das Unterhautfettgewebe sackt ein bisschen aus, Hoch-Tief-Gebiete in der Hautstruktur, welker Bauch. Mit der Beate-Johnen-Lipolyse-Ampullen-Kur können Sie bis zu 3,1 Zentimeter Körperumfang verlieren.»
Katja Kossowski schaltet sich aufgeregt ein, ihre stark geschminkten Wangen glühen dunkelrot in der Hitze des Scheinwerferlichts. «Statt 14 Ampullen für 22,99 Euro NUR HEUTE 28 Ampullen für 29,99 Euro. Das ist ein Warenwert von 45,98 Euro! Und jetzt kommt der Oberhammer. Der JOKER DER WOCHE! Diese Lipolyse-Ampullen-Kur ist VERSANDKOSTENBEFREIT! Und ich höre schon, wir sind begrenzt! Es rufen gerade so viele Kundinnen an, verzweifeln Sie nicht, wenn Sie nicht durchkommen, bleiben Sie in der Warteschleife und lassen Sie sich dieses sagenhafte Angebot nicht entgehen.»
Renate ist elektrisiert und greift zum Hörer, sie kommt direkt durch. «Einmal die Lipolyse-Ampullen-Kur, Renate Gabor, ja super, Adresse hamse noch drin, danke auch, auf Wiederhören!»
Beate Johnen cremt sich inzwischen auf dem Oberarm die Narbe ihrer Pockenimpfung aus den Siebzigern ein: «Eine seltene Hommage an unsere Haut! Eine Komplettsanierung der Epidermis!» Das Homeshopping-Urgestein und Katja Kossowski werfen sich gegenseitig die Fachbegriffe zu, Renate kann kaum folgen. «Verbessert die Zellkommunikation», «Reduziert Expressionsfalten», «Anreiz für biophysikalische und biochemische Regulationsvorgänge», «Isoliertes Glycoprotein», «Schützt die mikrobielle Vielfalt unserer glazialen Natur». Renate möchte unbedingt die mikrobielle Vielfalt ihrer glazialen Natur schützen und greift zum Hörer, der Body Refiner, 500 ml, für 24,99 Euro gehört kurz darauf ihr. Es geht weiter, Katja Kossowski ist euphorisiert, Beate Johnen massiert ihr die ALL-IN-ONE-ZAUBERCREME in den Handrücken ein, «Hyaluronsäure-Penetration in mehreren Hautschichten», «Mikrofeine Edelmetallpeptide regen die Kollagensynthese an und bewahren das elektrische Gleichgewicht in der Haut», «Schon lange ein geflügeltes Wort in der Kosmetikpresse».
Katja Kossowski stöhnt vor Freude: «Das kann doch gar nicht sein, das ist unmöglich!» – «Doch, es ist möglich. Eine Rundumerneuerung der Haut, 88 Prozent mehr Leuchtkraft, neun in eins, Erhöhung der Elastinsynthese um sage und schreibe 800 PROZENT. Wenn Schlangen sich häuten, haben sie danach ja schließlich auch ein schöneres Muster, das ist bei uns Menschen genauso.» Renate will sich jetzt auf der Stelle häuten, sie bestellt gleich vier Tiegel der ALL-IN-ONE-ZAUBERCREME, sicher ist sicher. Beate Johnen verabschiedet sich aus dem Studio, ihre Zwillinge feiern heute Kindergeburtstag, ein Hoch auf die künstliche Befruchtung!
Weiter geht es mit Haushaltswaren, der 360-Grad-Mop mit Pedalschleudersystem und Bürstaufsatz, Renate schlägt zu, wieder rüber zu den Accessoires, die Card-Guard-Geldbörse schützt vor kontaktlosem Datenklau, «Ich möchte jetzt die südlichen Länder nicht beleidigen, aber der Taschendieb ist vor Ort!»
Renate wurde noch nie bestohlen, aber sie hat jetzt panische Angst, dass es bald passiert, die Maschen werden ja immer perfider. Sie kauft die Card-Guard-Geldbörse in Mokkabraun, die Frau an der Hotline und sie sind inzwischen per Du.
Bis spät in die Nacht sitzt Renate in ihrem pinken Bikini auf der Couch und kauft ein, das Goldcollier Bicolor mit dreifachem Zierelement, den Medium-Shopper Anuschka mit Waffelstruktur, passt hervorragend zum Ibiza-Rock, der Kalorik-Kompaktofen mit getempertem Sicherheitsglas. Bei jedem Bestellanruf macht ihr Herz einen Sprung, ein kurzer Moment der Freude, oh, wie hatte sie dieses Gefühl vermisst. Die Auftauplatte mit Farbwechsler, taut Gefriergut zehnmal so schnell auf wie ein Teller! Gerade bei Hackfleisch sinnvoll, die Hackfleischverordnung in Deutschland ist ja sehr streng. Das achtteilige Schüttdosen-Set für Gewürze in Capriblau, die Eismaschine Gelato Expert, «Wie in Italien!», 560 Euro inklusive Umsatzsteuer. Mit jeder Ware kauft Renate auch eine neue Ladung Endorphine, die Leitung läuft heiß. Die Stunden vergehen, draußen bricht die Dämmerung herein, und der Kaufrausch macht sie langsam müde. Sie will gerade drei Deko-Kugeln aus craqueliertem Glas mit Mercury-Effekt bestellen, da fällt sie in einen tiefen Schlaf, den Telefonhörer umklammert sie fest wie eine vertraute Hand.
Genauso überraschend, wie sie gekommen war, ging Kerstin auch wie selbstverständlich davon aus, zusammen mit dem Hund bei ihm übernachten zu können. Seit zwei Tagen wohnt sie bei ihm, und schon jetzt ist Willy-Martin das alles zu viel, er kennt Kerstin doch kaum.
Die ersten Stunden waren wunderschön, Kerstin und er tranken in der Küche einen Nescafé und lernten sich kennen, Bounty lag unter dem Tisch und schnarchte. Später spielten sie eine Runde Phase 10 und hörten ein altes Christina-Stürmer-Album. Bei dem Song Engel fliegen einsam stand Kerstin auf und forderte Willy-Martin auf, es ihr gleichzutun. Willy-Martin bebte vor Aufregung, die Liebe ratterte ihm durch den Leib, Kerstin kam näher und umarmte ihn von hinten. Er konnte ihren sanften Atem in seinem Nacken spüren und schloss die Augen, Gänsehaut. Plötzlich hob Kerstin ihn ruckartig an, es machte laut KNACK, und mit einer rigorosen Bewegung löste sie eine Blockade in seinem Rückenwirbel.
«Hab ich doch von weitem gesehen, dass du da was sitzen hast. Ich täusch mich nie.» Kerstin setzte sich zufrieden wieder hin, Willy-Martin verspürte gleichzeitig große Enttäuschung und Entspannung. Zum Abend machte er Kerstin Bratkartoffeln – sie hatte beiläufig erwähnt, dass sie Kartoffeln liebt – und Spiegelei auf Schwarzbrot, und die beiden aßen nur bei Kerzenschein. Die Stimmung war gelöst, erst am nächsten Morgen fing der Ärger an.
Willy-Martin hatte natürlich auf der Couch geschlafen und Kerstin sein Bett überlassen, für ihn eine Selbstverständlichkeit. Als er dann nach dem Aufstehen besonders früh ins Bad schlich, damit Kerstin ihn nicht in seinem altrosafarbenen Schlafanzug sah, kam er am Schlafzimmer vorbei und schaute kurz durch den Türspalt: Bounty lag nicht nur neben der schlafenden Kerstin in seinem Bett, er kaute auf einem riesigen, vor Speichel triefenden Knochen. Willy-Martin musste sich zusammenreißen, den Hund nicht augenblicklich vom Bett zu scheuchen, aber er wollte Kerstin keinesfalls wecken. So musste er vom Flur aus mit ansehen, wie ganze Bäche von zähem Hundespeichel auf seine geliebte Biberbettwäsche flossen. Beim Frühstück versuchte er das Thema diplomatisch anzusprechen, ohne Kerstin vor den Kopf zu stoßen.
«Wo hat Bounty eigentlich geschlafen, hab ihn heute Morgen gar nicht gesehen?», fragte er und knackte mit einem Teelöffel die Schale seines Frühstückseis.
«Mein Schatz kann nachts nicht ohne mich. Der hat natürlich neben mir im Bett geschlafen», antwortete Kerstin mit Marmeladenbrot im Mund, als wäre das völlig normal. Willy-Martin drehte es den Magen um, aber er sah Kerstins freundliche Augen, den großen, klebrigen Marmeladenmund und brachte es nicht übers Herz, etwas zu sagen. Also aßen sie und schwiegen, und im Radio lief leise Lighthouse Family.
Auch am zweiten Tag versuchte Willy-Martin immer wieder, eine romantische Atmosphäre zu erzeugen, die Kerstin sofort im Keim erstickte. Er kaufte bei TEDI einen großen Sack Vanille-Teelichter und verteilte sie großzügig in der Wohnung, während Kerstin mit Bounty eine Runde im Park drehte. Als sie zurückkam, war die ganze Wohnung ein vanilliges Kerzenmeer, Willy-Martin stand mit stolzer Miene im Türrahmen und nahm ihre Jacke entgegen.
«Boah, was stinkt das. Ist hier ’ne Douglas-Verkäuferin gestorben, oder was?», motzte Kerstin und hielt sich demonstrativ die Nase zu. Willy-Martin blies beleidigt die Kerzen aus, während Kerstin im Hintergrund nicht müde wurde zu erwähnen, dass beim Abbrennen von Duftkerzen die Chemikalie Formaldehyd entsteht, die unter anderem Krebs im Nasenrachenraum verursachen kann. Zum Abendessen wagte er einen neuen Versuch, er kochte Senfeier mit Pellkartoffeln, nach einem Rezept von Mutter Petra. Willy-Martin liebt Senfeier mit Pellkartoffeln, mit diesem Gericht wurde er als Kind immer für Erfolge belohnt. Er verbindet es mit einem guten Schulzeugnis, dem Schwimmabzeichen, dem zweiten Platz beim Badminton-Kreisturnier. Zu den Senfeiern reichte er Kerstin einen weißen Gallo-Familienwein und kalte Spezi, im Hintergrund ließ er ein frühes Beach-Boys-Album laufen.
When we danced I held her tight,
Then I walked her home that night
And all the stars were shining bright
And then I kissed her.
Kerstin aß nur mit der Gabel, die Ellbogen auf den Tisch gestützt, und spachtelte mit gesenktem Oberkörper die Kartoffeln in einer Geschwindigkeit in den Mund, dass Willy-Martin der Appetit verging. Nachdem sie die Kartoffeln aufgegessen hatte, sagte sie, dass ihr die Eier nicht schmeckten, und stellte den Teller auf den Boden zu Bounty, bevor Willy-Martin auch nur leises Interesse an den Senfeiern anmelden konnte.
«Wusstest du, dass die Beach Boys mal eine Sexorgie mit Charles Manson veranstaltet haben, diesem satanistischen Massenmörder?», lenkte Kerstin ab und musste zeitgleich heftig aufstoßen.
Willy-Martin legte sein Besteck wieder zur Seite und nahm einen großen Schluck Wein. «Nein, das wusste ich nicht.»
«Die Frau, die für Manson später die Leute abgeschlachtet hat, die war vorher Babysitterin bei dem Sänger von den Beach Boys. Frag mich, ob der nachts gut schlafen kann.»
Nicht so gut wie dein Hund in meiner Bettwäsche, dachte Willy-Martin und schüttete sich Wein nach.
Aber es ist nicht alles schlecht mit Kerstin, sie hat auch sehr gute Seiten. Sie packt mit an, repariert in Eigeninitiative den kaputten Sockel des Hifi-Schranks, sie programmiert den Anrufbeantworter auf Willy-Martins Festnetztelefon und ermutigt ihn, bei dem Herrn Grafen eine Gehaltserhöhung einzufordern. Sie können sich stundenlang unterhalten, Kerstin ist eine gute Zuhörerin, und genauso gern redet sie auch selbst, außerdem ist sie eine hervorragende Phase-10- und Kniffel-Gegnerin. Willy-Martin kann ihr daher die Sachen mit Bounty und den Duftkerzen und den Senfeiern und den Beach Boys nicht wirklich übelnehmen.
Ihr zuliebe versucht er sogar, sich mit Bounty anzufreunden, obwohl er Hunde verabscheut.
Am Donnerstag, um Punkt neun Uhr, steht Zippo an Gleis vier, in seinen Händen eine Ansichtskarte und seine Geldbörse.
«Reine Formsache», sagt er, als er Silkes Blick bemerkt. «Mein Ausweis ist vor sechs Jahren abgelaufen.»
Silke klopft ihm auf die Schulter.
«Hier, für deine Mühen.» Zippo überreicht Silke die Ansichtskarte, darauf zu sehen ist einer der unzähligen Kreisverkehre Borkens. Silke hat irgendwann die These aufgestellt, dass der Slogan der Stadt Borken («Borken – Kreisstadt aus gutem Grund») auf die vielen Kreisverkehre anspielt. Ein anderer guter Grund, warum ausgerechnet Borken Kreisstadt sein sollte, fällt ihr beim besten Willen nicht ein. Auf die Rückseite der Karte hat Zippo ein Gedicht geschrieben; Silke packt sie vorsichtig in ihre Handtasche.
Im Wartezimmer von Dr. Sahebi hängt ein großer Kunstdruck von Claude Monets Seerosenteich. Zippo und Silke sagen beide kein Wort und starren auf das gewaltige Bild an der Wand. Nach einer Weile beugt sich Zippo zur Seite. «War das jetzt, bevor oder nachdem der nichts mehr sehen konnte?», flüstert er und nickt in Richtung des Bildes. Silke muss grunzen und erntet dafür sofort einen bösen Blick von einem sehr alten Patienten ihr gegenüber.
«Herr Below?», tönt es durch die Tür, und Zippo zuckt zusammen. Er wirft Silke noch einen ängstlichen Blick zu, dann holt er tief Luft und verschwindet hinter der Sprechstundenhilfe im Behandlungszimmer von Dr. Sahebi.
Die Untersuchung heute kann Silke bezahlen, sie hat dafür Geld aus dem «Medizinische Notfälle»-Topf der Bahnhofsmissionskasse zur Verfügung. Sollten aber weitere, größere Behandlungen oder sogar eine OP auf Zippo zukommen, ist auch sie mit ihrem Latein am Ende. Um sich abzulenken, liest Silke das Gedicht, das Zippo für sie geschrieben hat.
Wieder am Abgrund,
Angst im Magengrund.
Die Brücke allein beschreiten?
Wird ihn jemand begleiten?
Eine Lichtung tut sich auf,
Kein Bruch im Lebenslauf,
Mit ihrer offenen Hand,
Sicher entlang am Wegesrand.
Silke verdrückt vor Rührung eine Träne. Es vergeht fast eine Stunde, bis Zippo zurückkommt. Dr. Sahebi begleitet ihn bis zum Empfangstresen.
«Ich würde gern für Freitag direkt einen Termin machen, passt Ihnen das?»
Zippo hat einen hochroten Kopf und schaut zu Boden.
«Kostet das noch mal was?», fragt er leise.
Dr. Sahebi lächelt. «Nein, wir schauen uns nur die Untersuchungsergebnisse an und entscheiden dann, was als Nächstes passiert. Das geht aufs Haus.»
Sie machen einen Termin für den kommenden Freitag fest, zum Abschied klopft Dr. Sahebi Zippo noch auf die Schulter. «Kriegen wir schon alles hin, Herr Below.»
Zippo nickt.
Die Rechnung für die Untersuchungen lässt Silke an die Bahnhofsmission schicken, dann verlässt sie mit ihm die Praxis. «War es okay?», will sie wissen.
«Mmh», brummt Zippo. «Die Ärztin war nett. Mal abwarten jetzt. Ich hab Hunger, du auch?»
Silke nickt.
«Als Dankeschön würde ich dich gern auf eine Schüssel Suppe einladen, ich kenne da ein ganz feines Etablissement in Bahnhofsnähe», scherzt Zippo.
«Davon hab ich auch schon gehört. Aber man munkelt, der Chef sei ein ganz schönes Arschloch. Lass uns lieber woandershin», entgegnet Silke und lädt Zippo auf eine riesige Salamipizza bei Bella Roma ein, seine erste Pizza seit fünfzehn Jahren.
1991: Die Hitze im Regionalzug wird immer unerträglicher, in Silkes Kopf pocht es. Sie möchte sich all ihre Kleider vom Leib reißen und sich nackt an die kühle Metalltür des defekten Zugklos lehnen. Ihre Freundin Renate, die würde das jetzt machen, ziemlich sicher sogar. Renate war sogar nackt baden, als ihre Schwiegereltern mit am See saßen. Sie macht, was sie will. Wäre schön, wenn Renate hier wäre. Noch eine halbe Stunde. Jetzt einfach durchhalten.
Silkes Kleider sind komplett durchgeschwitzt. Was Roland sagt, wenn er sie gleich so sieht? Wahrscheinlich wird er nur die Augenbrauen hochziehen, das ist immer das Schlimmste. Kein Wort, nur dieses «Hast du es jetzt ernsthaft nicht mal geschafft, den Braten auf den Punkt zu kochen/die Tischdecke vernünftig zu bügeln/ den richtigen Grauburgunder zu kaufen?»-Augenbrauen-hochziehen. Silke hat es so satt. Sie ist doch kein Hausmütterchen, sie ist ausgebildete IT-Betriebswirtin und hat ihren Abschluss mit 1,1 bestanden. Sie ist beliebt im Büro, vielleicht ein bisschen zu beliebt, sie schiebt viele Überstunden und nimmt anderen auch mal freiwillig etwas von ihrer Arbeit ab.
In ihren Ohren hallen die Worte von Roland nach. «Wenn das hier heute nicht klappt, können wir uns das Haus abschminken.» Dieses verfluchte Haus. Roland will es unbedingt bauen, es sei der «nächste große Schritt». Warum ist es immer so wichtig, dass auf jeden Schritt ein noch größerer folgt? Die Wohnung tut es doch auch, aber Rolands Freunde haben alle schon gebaut und übertrumpfen sich jetzt mit Carports und Außenpools und Schwenkgrills, und er muss da unbedingt mit einsteigen, weil sein Ego ihn sonst wahrscheinlich umbringt. Schon bei dem Gedanken an ein gemeinsames Haus mit Roland dreht es Silke den Magen um. Die Hitze treibt zudem ihren Kreislauf in die Knie. Vor ihren Augen verschwimmen Roland, das Haus, die Dokumente, die nackte Renate.
«Der nächste große Schritt.»
«Beeil dich, Silke!»
«Das Haus können wir uns sonst abschminken.»
«Keine Diskussion».
Der Schweiß tropft von Silkes Stirn auf ihre Hose, sie klammert sich schwer atmend an die Armlehne ihres Sitzes. Sie muss hier raus. Sie wird in kein Haus ziehen, nicht mit Roland, nicht in diesem Leben. Ohne weiter nachzudenken, schwankt sie zur Tür, drückt Knöpfe, ruft: «Aufmachen! Aufmachen!» Der Zug ist in voller Fahrt. Tränen schießen Silke in die Augen und vermischen sich mit den Schweißperlen. Sie kann nicht mehr, sie muss raus, einfach raus, ihre Hand schnellt zur Notbremse neben der Tür, sie weiß sich nicht anders zu helfen. Ein harter Ruck geht durch den Wagen, durch den ganzen Zug, ein heftiges Zittern, unten schreien die Gleise, der Waggon reißt nach links, nach rechts, wieder nach links. Silke wirft es zu Boden, sie hält sich schützend die Hände über den Kopf. Dann ist alles dunkel.
Das Ergebnis der Gewebeprobe kracht in das Sprechzimmer wie eine Abrissbirne in die Autobahnbrücke. Prostatakrebs, ohne Zweifel. Adenokarzinom mittlerer Aggressivität, linksstreifige Ausläufer erreichen bereits die Samenbläschen, Befall eines Lymphknotens. Dr. Sahebi rät zu weiteren Untersuchungen; Skelettszintigraphie zur Abklärung der Knochenmetastasen, Röntgen des Thorax in zwei Ebenen und eine Oberbauchsonographie. Zippo hört gar nicht mehr zu. Sein Blick streift an Dr. Sahebis Kopf vorbei durch das Fenster hinter ihrem Schreibtisch. Das Wetter wird milder, hier und da fällt vereinzelt ein Blatt von den Bäumen, obwohl es erst Anfang September ist. Der Herbst steht mit seinen Gold- und Brauntönen schon ungeduldig in den Startlöchern.
«Was muss er denn tun jetzt, eine Chemo? Operation?», fragt Silke Dr. Sahebi aufgebracht.
«Wenn sich der Krebs schon außerhalb der Prostata ausgebreitet hat, ist eine Operation zwecklos. Der nächste Schritt wäre dann mit hoher Wahrscheinlichkeit eine Chemotherapie.»
«Was kostet das für jemanden, der nicht versichert ist?», raunzt Zippo und schaut dabei weiterhin aus dem Fenster.
«Das kann ich so pauschal nicht beantworten. Es hängt von verschiedenen Faktoren ab.»
«Ungefähr?», fragt Silke.
«Zwischen 5000 und 15000 Euro. Pro Monat.»
Zippo steht abrupt auf und verlässt die Praxis, Silke kämpft mit den Tränen. Dr. Sahebi sagt, dass man schon einen Weg finde, es gebe immer einen Weg. Dass Zippo trotz allem zu den weiteren Untersuchungen gehen solle. Dass sie Silkes Engagement bewundere und ihnen gerne helfen würde.
Silke denkt verzweifelt darüber nach, wie sie an das Geld für die Chemo kommen kann.
Wenn Kerstin und Willy-Martin auf der Couch sitzen und sich während eines Gesprächs in die Augen blicken, wirft sich Bounty auf den Rücken wie ein Zirkuspferd, rollt sich winselnd nach links und rechts, um Kerstins volle Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Kerstin scheint die psychologische Kriegsführung des Hundes nicht zu bemerken, doch nach einigen Tagen wird Willy-Martin klar, dass Bounty eifersüchtig auf ihn ist und in ihm einen Rivalen sieht. Immer öfter baut sich der großgewachsene Golden Retriever schützend vor Kerstin auf, wenn Willy-Martin ihr zu nahe kommt. Sie «kuschelwuschelt» ihren Bounty, wann immer er darum bittet, massiert ihm den Nacken und küsst ihm die Pfoten. Und langsam ist auch Willy-Martin eifersüchtig auf Bounty.
Als er nach über einer Woche mit Kerstin und Bounty in der Wohnung und einer weiteren Nacht auf der inzwischen ganz schön harten Couch zur Arbeit fahren will, tritt er mit voller Wucht in einen großen, glitschigen Hundehaufen in seinem Schuh. Laut fluchend springt er daraufhin auf einem Bein durch den Wohnungsflur, das Gesicht vor Ekel verzerrt, versucht sich Schuh und Haufen vom Leib zu schütteln. Die Hundescheiße besprenkelt Boden und Wände, der Schuh will sich nicht lösen. Willy-Martin zuckt heftig mit dem Fuß, die Scheiße und der Schuh fliegen in hohem Bogen durch den Raum, der Brechreiz und das Hüpfen auf einem Bein zwingen ihn in die Knie, und er fällt zu Boden.
«Es reicht!», brüllt er.
Kerstin guckt aus der Schlafzimmertür, und für Willy-Martin steht endgültig fest: Es kann nur einen Mann in Kerstins Leben geben.
Mit Willy-Martin und Hunden ist das so eine Sache: Egal was er tut, sie scheinen ihn zu verfolgen. Mutter Petra hatte ihm die Hunde quasi mit in die Wiege gelegt; seit er denken kann, teilte er sich das Haus mit ihr und mindestens drei kleinen Hunden, zeitweise waren es sogar zwölf. Sie wurde immer wieder schwach, wenn sie zum Tierheim fuhr, um Hundefutterspenden vorbeizubringen. Der kleine Border-Terrier Timmi, heute erst reinbekommen, hat irgendein krankes Schwein an der Autobahn ausgesetzt, bis jetzt haben wir noch niemanden für ihn gefunden. «Ach komm, ich nehm ihn mit», rief Mutter Petra dann weinend, sie hatte auch immer eine Transportbox dabei, für alle Fälle. Jedes Mal, wenn sie wieder zum Tierheim fuhr, überfiel Willy-Martin eine panische Angst, dass sie wieder zugeschlagen hatte, einen Zwergpinscher, Labrador, Dackel, Corgi-Mischling. Die Hunde lebten in Mutter Petras Haus wie Gott in Frankreich: Bevor Willy-Martin Abendessen bekam, waren sie dran, manchmal kochte seine Mutter den Hunden feineres Hähnchenfilet, als er je serviert bekam. Willy-Martin hatte schon immer Angst vor Hunden. Aber er war ihnen jeden Tag ausgesetzt, sie lauerten in allen Räumen, in den Fluren und der Küche, unter der Treppe, im Badezimmer. Also lebte er tagtäglich in Angst. Die Hunde spürten seine Angst und fühlten sich in seiner Anwesenheit genauso unwohl wie er, sie wurden nervös und liefen im Kreis, knurrten und bellten, wenn er den Raum betrat, das wiederum machte ihn noch nervöser. Willy-Martins eigenes Zuhause war für ihn also ein Ort der permanenten Anspannung, er träumte schon mit sechs Jahren davon auszuziehen, in die weite, hundefreie Welt, und spielte deshalb so viel wie möglich draußen, bei Wind und Wetter, versuchte, nur noch zum Schlafen und Essen nach Hause zu gehen. Er besuchte oft die Nachbarskinder und baute sich zusammen mit Gitte aus der Kierbergstraße eine Bude im Wald, aus Geäst und Matsch, der hart wie Lehm wurde. Sie bauten einen ganzen Sommer lang, die Bude wurde größer und größer, am Ende deckten sie sogar ein richtiges Dach aus Kantholz und Dachpappe. Willy-Martin und Gitte konnten in der Bude gut stehen, nach und nach möblierten sie das Versteck mit Hockern aus kleinen Baumstämmen und einem alten Gartentisch von Mutter Petra.
Fortan verbrachte Willy-Martin mehr Zeit in seiner Bude als zu Hause, im Sommer schlief er sogar einmal dort. Mutter Petra gab ihm am nächsten Morgen eine stattliche Backpfeife, glaubte ihm aber seine Version der Geschichte, dass er bei seinem Schulfreund Matthias geschlafen und nur vergessen hatte anzurufen.
Mit Mitte zwanzig, Willy-Martin war schon längst zu Hause ausgezogen, wollte er nachsehen, ob die Bude von damals noch stand, und stattete dem Wäldchen hinter Mutter Petras Klinkerhaus einen Besuch ab. Und tatsächlich, der harte Matsch und das Kantholz von Gittes Vater hatten den Jahren getrotzt, die Bude stand noch an ihrem Platz. Sie war laubbedeckt und inzwischen mit Moos bewachsen, man konnte sie dadurch noch schwerer auf den ersten Blick entdecken. Ein ideales Versteck. Willy-Martin schaufelte mit dem Fuß den Eingang vom Laub frei und wollte gerade hineinsehen, da stürzte im weiten Sprung ein ponygroßer kastanienbrauner Jagdhund aus dem Gebüsch und warf ihn zu Boden. Willy-Martin hielt sich schützend die Hände vor sein Gesicht und rief um Hilfe, der Förster musste ja irgendwo in der Nähe sein. Währenddessen umkreiste ihn der riesige Köter wie ein ungeduldiger Aasgeier, als wartete er nur auf den Befehl, endlich ein großes, saftiges Stück Willy-Martin reißen zu dürfen.
Willy-Martin schrie, aber niemand kam, der Hund ließ nicht von ihm ab, er knurrte und bellte und lief immerzu um ihn herum. Er musste es also selbst in die Hand nehmen. Möglichst langsam stand er auf und sprach besänftigend auf den Hund ein, obwohl ihm eher nach Wegrennen und Schreien zumute war. Er vermied Augenkontakt und ging im Schneckentempo in Richtung Waldweg, der Hund war ihm knurrend auf den Fersen, da bemerkte er einen tannengrünen Jeep nur ein paar Meter entfernt stehen. Als Willy-Martin näher trat, die Hundeschnauze mit ihren fletschenden Zähnen immer noch gefährlich nah an seinem Oberschenkel, sah er, dass der Kofferraum des Wagens offen stand, aber niemand im Auto saß. Er schaute sich um, der Förster musste doch verdammt noch mal in der Nähe sein. Je näher er dem Auto kam, desto aufgebrachter bellte der Hund. Es war ein ohrenbetäubender Lärm, er erinnerte Willy-Martin an die vielen Tölen von Mutter Petra, das Kläffen, wenn er nach Hause kam, das Johlen, wenn er seine Zimmertür hinter ihnen verschloss. Als Kind hatte er sich dann von innen an die Tür gelehnt, die Zeigefinger in die Ohren gesteckt, die Augen zugekniffen und laut Old McDonald had a farm, E-I-E-I-O gesungen, um die vierbeinigen Monster hinter der Tür auszublenden.
Der Jagdhund rannte um seine Beine, er kläffte jetzt immer bedrohlicher, Willy-Martin atmete kurz, der Schweiß perlte ihm von der Stirn.
«Geh weg!», brüllte er ihm entgegen. «Geh weg! Geh weg! Geh weg!»
Der Hund reagierte auf sein Brüllen und bellte noch lauter, Willy-Martin wurde schwindelig, die Angst schoss ihm durch die Venen in den Schädel, Old McDonald had a farm, E-I-E-I-O, er wollte sich im Auto einschließen, verbarrikadieren, aber je näher er der Beifahrertür kam, desto aggressiver wurde der Hund. Die Lage war aussichtslos, der Hund würde ihn bald in Stücke reißen, und er würde mit Mitte zwanzig im Wald sterben. Er weinte, schnappatmete und schrie den Hund an, er trat nach ihm, woraufhin der sich in seinem Schuh festbiss. Bei dem Versuch, ihn abzuschütteln, fiel Willy-Martin zu Boden und schloss schon fast mit dem Leben ab, als er auf der Ladefläche des offenen Kofferraums ein Jagdgewehr liegen sah. Er griff danach und schoss dem Hund ins Auge. Natürlich nicht mit Absicht, er hatte eigentlich nur den Oberschenkel des Tieres treffen wollen, aber er hatte noch nie zuvor eine Waffe in der Hand gehabt. So oder so war es Notwehr.
Der Förster sah das anders, er zeigte Willy-Martin wegen Mordes an seinem Hannoverschen Schweißhund Sir Andrew an, Mutter Petra sprach drei Jahre lang kein Wort mehr mit ihm, Kinder aus dem Dorf sprühten HUNDEMÖRDER auf die Heckscheibe ihres Fiat Panda. Willy-Martin konnte vor Gericht nicht beweisen, dass der Hund ihn angegriffen hatte, da er die Schuhe, in die sich Sir Andrew festgebissen hatte, noch am selben Tag zusammen mit Hose und Jacke aus Ekel vor Hundehaaren entsorgt hatte. Er musste die Höchststrafe von 5000 Mark zahlen, all sein Erspartes ging dafür drauf. Nachts träumte er davon, wie Sir Andrew ihm den Fuß abbiss, manchmal das ganze Bein. Er wurde immer wach, weil er sich heftig schüttelte, um den Hund loszuwerden.
Willy-Martins Angst vor Hunden wuchs proportional zu seinen Schuldgefühlen, bis er eines Tages beschloss, mit jemandem darüber zu reden. Bei einer Selbsthilfegruppe der Caritas für durch Eigenverschulden in Not Geratene fand Willy-Martin Halt und etwas, das er noch mehr vermisste: Vergebung. Die Leute in der Gruppe hatten sich alle selbst mächtig in die Scheiße geritten, aber niemand wurde verurteilt.
Tillmann, 42 Jahre, hatte die Rente seiner Mutter aus der Matratze gestohlen, sich davon einen weißen Porsche Panamera gekauft und ihn noch in der gleichen Nacht besoffen vor einen Baum gefahren. Patrycja, 58 Jahre, hatte ihrem untreuen Ehemann jahrelang Katzenurin unter das Essen gemischt. Als die Katze eines Tages an einem Harnwegsinfekt erkrankte, starb ihr Ehemann kurz darauf an einer bakteriellen Infektion. Tarek, 32 Jahre, hatte seinem Vater ein Ohr ausgerissen bei einem Streit um die Fernbedienung.
Und dann war da noch Silke, 43 Jahre. Silke hatte in einem Regionalexpress wegen eines Panikanfalls die Notbremse gezogen, 28 Menschen waren leicht verletzt worden, der Zugführer hatte seine Schneidezähne verloren. Silke war jetzt, wie die meisten von ihnen, hoch verschuldet, aber im Gegensatz zu allen anderen schien ihr das nicht viel auszumachen. Sie war eine ruhige Person, besonnen, Willy-Martin kam es so vor, als wäre sie mehr zum Zuhören da als zum Erzählen. Sie hatte diese besondere Gabe, allen Menschen die gleiche Menge an Wohlwollen und Freundlichkeit entgegenzubringen. Wenn Silke zuhörte, schien es, als fühlte sie sich in die Geschichten hinein, verschwand darin regelrecht, und war am Ende nicht selten aufgebrachter als die erzählende Person selbst. Willy-Martin sprach in den Gruppentreffen manchmal von sich, nur um Silke etwas zu erzählen, die anderen Leute in dem Stuhlkreis um ihn herum blendete er dann aus. Er traute sich nicht, Silke anzusprechen, also redete er von seiner Kindheit und Mutter Petra und den schrecklich vielen Hunden und stellte sich vor, wie Silke und er dabei auf einer Bank vorm Bootshaus am Pröbstingsee sitzen, Rotwein trinken und sich näher kennenlernen.
Eines Tages kam Silke nach dem Gruppentreffen auf ihn zu und fragte ihn, ob er die Tage Lust auf einen Kaffee hätte. Willy-Martin konnte sein Glück nicht fassen, sie trafen sich im Eiscafé Venezia, er trug sein bestes Regular Fit-Hemd und hatte Aftershave aufgetragen. Erst nach ein paar Stunden dämmerte ihm, dass das Treffen für sie rein platonisch war, sie machte da ein paar Andeutungen. («Ehrlich gesagt hab ich kein Interesse mehr an Männern. Mir geht es ganz gut allein.») Sie blieben befreundet, trafen sich regelmäßig im Venezia, auch nachdem sie die Selbsthilfegruppe verlassen hatten. Auf Silkes Freundschaft konnte Willy-Martin bauen, sie gab ihm Ratschläge, wenn er sich mal wieder mit Mutter Petra zoffte, sie zeigte ihm, wie er kaputte Socken stopfen konnte, am zweiten Weihnachtstag gingen sie jedes Jahr zusammen ins Kino. Silke war immer eine gute Freundin. Eine sehr gute Freundin.
Heute bleibt Willy-Martin länger als freitags üblich im Taubenschlag. Er will nicht nach Hause. Die Sache mit dem Haufen im Schuh ist zu viel, er freut sich nicht mehr auf Kerstin. Wieder mal hat ein Hund ihm alles gründlich versaut. Er macht die Käfige der Tauben gleich zweimal sauber, räumt alles gründlich auf, macht Inventur beim Taubenfutter. Damit kann er ganze zwei Stunden gewinnen, die er nicht mit Bounty verbringen muss.
Als er nach Hause kommt, sind Kerstin und Bounty nicht da, wahrscheinlich drehen sie gerade die Mittagsrunde. In der Wohnung sieht alles so aus wie am Morgen. Sogar seine Sandale liegt noch im Flur, genau da, wo er sie abgeschüttelt hatte, Kerstin hat nur das Gröbste aus dem Schuh gewischt. Die Fenster sind geschlossen, die Luft steht, es stinkt dermaßen nach Hund und Kacke, dass Willy-Martin übel wird. Seine Wut macht ihn rasend, er ist sich sicher: Jetzt kann nur noch Silke helfen. Auf dem Telefontisch im Flur hinterlässt er Kerstin eine unübersehbare Nachricht und verlässt hastig die Wohnung.
Renate erwartet heute die ersten Homeshopping-Pakete. Sie hat sich Leggings und Bluse aus dem dreckigen Wäscheberg im Schlafzimmer gefischt und kurz drübergebügelt, damit es so aussieht, als hätte sie ihr Leben unter Kontrolle, wenn der Paketdienst klingelt. Seit Wochen hatte sie keinen Kontakt mehr zu Menschen, Renate ist aufgeregt. Nervös tigert sie durch den Flur, räumt eine Vase von A nach B, hängt den Schlüssel ans Schlüsselbrett, schiebt Mandarine Schatzis Flokati so weit unter die Treppe, dass man ihn nicht mehr direkt sehen kann. Endlich schrillt die Klingel.
Der Paketbote will eine Unterschrift, danach fängt er mit dem Ausladen an. Er hat eine Sackkarre dabei, bis zu sechs Pakete kann er pro Ladung aufeinanderstapeln. Insgesamt muss er damit 21-mal vom Lieferwagen zur Haustür fahren. Als er fertig ist, steht der ganze Flur bis unter die Decke voll mit Paketen. Renate findet kaum den Weg zur Tür zurück und flötet dem verschwitzten DHL-Boten ein «Danke!» aus der Mitte des Paketmeers zu, bevor der kopfschüttelnd und ohne Trinkgeld wieder in den Wagen steigt. Dann ist es still, Renate und ihre Pakete sind ganz allein.
Sie macht sich ans Auspacken, reißt das Klebeband von den Pappen, wirft die leeren Kartons im hohen Bogen in die Küche. Fast drei Stunden dauert es, bis alles ausgepackt ist, dann stemmt Renate die Hände in die Hüften, atmet erschöpft durch und schaut sich zufrieden um. Für einen kurzen Augenblick fühlt sie sich nicht mehr allein, all die kleinen und großen Gerätschaften, die Eismaschine und die Heißwickler, die Bewässerungsvasen und der Kompaktdampfgenerator leisten ihr ab sofort Gesellschaft. Sie streichelt mit der Hand über ihren neuen Kalorik-Kompaktofen, heute Abend soll er eingeweiht werden. Ein ganzes Hähnchen mit Pommes wird es geben, genau wie die Frau im Fernsehen es gekocht hat. In dem kleinen Ofen lässt sich ja problemlos ein komplettes Menü für bis zu sechs Personen zaubern.
Renate denkt an sechs Personen, die sie zum Hähnchenessen einladen könnte, aber da ist niemand. Plötzlich krampft ihr Magen. Beim Anblick der Produktberge wird ihr übel. Sie hat keine Verwendung für all diese Dinge, geschweige denn Platz, sie ist ganz allein und wird niemals für sechs Personen kochen. Sie hat doch schon einen Ofen und eine Hautcreme und einen Standmixer und Blumentöpfe. Renate muss sich setzen. Schwer atmend hockt sie sich auf das handbemalte Polyresin-Kalb und schließt die Augen, um die vielen Sachen nicht mehr sehen zu müssen. Was hat sie sich dabei nur gedacht? Sie kann kein ganzes Hähnchen allein essen. Wie konnte sie Silke so vernachlässigen, einen der nettesten Menschen, der ihr je begegnet ist. Wie konnte sie so viele gute Freundinnen und Freunde verscheuchen, ihren eigenen Sohn sogar, und was zur Hölle soll sie mit einem handbemalten Polyresin-Kalb anfangen? Sie muss den ganzen Krempel wieder loswerden, und zwar so schnell wie möglich. Und sie muss etwas tun, was sie schon lange nicht mehr getan hat: ihre Freundin Silke besuchen.
«Was willst du denn hier?», fragt Silke, aber eigentlich will sie es gar nicht wissen. Roland hatte ihr noch gefehlt, an diesem beschissenen Tag, und auch sonst. Gerade hatte sie «aus Versehen» das Toilettensparschwein fallen lassen und beim Auffegen der Scherben die Münzen gezählt. Gerade mal 8,50 Euro, damit würde Zippo nicht weit kommen. Plötzlich öffnete sich die Tür der Bahnhofsmission, Silke schaute auf und erschrak, trat reflexhaft einen Schritt zurück und verschränkte die Arme vor der Brust.
«Hallo, Silke», sagt Roland ruhig. «Ich hab dich neulich gesehen, als ich hier am Gleis stand. Ich dachte, wir könnten vielleicht mal ein Käffchen trinken. Ich bin ein neuer Mensch, Silke.»
Roland ist alt geworden. Seine ehemals glatte Gesichtshaut ist müde und durchfurcht, er trägt einen vollen Bart mit grauen Spitzen, die ersten Haare haben sich von seinem trapezförmigen Kopf verabschiedet.
«Mir ist nicht nach Kaffee», sagt Silke so unfreundlich, wie es ihr möglich ist, und tut so, als würde sie die Spülmaschine einräumen.
«Mensch, Silke, ich bin ein neuer Mensch», sagt Roland. Er betont es immer wieder, der alte Roland ist vorbei, over! Bitte, bitte nur eine Chance, lass mich wenigstens erklären.
Silke weiß sich nicht mehr zu helfen, ihre Kräfte für Widerstand schwinden, und tief in ihrem Herz empfindet sie zu viel Mitleid mit der klebrigen Gestalt am Tresen, mit seinem knallroten, ledrigen Gesicht, das aus allen Poren schreit: «Ich kann nicht allein sein.» Sie hat heute keine Nerven, ihn abzuweisen, er würde es ja doch nicht akzeptieren.
Ein neuer Roland stehe jetzt vor ihr, er sei wiedergeboren worden, nachdem er vor zwei Jahren die Power-Days der Jürgen-Höller-Motivations-Akademie besucht hat. 2000 Euro hat er damals gezahlt und ist extra nach Innsbruck gefahren, aber es hat sich gelohnt, die beste Investition seines Lebens. Jürgen Höller höchstpersönlich, der Papst der Motivationstrainerbranche, hat ihm in einer packenden Rede mit Headset und Flipchart die Augen geöffnet; wenn man es träumen kann, kann man es auch erreichen! Er selbst habe wegen Untreue und vorsätzlichen Bankrotts ein Jahr im Knast gesessen, aber danach sofort wieder die Ärmel hochgekrempelt und sich raus aus den Schulden gekämpft, denn man muss immer wieder aufstehen, das ist das Wichtigste, Fehler machen wir alle. Die Frage ist: Was lernen wir daraus? Man muss den Weg nicht richtig gehen, es reicht schon, wenn man den richtigen Weg geht. Nur wer aufgibt, scheitert, der Reichtum liegt im Glauben. «Morgen! Morgen! Nur nicht heute», sagen alle faulen Leute, was dich nicht tötet, macht dich stärker, und so weiter.
Direkt nach den Power-Days habe Roland seinen Job gekündigt, nach über zwanzig Jahren im gleichen Betrieb, es war an der Zeit, er sehnte sich nach mehr. «Ich ziehe Geld an wie ein Magnet», mussten sie im Seminar immer wieder im Chor sagen. «Ich ziehe Geld an wie ein Magnet. Ich ziehe Geld an wie ein Magnet. Ich ziehe Geld an wie ein Magnet.» Nach ein paar Wiederholungen glaubte Roland, was er da sagte, er fühlte sich stark und mächtig, er zog das Geld an wie ein Magnet. Er hatte sein Potenzial noch nicht ausgeschöpft, da ging noch was, noch einiges, raus aus dem Hamsterrad und rein in den Erfolg. Er sah sich in einem weißen Audi TT sitzen mit nagelneuen, noch weißeren Zähnen, er würde in die Garage seiner Stadtvilla fahren, 400 Quadratmeter, Rolf-Benz-Sofa, großer Garten mit Outdoor-Küche, bodentiefe Fenster. Ab da ging alles ganz schnell, Roland informierte sich, in welcher Branche er sehr schnell sehr große Mengen Geld generieren kann. Er suchte nach einer Herausforderung, etwas, das ihn kaufmännisch und menschlich forderte, das ihm einen steilen Weg nach oben ermöglichte. Er war bereit, hart dafür zu arbeiten.
Schließlich landete Roland im Restpostenhandel. Ein Bekannter eines Bekannten kommt selbst aus der Branche, Ahmed. Der leitet eine DOLLAR-HUGO-Filiale und führte Roland in die Künste des Feilschens ein. «Wenn auf der Autobahn was passiert, meinetwegen ein Laster mit Waschmittel kippt um, ist das Bruchware. Dann ruft die Spedition an und sagt, hier, wie sieht’s aus, 140 Paletten Ariel Color, 6,5-Kilo-Packungen, 14,95 Euro im Verkauf, wenn du alle 140 nimmst, kriegste die für fünf Euro das Stück. Dann musst du innerhalb von Sekunden reagieren, ja oder nein, entweder wird es das Geschäft des Monats oder die komplette Pleite, das ist jedes Mal der totale Nervenkitzel. Ich hab jetzt schon wieder Gänsehaut, siehst du das? Im Postenhandel ist kein Tag wie der andere, kannste mir glauben.»
Roland war völlig angefixt, er wollte sofort einsteigen.
«Posten, Überhänge, Überproduktionen, Verpackungs umstellungen, Restanten, Auslaufartikel oder Fehlproduktionen, kurze MHD-Ware, Klein- oder Großmengen, Sortenrein- und Mixpaletten. Jeden Tag kommt was anderes rein, jeden Tag musst du der Schnellste sein.» Ahmed machte Roland mit den lokalen Größen der Restpostenbranche bekannt, Thomas «das Auge» Pasikowski, er kennt alles und jeden in der Szene, wird als Erster angerufen, wenn es wieder irgendwo was zu holen gibt, «Drücke-Berger», eigentlich Martin Berger, ein kleiner, kahlköpfiger Mann mit Monobraue, der die Preise drückt wie kein Zweiter, als Händler ebenso verhasst wie erfolgreich.
Roland gefallen diese Gestalten, der Postenhandel ist alte Schule, hier kann man sich noch beweisen, Jäger sein. Jeder Tag ist ein direkter Konkurrenzkampf, Dreistigkeit und Rhetorik, Verhandlungsgeschick und Vitamin B, wer das nicht kann, der wird gefressen. Roland will fressen. Es ist genau die Herausforderung, die er gesucht hat, die, von der Jürgen Höller sprach, als er sagte, man müsse erst Experte werden, dann eine Kapazität und schlussendlich eine Koryphäe. Endlich hatte er seine Worte verstanden, es war seine Bestimmung, er würde darin aufgehen und in ein paar Jahren expandieren, die größte Nummer auf dem deutschen Markt werden, der Chef einer gigantischen Restpostenkette, DIE Restpostenkette, mit dem einen Namen, den wirklich jeder kennt, RAMBAZAMBA oder RUCKIZUCKI. Irgendwann dann international, Österreich, Schweiz, China.
Die letzten vier Jahre hat Roland richtig reingeklotzt, all sein Erspartes in ein Ladenlokal gesteckt, er ist ALL IN gegangen, 4000 Quadratmeter, beste Lage, direkt an der B 67. Die riesige Reklame am Straßenrand zwingt einen förmlich, auf den Parkplatz zu biegen, «Mr. Money – für Körper, Seele und Geiz». Für den Slogan hat Roland einen befreundeten Werber verpflichtet, und er ist immer noch begeistert – kurz, griffig, auf den Punkt.
Über Pasikowski kam er dann an Geschäftskontakte, zwei-, dreimal zusammen ein Bier trinken reichte, um in seiner Gunst zu stehen. Er stellte zwei Verkäuferinnen ein und einen Lageristen, er erhielt ganze LKW-Lieferungen Filterkaffee und palettenweise Fidget Spinner, das Geschäft kam ins Rollen. Roland patrouillierte jeden Tag in seinem Laden, rückte die Waren zurecht, vergewisserte sich morgens vor der Öffnung, ob auch alles ordentlich und vor allem reichlich an Ort und Stelle steht, zu viel Produkt gibt es nicht, es gibt nur zu wenig. Einen Fehler ließ er seinen Angestellten noch durchgehen, beim zweiten Mal wurde er laut. Aus Fehlern lernen, Jürgen Höllers Worte hallten immer noch in seinen Ohren nach, er sah sich in der Verantwortung, so etwas wie der Jürgen Höller seiner Firma zu werden, die Angestellten zu motivieren. Arbeite jeden Tag so, als wäre es der letzte Tag deines Lebens. Sei positiv, bleib positiv, steck andere mit dieser Positivität an. Die Leute kaufen dir den Klappstuhl unterm Arsch weg, wenn du eine Ausstrahlung hast, Stichwort CHARISMA. Steh nicht in der Ecke rum wie bestellt und nicht abgeholt. Sei präsent, hol den Kunden ab, er wartet nicht auf dich, du wartest auf ihn! Er hat das Geld, du willst das Geld! Sorg immer dafür, dass genug Ware im Regal steht. Überall muss es was zu gucken geben, die Leute kommen nicht zum Spaß hierher, die wollen was geboten kriegen, die wollen den Rausch, die finden das geil, Schnäppchen hier oben, Schnäppchen da drüben, hier unten, überall geile Deals! Falls sich jemand unsicher ist, ist es eure Aufgabe, den einzufangen. Das Ziel ist, dass der Kunde hier rausgeht und denkt, YES, ich habe diesen Bierhelm gekauft, und es ist der geilste Bierhelm der Welt, ich brauche diesen Bierhelm, und meine Freunde brauchen ihn auch, deswegen habe ich gleich zwölf gekauft! Ihr verkauft nicht irgendeinen Krempel, ihr verkauft hier ein LEBENSGEFÜHL. Die Leute kommen hier rein, und draußen regnet es, es ist grau, sie standen im Stau, manche von ihnen haben Krebs! Und sie kommen hier vorne durch die Tür und wissen nicht, was sie erwartet, und plötzlich ist da KIRMES! Die kommen hier rein, und es ist Kirmes. Das ist kein Geschäft, das ist ein Erlebnis, die machen riesige Augen und bleiben stehen und fassen die Sachen an, ein Erlebnis für alle Sinne. Die packen sich den Wagen voll mit Sachen, die sie eigentlich nicht brauchen, aber wisst ihr was? Das ist scheißegal! Die haben super Laune, die gehen hier raus mit einem Lächeln im Gesicht, die verbinden das mit was Positivem, nette Verkäuferinnen, Entertainment, gute Musik, Schnäppchen. Das ist das Wellness-Wochenende des kleinen Mannes! Das macht die Leute glücklich! Und ich will, dass ihr das genauso verkauft, ihr macht die Kunden glücklich, sprecht mir nach: «Ich mache die Kunden glücklich. Ich mache die Kunden glücklich. Ich mache die Kunden glücklich.»
Die zwei Verkäuferinnen blickten ihn mit großen Augen an. Viel schienen sie vom Business nicht zu verstehen, die ältere von ihnen, Frau Gawlick, bekam von dem erfolgsorientierten Führungsstil wohl Herzrasen und kündigte nach nur zwei Monaten aus gesundheitlichen Gründen.
Roland macht eine Pause und kommt an den Tresen. «Silke. Das mit uns ist etwas unglücklich gelaufen, aber es ist viel Zeit vergangen. Über zwanzig Jahre! I mean, come on! Ich habe mich verändert. Wirklich.»
Silke dreht sich nicht zu ihm um. «Das ist schön für dich. Ich muss jetzt arbeiten.»
«Das sehe ich», lacht Roland, während sie einen sauberen Teller in die Spülmaschine räumt.
«Roland, ich habe kein Interesse», Silke wird ungeduldig und dreht sich zu ihm um. Er sieht traurig aus, wie ein Abziehbildchen von dem Roland, den sie geheiratet hat, eins, das nicht mehr richtig klebt. Sein Körper scheint in sich zusammengefallen, auf dem verwaschenen gelben Pullover leuchten mehrere Kaffeeflecken, aus seiner Nase sprießen dicke, spitze Härchen wie Pfeile. Sie kann das Jürgen-Höller-Erfolgsgen noch nicht an ihm erkennen. Silke muss sich zwingen, ihn nicht mehr anzuschauen, weil sie kein Mitleid mit Roland haben will. Sie wischt den Tresen.
«Es war nun mal eine schwierige Zeit, mit meinem Job und allem.»
«Mir kommen die Tränen», murmelt Silke tonlos und schrubbt um Rolands Ellbogen herum. «Ist sonst noch was?»
Über seinen Augen treten wieder die enormen Zornesfalten hervor, die Silke schon früher mit großer Verlässlichkeit Ärger vorausgesagt haben.
«Das ist also deine Art, mit der du hier soziale Arbeit verrichtest? Das ist deine Nächstenliebe?» Roland wird laut. «Menschen verändern sich, Silke. Auch wenn du das wahrscheinlich niemals verstehen wirst, weil du seit Jahrzehnten nix anderes mehr gesehen hast als diese muffige Suppenküche!»
Silke geht nicht darauf ein und greift zum Telefonhörer. «Ich möchte, dass du jetzt gehst. Ich rufe sonst Artur von der Security an, und der ist innerhalb von zwei Minuten hier.»
Roland ist aufgebracht, hat einen hochroten Kopf. So hatte er sich das Wiedersehen mit seiner Exfrau offenbar nicht vorgestellt. Silke tippt auf dem Telefonhörer die Nummer von Artur ein und schaut Roland fordernd an. Er schnaubt, macht auf dem Absatz kehrt, verlässt die Bahnhofsmission und knallt die Tür zu.
Als Roland nicht mehr in Sichtweite ist, sackt Silke an einem der Tische zusammen. Sie stützt den Kopf in die Hände, schließt die Augen. Was für ein Tag. Sie hat keine Zeit, sich über Roland zu ärgern. Sie muss eine gewaltige Summe Geld beschaffen, und zwar so schnell wie möglich. Schon wieder. Das letzte Mal, dass sie mit einer so enorm hohen Summe zu tun hatte, ist 27 Jahre her. Der Weg bis hierhin war kein Zuckerschlecken, und Roland war ihr damals alles andere als eine Hilfe. Zum ersten Mal in ihrer Zeit bei der Bahnhofsmission meldet Silke sich krank. Sie ruft Marquardt an, der verspricht, sich um Ersatz zu kümmern, und geht nach Hause.
1991: An der Anzahl der roten Wagen lässt sich ablesen, wie sehr sich die freiwillige Dorffeuerwehr darüber freut, dass es nach unzähligen Übungen und Tagen der offenen Tür mit Kinderschminken und Tombola endlich mal etwas Richtiges zu tun gibt. Silke sitzt auf einem ledernen Freischwinger am Schreibtisch der örtlichen Bahnhofsmission, ihr gegenüber die Kleinstadt-Kommissarin Frau Sartori. Deren moosgrüne Krawatte liegt leicht schief über der beigen Uniform, das Haar hat sie zu einem strengen Zopf zusammengebunden. Überall im Raum stapeln sich lose Dokumente, Ordner, Danksagungskarten, Plüschtiere. Es liegt ein Mief in der Luft wie in einer alten Abstellkammer, das kleine Fenster lässt sich nicht öffnen. Mit zittrigen Händen umklammert Silke einen Pappbecher bitteren Schwarztees, dabei wiegt sie den Oberkörper hin und her. Ihr Kopf pocht, bei ihrem Sturz muss sie irgendwo gegengeprallt sein, erinnern kann sie sich nicht.
«Frau Möhlenstedt, ich will Ihnen helfen.»
Kommissarin Sartoris Blick ist freundlich, aber bestimmt, Silke traut sich nicht, ihr in die Augen zu schauen. Stattdessen starrt sie auf die schiefhängende Krawatte.
«Hatten Sie medizinische Probleme? Eine Psychose vielleicht? Handelte es sich um einen akuten Notfall?»
Silkes Kopf ist leer, die Worte der Kommissarin wabern durch den Raum, aber erreichen sie nicht.
«Nein», antwortet sie. Ihre Stimme klingt für sie selbst wie von weit her.
Die Kommissarin holt geräuschvoll Luft, um dann noch geräuschvoller zu seufzen. Während des Seufzens fällt ihre Krawatte wieder an ihren Platz, Silke ist darüber erleichtert.
«Es war sehr warm», sagt Silke. «Warum haben die in den Regionalzügen immer noch keine Klimaanlagen? Es gibt automatische Seifenspender auf den Klos, aber keine Klimaanlage.»
«Ihnen war also warm? Haben Sie deswegen die Notbremse gezogen?»
«Ja.»
Kommissarin Sartori hat genug gehört, ihr Ton wird rauer. «Die Notbremse darf nur im Falle der Gefahr für die Sicherheit des Zuges, der Reisenden oder anderer Personen gebraucht werden. Da offensichtlich nichts dergleichen zutrifft, werden Sie mit einer Geldstrafe von bis zu 2000 Mark rechnen müssen. Dazu tragen Sie die Verfahrenskosten und den für die Bahn entstandenen Schaden. Und wenn ich mir das da draußen so angucke, werden das keine Peanuts, Frau Möhlenstedt.»
Silke folgt dem Blick der Kommissarin durch das kleine, milchige Fenster. Draußen tummeln sich Einsatzkräfte, kleine Wunden von Reisenden werden versorgt, ein Kind weint.
«Personalien haben wir, Sie werden in den nächsten Tagen Post von uns bekommen.»
Kommissarin Sartori reicht Silke die Hand.
«Möchten Sie noch jemanden anrufen, der Sie abholt?»
Silkes Blick haftet immer noch auf dem Tumult vor dem Fenster.
«Frau Möhlenstedt, haben Sie mich gehört? Möchten Sie noch jemanden anrufen?»
«Ja», flüstert Silke, «Renate.»
«Hier vorn steht das Telefon. Ich muss jetzt ein paar Gespräche führen. Auf Wiedersehen.»
Sartoris Händedruck ist fest und schwitzig-feucht, Silke wischt sich danach die Hand an ihrer Hose trocken. Als die Kommissarin nach draußen verschwunden ist, greift sie zum dunkelroten Wählscheibentelefon und ruft Renate an. «Hallo Liebelein, ich bin schon spät dran, ich muss zur Fußpflege. Ist es dringend?»
«Renate, wichtig! Du musst mich am Bahnhof Herzebrock-Clarholz abholen. Bitte stell keine Fragen.»
Und Renate kommt und stellt keine Fragen.
Nach der Sache mit der Notbremse geht alles ganz schnell. Zu schnell für Silke, um zu realisieren, was überhaupt gerade geschieht. Sie tut einfach, was zu tun ist, um den Schaden zu begrenzen. Sie bekommt Briefe vom Amtsgericht, von der Deutschen Bahn und dem Anwalt des Zugführers Rudi Paschkens, der beim Entgleisen der Führerkabine beide Schneidezähne verlor. Renate empfiehlt Silke eine Anwältin, die ihr mal «aus einer Sache rausgeholfen hat», was das für eine Sache war, dazu möchte sie nichts sagen. Silke zahlt der Anwältin eine Stange ihres ersparten Geldes, um dann zu erfahren, dass sie nicht viel für sie tun kann. Es werde eine riesige Summe Schadensersatz auf sie zukommen, sie solle sich so viel Geld leihen wie nur möglich, ihr Auto verkaufen und so weiter, so viel könne sie ihr zumindest sagen. Wie hoch genau diese Summe sei, will Silke wissen.
«Im vier- bis sechsstelligen Bereich», antwortet die Anwältin schwammig. «Plus die Kosten für alle zahnärztlichen Behandlungen von Rudi Paschkens. Wenn Sie besser versichert wären, stünden wir jetzt nicht vor diesem Problem.»
Silke weiß nicht mehr weiter. Die Leute im Ort reden wochenlang über nichts anderes mehr, die Sache mit der Notbremse ist das Thema Nummer eins.
«Hast du schon gehört? Silke Möhlenstedt hat einen riesigen Bahnunfall mit mehreren Verletzten verursacht!», «Ich habe ja gehört, dass der Schaffner fast gestorben wäre», «Und das nur, weil sie mal die Notbremse ausprobieren wollte!», «Die war mir eh noch nie geheuer.», «Die hat nie gegrüßt», «Die ist schizophren, ich hab die ein paarmal bei Schlecker gesehen, die hatte immer so einen irren Blick», «Helga hat gesagt, dass sie Aids hat und sich deswegen umbringen wollte.»
Silke lässt sich von ihrem Hausarzt krankschreiben und geht nicht mehr vor die Tür. Sie kann nicht mehr essen und tut nachts kein Auge zu. Als Roland erfährt, was Silkes übermütige Aktion in der Konsequenz bedeutet, reicht er die Scheidung ein, bevor er selbst zur Kasse gebeten wird. «Die Suppe musst du jetzt auslöffeln», sagt er dazu nur kalt. «Ich will, dass du bis morgen hier ausgezogen bist.»
Bis das der Tod uns scheidet, hatte Roland geschworen, und nun schmeißt er Silke bei der ersten schwierigen Situation aus seinem Leben und der gemeinsamen Wohnung. Sie fühlt sich in ihrem Gefühl bestätigt, dass Roland nur eine Frau braucht, die seine Probleme löst, keine, die noch zusätzliche Probleme macht. Auf diese Art von Mann kann Silke verzichten. Sie flieht zu Renate und wohnt ein paar Wochen in einer Art Abstellkammer mit Gästematratze. «Liebelein, was haste dir dabei bloß gedacht», seufzt Renate und kocht ihr Kartoffelstampf mit Möhrchen, weil es das Einzige ist, was Silke noch runterbekommt. Sie igelt sich in der Abstellkammer ein und schaut viel Akte X – Die unheimlichen Fälle des FBI, dann und wann bringt Renate ihr Cola und Kartoffelstampf und fordert sie auf, duschen zu gehen.
Silkes Zeitgefühl verschwimmt. Nicht nur Roland und ihre Freundinnen wollen nichts mehr mit ihr zu tun haben, auch Silkes Eltern lassen sie im Stich und versagen ihr jegliche finanzielle Unterstützung. Irgendwann kommt dann der Brief vom Amtsgericht, der die Summe des Schadensersatzes bekannt gibt, und Silke bricht in Renates Armen zusammen. «Da kann ich dir leider auch nicht helfen. Ich würde ja, aber so viel Geld hätte ich nicht mal, wenn ich für jede heiße Nacht fünfzig Mark nehmen würde.»
Und da steht Silke dann, ganz allein, vor einem Berg an Schulden, verkauft ihren zitronengelben Renault Clio, veräußert im Pfandhaus ihren Ehering und die Silberkette, die sie von ihrer Großmutter geerbt hat, und es reicht trotzdem vorne und hinten nicht, um der Deutschen Bahn den entstandenen Schaden zu ersetzen. Wenigstens ist niemand schwer verletzt worden, redet sie sich selbst gut zu, um den Glauben nicht ganz zu verlieren. Am liebsten aber will sie einfach verschwinden, mit der Sache nichts mehr zu tun haben und irgendwo bei null anfangen.
Ihre Anwältin prophezeit ihr ein lebenslanges Abstottern der Schulden; Silke wird in diesem Leben keinen Cent sparen können, in keinen Urlaub fahren, sich nie wieder etwas gönnen können, es sei denn, sie knackt den Lotto-Jackpot. Die Summe, die sie jeden Monat abbezahlen soll, ist so hoch wie Silkes Nettoeinkommen.
«Es muss doch irgendeine Alternative geben», fleht sie bei einem der unzähligen Termine in der Kanzlei.
«Na ja, es gibt eine Alternative. Aber die wird Ihnen nicht gefallen.» Silke blickt auf. «Wir können eine Umwandlung der Schadensersatzsumme in Sozialstunden beantragen. Zumindest einen Teil der Zahlung können Sie so umgehen, dafür müssen Sie aber, wie der Name schon sagt, soziale Arbeit ableisten.»
Silke lässt ihre Anwältin noch am selben Tag den Antrag ausstellen, das Gericht willigt ein, und nur ein paar Wochen später tritt sie ihren neuen Job bei der Bahnhofsmission Borken an. Dort macht sie alles, was ansteht, sie begleitet Menschen mit Behinderung zum Zug, kocht Kaffee, hört sich die Sorgen und Ängste fremder Leute an. Ihre Kolleginnen und Kollegen sind nett, sie fühlt sich wohl, und die Arbeit macht ihr irgendwann sogar richtig Spaß. Ihre Stelle im IT-Büro reduziert sie auf einen Tag pro Woche, um das Nötigste an Geld zu verdienen. Sie zieht aus der Abstellkammer in eine Genossenschaftswohnung am Stadtrand, nur fünf Gehminuten von Renate entfernt, und dreht fortan jede Mark dreimal um. Abzüglich Miete, Strom und Telefon bleiben ihr im Monat 148 Mark zur freien Verfügung, dadurch wird Silke zwangsläufig zum Sparprofi. Beim Einkaufen im Supermarkt lautet ihre Devise «Bücken und Strecken ist das A und O», denn die wirklich günstigen Angebote befinden sich ganz oben und ganz unten in den Regalen. Sie geht niemals hungrig einkaufen und kauft nur, was sie wirklich braucht, Schokolade und Bier gibt es nur freitags, einmal im Monat gönnt sie sich eine Packung Party-Garnelen. Sie fährt mit dem Rad zur Arbeit und versucht, so viel Kaffee und Wasser wie möglich in der Bahnhofsmission zu trinken, damit sie zu Hause keinen Durst mehr hat. Außerdem verrichtet sie auch ihr morgendliches Geschäft im Büro, das spart eine ganze Toilettenspülung, manchmal sogar zwei. Über ihre Ausgaben und Einnahmen führt Silke penibel Buch. Im Friseursalon föhnt sie sich jetzt immer selbst die Haare, beim Bäcker kauft sie Brot vom Vortag, und wenn Renate zu Besuch kommt, gibt es Wasser und Schnittchen.
«Liebelein, tust du dir denn auch manchmal was Gutes?», fragt die dann besorgt, während sie in ein staubtrockenes Käsebrot beißt. Aber Silke geht es so gut wie lange nicht mehr.
Wieder zu Hause, lässt Silke sich rücklings auf ihr Bett fallen. Sie atmet schwer aus. An der Decke ragen Isolierkabel aus dem Putz, daran baumelt ein Provisorium aus Plastikfassung und Energiesparbirne. Sie hat es immer noch nicht geschafft, eine vernünftige Lampe im Schlafzimmer anzubringen. Seit Wochen hat sie sich das vorgenommen, aber immer kommt irgendetwas dazwischen. Diese ganzen Dramen.
Sie schaut an die Decke, es ist ganz ruhig in der Wohnung, nur den Kühlschrank hört man brummen. Scheißteil, denkt Silke. Ein neuer Kühlschrank steht schon seit Monaten auf der Liste. Mit größerem Tiefkühlfach und mindestens Energieeffizienzklasse A+. Aber das Geld reicht nicht.
Auf einmal hört sie ein heftiges Husten auf der anderen Seite der Schlafzimmerwand, teilweise geht es in ein unappetitliches Würgen über. Silke schreckt auf. Sie hat schon viel zu lange nicht mehr nach Frau Goebel geschaut. Es ist jetzt kurz nach 13 Uhr, sicher ist sie gerade von ihrem ersten Mittagsschlaf erwacht.
Als Silke in das Zwölf-Parteien-Haus einzog, wohnte Frau Goebel schon über dreißig Jahre nebenan. Es ist ein anonymes Wohnen, man kennt die Namen der Nachbarn von den Klingelschildern, die Gesichter kann man ihnen nicht zuordnen. Mit Frau Goebel ist es anders, schon während Silkes Einzug stand sie neugierig im Flur, brachte Kaffee und Blechkuchen, erzählte, wie sehr es sie freue, dass der junge Mann mit der lauten Rockmusik endlich ausgezogen sei. Seit diesem Tag fühlen sich die zwei Frauen miteinander verbunden, helfen sich aus mit Milch und Kartoffeln, nehmen füreinander Pakete an, trinken Tee, reden, wenn die Stille zwischen den Rigipswänden zu groß wird.
Frau Goebel will unter keinen Umständen ins Altersheim. Sie sagt: «Da kreisen die Aasgeier schon über den Betten», und versucht deswegen krampfhaft zu beweisen, dass sie sich ohne Probleme noch selbst versorgen kann. Silke weiß, dass das immer weniger der Fall ist. Ihre Besuche, um nach dem Rechten zu sehen, werden häufiger, die Sorgen, wenn sie Frau Goebel mal länger allein lässt, größer. An guten Tagen erzählt Frau Goebel Silke von den goldenen Fünfzigern. Vom eigenen Textilladen («der beste in ganz Warstein») und ihrem früheren Mann, ein großer Name im Kabelbindergeschäft. Zusammen hätten sie auf Pferde gewettet, der Stadt Warstein ihren ersten Saunaclub geschenkt und die Welt bereist, als man in Flugzeugen noch rauchen durfte. Wenn Frau Goebel davon erzählt, schleicht sich wieder Leben in ihre Augen, sie leuchtet dann regelrecht und macht energische Gesten mit ihren sonst so müde gewordenen Händen. In diesen Momenten will Silke nichts mehr, als der alten Frau Goebel einen friedlichen Lebensabend in ihrer eigenen kleinen Wohnung ermöglichen.
Bis die alte Dame heute die Wohnungstür geöffnet hat, vergehen Minuten, immer wieder bleibt sie auf dem Weg stehen, um zu husten, zwischendurch hört man «Ach, du liebes Lottchen», kurz vor dem Ziel ein erschöpftes «Heimat, deine Sterne». Als Frau Goebel den Türgriff erreicht und Silke vor sich stehen sieht, ist sie den Umständen entsprechend erfreut.
«Wie schön! Aber komm mir nicht zu nah, ich hab mich erkältet», schnauft sie und tapst, auf ihren Rollator gestützt, zurück in Richtung Wohnzimmer. Silke bemerkt, dass Frau Goebel schon wieder abgenommen hat. Sie wirkt noch kleiner, noch zerbrechlicher als beim letzten Besuch, man könnte sie, wenn man wollte, sicherlich mit nur einem Arm hochheben und problemlos durch die Gegend tragen.
«Na, wie ist es?», krächzt es aus dem moosgrünen Ohrensessel. Silke geht auf die Frage nicht ein, ihr ist nicht nach Smalltalk, sie will nur kurz Frau Goebels Befinden prüfen und dann wieder verschwinden.
«Haben Sie Ihre Medikamente genommen?», fragt sie zurück. Frau Goebel nickt unschuldig. «Sind Sie warm genug angezogen?» Wieder ein Nicken. «Ich koche Ihnen erst mal einen Tee.»
Wenn Silke jedes Mal, wenn sie jemandem «erst mal einen Tee kocht», einen Euro bekäme, könnte sie sich schon längst eine vollautomatische Teemaschine leisten und müsste nie wieder für irgendwen «erst mal einen Tee kochen». In der kleinen Einbauküche stapelt sich das Geschirr, ganz offensichtlich kann Frau Goebel nicht mehr selbständig für Ordnung sorgen, vor allem nicht, wenn sie erkältet ist. Silke räumt alles in einer blinden Routine auf, wischt blitzschnell über Oberflächen, kocht Tee und schneidet nebenbei einen Apfel klein, ihre Gedanken sind bei Zippo, Renate, kurz sogar bei Roland.
«Herzelein, du musst jetzt hier nicht den Doktor machen!» Frau Goebel steht mit ihrem Rollator im Türrahmen, völlig aus der Puste, bei jedem Einatmen pfeift ihr Nasenloch einen hellen Ton. Silke hilft ihr auf den Küchenstuhl, dann reicht sie ihr Tee und Apfelstückchen.
«Wo drückt denn der Schuh?»
Normalerweise ist Silke diejenige, die solche Fragen stellt, in der Rolle der Gefragten fühlt sie sich gar nicht wohl. Sie starrt auf die Plastiktischdecke auf dem Tisch, die an den Seiten von kleinen roten Kunststoffäpfeln an Plastikclips beschwert wird. Wo der Schuh drückt … Die Frage ist, wo der Schuh NICHT drückt. Der Schuh ist schon lange acht Nummern zu klein, sie hätte sich längst ein neues Paar kaufen müssen, eins, das sitzt und Halt gibt und nicht die Zehen einquetscht, der kleine Zeh ist bereits total verbogen.
«Ist grad alles etwas viel», sagt Silke leise und schnippst mit dem Finger gegen einen der Plastikäpfel. «Das geht auch wieder vorbei.»
«Was du brauchst, ist mal ’ne Auszeit. Du bist ja nur am Schaffen den lieben langen Tag, und dann haste noch die Problemfälle an den Hacken. Das geht doch an die Substanz.» Die alte Dame spricht mit letzter Kraft, ihre Stimme verschwindet mit jedem Wort etwas mehr in ihrem kratzigen Rachen.
«Ja, kann sein», stimmt Silke zu.
«Das trifft sich gut! Mit mir geht es auch zu Ende.» Frau Goebel sieht erstaunlich gelassen aus, als sie diese Worte ausspricht.
«Also, Frau Goebel, jetzt machen Sie mal halblang. Sie sind erkältet, und wenn Sie sich jetzt genügend schonen –»
«Ich hab einen letzten Wunsch», unterbricht Frau Goebel und fasst Silke mit ihrer weichen, warmen Hand auf die Schulter. «Fahr mit mir zu Tropical Islands!»
«Was?»
«Jetzt oder nie!»
«In dieses Schwimmbad? Sie sind schwer erkältet!»
«Da gibt es Palmen und echte Aras. Ich bin bald weg von der Bildfläche, ich hab nicht mehr viel Zeit! Und du musst hier auch mal raus!» Frau Goebel schaut Silke fast flehend an. Silke weicht zurück.
«Das kann ich jetzt nicht entscheiden. Und ich muss auch mal eben in den Flur gucken, da klingelt die ganze Zeit jemand an meiner Tür.» Tatsächlich steht Willy-Martin im Hausflur, einen Rucksack auf dem Rücken, und klingelt Sturm. Er erschrickt, als Silke ihm von hinten auf die Schulter tippt.
«Da bist du ja!» Willy-Martin ist völlig aufgebracht. «Kann ich heute bei dir schlafen? Der Hund, im Bett, die Haare überall, die Scheiße im Schuh, Kerstin muss raus.» Silke versteht nur Bahnhof. «Ich kann nicht mehr. Dieser verdammte Hund. Ich kann echt nicht mehr.»
«Willy, Willy, Willy-Martin! Komm mal mit, ich bin drüben bei Frau Goebel, lass uns einen Tee trinken, und dann erzählst du mir alles.»
Und wieder kocht Silke Tee, und wieder hört sie sich Geschichten an. Frau Goebel freut sich über den unerwarteten Besuch. «Herr Martin, wie schön. Wollen Sie mit mir zu Tropical Islands fahren?»
«Ööhm, also. Ich weiß gar nicht … Ich schwimm auch gar nicht so, das müsste ich …» Stammelnd setzt er sich an den Tisch und schaut verunsichert zu Silke rüber, die winkt augenrollend ab.
«Vielleicht ein andermal, Frau Goebel. Soll ich Ihnen ein Brot schmieren?», fragt sie schnell, um das Thema Tropical Islands zu umgehen.
«Ich will kein Brot. Ich will nach Brandenburg.»
Es gibt trotzdem Brote für alle, Willy-Martin berichtet ausführlich von Kerstins Spontanbesuch, dem Hund, der ganzen Misere. «Ich hab ihr einen Zettel da gelassen. Dass es vorbei ist und sie und Bounty verschwunden sein sollen, wenn ich wieder zurück in die Wohnung komme. Ich wusste mir nicht mehr anders zu helfen.»
«Kerstin ist noch in deiner Wohnung? Und du bist einfach gegangen?»
«Man kann nicht mit ihr reden. Immer steht der Köter da mit seinen fiesen Augen, der will mich angreifen! Der hat es auf mich abgesehen, wirklich, ich erfinde das nicht!»
«Und was willst du jetzt machen?»
«Ich geb ihr Zeit bis morgen zu verschwinden. Bis dahin wollt’ ich eben fragen, ob ich bei dir bleiben kann.»
Silke seufzt. «Na, wenn du denkst, dass das eine gute Idee ist. Klar.»
Willy-Martin beißt erleichtert in sein Leberwurstbrot.
«Das passt doch dann», ruft Frau Goebel.
«Wie bitte?», hustet Willy-Martin mit vollem Mund.
«Das passt doch dann alles! Sie brauchen ja anscheinend auch mal ’ne Auszeit. Von der Hundegeschichte und dieser Knochenfrau. Bei Tropical Islands könnten wir alle mal abschalten.»
«Warum wollen Sie denn unbedingt zu Tropical Islands?», fragt Willy-Martin.
«Hab ich im Fernsehen gesehen die Tage. Da gibt es echte Palmen und Aras. Und Flamingos! Ich wollt’ doch so gern noch mal unter Palmen liegen, bevor …»
«Bevor was?»
«Jetzt tun Sie mal nicht so, Herr Martin. Sie sehen es doch auch.»
«Sehen? Was?», Willy-Martin blickt sich demonstrativ um.
«Na, dass ich mit einem Bein im Grab stehe.»
«Frau Goebel!» Silke wird es zu bunt. «Sie sind noch lang nicht tot, jetzt reicht es aber. Sie sind erkältet, und das kriegen wir wieder hin. Besser, Sie legen sich hin.» Sie will Frau Goebel aus dem Stuhl hiefen, doch Willy-Martin lenkt ein.
«Was spricht denn dagegen?», fragt er. Beide Frauen schauen ihn ungläubig an.
«Was?», fragt Silke.
«Also doch!», sagt Frau Goebel und klatscht in die Hände.
«Ich bin mit dem leeren Taubenlaster hier, der Herr Graf ist das ganze Wochenende auf Sylt. Mal ein bisschen rauskommen wär vielleicht gar nicht so schlecht.»
«Das ist unverantwortlich», erwidert Silke streng. «Frau Goebel ist krank.»
«Aber wenn es doch ihr letzter Wille ist?»
Frau Goebel nickt hastig. «Da ist es ganz warm! Das Klima tut mir gut», wirbt sie für ihren Plan. Silke schaut Frau Goebel an; die hagere kleine Frau von über neunzig Jahren, wie sie auf dem Stuhl kauert mit blasser Haut und einer vom vielen Putzen roten Nase. Ihre großen glasigen Augen betteln verzweifelt um die Erfüllung dieses einen großen Wunsches, wie die eines Kindes vor der Weihnachtsbescherung. Willy-Martin nickt Silke zuversichtlich zu. «Wir können uns zu zweit um sie kümmern. Im LKW ist auch massig Platz. Sie könnte auf dem Fahrerbett sogar schlafen.»
«Im Auto schlaf ich wie ein Baby», verspricht Frau Goebel.
Silke weiß nicht, wie sie reagieren soll. Aus dem Flur tönt plötzlich eine schrille Frauenstimme, es wird an eine Tür gehämmert.
«Silke, mach auf! Ich hab doch gesagt, es tut mir leid. Jetzt lass mich rein, verdammt noch mal, ich muss pissen wie ein Brauereipferd.»
Eindeutig: Renate.
Silke hat sie schon seit Monaten nicht mehr gesehen. Bei ihrem letzten Treffen bei Vapiano hatte sie sich schon mittags dermaßen mit Pinot grigio abgeschossen, dass sie noch vor dem Essen wegen obszöner Gesten an der Pasta-Station der Filiale verwiesen wurde. Als Silke dann nach Hause stapfte, und nicht, wie es Renates Pläne vorsahen, «noch kurz beim Christ-Juwelier Ohrlöcher schießen lassen», war Renate beleidigt und meldete sich wochenlang nicht mehr. Irgendwann gab Silke die Kontaktversuche auf, sie wusste, Renate hatte so ihre Phasen. Und jetzt sitzt sie plötzlich an Frau Goebels Küchentisch, fischt mit den Fingern Silberzwiebeln aus dem Glas, als wäre nichts gewesen, und seufzt. Als niemand etwas sagt, seufzt sie noch einmal laut und gedehnt. Ihr Hang zur Dramatik äußert sich vor allem in der Art und Weise, wie sie seufzt. Sie wirft den Kopf dann immer aufwendig in den Nacken, rollt übertrieben mit den Augen und schnalzt mit der Zunge. Ein lautes «Haaaaaaach» komplettiert diese Showeinlage und zwingt alle Menschen in der Umgebung, sich zumindest kurz zu versichern, ob bei ihr alles in Ordnung ist. Renate möchte oft Dinge loswerden, sie hat immer viel zu erzählen. Jedoch ist es für sie eine Frage der Etikette, erst zu erzählen, wenn man gefragt wird. Da sie selten gefragt wird, kurbelt sie selbst die ganze Sache an, indem sie aufwendig seufzt und große Gesten macht, bis ihr dann endlich die gewünschte Aufmerksamkeit zuteilwird und mindestens eine Person fragt, ob denn bei ihr alles in Ordnung sei.
«Ist alles in Ordnung?», fragt Frau Goebel.
«Mandarine Schatzi ist tot. Ich konnte nicht mehr zu Hause sein, alles erinnert mich an sie», schluchzt Renate plötzlich laut auf.
«Oh nein, Renate. Was ist denn passiert?»
«Ertrunken», presst sie hervor.
«Wie schrecklich! Im See?», fragt Silke.
«In einer Punica-Flasche!», flüstert Renate jetzt.
Niemand sagt etwas, Willy-Martin blickt auf den Boden, jeder tote Hund ist für ihn ein guter Hund, aber das kann er natürlich nicht sagen.
Frau Goebel hustet laut, damit niemand merkt, dass sie eigentlich lachen muss. Lange herrscht Schweigen am Küchentisch.
«Passen in den LKW auch vier Personen?», fragt Silke.
«Locker», antwortet Willy-Martin.