Nach dem Ausflug zu Tropical Islands herrscht zwischen Silke und Renate Funkstille. Für Silke ist die Sache klar: Renate hat den Bogen überspannt. Viel zu oft hatte sie schon ein Nachsehen mit ihr, bis jetzt hat Silke bei jeder Auseinandersetzung den Kürzeren gezogen, aber damit ist jetzt Schluss. Renate muss lernen, dass es Regeln und Grenzen gibt, ohne die eine Freundschaft nicht funktionieren kann.
Auch von Willy-Martin hört Silke nach dem Kurztrip wenig. Am Telefon ist er immer kurz angebunden, muss entweder «dringend zum Schlag» oder «zur Taubenklinik, weil Carlos seit drei Tagen nicht mehr schnäbelt». Silke hat keine Ahnung von Tauben, aber dass Willy-Martin in letzter Zeit so oft bei den Vögeln ist, statt ihr im Venezia ein Kännchen Filterkaffee auszugeben oder in der Bahnhofsmission vorbeizuschauen, wundert sie. Hat ihn die ganze Tropical-Islands-Sache überfordert?
Frau Goebel hat der Stress des Wochenendes auf jeden Fall sichtlich zugesetzt. Ihre Nase läuft ständig, und sie schläft jetzt bis zu sechzehn Stunden pro Tag. Eigentlich hangelt sie sich nur vom «Frühstücksverdauungsschläfchen» zur «Mittagsruhe» zum «Nachmittagstief» zum «frühen Ins-Bett-Gehen», alles von ihr sorgsam gewählte Synonyme für lupenreine Tiefschlafphasen.
«Ich weiß nicht, ob das so gut ist, wenn Sie so viel liegen, Frau Goebel. Versuchen Sie auch mal, zu sitzen oder ein bisschen mit dem Rollator durch die Wohnung zu fahren, wir können auch spazieren gehen», redet Silke auf sie ein.
Frau Goebel dementiert, dass sie so viel schläft. Sie sei eine «geschäftige Person», gerade tagsüber, wenn Silke aus dem Haus ist, und schlafen könne sie noch, wenn sie tot sei. Sie schaue viel fern und betreibe dabei sogar Gymnastik. Manchmal stellt Frau Goebel den Fernseher auf extralaut, damit Silke ihn bis in ihre Wohnung hört. Da Silke über den Ersatzschlüssel für Frau Goebels Wohnung verfügt und in regelmäßigen Abständen nach ihr schaut, hat sie sie schon oft dabei erwischt, wie sie im Wohnzimmer Giraffe, Erdmännchen und Co. auf Volume dreißig laufen lässt und dabei seelenruhig zwei Zimmer weiter im Bett liegt und schläft.
Überhaupt werden Frau Goebels Tricks immer ausgefuchster, je älter und schwächer sie wird. Seit die Ärztin ihr verordnet hat, dass sie mehr und vor allem regelmäßig essen muss, und Silke auch ein Auge darauf hat, lässt Frau Goebel Essen auf wundersame Weise verschwinden. Silke hat schon Butterkekse im Blumenkübel, Salamischeiben im Kissenbezug und ganze Berge gammliges Kartoffelpüree im TV-Schrank gefunden. Irgendwann macht sich ein übler Gestank bemerkbar, Frau Goebel riecht aber nichts mehr, deshalb geht sie wahrscheinlich auch davon aus, dass ihre Verstecke astrein sind. Die leeren Verpackungen und Teller lässt sie demonstrativ auf dem Esstisch liegen, wahrscheinlich damit Silke sie sieht und denkt: «Ach super, wieder eine 1,5-Kilo-Familienpackung Käsecracker leer, die wird Frau Goebel wohl heute nach dem Frühstück gegessen haben.» Wenn Silke dann zwei Wiener Würstchen aus der Porzellanvase zieht und Frau Goebel einen vorwurfsvollen Blick zuwirft, täuscht die völlige Ahnungslosigkeit vor. Die Reaktionen reichen von «Wie kommen die denn jetzt dahin?» über «Das ist das Alter, ich werde vergesslich» bis zu «Ich wusste, dass der Pfleger von der Caritas nicht ganz sauber ist».
Silkes Sorge um Zippo ist nach Tropical Islands nicht kleiner geworden. Eher noch größer, weil sie nach wie vor keinen Plan hat, wie sie das Geld für ihn auftreiben kann. In der Woche nach ihrem Ausflug hat Silke ihn auch nicht mehr gesehen, weder am Bahnhof noch in der Mission hat er sich blicken lassen. Nach einer Woche zieht sie auf eigene Faust los, um Zippo zu suchen. Sie schaut beim städtischen Blumenbeet neben dem Bahnhofsvorplatz, hinter das Bushäuschen und auf der kleinen Wiese beim Amtsgericht nach ihm, wo er auch manchmal sein Lager aufschlägt, weil die akkurat gepflanzten Büsche Blickschutz bieten. Die Wiese ist menschenleer. Sie sucht in der Unterführung zum Taxistand, auf den Treppen am Parkhaus, in der Einkaufsstraße und den vielen kleinen Nebengassen. Den ganzen Nachmittag ist sie unterwegs in der Stadt, bis die Dunkelheit ihr einen Strich durch die Rechnung macht. Silke hofft, dass es ihm gutgeht. Vielleicht ist er ja losgezogen in die weite Welt, per Anhalter rüber in die Niederlande, auf einem Frachtschiff hoch nach England, dann weiter an die Küste Irlands. Sie sieht es vor sich: Es dämmert, der Himmel ist glasklar, das fast schwarze Meer frisst geduldig schroffe Fjorde in den Fels. Auf einer grünen Wiese sitzt Zippo und stiert gen Horizont, in seiner Hand eine glühende Zigarette und ein kühles Bier.
Wahrscheinlicher aber ist, dass das Sicherheitspersonal des Amtsgerichts ihn von der Wiese verscheucht hat und kein einziges Auto angehalten hat, um ihn mitzunehmen. Vermutlich liegt er irgendwo am Stadtrand von Borken, unter einer schützenden Brücke, auf seiner viel zu dünnen Isomatte, hat Rückenschmerzen und höllische Angst vor dem Krebs. Silke bekommt bei dem Gedanken augenblicklich wieder Magenschmerzen und ein schweres Herz.
Manchmal fühlt es sich an, als wäre sie ein Schwamm. Mit groben, offenen Poren saugt sie die Probleme in ihrer Umgebung ein, sie kann sich ihnen nicht entziehen, sie fühlt alles mit. Über die Jahre hat sie sich vollgesogen, sie ist jetzt ganz schwer, wird von den Wassermassen zu Boden gedrückt, die Schritte werden immer mühsamer. Sie kann ihre eigenen Füße nicht mehr sehen, sie sieht nur all die offenen, vollen Poren. Hier und da fließt Wasser ab, aber dann saugt sich auch schon wieder die nächste Öffnung voll. Was bringt das eigentlich alles noch?, fragt sie sich. Zippo ist verschwunden, Silke hat keine Ahnung, wie sie an das Geld für die Chemo kommen soll, sie ist keinen Schritt weiter. Deprimiert schließt sie ihre Wohnung auf, betritt den dunklen Flur und stößt gegen das viel zu große, fast leere Schuhregal, sie flucht.
Dann kommt ihr eine Idee.
Als Willy-Martin von der Reise zurückkommt und die Tür zu seiner Wohnung öffnet, schlägt ihm schon ein Schwall Hundemief entgegen, eine Mélange aus nassem Fell, getrocknetem Speichel und Hundekacke. Kerstin und Bounty sind also immer noch da. Sie liegen beide auf der Couch, der Hund kaut genüsslich auf einem Schweineohr, Kerstin schaut eine Mein Lokal, dein Lokal-Wiederholung auf Kabel Eins. Willy-Martin ringt um Luft.
«Hallo Kerstin», sagt er leise und setzt sich zu ihr auf die Couch. Kerstin strahlt ihn an. «Hallo Willy.» Sie schaltet den Fernseher aus. Willy-Martin kauert am äußersten Rand, er hat kaum Platz, weil Bounty es sich mit seinem Schweineohr etwas zu gemütlich gemacht hat.
«Also, Kerstin. Ich … ich find dich echt spitze. Bist ’ne tolle Frau.»
Kerstin hört zu und massiert dabei in kreisenden Bewegungen Bountys Oberschenkel.
«Ich find dich auch super, Willy-Martin, das weißt du ja!»
Kurz fühlt Willy-Martin sich geschmeichelt, seine Entschlossenheit schwindet, er lächelt Kerstin verliebt an. «Wirklich?» Willy-Martin hat einen hochroten Kopf, die Adern an seinen Schläfen treten hervor, als wollten auch sie wissen, wie die Sache mit Kerstin ausgeht. «Kerstin, ich bin ehrlich. Ich muss das mit uns beenden. Ich bin einfach, also, ich bin einfach nicht verliebt.» Kerstin massiert immer noch stoisch Bountys Hinterleib, der Hund scheint das etwas zu sehr zu genießen, denn rund um die Couch riecht es plötzlich nach einer Mischung aus faulen Eiern und geglücktem Buttersäureanschlag.
«Hab ich mir schon gedacht, als ich deine Nachricht gelesen habe. Manchmal isses eben so. Kann man nichts machen», Kerstin sagt das mit starrer Miene, Willy-Martin glaubt, eine für norddeutsche Verhältnisse große Traurigkeit in ihrem Ton vernommen zu haben.
«Da bin ich aber jetzt froh, dass du das so gut aufnimmst. Na ja, manchmal passt es halt und manchmal nicht, kann ja keiner was für!» Willy-Martin ist erleichtert. Er sieht zu Kerstin und wartet, dass sie aufsteht und ihre Koffer packt. Aber Kerstin wirkt wie versteinert, sie massiert weiter das Hinterteil des bestialisch stinkenden Golden Retrievers, der sich lang macht, das Sofa einnimmt wie ein König.
«Na ja», Willy-Martin klatscht in die Hände. «Ich mach mal das Fenster auf.» Das ist bitter nötig. «Echt ein toller Hund. Und so friedlich.»
Kerstin nickt und tätschelt Bounty dreimal großflächig den Bauch.
«Ja, das stimmt.» Dann greift sie zur Fernbedienung und schaltet den Fernseher wieder an.
«Ah, Frank Rosin! Den lieb ich ja! Der macht auch mal ’ne Ansage, nicht immer nur so Wischiwaschi wie die anderen.»
Willy-Martin steht am geöffneten Fenster und ist ratlos. Kerstin macht ganz offensichtlich keine Anstalten zu gehen.
«Kann ich dir beim Packen helfen, Kerstin?»
«Nee, wieso?», Kerstin schaut konzentriert Rosins Restaurant. «Das ist manchmal echt ’ne Zumutung, da, guck dir das an, der Ofen ist wahrscheinlich noch nicht ein einziges Mal geputzt worden, bah, das ist Fett von zwanzig Jahren, da würden mich keine zehn Pferde reinkriegen in die Kaschemme.»
«So.» Willy-Martin nimmt erneut Anlauf. «Ich muss jetzt auch los, Kerstin. Ich will noch wohin.»
Kerstin blickt gar nicht auf.
«Alles klar.»
Willy-Martin wird immer nervöser, er reibt seine Hand am Hosenbein. Kerstin schaut gebannt auf den Fernseher, bei Rosins Restaurant droht die Lage zu eskalieren.
Frank Rosin macht heute die 73-jährige Helga zur Sau, Hilfsköchin im Elmendorffburg-Restaurant Vechta. Das fast zweihundert Jahre alte Gebäude hätte so viel Potenzial, da sei es ja wohl unterste Kanone, feine Gerichte mit Aromat aus der Dose zu verschandeln. Helga ist den Tränen nahe, Frank Rosin merkt das, da ist was drin, da geht noch was. Er schaut Helga streng an, wirft plakativ ein Geschirrtuch in den Topf Hochzeitssuppe. «Hier, guck dir das an, Helga. Würdest du so was deinen Gästen servieren?»
Helga ist wie erstarrt, die Tränen füllen ihre Augen, sie schüttelt ängstlich den Kopf. «Nein», sagt sie leise.
«Wie bitte? Ich kann dich nicht hören, sprich lauter. Würdest du so was deinen Gästen servieren, Helga?» Frank Rosin schreit so sehr, dass sein Mikrophon übersteuert. Man könnte denken, dass ihn Restkoks in seinen Nasenschleimhäuten in Rage peitscht.
Helgas Tränen prasseln auf den Gasherd. «Nein», antwortet sie mit halber Stimme.
«Schau in den Topf, Helga. Guck dir die Scheiße an.»
Helgas Brille ist vom Weinen und dem Dunst der Hochzeitssuppe beschlagen, trotzdem beugt sie sich über den Topf, um Frank Rosins Kommando Folge zu leisten.
«Was siehst du da?», brüllt es von hinten.
«Eine Suppe.»
«Was noch?»
«Ein Geschirrtuch.»
«Und passt das zusammen?»
«Nein.»
«Und passt Suppe und Aromat zusammen?»
«Nein», wimmert Helga.
«Und warum machst du dann Aromat in die Suppe?»
«Ich bin ja nur aushilfsweise hier. Und auch erst seit zwei Wochen. Der Michael hat uns gesagt, das kann da ruhig rein.» Helga schaut auf den Boden wie ein getretener Hund.
Plötzlich ist Frank Rosin ihr Freund, fasst ihr mit beiden Händen an die Schultern, spricht einfühlsam. «Ich bin gekommen, um euch zu helfen, Helga.»
Jetzt bricht es endgültig aus ihr heraus, Helga beginnt bitterlich zu weinen, sie schluchzt und schüttelt sich, Frank Rosin fängt sie tröstend auf, nimmt ihr Gesicht in die Hände. «Psssscht. Ist ja gut, Helga, wir sind alle Menschen, wir machen alle Fehler. Deswegen bin ich ja hier.»
Helga ist beschämt, will offensichtlich raus aus der Situation, aus der heißen Küche, aber sie scheint eingekesselt von Kameras, es gibt nur einen Ausweg, und der führt direkt in Frank Rosins verschwitzte Arme. Also lässt sie es über sich ergehen, die Kamera klebt an ihrem zittrigen, tränenverschmierten Gesicht.
«Alles gut, Helga. Aber versprich mir, dass du so was nicht noch mal machst», wispert Frank Rosin und küsst ihre Stirn.
«Versprochen.»
«Hart, aber fair, der Rosin», nickt Kerstin anerkennend. «Weißte was, ich krieg immer so ’nen Hunger, wenn ich Rosin gucke. Ich koch mir was.» Kerstin steht auf, als wäre es das Normalste der Welt, Bounty folgt ihr in die Küche und lässt auf halbem Weg das nasse Schweineohr auf den Teppich fallen.
Willy-Martin steht immer noch am Fenster, verzweifelt. Im Hintergrund hört man Helga weinen, oder wieder, sie schluchzt dicke Tränen in Frank Rosins Steppjacke. Willy-Martin holt tief Luft, er versucht angestrengt, eine Niesattacke zu vermeiden.
«Ich schmeiß die jetzt raus», murmelt er sich selbst zu und krempelt die Ärmel hoch. Kerstin sitzt am Küchentisch und schneidet Kartoffeln in feine Würfel. Wenn Kerstin kocht, gibt es fast immer Kartoffeln, eine ihrer seltsamen Angewohnheiten ist es, als Beilage zu Kartoffeln Kartoffeln zu essen, nur eben in einer anderen Form. Zu Hause isst sie meist Pellkartoffeln mit Bratkartoffeln, je nach Lust und Laune gibt es aber auch manchmal Kartoffelpüree mit Pellkartoffeln oder Bratkartoffeln mit Kartoffelpuffern, hat sie erzählt. In ihrem Keller hat sie eine 1,40 Meter hohe Kartoffelkiste installiert, die bis zu neunhundert Kartoffeln fasst. Circa alle zwei Monate ist die Kiste leer, dann kommt der Bauer Klaassen von nebenan und füllt sie für einen Freundschaftspreis wieder auf.
«Kerstin, ich muss dich bitten, jetzt zu gehen», schwappt es aus Willy-Martin heraus. Kerstin schaut ihn irritiert an, als käme das aus heiterem Himmel.
«Wie meinst’n das?», fragt sie und steht auf, um Wasser in den Topf zu gießen. Willy-Martin weicht einen Schritt zurück, als hätte er Angst vor Kerstin.
«Ich muss dich bitten, die Wohnung zu verlassen.»
«Hab kein Wort verstanden, der Wasserhahn war so laut», ruft Kerstin rüber.
«Bitte verlass meine Wohnung», sagt Willy-Martin und zeigt auf die Wohnungstür.
«Kein Grund, jetzt unhöflich zu werden», sagt Kerstin gelassen und dreht die Herdplatte auf neun. Willy-Martin atmet inzwischen sehr kurz, er weiß sich nicht mehr zu helfen. Kerstin macht sich seelenruhig an die Beilage und beginnt eine zweite Fuhre Kartoffeln zu schälen. Im Affekt dreht Willy-Martin den Herd aus. Kerstin stöhnt, steht auf und schaltet den Herd wieder ein. Kaum hat sie sich wieder gesetzt, schaltet Willy-Martin ihn wieder aus. Kerstins Laune kippt. Sie wirft ihm einen bösen Blick zu, dann steht sie auf und dreht den Herd wieder auf, setzt sich aber nicht wieder hin, sondern schält die Kartoffeln direkt neben dem Herd weiter, sodass Willy-Martin nicht an ihr vorbeikommt, um den Strom wieder auszudrehen. Willy-Martin schnaubt, sein roter Kopf verschwindet im Wohnungsflur, dann wird es plötzlich dunkel in der Küche, und der Fernseher im Wohnzimmer verstummt.
«Du kannst deine Kartoffeln zu Hause weiterkochen. Ich habe alle Sicherungen gezogen. Es ist vorbei, Kerstin.»
Für einen kurzen Moment denkt Willy-Martin, dass er die Sache nun ein für alle Mal erledigt hat, dann entdeckt er das kleine Küchenmesser in Kerstins Hand. Wütend läuft sie damit zum Verteilerkasten und knipst die Sicherungen wieder an, die Lampen leuchten wieder hell, Frank Rosin brüllt wieder das Küchenpersonal an. Willy-Martin bekommt es mit der Angst zu tun, wer weiß, was Kerstin vorhat, momentan ist ihr alles zuzutrauen. Trotzig schneidet sie die zweite Ladung Kartoffeln in Scheiben, dann holt sie eine Pfanne aus einer der unteren Schubladen, Willy-Martin ist erstaunt, wie gut sich Kerstin schon in der Küche auskennt. Als sie die Kartoffeln in die heiße Pfanne wirft, rennt Willy-Martin zum Schneidebrett, um das Messer an sich zu reißen. Kerstin reagiert blitzschnell und kommt ihm zuvor.
«Ich muss noch Kartoffeln schneiden!», sagt sie und hält das Messer über ihren Kopf, Willy-Martin springt hoch und versucht es mit den Händen zu erreichen, aber er ist zu klein. Außerdem hebt er bei seinen Sprungversuchen nur minimal vom Boden ab, bei jedem Aufkommen knirschen seine schweißklammen Socken in den cognacfarbenen Ledersandalen. Er keucht und hüpft und quietscht, es ist ein trauriger Anblick.
«Ich muss hier noch fertig schneiden!», mault Kerstin, Willy-Martin springt weiter an ihr hoch, es kommt zu einem Handgemenge.
Plötzlich fängt Bounty an zu bellen. Das Bellen erschreckt Willy-Martin so sehr, dass er laut aufschreien muss. Das wiederum bringt Kerstin aus dem Konzept, für den Bruchteil einer Sekunde lässt sie den Arm herunter, dann schnappt er zu und entwendet ihr blitzartig das Messer. Bounty hört nicht auf zu bellen, Willy-Martin ist knallrot und schwitzt, Kerstin ist wütend und hat einen gewaltigen Kartoffelhunger.
«Gib mir das Messer zurück!», schreit sie ihn an, synchron dazu kläfft Bounty weiter. Willy-Martin hat ein Flashback, damals im Wald, der Hund, das Bein, er hat nicht aufgehört zu bellen. Hör auf, hör auf, hör auf.
«Hör auf, hör auf, hör auf!», schreit er Bounty an, der bellt nur noch lauter zurück. Willy-Martin wird völlig panisch, er muss niesen und dreht sich im Kreis, das Messer in der Hand. «Hör auf, hör auf, hör auf!»
«Gib jetzt das Messer zurück, die Kartoffeln kochen über!»
Willy-Martin dreht sich, er hat die Kontrolle über seinen Körper verloren. «Raus aus meiner Wohnung!», brüllt er im Vorbeidrehen. «Ich habe schon mal einen Hund erschossen, und ich würde es wieder tun!»
Kerstin entgleiten die Gesichtszüge, sie schaut Willy-Martin entgeistert an. «Du hast was?»
Willy-Martin kann nicht aufhören, sich zu drehen.
«Bounty, ab! Wir gehen.» Bounty stellt das Bellen ein und trabt aus der Küche.
«Du krankes Schwein», zetert Kerstin, dann rennt sie ins Schlafzimmer und packt ihre Tasche. Willy-Martin drosselt langsam die Geschwindigkeit. Als er die Wohnungstür ins Schloss knallen hört, bleibt er endlich erschöpft stehen, schnäuzt sich die Nase und tupft sich die Stirn mit einer Serviette trocken.
In der folgenden Woche merzt Willy-Martin nach und nach die Hundespuren in seiner Wohnung aus. Er putzt und schrubbt, reinigt die Polster und wäscht mehrfach Teppiche und Bettwäsche, bis der Geruch und die vielen Haare endlich verschwunden sind. Die Tage mit Kerstin haben ihm zugesetzt. Nach der ausführlichen Grundreinigung fällt er müde auf seinen Bürostuhl und öffnet sich eine Dose Radler. All die Hoffnungen, wieder blieben sie unerfüllt. Er loggt sich beim Online-Kniffel ein, DieKnochenbrecherin ist Offline. Er spielt eine Runde gegen Hexe62, aber es ist nicht dasselbe. Frustriert greift er zum Telefonhörer.
«Silke, ich muss mal raus. Haste die Tage Zeit?»
«Ich bin Samstag auf dem Flohmarkt wegen Zippo.»
«Okay, ich komme mit.»
«Ich fahr aber schon um sechs Uhr los!»
«Komme dann direkt zum Flohmarkt. Bis dann!»
Er trinkt das Radler in einem Schluck aus, dann legt er sich in sein frischgewaschenes, absolut hundefreies Bett.
Willy-Martin hat eine Thermoskanne Kaffee und zwei Amerikaner dabei, als er Silke an ihrem Stand auf dem Flohmarkt besucht. Sie baut gerade alles auf, beschriftet die verschiedenen Pappkartons mit Alles 1 Euro, Alles 3 Euro und poliert mit ihrem Ärmel noch mal die kleinen Schnapsgläser nach.
«Morgen», schnauft Willy-Martin, seine Augenringe fallen Silke sofort auf.
«Morgen. Da ist aber jemand noch müde.»
Willy-Martin setzt sich auf einen der zwei Campingstühle und schraubt seine Thermoskanne auf.
«Willste auch einen? Ist der feine Milde von Tchibo.»
«Gern.»
«Ach, verdammt. Ich hab die Tassen vergessen. Tut mir leid, das musste schnell gehen heut Morgen. Ich besorg uns mal welche.»
Willy-Martin kauft der Dame vom Stand gegenüber zwei Glühweintassen ab, die dunkelblauen vom Weihnachtsmarkt, für die man immer mehr Pfand zahlen muss, als das Getränk an sich kostet.
«Besser als nix», sagt er schulterzuckend und schenkt ihnen Kaffee ein. Der Flohmarkt ist noch ziemlich leer, die beiden nippen am feinen Milden und beobachten, wie es langsam voller wird. Rotierende Verkäuferinnen und Verkäufer stecken ihre Kleiderstangen zusammen und etikettieren DVDs. Und dann kommen die ersten Besucher.
Ihr Stand ist auf dem weitläufigen Flohmarkt, der sich über die gesamte Fläche des Real-Parkplatzes erstreckt, mit Abstand der kleinste. Alles, was Silke heute verkauft, passt in einen großen Umzugskarton. Sie besitzt nicht mehr viel, seit der Sache mit der Notbremse. Ihre wertvollen Habseligkeiten – das Meißner-Familienporzellan und den Vorwerk-Staubsauger – hat sie bei ihrem überstürzten Auszug damals bei Roland gelassen und ihren wenigen Schmuck verkauft.
Willy-Martin weiß nicht, wie er Silke aufheitern kann. Er beschließt, sich auf dem Flohmarkt umzuschauen, und ihr eine Kleinigkeit zu kaufen. Etwas, das nur für sie gedacht ist, eine kleine Freude, die sie die ganzen Probleme mit Zippo und dem Krebs und dem Geld mal kurz vergessen lässt. Er stromert zwischen Klappstühlen und Bananenkisten hindurch, wühlt in einem Stapel Blu-ray-DVDs. Von einem Tapeziertischchen lachen ihm vergilbte Barbie-Puppen entgegen, gleich daneben stehen gebrauchte Ledersandalen aus den Neunzigern zum Verkauf, bei denen man noch die Umrisse eines Fußes in der Innensohle erkennen kann. Willy-Martin rümpft die Nase. Eine rotbackige Händlerin will ihn mit Keksen und einem lauten «Hallo!» an ihren Stand locken, wie so oft kann er nicht nein sagen und kauft der Dame aus Höflichkeit einen Flaschenöffner in Form einer Forelle ab. Für Silke ist das garantiert nichts, also heißt es weitersuchen. Als er hinter dem Bratwurstwagen um die Ecke biegt, entdeckt er einen professionell wirkenden Stand mit originalverpackten Elektrogeräten. Großhandel, schätzt er. Das ist Ware nach seinem Geschmack, da ist nichts gebraucht oder kaputt, und trotzdem bezahlt man alles zum Flohmarktpreis. Seinen SEVERIN-Eierkocher hat er vor Jahren genau auf diesem Parkplatz bei einem solchen Händler gekauft, nur zehn Euro, aber bis heute top in Schuss. Die LED-Gartenleuchten ganz oben auf der Produktpyramide will er sich mal genauer anschauen. Vielleicht kann Silke die ja für ihren Balkon gebrauchen.
«Entschuldigung?», räuspert er sich. «Dürfte ich hier mal die Verpackung öffnen und reinschauen?»
Die Verkäuferin hat ihm den Rücken zugewandt, fuchtelt geschäftig in ihrer kleinen Kasse herum und macht keine Anstalten, sich zu ihm umzudrehen.
«Entschuldigung?», wiederholt Willy-Martin.
Wieder nichts.
«Wie viel kosten denn die LED-Lampen hier?»
«Alles fünf Euro», raunzt es unverständlich von der Verkäuferin herüber.
Nur fünf Euro? Alles? Donnerwetter. Willy-Martin umklammert das Paket mit den Lampen, sicher ist sicher. Dann schaut er sich weiter um. Alles sieht neu und qualitativ hochwertig aus. Sogar ein Markenentsafter ist dabei. Er muss sich bremsen, nicht in einen Kaufrausch zu verfallen. Jetzt nur nicht die Nerven verlieren, Willy-Martin, es geht immer noch um ein Geschenk für Silke.
«Ich nehme die LED-Lampen hier!», ruft er der Verkäuferin entgegen, die nickt bloß. Willy-Martin zückt seine Geldbörse und läuft um den Stand herum, um zu bezahlen, aber die Verkäuferin weicht ihm aus. Jeden Schritt, den er geht, geht sie auch, und als er an der Kasse angekommen ist, steht sie auf einmal auf der anderen Seite der Produktpyramide, wo eben noch Willy-Martin stand.
«Ich würde gern zahlen!», ruft er ihr verdutzt zu.
«Geld können Sie dahin legen», nuschelt es von gegenüber. Willy-Martin könnte schwören, dass er diese Stimme schon mal gehört hat. Er läuft schnellen Schrittes um die Tische, aber die Verkäuferin läuft ebenfalls um den Tisch und dreht sich immerfort um die eigene Achse, sodass Willy-Martin sie nie ganz sehen kann.
Da fällt es ihm ein.
«Renate?»
Die beiden drehen sich im Kreis. Willy-Martin läuft immer schneller um die Tische, dabei kommt er mit der Schulter an die Produktpyramide, die Waren fallen zu Boden, Renate läuft weiter im Kreis.
«Renate, ich weiß, dass du es bist! Das ist doch Quatsch jetzt.»
Irgendwann ist Willy-Martin so aus der Puste, dass er nicht mehr kann.
«Mann …», schnauft er. «So ’ne Scheiße muss doch echt nicht sein. Können wir mal ganz normal miteinander reden, wie zwei erwachsene Menschen?»
Renate ist schon ganz schwindelig vom vielen Drehen, eine weitere Runde übersteht sie nicht. Sie muss der Situation entfliehen, sie kann hier nicht bleiben, unter keinen Umständen will sie mit Willy-Martin reden, sie schämt sich für ihre Impulskäufe.
Renate ist mit dem Großraumtaxi Bis dann! gefahren. Die robuste Taxifahrerin, ungefähr in ihrem Alter, musste ihr helfen, die vielen Pakete und Kartons einzuladen, danach waren sie beide nass geschwitzt, die Fahrerin etwas mehr als Renate, weil sie auch deutlich mehr getragen hatte. Renate drückte ihr zwei Euro Trinkgeld in die Hand.
«Wommama hoffen, dass es für zwei Euro was Gutes gegen Hexenschuss gibt», hatte die daraufhin zynisch geknurrt und eine Hand schmerzverzerrt in den unteren Rücken gestemmt. Die holt Renate wohl kaum noch mal irgendwo ab.
Renate war mit der Hoffnung zum Flohmarkt gefahren, dass sie hier alles loswerden und danach, befreit von dem Ballast der Fehlkäufe, in den Bus nach Hause steigen würde.
Im Affekt tritt sie nun die Flucht nach vorn an, greift sich noch hastig die kleine Kasse und verlässt den Flohmarkt in Richtung Bushaltestelle.
«Wo willst du denn hin?», ruft Willy-Martin und folgt ihr. «Was ist mit deinen ganzen Sachen hier?»
Renates Kopf ist inzwischen feuerrot. Sie kann jetzt nicht stehen bleiben, Willy-Martin läuft ihr nach und will sie zur Rede stellen. Zu ihrem Glück biegt der Bus schon um die Ecke, die Türen öffnen sich, und Renate lässt sich erleichtert und nass geschwitzt in einer der hinteren Reihen nieder. Im Vorbeifahren sieht sie Willy-Martin, er schnäuzt sich die Nase, die LED-Lampen unter dem Arm, und schaut ihr entgeistert nach. Renate senkt den Kopf, dann verschwindet der Bus hinter einer Häuserwand.
Als Willy-Martin zurück zum Stand kommt, sitzt Silke missmutig im Campingstuhl und liest eine alte Ausgabe der Borkener Zeitung, die beim Transport als Schutz für die Schnapsgläser gedient hatte. «Wo warst du denn so lange?»
Willy-Martin drückt ihr feierlich die Gartenleuchten in die Hand, und Silke springt freudestrahlend auf, um ihn zu umarmen. Sein Herz schlägt sofort höher, er kann nichts dagegen tun. So nah wie jetzt war er Silke noch nie, ihre Haare kitzeln seine Nase, er kann ihr Kokos-Shampoo riechen. Die Umarmung fühlt sich an wie eine kleine, schöne Ewigkeit. Bei Silke ist es immer so vertraut und wunderbar, kein Hund, kein Knochenbrechen, nur ihr warmer, weicher Körper und eine ehrlich gemeinte Umarmung.
«Und wie lief das Verkaufen?», stammelt Willy-Martin.
Silke zeigt auf die vollen Kisten. «Nicht mal zehn Euro eingenommen bisher. Da ist die Standgebühr ja schon teurer. Hab ehrlich gesagt keine Lust mehr.»
Willy-Martin will Silke nicht noch zusätzlich mit seinem Renate-Intermezzo belasten und behält die Sache für sich.
«Ich zahle die Standgebühr. Musst dir doch jetzt nicht hier die Beine in den Bauch stehen. Wir finden schon eine andere Möglichkeit, an Geld zu kommen. Lass uns einfach gehen.»
Silke nickt.
Als es klingelt, schreckt Willy-Martin vom Sofa auf. Gerade hat er eine Tüte Pombären geöffnet, Geschmacksrichtung Ketchup, er trägt schon seine Haushose, die im Gegensatz zu seinen Straßenhosen gut sitzt, Gummizug sei Dank. Eigentlich ist Willy-Martin die Person Mensch, die sich totstellt, wenn es klingelt, obwohl man keinen Besuch erwartet. Leider aber sind die Lichter in seiner Wohnung hell erleuchtet und der Fernseher so laut, dass man ihn mit Sicherheit im Hausflur hören kann. Also streift er sich die Pombär-Finger an seiner Haushose ab und schleicht zur Tür, durch den Türspion erspäht er eine große goldene Brille: Renate.
Eine ganze Weile sitzen die beiden schweigend am Küchentisch. Willy-Martin hat Nescafé gekocht, beide rühren in ihren Tassen, man kann die Wanduhr ticken hören. Renate seufzt ausladend. Willy-Martin fragt dieses Mal nicht, was ist. Er schlürft mit gespitzten Lippen winzige Schlucke des heißen Nescafés und wartet insgeheim auf eine Entschuldigung wegen der Sache auf dem Flohmarkt. Renate holt erneut zum Seufzer aus, jetzt legt sie aber noch einen obendrauf, stellt ihre Tasse auf den Küchentisch und legt den Kopf in beide Hände. «Haaaaaaaaaaach.»
Nun wird es Willy-Martin doch zu bunt. «Was ist denn los?», fragt er, und für Renate ist damit der Startschuss gefallen, sie plappert drauflos wie ein Wasserfall.
«Das mit dem Flohmarkt neulich, ich hatte da Ausschlag im Gesicht, das ist dann nicht schön, wenn die Leute einen sehen, und in Hohenwutzen, das war ja wohl mein gutes Recht. Ich meine, mich hat das hart getroffen, dass ich da bei Tropical Islands rausgeworfen wurde, ich brauchte Zeit zum Reflektieren, Zeit für mich, und eine neue Frisur. Es ist wichtig, dass man auch mal was für sich tut, und du fandst es doch auch gut auf dem Polenmarkt. Du hast da selbst tonnenweise E-Liquid gekauft, du müsstest eigentlich am besten wissen, wie schnell man da die Zeit vergisst. Das kann doch mal passieren, ich bin auch nur ein Mensch, und ihr solltet nicht vergessen, dass ich eine schwere Kindheit hatte. Außerdem bin ich Britin, wir haben einfach ein anderes Temperament, das wisst ihr doch!»
Willy-Martin hatte es schon längst wieder vergessen, aber jetzt erinnert er sich wieder. Dass sie Britin sei, ist Renates Totschlagargument in brenzligen Situationen jeglicher Art. Sie wurde in den siebziger Jahren in Gibraltar geboren; ihre Eltern haben dort Urlaub gemacht, es sollte der letzte Urlaub zu zweit sein, bevor die kleine Renate sechs Wochen später das Familienglück perfekt machen würde. Bei der Bootsanfahrt zur Besichtigung der Gorham-Höhle gab es dann unerwartet starken Wellengang. Renates Mutter, schon immer seekrank, pustete sich panisch eine Rettungsweste auf, in der Anstrengung des Pustens platzte plötzlich ihre Fruchtblase. Das Boot erreichte gerade noch die Höhle, und kaum waren sie an Land, wurde binnen Minuten Renate geboren, direkt neben einer historischen Grabstätte der Neandertaler. Dass sie das, sechs Wochen vor dem eigentlichen Geburtstermin und ohne ärztliche Direktversorgung, damals überlebte, schreibt Renate bis heute ihrer starken, extrovertierten Persönlichkeit und ihrer Pferdelunge zu. Durch die Geburt auf britischem Überseegebiet bekam sie einen britischen Pass – Renate spricht kein Englisch und war auch noch nie in Großbritannien, trotzdem lässt sie in Notfällen gerne fallen, dass sie Britin ist. Silke hat sogar schon mitbekommen, wie Renate mal einem Fahrscheinkontrolleur weismachen wollte, dass sie quasi Afrikanerin sei und ursprünglich «aus der Nähe von Marokko» stamme.
«Soll das eine Entschuldigung sein?», fragt Willy-Martin unbeeindruckt.
Renate wird kleinlaut. «Ja. Mein Gott, es tut mir leid.»
«Das klingt schon besser», erwidert Willy-Martin.
«Ich will euch doch nicht verlieren. Du und die Silke, ihr seid meine einzigen Freunde. Und jetzt, wo Mandarine Schatzi nicht mehr da ist … Ich brauch euch doch.» Tränen laufen ihr über die Wangen.
Willy-Martin sieht Renate ernst an. «Wer uns gerade noch viel mehr braucht, ist Silke. Wir müssen ihr helfen, das Geld für Zippo zu beschaffen. Also wenn du die Sache mit Silke wieder geradebiegen willst, überleg dir, was wir machen können.»
Mittlerweile schaut Silke täglich nach Frau Goebel. Sie kümmert sich unaufgefordert um ihren Haushalt, kocht Essen, das sie nicht anrührt, und hat ein offenes Ohr, wenn es Probleme gibt.
Heute aber ist es anders. Silke sitzt geistesabwesend neben der alten Dame am Wohnzimmertisch. Im Fernsehen läuft Sturm der Liebe, aber sie starrt auf ihre qualmende Tasse Schwarztee, an kalten Tagen hat sie mit Zippo auch oft Schwarztee getrunken.
Frau Goebel nuckelt an einem Stück Zartbitterschokolade und schimpft über die Baustelle vor dem Küchenfenster, Silke hört gar nicht zu. Irgendwann knallt Silke eine Fernbedienung an die Schulter.
«Aua!», erschrickt sie.
Frau Goebel sieht wütend aus. «Jetzt hab ich dich fünfmal gefragt und keine Antwort bekommen. Wo bist du denn mit deinen Gedanken?»
«Entschuldigung. Was haben Sie denn gefragt?»
«Ich wollte wissen, was los ist.»
«Alles gut», antwortet Silke kurz und nimmt schnell einen großen Schluck Tee.
«So siehst du aber nicht aus», bohrt Frau Goebel weiter.
«Nein, nein, alles wie immer.» Während sie das sagt, füllen sich ihre Augen mit Tränen, ihr Kopf beginnt zu vibrieren. Sie fühlt sich wie damals, in der siebten Klasse, als ihr im Religionsunterricht speiübel wurde von einem viel zu großen Apfelsafttütchen, das sie in der Fünf-Minuten-Pause zu schnell durch den Strohhalm gezogen hatte. Sie spürt, da kommt was auf sie zu, und zwar unausweichlich. Damals im Religionsunterricht musste sie sich schlagartig übergeben. Mit hartem Strahl hatte sich der Apfelsaft zusammen mit den Zimties vom Frühstück in ihre Schultasche ergossen, das stank ganz fürchterlich, und alle starrten sie an, gefühlt minutenlang. Unter all diesen entgeisterten Blicken musste Silke sich dann mit dem Ärmel ihres Strickpullovers den Rest Erbrochenes aus dem Mundwinkel wischen.
Ähnlich wie damals brodelt es auch jetzt aus Silke heraus, nur bleibt der Schwarztee zum Glück im Magen. Sie erzählt Frau Goebel, dass sie Zippo nicht finden kann, dass Roland neulich in der Bahnhofsmission aufgetaucht ist, wer Roland überhaupt ist und von Renates Unfähigkeit, sich zu entschuldigen. Silke holt immer weiter aus, und erzählt schließlich auch von der Sache mit der Notbremse. Als sie fertig ist, ist es draußen dunkel. Frau Goebel hat nicht ein Wort gesagt, die ganze Zeit über hat sie zugehört und ab und zu mit ihrem kleinen, faltigen Kopf genickt.
«Ich weiß, was du jetzt brauchst!», ruft sie plötzlich in die bedrückende Stille und versucht, sich aus eigener Kraft aus dem Ohrensessel zu erheben. Silke will ihr helfen, aber Frau Goebel haut ihr auf die Finger.
«Flossen weg, das schaff ich grade noch», schimpft sie und hat dabei sichtlich Probleme hochzukommen. Silke setzt sich widerwillig wieder und beobachtet Frau Goebel dabei, wie sie sich in Zeitlupe zum Kühlschrank bewegt. Zurück kommt sie nach einer halben Ewigkeit, in den Händen zwei Tassen Kakao mit Sahne.
«Schoko Peng!», grinst sie verheißungsvoll und ignoriert, dass mindestens ein Drittel des Getränks schon längst auf den Teppich geschwappt ist. Schoko Peng! ist Kakao mit Schuss, einem sehr großen Schuss, wie Silke schon beim ersten Schluck merkt. Welche Spirituose Frau Goebel in den Kakao gemischt hat, will sie nicht verraten; dass es überhaupt nicht zu Kakao passt, steht für Silke allerdings schnell fest. Jeder Schluck brennt im Rachen, verkrampft ihr Gesicht und verwandelt ihre Augen in winzige Schlitze. Etwa nach der halben Tasse stellt sich dann aber eine wohlige Entspannung bei ihr ein. Sie schwebt auf einer Wolke der Sorglosigkeit, blickt von oben auf ihre Probleme, sie sind noch da, aber so weit weg, dass sie zu unwichtigen kleinen Punkten werden, es geht höher und höher, Silke hat ihren Ballast abgeworfen und wird immer leichter.
«Na? Jetzt ist besser, oder?», grinst Frau Goebel.
Silke nickt mit einem zufriedenen Lächeln und gönnt sich noch einen großen Schluck Schoko Peng!.
«Kindchen, jetzt hör mal zu, was die alte Frau dir zu sagen hat. Wir hatten früher bei uns im Laden mal eine Mitarbeiterin, die Angela, die hatte zu Hause einen Kabelbrand. Alles abgefackelt, das ganze Haus, nix mehr übrig geblieben, das war ’ne schlimme Sache.» Beim Erzählen wackelt Frau Goebel die ganze Zeit leicht mit dem Kopf, oder besser gesagt, der Kopf wackelt mit Frau Goebel, denn die Kontrolle über Muskeln und Nervenbahnen kommt ihr jeden Tag ein Stück weit mehr abhanden. «Jedenfalls haben der Rudi und ich überlegt, wie wir dem armen Tröpkens helfen können, die hatte ja kein Dach mehr überm Kopf und nix. Ich hab dann vorgeschlagen, dass wir einen Spendenlauf organisieren, um Geld zu sammeln, damit die Angela sich wenigstens das Nötigste wieder kaufen kann, Waschmaschine, Sofa, solche Sachen. Da laufen dann die Leutchens ihre Runde, und jeder hat einen Sponsor, der pro Runde soundsoviel spendet. Da kannste dann die ganzen Firmen hierfür anfragen, für die ist das ja auch Werbung, verstehste? Wir haben damals um die 10000 Mark zusammenbekommen, da war richtig was los, die halbe Stadt ist mitgelaufen.»
Silke gefällt die Idee. Ein Spendenlauf für Zippo. Den Borkener Sportplatz könnte man bestimmt dafür anfragen. Die Leute von der Bahnhofsmission würden auch sicher mitmachen, Thomas vom Lotto Totto und Selma vom Informationsservice auch. Gleich Morgen wird Silke Türklinken putzen und Menschen für den Spendenlauf mobilisieren. Wer dafür allerdings wieder auftauchen müsste, ist Zippo.
«So», unterbricht Frau Goebel ihre Gedanken, «jetzt gibt’s noch eine Tasse Schoko Peng! für die Bettschwere.»
Dass Schoko Peng! nicht nur glücklich macht, sondern auch einen ordentlichen Kater im Schlepptau hat, spürt Silke am nächsten Morgen auf der Arbeit. Sie versucht, sich ihre Kräfte einzuteilen, die Organisation des Spendenlaufs fordert ihre ganze Aufmerksamkeit, Zeit und Energie. Hinter dem Tresen der Bahnhofsmission beginnt sie, sich einen Plan zu machen. Sie hat bereits Anmeldebögen mit der Hand vorgeschrieben und erste Kopien angefertigt. Jetzt geht sie die Gelben Seiten nach allen Ladengeschäften von Borken durch, notiert sich die Telefonnummern und zeichnet eine Spalte für «Kommt» oder «Kommt nicht». Sie ist in die Arbeit vertieft, da steht plötzlich Roland vor ihr. Sie erschrickt, hat ihn gar nicht kommen hören. Er sieht noch erschöpfter aus als beim letzten Mal.
«Hallo, Silke», sagt er.
«Was machst du hier?», fragt Silke.
«Wollte nur ein bisschen plaudern, hatte gerade ein paar Probleme mit dem Laden, aber hab alles wieder im Griff», erzählt Roland, als wäre nichts gewesen und er beim letzten Mal nicht türenknallend verschwunden.
Silke malt eine weitere Spalte mit der Überschrift «Kommentare».
«Ja, keine Ahnung was da los ist. Ahmed war mit einem Mal stinksauer, weil ich meinen Laden ja nur in zwei Kilometer Entfernung zu seinem Geschäft eröffnet hatte. Die verstehen alle nicht das Prinzip, Konkurrenz belebt doch das Geschäft, aber anscheinend wollen die das nicht verstehen.» Silke schaut nicht auf, Roland hat sich an den Tresen gesetzt und redet sich weiter seinen Kummer von der Seele. Ahmed verbreitete in der Branche das Gerücht, dass Roland seinen Kunden persönlich davon abrate, die Läden von ihm, Drücke-Berger und Pasikowski zu besuchen, weil die Ware aus dem Ausland stamme, Tschechien und Ungarn, und in den meisten Fällen wären es billige Plagiate. Roland soll das sogar durch die Lautsprecher in seinem Laden gesagt haben, jeden Tag dreimal. Das stimmt natürlich nicht, so habe er das nie gesagt. Drücke-Berger und Pasikowski aber glaubten ihrem langjährigen Geschäftspartner Ahmed und gaben ihrerseits an die wichtigsten Großhändler weiter, dass Roland ein Wolf im Schafspelz und in Zukunft nicht mehr zu beliefern sei. Roland kam nicht mehr an Ware, der Umsatz brach ein, sein Laden stand vor dem Aus. Stand er vor dem Aus? Ja. War er gescheitert? NEIN! Denn nur wer aufgibt, scheitert.
Roland wollte nicht aufgeben, das Geld, das er noch hatte, setzte er strategisch gut ein. Er investierte in ein Powerseller-Seminar mit Jürgen Höller, inklusive zwei Tagen Hollywood-Catering in Passau. Was er da gelernt hat, ist mit Geld nicht aufzuwiegen, «Never give up!», schrie der Motivationsmogul Höller durch den mit hellbraunem Teppichboden ausgelegten Mehrzweckkonferenzraum des IBIS-Hotels. Die Menge war aufgeladen, sie wollten es noch mal wissen, es herrschte euphorische Stimmung, alle klatschten, es wurde gesprungen, und Hände wurden in die Luft geworfen, als stünde der wahrhaftige Messias vor ihnen. Roland hatte Gänsehaut. Als am Ende des zweitägigen Workshops dann auch noch Arnold Schwarzenegger zu einem Meet and Greet vorbeikam, war das Adrenalin auf dem Siedepunkt.
Roland fuhr am nächsten Tag mit einer unbändigen Motivation und einer neuen Geschäftsidee nach Hause: ein Restposten-Onlineshop. Er würde wieder durchstarten, mit neuem Namen, neuem Konzept. Er würde seinen Kumpel Uwe fragen, ob er mit einsteigen will, Uwe ist Versicherungsmakler und unzufrieden mit seiner beruflichen Situation. Uwe würde dann für den Handel verantwortlich sein, Roland selbst konnte das unter seinem Namen nicht mehr machen. Er würde sich um die Logistik, den Internetauftritt und die Gewinnmaximierung kümmern. Das Lager und Packzentrum hatte er schon, und zwar auf 4000 Quadratmetern! Es war eine geniale Idee, und es würde klappen. Roland spürte das Leben durch seine Adern fließen, das bittersüße Risiko, das es erst lebenswert macht.
«Der Onlineshop läuft noch an», erzählt er Silke. «Die ersten zwei, drei Jahre sind die schwierigsten. Aber dann kommt der Peak!»
Silke will das alles nicht hören, aber sie denkt an Frau Goebels Rat und wittert ihre Chance: «Wenn der schneller anlaufen soll, brauchst du gute Werbung. Ich organisiere einen Spendenlauf, in drei Wochen, hier am Borkener Sportplatz. Ein Freund, der hier öfter vorbeikommt, hat Krebs. Mit den Spenden soll seine Behandlung bezahlt werden.»
«Tolle Idee! Silke, ich wusste schon IMMER, dass mehr in dir steckt, du bist ein Freshbrain, du hast Potenzial! Ein echter Querdenker!»
«Denkerin!» Silke knallt ihm den ersten Anmeldebogen vor die Nase. «Kannst die Anmeldung ausfüllen, hier unten den Spendenbetrag und wie viele Leute du sponsern willst. Unterschrieben an mich zurück.» Dann zieht sie ihre Jacke über und geht nach draußen, an den Bahnsteig. Endlich allein, in Sicherheit, Raum zum Atmen, Luft. Aber Roland ist Silke schon gefolgt, er steht direkt vor ihr, unangenehm nah, er riecht nach Kaffee und Weizenbier. Mit dem unterschriebenen Spendenlaufformular wedelt er vor ihrer Nase rum.
«Count me in!», schnalzt er.
Silke macht einen Schritt zurück und nimmt den Zettel entgegen.
«Danke», sagt sie, wendet sich mit verschränkten Armen ab und will wieder reingehen. Roland fasst sie am Arm. «Silke. Es tut mir leid, was war. Ich hab damals überreagiert. Aber das ist doch jetzt schon so lang her, ich hab mich verändert! Ich bin nicht mehr der Alte!»
«Lass mich los», sagt Silke. Roland lässt nicht los.
«Schau mich an.»
Silke schaut zu Boden.
«Ist das noch der Roland, den du kennst? Der alte, mufflige, unausgeglichene Roland? Ich bin das nicht mehr, Silke. Ich bin ein Free Spirit! Und ich verzeihe dir!»
Silke schlägt seinen Arm von ihrer Schulter. Sie will hier keine Szene machen, mitten am Bahnsteig, direkt vor ihrem Arbeitsplatz. «Bitte geh jetzt», sagt sie und läuft zurück in die Mission. Gott sei Dank ist ihre Kollegin Naira gerade gekommen, denn Roland folgt ihr schon wieder. Naira sieht auf und begreift sofort.
«Wir schließen für heute», sagt sie zu Roland und reicht ihm seine Jacke.
«Das hier ist eine Bahnhofsmission», empört er sich. «Die kann nicht einfach schließen.»
«Für Sie schon», erwidert Naira und geleitet Roland zur Tür.
Roland windet sich, sieht nicht ein, dem Befehl Folge zu leisten, diskutiert lauthals und besteht darauf, den Geschäftsführer zu sprechen.
Nein, das ist kein neuer Roland, denkt Silke. Der alte Roland hat nur einen neuen Mantel an.
Wochenlang rennt Silke Unterschriften hinterher, erklärt potenziellen Teilnehmern den Sinn und Zweck des Events, akquiriert Firmen aus Borken und Umgebung. Ihr Telefon steht kaum noch still, manchmal vergisst sie in all der Hektik, dass sie zwischendurch auch essen und trinken muss.
Willy-Martin kann kaum mit ansehen, wie sehr sich Silke stresst, zumal Zippo immer noch nicht aufgetaucht ist und die Sorge wächst, dass er wirklich abgehauen ist. Mutter Petra hat angeboten, am Abend vor dem großen Lauf für Silke ihren Flattermann zu kochen, und weil Willy-Martin die Idee gut findet, hat er Silke tatsächlich eingeladen.
Er holt sie am Bahnhof ab, und schon beim Einsteigen in sein Auto klingelt Silkes Telefon. Ihre tiefen dunklen Augenringe lassen erahnen, dass einige schlaflose Nächte hinter ihr liegen. Sie kramt Formulare aus ihrem Ordner, ein Kuli steckt ihr im Mundwinkel, zwischen Ohr und Schulter hat sie das Telefon geklemmt, Bestattungen-Schulte, schönen guten Tag, schade, trotzdem Danke für Ihr Vertrauen. Wieder klingelt es, Gemüse-Yilmaz, schön, natürlich können Sie auf dem Sportplatz Ihre hausgemachten Grünkohl-Smoothies verkaufen, das ist gar kein Problem, wir freuen uns, bis Morgen!
Willy-Martin nickt anerkennend. Es springt nichts raus für Silke, kein Cent, nicht mal Ruhm und Ehre – all die Arbeit nur, um jemand anderem zu helfen. Während sie die dunkle, menschenleere Landstraße Richtung Mutter Petra entlangfahren und Silke mit der Werbetechnikerin telefoniert, die morgen früh ein großes Banner liefern soll, füllen sich Willy-Martins Augen heimlich mit Tränen. Silke, die Welt hat dich nicht verdient!
Das Empfangskomitee aus Hunden steht hinter der Haustür. Nervös jaulen und bellen die kleinen Tölen und kratzen am goldenen Briefschlitz, als Willy-Martin auf die Klingel drückt. Er wirkt angespannt, tritt sicherheitshalber einen Meter zurück, Silke steht beinahe schützend vor ihm. Man hört Mutter Petra mit den Hunden sprechen, «Aus, Lucky!», «Jacky NEIN!», «Du sollst nicht beißen, Diego!», «Herrschaftszeiten, lasst ihr das Frauchen jetzt mal durch?», «Peppo, weg von den Schuhen!» Ganze Minuten vergehen, Mutter Petra ist Luftlinie höchstens einen Meter entfernt, aber schafft es wegen der Hunde mal wieder nicht, problemlos die Tür zu öffnen. Nach langem Brimborium hört man den Schlüssel dann endlich seine Runden im Schloss drehen. Als die Tür sich öffnet, springen Silke und Willy-Martin augenblicklich die vielen Hunde entgegen. Silke streichelt ihre Köpfe und lässt die nassen Schnauzen an ihrer Hand riechen, um bei ihnen Vertrauen zu wecken. Willy-Martin versteckt sich hinter ihr.
«Schön, schön, schön!», pfeift Mutter Petra. «Kommt rein, kommt rein, kommt rein!»
Das Haus wirkt, als wäre es für die Hunde gebaut; kalte Tonfliesen überall, kratzresistent, leicht abwaschbar. Willy-Martin kennt diese Fliesen ganz genau, er lag als Kind etliche Male auf ihnen, immer wenn Herr Tobler kam. Herr Tobler war der Bofrost-Mann, Mutter Petra hatte einmal bei Bofrost bestellt, weil man das neuerdings in der Nachbarschaft so tat, qualitativ gutes Tiefkühlessen, das sprach sich schnell rum. Kaisergemüse, Brokkoli-Nudelauflauf, Eis am Stiel: Bei Bofrost wusste man, was man bekommt. Nach nur einer Bestellung fiel Mutter Petra allerdings auf, dass die Preise bei Bofrost weit über ihrem Budget lagen, eine Tiefkühlpizza für 10 Mark, die Schmidts konnten sich das vielleicht leisten, aber Mutter Petra war alleinerziehend und hatte nur eine halbe Stelle bei der Post, Bofrost war da einfach nicht drin.
Im Dorf gab es bald kein anderes Thema mehr. «Habt ihr schon die neue Lasagne probiert?», «Was hältst du von dem Grünkohl, Birgit? Kann der mit deinem mithalten?». Mutter Petra wollte sich nicht die Blöße geben, bewertete Fischstäbchen und empfahl Tiramisu, das sie nie gegessen hatte. Herr Tobler, der Bofrost-Mann, war nicht nur sehr freundlich, sondern auch ein fleißiger Verkäufer. Er hätte von Petra wissen wollen, warum nach einer einzigen Bestellung schon Schluss ist, sie hätte mit ihm diskutieren und sich rechtfertigen müssen und am Ende hätte er es dann an der nächsten Haustür weitererzählt, um sie unter Druck zu setzen. Birgit und Sabine hätten hinter ihrem Rücken über Petras Aldi-Spinat gelästert, fortan hieß es also: totstellen.
«Herr Tobler kommt! Herr Tobler kommt!», schrie Mutter Petra durch das Haus, wenn sie den großen weißen Kastenwagen in die Einfahrt rollen sah. Der Auftrag war klar: Willy-Martin warf sich sofort auf die eiskalten Fliesen, die Arme und Beine flach ausgestreckt, so regungslos wie eben möglich. Auch Mutter Petra schmiss sich auf den Boden, allerdings machten ihr starkes Übergewicht und ein schmerzendes Hüftgelenk ihr schon damals schwer zu schaffen. Es knirschte und knackte in ihren Gliedern, und mit einem Lauten RUMMS lag sie dann bäuchlings auf dem Boden wie ein dicker Maikäfer und musste sich ein schmerzverzerrtes Stöhnen verkneifen. Die Hunde rannten sofort zur Tür, Herr Tobler klingelte und klingelte, er lief einmal halb ums Haus, schaute durch die Fenster und klopfte, um sich zu vergewissern, dass auch wirklich niemand zu Hause ist. Willy-Martin und Mutter Petra schlug das Herz bis zum Hals, die paar Minuten fühlten sich an wie eine Ewigkeit, die Angst, entdeckt zu werden, bäuchlings auf dem Boden liegend, trieb die beiden in eine schockartige Regungslosigkeit. Wenn Herr Tobler und sein Kastenwagen wieder verschwunden waren, musste Willy-Martin seiner Mutter beim Aufstehen helfen. Er zog an einer ihrer Hände, bis sein Kopf puterrot wurde, er lehnte sich mit vollem Gewicht zurück und zog an ihr wie an einem schweren Tau. Irgendwann war sie dann oben und streichelte dem Jungen dankend die Schulter, diese liebevolle Geste war für Willy-Martin das Größte.
Nach ein paar Wochen entwickelte er beim Totstellen einen wahnsinnigen Ehrgeiz, Mutter Petra hatte «Herr Tobler kommt» noch nicht zu Ende geschrien, da lag er schon völlig lautlos auf dem Boden, flach wie ein Blatt Papier, so nah an der Wand wie möglich. Es war seine persönliche Militärübung, er fing an die Luft anzuhalten, jedes Mal ein bisschen länger. Er fühlte sich wie ein Soldat im Schützengraben, es war das Vietnam des kleinen Mannes, der Feind hieß Tobler und trug eine blaue Fleece-Weste, er kämpfte für Bofrost, Willy-Martin für Mutter Petra. Manchmal, wenn er übermütig wurde, probte er ein Kriechmanöver: Sobald Herr Tobler klingelte, kroch Willy-Martin lautlos quer durch den Raum bis hinter das große Sofa, da rollte er sich mit einer dramatischen Bewegung ab und schlupfte unter den Hochflorteppich. Mutter Petra wurde dann immer sauer, aber konnte auch nichts sagen, da sie am anderen Ende des Raumes lag und Herr Tobler sie sonst gehört hätte. Viele Male lagen Willy-Martin und seine Mutter so auf den Fliesen, wenn er daran zurückdenkt, ist es beinahe eine seiner schönsten Kindheitserinnerungen; eine, in der die Hunde keine Rolle spielen. Es war ihr gemeinsames Erlebnis, Mutter und Sohn und die kalten Fliesen, das würde ihm keiner mehr nehmen.
Der Flur steht voll mit sechs großzügigen Hundekörben, überall liegt quietschendes, feuchtes Spielzeug, es riecht nach Wiese und Trockenfutter. Die riesige Sofalandschaft im Wohnzimmer ist mit Wolldecken bedeckt. Darauf kletten ganze Büschel Fell, überall Haare, man möchte sich nirgendwo anlehnen, geschweige denn setzen.
«Schön hast es hier!», sagt Silke zu Mutter Petra und schiebt mit dem Fuß vorsichtig einen Hund zur Seite.
«Danke, danke! Setzt euch, setzt euch!» Mutter Petra hat aufgetischt, und Willy-Martin sieht, dass wieder kein Teller zum anderen passt, die Gläser sind teilweise rissig, das Besteck stumpf und voller Wasserflecken. Aber Silke lächelt Willy-Martin zufrieden zu. Es ist ein seltsames Gefühl für ihn, Silke in dieser Umgebung sitzen zu sehen, in diesem rustikalen Hundehaus, mit dem er so viele Erinnerungen verknüpft. An dem gräulichen Massivholztisch, in den er schon als Kind mit der Gabel Löcher gestanzt hat, auf dem Stuhl, mit dem er als Achtjähriger mal vor lauter Kippeln rückwärts umgefallen war, mit dem Kopf auf die Fliesen, er weiß noch, wie das Blut an seinen Fingern roch, als er sich schreiend an den Hinterkopf fasste. Mutter Petra konnte ihn damals nicht selbst in die Notaufnahme fahren, wo die Platzwunde genäht werden sollte, das weiß er auch noch. Sie hatte ihr Auto ein paar Tage zuvor verkauft, um den Bau eines Hundepools im Tierheim zu finanzieren, die vielen Hunde, die Mutter Petra noch nicht adoptiert hatte, hatten schwer mit der Hitze des Rekordsommers zu kämpfen und brauchten dringend eine Erfrischungsmöglichkeit.
Mutter Petra rief also notgedrungen ein Taxi und musste erst noch minutenlang mit dem Fahrer diskutieren, der sich weigerte, den blutenden Willy-Martin auf seinen Polstern sitzen zu lassen. Am Ende wurden sie sich doch einig, und Willy-Martin saß auf mehreren ausgebreiteten Mülltüten; die Fahrt zum Krankenhaus wird er nie vergessen. Blut und Tränen liefen zu gleichen Teilen seinen Kopf herab, er hatte starke Schmerzen, die Wunde brannte, er schwitzte, und ihm war übel. Mutter Petra saß hinten bei ihm, unwirsch streichelte sie sein Knie, was ihn noch nervöser machte. Im Radio lief wahnsinnig laut Reklame, ein Möbelgeschäft an der Autobahn, Müsli, Getränke-Schneider. Der Taxifahrer fuhr gemütlich, eine Ewigkeit waren sie unterwegs auf der Landstraße quer durch das Borkener Umland.
Willy-Martin war sich sicher, dass er jetzt gleich sterben würde, verbluten in einem fremden Taxi, die grünen Mülltüten auf seinem Sitz würden das Letzte sein, was er vor seinem Ableben sehen würde. Als der Fahrer sich dann auch noch bei geschlossenem Fenster eine Zigarette ansteckte und der Qualm die Rückbank erreichte, wurde dem Jungen so schwindelig, dass er seitlich auf Mutter Petra kippte. Das Nächste, woran er sich erinnert, sind zwei riesige Ernie- und Bert-Puppen im Aufwachzimmer des St.-Marien-Hospitals. Die Wunde an seinem Hinterkopf wurde mit vier Stichen genäht, er war erleichtert, dass er noch lebte, und stolz auf die Narbe, die da kommen würde. Wegen seines Schwindels musste er noch eine Nacht zur Beobachtung im Krankenhaus bleiben, zurück fuhren die beiden am nächsten Tag mit dem Bus.
Mutter Petra versucht den Flattermann aus dem Ofen zu bugsieren. Die Hunde sind aufgeregt, wegen des Besuchs, aber vor allem, weil es im ganzen Haus nach saftigem Fleisch und zu viel Cognac duftet.
«Kusch! Kusch!» Mutter Petra wirbelt herum, in den Händen hält sie einen riesigen Bräter und stolpert zwischen den Vierbeinern hindurch. Als der Flattermann auf dem Esstisch steht, seufzt sie erleichtert. «Mann, Mann, Mann. Die kleinen Monsterchen rauben mir den letzten Nerv. So, lasst es euch schmecken!»
Die Portionen sind groß, unter dem vielen Fleisch und dem Meer aus Soße kann man die Teller nur noch erahnen. Silke hat heute kaum etwas gegessen, wie so oft in den letzten Tagen und Wochen, sie haut richtig rein. Willy-Martin muss schon beim ersten Bissen husten, der Alkoholgehalt der Sauce scheint seit dem letzten Flattermann-Essen noch mal erhöht worden zu sein. Als Mutter Petra den Hunden etwas Fleisch in die Näpfe füllt, flüstert Willy-Martin Silke zu: «Du musst das nicht alles essen! Das hat richtig Alkohol drinnen, da muss man aufpassen. Wir können die Reste einpacken, kein Problem.»
«Passt schon», erwidert Silke laut. «Das ist echt superlecker. Weiß nicht, wann ich das letzte Mal so gut gegessen habe.»
Mutter Petra strahlt. «Ach, ach. Das freut mich aber, Silke. Hier, ich mach dir noch ’nen Schlag drauf!»
Silke bedankt sich herzlich und futtert sich durch die zweite Portion. Willy-Martin stochert in seinem Cognac-gemüse. «Wir können heut nicht so lange bleiben», merkt er an. «Morgen ist ja der große Spendenlauf, den Silke organisiert.»
«Ja, kein Problem. Spendenlauf kenn ich übrigens noch von früher. Lustige Geschichte! Als Willy-Martins Grundschule die Turnhalle wegen Asbestbefalls abreißen und wieder neu aufbauen musste, wurde auch ein Spendenlauf organisiert. Ich hab damals Streuselkuchen gebacken, das weiß ich noch. Der Willy ist mitgelaufen. Hat aber nur eine Runde geschafft, der hatte immer so schnell Seitenstiche.»
Willy-Martin schießt das Blut in die Wangen. «Das stimmt doch gar nicht! Ich bin nur langsam gelaufen, weil ich auf den Heinz gewartet habe!»
«Wenn du das sagst», Mutter Petra verzieht keine Miene und schöpft sich die nächste Kelle Flattermann auf den Teller, dann bietet sie Silke die dritte Portion an.
Willy-Martin ist alarmiert, er schaut Silke flehend an. «Sicher, dass du noch mehr willst? Du musst morgen doch früh raus, und davon kriegste echt ’nen Schädel.»
Silke ist schon von den zwei Portionen gut angeheitert und winkt ab. «Auf eine Portion mehr oder weniger kommt’s jetzt auch nicht mehr an.»
«So ist es, so ist es!», raunzt Mutter Petra mit halbvollem Mund. Und mit jeder Gabel Flattermann werden die zwei Frauen redseliger; es wird laut gelacht, die Gläser klirren, Besteck quietscht auf den ramponierten Tellern, die Hunde liegen angetrunken in ihren Körben. Willy-Martin ist jetzt der einzig Nüchterne im Haus, und das gefällt ihm gar nicht. Es ist ihm zu laut, zu heiß, der Dampf der Flattermann-Soße benebelt seine Nebenhöhlen. Trotzig trinkt er ein Glas Malzbier nach dem anderen, wohl wissend, dass er von Malzbier in der Regel ganz zappelig wird. Willy-Martin möchte nicht nüchtern danebensitzen, wenn die anderen sich amüsieren und über seine Seitenstiche lachen. Er will auch sein Bewusstsein ausdehnen und übermütig werden und laut, er will dazugehören, zu Silke und zu Mutter Petra. Jetzt, wo die Hunde einmal Ruhe geben, will er nicht der Sonderling sein, der am Tisch sitzt und schweigt und das Spiel verdirbt und den Flattermann verschmäht, aber er muss später noch fahren, das weiß er auch. Also kippt er sich das Malzbier nur so in den Rachen, es soll schneller gehen, der Malzzucker soll ihm durch die Venen schießen und den Kreislauf auf Hochtouren peitschen. Er will jetzt auf der Stelle kopflos sein und zerstreut, er trinkt ein großes Glas des dunklen Gebräus in nur einem Zug und schmettert es angriffslustig auf den Tisch, dann rückt er mit seinem Stuhl näher an die anderen beiden, jetzt bloß nichts verpassen.
Mutter Petra lallt irgendwas von Peppos Hüft-OP, der kleine Jack Russell Terrier hatte es schon immer schwerer als andere im Leben. Als sie ihn 2008 bei sich aufnahm, hatte er eine ausgeprägte Zahnfehlstellung und starke Höhenangst. «Das hab ich ganz gut in den Griff bekommen mit der Zeit. Aber wie das so ist, kommt man von einer Scheiße in die nächste.»
Wenn Mutter Petra doch nur einmal so leidenschaftlich von Willy-Martin erzählen würde wie von ihren Kötern. Silkes Augen verschwinden immer mehr unter ihren Lidern, Nase und Wangen glühen um die Wette. Als sie einen Schluck Wasser trinken will, verfehlt das Glas ihre Lippen, und Wasser kippt auf ihre Schulter. Sie und Mutter Petra lachen um die Wette, und Willy-Martin stimmt aus Verlegenheit mit ein. So lustig war das jetzt auch nicht, denkt er und kippt sich knurrig noch mehr Malzbier nach. Silke pustet ihre Schulter an, um den Pullover zu trocknen, Mutter Petra muss noch mehr lachen, sie hält sich schon den runden Bauch, Tränen schießen ihr in die Augen. Dann klatscht sie amüsiert die Hände auf die Beine. «Silke, Silke, Silke. Du machst mich alle.» Auch Silke prustet nur noch, sie scheinen es unendlich lustig zu finden, Wasser auf der Schulter, was für ein launiger Zwischenfall.
Willy-Martin spürt langsam, wie die Kohlehydrate in seinem Körper Samba tanzen, er wird wacher und vital, fühlt sich, als könnte er Bäume ausreißen, er will jetzt auf der Stelle hundert Meter sprinten oder den Abwasch machen. «Die Silke, DAS wäre ’ne Frau für dich, Willy.» Mutter Petras Worte schneiden scharf durch den Lärm, und es wird ganz still. Silke schaut auf den Tisch. Willy-Martin ist wie versteinert. Von allen Dingen, die seine Mutter je gesagt hat, war das mit Abstand das unangenehmste, und das soll wirklich etwas heißen. Plötzlich fängt Silke an zu kichern, erst ganz leise im Kleinen, dann schüttelt sich ihr gesamter Oberkörper. Es dauert nicht lang, und Mutter Petra stimmt wieder mit ein, sie bäumen sich auf und gackern und brüllen, dass es Willy-Martin schwindelig wird, sie wackeln auf den quietschenden Holzstühlen und wischen sich mit den Ärmeln Tränen aus den Augenwinkeln. Silkes Lachen trifft Willy-Martin direkt ins Herz. Nervös öffnet er mit dem umgedrehten Dessertlöffel die nächste Flasche Malzbier. Um sich nichts anmerken zu lassen, zwingt er sich zu einem teilnehmenden Lächeln.
Silke haut ihm etwas ungestüm auf die Schulter. «Stell dir das mal vor. Wir beide als Paar.» Wieder lautes Gelächter.
Willy-Martin kann seine Enttäuschung jetzt nicht mehr verbergen. «Versteh ich jetzt nicht, was daran so lustig sein soll.»
Er steht auf und geht beleidigt mit seinem Teller in die Küche, um dem Ärger im Spülbecken Luft zu machen. Die Mischung aus trauriger Wut und einer Überdosis Malzbier treibt ihn beim Schrubben zur Höchstleistung; seine zur Faust geballte Hand scheuert den Spülschwamm mit einer enormen Kraft gegen den schweren Tonteller, aus dem Wasserhahn spritzt dabei eine laute Fontäne dampfend heißes Wasser. Es poltert und klirrt, das Wasser spritzt bis auf die Armaturen und den Kühlschrank, Willy-Martins Hand glüht, er ist so wütend, so sauer, er würde den Teller am liebsten auf den Boden schmettern. Das heiße Wasser macht ihm nichts aus, er spürt es gar nicht.
«Ich wollte nicht noch mal renovieren in nächster Zeit», ruft Mutter Petra rüber ins Küchengepolter.
Willy-Martin dreht den Wasserhahn zu und zieht seine purpurrote Hand aus dem Spülbecken. «Bin gleich fertig», zischt er, dann atmet er tief durch und nimmt einen großen Schluck aus der offenen Cognacflasche neben dem Herd. Jetzt ist doch eh alles egal.
Mutter Petra und Silke sind inzwischen total betrunken, nach der fünften Portion Flattermann gab es noch ein Glas Rosé und danach einen kleinen Portwein. Sie giggeln und erzählen sich Geschichten.
Der Cognac sitzt Willy-Martin in den Knochen. Silke muss in weniger als acht Stunden auf dem Sportplatz stehen, und er sieht sich in der Verantwortung, sie jetzt sofort nach Hause zu bringen.
«Mutti, es war sehr schön bei dir!», bricht es aus ihm heraus.
Mutter Petra protestiert. «Was, was, was? Ihr seid doch gerade erst gekommen!», lallt sie empört.
«Wir müssen morgen früh raus. Komm, Silke.»
Silke ist sehr betrunken. Sie taumelt um den Tisch und fällt Mutter Petra in die Arme. «Es war soooo schön, Petra, lass uns das doch wiederholen. Danke für das leckere Essen und den Wein!», hickst sie und muss schrecklich über ihren Schluckauf lachen.
Willy-Martin hakt sich bei ihr unter, um sie zum Auto zu ziehen, aber Silke wankt nach links und rechts und wackelt vor Lachen mit den Armen, weil ihr Schluckauf kein Ende nehmen will. Mit Mühe und Not kann er sie auf den Beifahrersitz hieven. Nachdem er sie angeschnallt hat, ist er nass geschwitzt. Als das Auto die Einfahrt verlässt, steht Mutter Petra mit einem Hund unter den Arm geklemmt im Türrahmen und winkt den beiden mit dem anderen Arm nach.
«Wo fahren wir denn jetzt hin?», fragt Silke.
«Nach Hause. Morgen ist der Spendenlauf, Silke», sagt Willy-Martin etwas streng.
«Nach Hause, so ein Quatsch! Lass uns noch was erleben, ich bin noch nicht müde!»
«Aber du musst doch morgen fit sein. Besser, wir fahren nach Hause und schlafen noch ein paar Stunden. Morgen ist so ein wichtiger Tag!»
«Schlafen kann ich, wenn ich tot bin. Du siehst doch bei Zippo, wie schnell es geht. ZACK BUMM liegste in der Kiste. Die paar Minuten, bitte, Willy, ich will noch nicht schlafen!» Sie schaut ihn mit großen Rehaugen an, Willy-Martin weiß sich nicht zu helfen. Er will Silke jetzt nicht enttäuschen, aber er ist auch müde und will vernünftig sein. Während er mit cognacgetränktem Kopf versucht, den Wagen auf der dunklen Landstraße sicher in der Spur zu halten, überlegt er angestrengt, was er Silke zur späten Stunde noch Abenteuerliches bieten kann. «Wir können zu den Tauben fahren! Ich kann dir den Schlag zeigen und den Schlossgarten, es gibt auch einen Esel und zwei Pfauen!»
Silke klatscht in die Hände. «Ich will auf einem Pfau reiten! Auf zum Pfau!»
Willy-Martin muss lachen. «Gucken wir dann mal.»
Der Taubenschlag liegt auf einem grasbewachsenen Hang oberhalb des Anwesens von dem Herrn Grafen. Die opulenten Granitsockel unter dem weiß verputzten Backsteinbau lassen erahnen, dass das Schlösschen vor langer Zeit mal wertvoll war, sich über den Häusern ringsherum erhoben hat, wie ein dicker, mahnender Zeigefinger. Silke staunt nicht schlecht. «Und da wohnt noch jemand drin?»
«Ja, der Herr Graf. Er kann das aber gar nicht mehr bezahlen. Ich glaube, der heizt nur noch zwei Zimmer, und die anderen stehen leer. Will gar nicht wissen, wie das da drin modert.» Als sie den Schotterweg zum Schlag hochfahren, steht der 7,5-Tonner in der Einfahrt.
«Ach, Scheiße», raunzt Willy-Martin. «Oleg hat die Tauben heute schon in den Laster gepackt. Die haben morgen früh Trainingsflug.»
Silke torkelt fasziniert am Wagen entlang. «Da sind jetzt Tauben drin?»
Mit einem routinierten Handgriff lässt Willy-Martin eine Rollverkleidung an der Außenseite hoch. Mehrere Tauben schrecken aus dem Schlaf auf und flattern in ihren Plexiglas-Kabinenboxen. Willy-Martin flüstert ihnen beruhigend zu. «Alles gut, meine Dicke. Alles gut, ich bin’s.» Es scheint zu funktionieren. Stolz stellt er Silke die Tauben vor, Sabbel und Evelyn, Juan und Cedric. Silke darf ihnen ein paar Körner in die Boxen werfen und freut sich. «Die sind ja süß. Gar nicht so eklig grau wie die vom Bahnhof.»
«Das ist ja auch was völlig anderes. Das hier sind edle Zuchttiere, die Besten der Besten!», referiert Willy-Martin. «Die haben schon einen ganzen Schrank voll Preise eingefahren.»
«Aber ist denen das nicht zu eng in diesen kleinen Boxen?», fragt Silke.
Willy-Martin gerät ins Straucheln. «Nein, Quatsch, also, die sind ja im Käfig geboren, die kennen es gar nicht anders. Manchmal fliegen sie Wettkämpfe, aber wenn sie dann wieder zu Hause sind, gehen sie von sich aus in den Käfig zurück. Denen gefällt das so!»
Silke schweigt. Ihre anfängliche Freude ist in eine ernste Traurigkeit übergegangen, ihre Augen starren glasig in die Käfige. «Dann lasst ihr sie nur raus, um Preise für euch zu gewinnen, und dann kommen sie wieder in diese kleinen Boxen?»
Willy-Martin versucht sie zu beschwichtigen. «Na ja, Silke. Das ist jetzt aber ziemlich hart formuliert. Die machen das schon freiwillig. Die könnten schließlich auch woanders hinfliegen.»
«Aber sie kennen es gar nicht anders, sie wissen gar nicht, was sie verpassen.»
«Na ja. Vielleicht. Kann sein.» Willy-Martin schaut betroffen auf den Boden, Silke rollen Tränen über die Wangen.
«Vielleicht wollen sie ja gar nicht zu dem Trainingsflug morgen. Vielleicht wollen sie lieber hierbleiben, zu Hause, oder hier auf den Bäumen sitzen. Du fragst sie ja nicht mal!» Sie ist inzwischen richtig laut, die Vögel schlagen ihre Flügel aufgeregt gegen die Käfigwände. Willy-Martin steht kurz vor einem Niesanfall und hält sich präventiv am Lastwagen fest.
«Hast du irgendwo noch Vogelscheiße?», fragt Silke unter Tränen.
«Was?»
«Die Scheiße, wo tust du die hin?»
Willy-Martin schaut Silke entgeistert an. «Warum fragst du das denn?»
«Wir sind doch Freunde, oder?»
«Ja klar!»
«Wie viel Vogelscheiße hast du noch?»
«Ich, ich hab die nie wirklich weggemacht, ich hab da Probleme mit, das anzufassen. Hab ich alles in so IKEA-Säcke gepackt und dann in die kleine Kammer. Anfangs dachte ich noch, das bringe ich bald weg, aber es wurde immer mehr, und na ja, das sind jetzt schon so drei schwere Säcke, aber ich wollte die bald mal wegbringen. Das weiß auch keiner, weil, ich hab den Schlüssel, wenn der Graf das erfährt …» Willy-Martin stammelt ganz aufgeregt und kratzt sich dabei hinter dem Ohr.
«Fährst du mich zu Roland und lädst mit mir die Scheiße in seinem Vorgarten ab?»
Willy-Martin reißt schockiert die Augen auf. «Silke, das ist doch nicht. Das geht nicht, nein. Lass uns nach Hause fahren, wir müssen morgen früh raus.»
«Willy-Martin, wir sind doch Freunde.» Sie hält ihn an beiden Schultern fest und schaut ihm fest in die Augen, auf einmal wirkt sie sehr nüchtern und klar. «Ich brauche jetzt deine Hilfe. Nur dieses eine Mal. Niemand wird es erfahren.» Willy-Martin muss schlucken, bei dem Versuch, Silkes Blick zu erwidern, läuft ihm der Schweiß von der Stirn.
«Okay, aber nur weil du es bist.»
Silke triumphiert. «Also, wo ist die Scheiße?»
«Pscht, nicht so laut! Das darf jetzt wirklich niemand mitbekommen, sonst bin ich geliefert!»
«Okay», flüstert Silke und wird dabei wieder von einem Schluckauf überrascht. «Hups.»
Willy-Martin schließt eine morsche Kammer im Geräteschuppen auf, und die beiden tragen unter höchster Anstrengung drei randvolle blaue IKEA-Säcke zum Auto.
«Das können wir nicht machen, das landet doch alles im Wagen dann in den Kurven. Nee, das geht echt nicht», zetert er.
«Dann nehmen wir halt den da!», antwortet Silke und zeigt auf den LKW.
«Niemals! Da sind die Tauben drin! Ich glaub, du spinnst. Nee, sorry, nicht mit mir.»
Fünf Minuten später sitzen Silke und Willy-Martin im LKW, zusammen mit 120 Rassetauben und der Vogelscheiße von insgesamt vier Jahren.
Roland lebt inzwischen im Haus seiner Eltern, gleich gegenüber von dem Mehrfamilienhaus, in dem Silke und er vor der Scheidung zusammen gewohnt haben. Seine Eltern haben ihm vor ihrem Ableben alles vermacht, und sein alkoholkranker Bruder Werner ging komplett leer aus. Das hat man halt davon, wenn man sich nur zu jedem zweiten Weihnachten mal bei den eigenen Eltern blicken lässt, hatte Roland gesagt. Alles hatte Roland allein abgestaubt, das Haus und das Grundstück und die zwei Autos, einen Golf UP und einen Passat. Er hatte vor Silke neulich regelrecht Werbung gemacht für sich und seinen neuen, großzügigen Lebensstil. Silke stellte sich das Leben im Haus der toten Eltern, mit all ihren Möbeln und den muffigen Erinnerungen und zwei Autos, die man ja gar nicht gleichzeitig fahren kann, ziemlich trostlos vor.
Das Haus liegt etwas versteckt zwischen zwei Reihenhaussiedlungen. Ein schmuckloser Sechziger-Jahre-Bau, materialknapp, kleine Fenster, mit verschämtem schlammbraunem Hauseingang. Im Garten wildert grünbrauner Rasen um die rostige Schaukel, auf der Roland und sein Bruder schon als Kinder geschaukelt haben. Die Frontlichter des LKWs strahlen die von der Nacht verschluckten Hauswände grell an, der Motorenlärm bollert in die menschenleere Wohngegend. Um zum Garten zu gelangen, müssen Silke und Willy-Martin eine enge Spielstraße passieren.
«Das schaff ich nicht mit dem Laster, Silke. Wir müssen hier aussteigen und die Tüten dahin tragen.» Willy-Martin ist sichtlich nervös. «Der LKW ist auch viel zu laut, ich muss den ausmachen, die Leute hier wachen auf.»
«Das passt schon!», ruft Silke. «Ich kenne diese Straße. Ich bin da auch mit ’nem Umzugs-Sprinter durch. Keine Sorge, fahr ruhig!»
Willy-Martins Hand liegt zitternd auf dem Schaltknüppel. Als er nach links in die Spielstraße einbiegt, schiebt er konzentriert die Zunge aus dem Mundwinkel. «Du musst mich lotsen! Ich weiß nicht, wie viel Platz nach hinten ist.»
Silke springt aus dem Wagen und knallt die Beifahrertür unwirsch zu.
Willy-Martin kurbelt sein Fenster runter. «Sag stopp!», ruft er gegen den Lärm an.
Silke gestikuliert. «Kannst noch, kannst noch, kannst noch, weiter, ja, noch ein Stück, STOPP!»
Willy-Martin rangiert den Wagen mit vollem Körpereinsatz, die beiden geben sich wilde Handzeichen, die ersten Rollos in der Nachbarschaft fahren hoch. Doch wie sehr er es auch versucht, der LKW ist zu groß für die enge Kurve, Willy-Martin bekommt ihn nicht eingeschlagen. Nach ein paar Minuten hat er sich an der Wegkreuzung festgefahren, er kommt weder vor noch zurück. Silke steht hinten und wirft verzweifelt den Kopf in die Hände. Die halbe Nachbarschaft ist inzwischen wach, Fenster werden geöffnet, eine Frau steht im Bademantel mit verschränkten Armen in ihrem Vorgarten und beobachtet, was da vor sich geht. Willy-Martin springt aus der Fahrerkabine, um sich selbst ein Bild davon zu machen, wie viel Platz nach hinten noch ist. Silke schaut immer wieder zu Rolands Haus rüber, bisher brennt kein Licht, noch mal Glück gehabt.
«Eine riesige Scheiße!», poltert Willy-Martin. Seine Nerven liegen blank.
«Wir haben es fast geschafft! Komm, mach den Motor aus, und wir tragen die Taschen von hier zum Garten!»
«Nein, nein, nein! Hier ist Schluss. Wir fahren zurück!» Willy-Martin fällt es sichtlich schwer, Befehle zu erteilen. Er wackelt nervös mit dem Kopf, kratzt sich am Arm, unter seinem Nasenloch glitzert klarflüssiger Rotz.
«Komm, Willy, wir sind doch schon da. Bitte, es geht ganz schnell. Mach den Motor aus, und dann schleppen wir die Tüten zum Garten!»
«Nein, Silke, wir fahren jetzt zurück, ich hätte gar nicht herfahren dürfen, und du bist betrunken, es war eine Schnapsidee! Morgen ist der Spendenlauf, und wir fahren hier nachts um zwei Uhr mit dem Laster durch die Gegend, es reicht mir jetzt!»
Silke ist überrascht von Willy-Martins Gefühlsausbruch. «Mann, beruhig dich wieder. Ich bin nicht betrunken! Ich will einfach nur diese Scheiße abladen, also entweder hilfst du mir, oder ich mach’s alleine!» Silke versucht genervt, die hintere Ladetür zu öffnen, aber sie ist verschlossen. In der Nachbarschaft sind immer mehr Zimmer hell erleuchtet, der laufende Motor des LKWs reißt die Anwohner aus dem Schlaf. «Gibst du mir die Schlüssel bitte?»
«Nein, wir fahren jetzt zurück.»
«Es dauert eine Minute!» Die beiden streiten immer lauter.
«Wir fahren zurück!»
«Ich lade erst noch die Scheiße aus!»
«Wir machen das wann anders, wir fahren jetzt zurück!», Willy-Martin kann Silkes scharfen Ton nicht ertragen, er muss heftig niesen, ein-, zwei-, drei-, viermal, und dann dreht er sich wieder im Kreis, der Niesanfall gerät außer Kontrolle, er krümmt sich und niest sich lauthals in die Armbeuge, hatschi, hatschi, hatschi, nach vier Runden um die eigene Achse hält er sich am Laster fest, er kann nicht mehr, er will sich nicht mehr drehen, aber niesen muss er immer noch.
«Gib mir die Schlüssel!», schimpft Silke.
Willy-Martins Oberkörper will ihn zu einer neuen Drehung zwingen, er klammert sich an der Außenverkleidung des LKWs fest, hatschi, hatschi, hatschi, die Finger rutschen ab. «Ich dachte, wir sind Freunde!», sein Korpus reißt nach links, die Finger suchen Halt, hatschi, hatschi, hatschi, der Motor lärmt. Alles verschwimmt, Silkes böser Blick, das gleißende Scheinwerferlicht, er bekommt einen Metallgriff zu fassen, niest wieder, und plötzlich ist es passiert: Mit einem Ruck schnellen die Rollverkleidungen am LKW hoch, die Plexiglas-Boxen klappen nach oben auf, die Vögel erschrecken sich zu Tode und stürzen aus ihren Kabinen in den nachtklaren Himmel, schneeweiße und graue und braune Tauben fliegen über ihre Köpfe.
«Ich liebe dich, Silke», brüllt Willy-Martin, und die Tränen schießen ihm aus den Augen. «Ich liebe dich schon, seit wir uns kennen, du isst auch immer den Giotto-Becher, du hasst Fußball genau wie ich, Silke, ich hab das Gefühl, wir sind seelenverwandt! Wenn ich morgens aufstehe, denke ich an dich, und wenn ich abends Abendbrot esse, denke ich auch an dich, und ich kann nicht mehr ohne dich, Silke, heirate mich!»
Silke hat die Augen weit aufgerissen und legt die Hände vor den Mund. Der Motor läuft immer noch heiß, in der Ferne schreit ein wütender Anwohner was von «Nachtruhe» und «Polizei». Willy-Martin atmet hektisch ein und aus, er bekommt kaum noch Luft nach dieser dramatischen Szene. Er starrt Silke an, stemmt dabei erschöpft die Arme in die Hüften. Silke steht wie angewurzelt da, mit bleichem Gesicht, und dann dreht sie Willy-Martin den Rücken zu und übergibt sich im großen Strahl mitten auf die Straße.
Am Morgen des Spendenlaufs ist Silke speiübel. Um zehn Uhr soll es losgehen, um acht Uhr dreißig holt sie in der Bahnhofsmission die Kiste mit den Startnummern und Plastikbechern ab. Als sie hinter den Tresen schlüpft, fällt ihr auf dem Briefstapel eine Postkarte ins Auge. Zippo hat geschrieben.
Sorgen kommen rausgekrochen,
das erweicht selbst harte Knochen.
Ich musste etwas Abstand gewinnen,
eine einsame Melodie anstimmen.
Wenn jäh der Zeitpunkt kommt,
sich die Seele wieder sonnt,
werde ich aus dem Tale zurückkehren
und dir meine große Dankbarkeit gewähren.
Zippo ist nicht verschollen, und er wird wieder in die Mission kommen, wenn er bereit ist. Silke steckt die Postkarte heilfroh in ihre Handtasche, dann macht sie sich auf zum Sportplatz. Die Augen hält sie mit Mühe geöffnet, in ihrem Kopf bollert der Restalkohol. Wer hatte eigentlich diese bescheuerte Idee, am Abend vor dem Spendenlauf Alkohol zu trinken?, fragt sie sich und verflucht Mutter Petra für ihre unverschämt leckere Flattermann-Soße. Silke war seit Jahren nicht mehr so betrunken gewesen, sie hatte auch seit Jahren nicht mehr so einen Kater gehabt. Auf dem Sportplatz angekommen, schließt sie die Toiletten auf und überprüft sie auf Sauberkeit, es fällt ihr schwer, sich nicht noch einmal zu übergeben. Sie fegt die Tartanbahn frei, baut eine Trinkstation und Tapeziertische für die Anmeldungen kurz entschlossener Sponsoren auf. Um neun Uhr trifft die Werbetechnikerin ein, sie hat das große Banner dabei, «Spendenlauf für Zippo».
«Morgen! Wo kann das hin?», flötet sie, ihre schrille Stimme bringt Silkes Schädeldecke zum Klirren. Während beide das Banner prominent am Zaun befestigen, betritt Willy-Martin den Platz. Ungekämmt, mit tiefen Ringen unter den Augen, aber in voller Sportmontur und mit Rucksack auf dem Rücken.
«Ist noch was zu tun?», fragt er und weicht dabei Silkes Blick aus.
«Ja, du kannst mir helfen mit der Anlage und der Beleuchtung, vorne im Vereinsheim.»
Willy-Martin nickt bloß, dann holt er eine Thermoskanne aus dem Rucksack und drückt sie Silke in die Hand. «Hier, für dich. Das hilft gegen den Kater.»
«Was ist das denn?»
«Schlotter-Dotter. Meine eigene Kreation.»
«Schlotter-Dotter?»
«Dreihundert Milliliter Orangensaft, ein Teelöffel Honig, zwei rohe Eier. Das jagt dir den Flattermann aus dem Leib, mir kannste da vertrauen.»
Silke ist gerührt von Willy-Martins Fürsorglichkeit, überhaupt hatte sie nicht damit gerechnet, dass er heute hier auf dem Platz stehen würde, nach letzter Nacht. «Du Willy-Martin, wegen gestern …»
«Schwamm drüber.» Sein Blick weicht Silkes wieder aus. «Wollte dich nicht überrumpeln. Ich hatte schon einen Cognac drin, und die Tauben, das sah einfach so schön aus. Da werd ich schnell emotional.»
«Kann ich auch verstehen. Die sind ja wirklich schön. Hast du eigentlich Ärger vom Graf bekommen?»
«Kann man so sagen. Der hat mich im hohen Bogen rausgeschmissen.»
«Scheiße.»
«Ja. Aber zum Glück sind alle Tauben wieder zu Hause angekommen. Und vielleicht überlegt er es sich noch mal.» Eine Weile starren die beiden auf die rote Laufbahn, dann hupt es plötzlich wie wild auf dem Parkplatz. Renate ist da, sie winkt mit großen Bewegungen aus dem geöffneten Fahrerfenster.
«Silke, Willy! Huhuuuuu!»
Die beiden winken zurück. Es ist das erste Mal, dass Renate und Silke sich nach ihrem Streit in Hohenwutzen wiedersehen. Silke freut sich, dass Renate von sich aus gekommen ist. Renate überspielt ihre Unsicherheit mit aufgedrehter Stimme und übertriebenen Gesten.
«Ich hab die alte Goebel mitgebracht!», ruft sie über den Parkplatz. Und tatsächlich: Frau Goebel ist auch gekommen, Renate schiebt sie in ihrem Rollstuhl vor sich her, sie trägt eine dicke Daunenjacke und zusätzlich eine Wolldecke auf ihrem Schoß. «Frau Goebel, Sie sind doch erkältet, was machen Sie denn hier draußen? Sie sollten im Bett liegen und sich schonen!»
«Kindchen, das bisschen Freizeit sei mir jetzt mal gestattet», keucht Frau Goebel. «Der nette Herr Martin hat angeboten, mich auf der Bahn zu schieben.»
Wenn Silke nicht so verkatert wäre, wäre sie mehr als gerührt.
«Keine große Sache, Silke. Nach dem Spendenlauf fahr ich sie wieder nach Hause», beruhigt Renate sie. Silke ist viel zu schwach, um dagegen zu protestieren.
«Da vorne könnt ihr euch eure Startnummer ankleben.»
Renate nickt und schiebt Silke an der Schulter zur Seite. «Ich hab dir einen Zopf gebacken. Mit Schinken und Speck, den mochtest du doch immer so gern.» Sie drückt Silke den mehrfach in Frischhaltefolie gewickelten Zopf in die Hand.
«Danke», sagt Silke.
«Nichts zu danken», sagt Renate. Die beiden schweigen sich an, Silke starrt auf den Zopf, Renate starrt auf Silke, wie sie auf den Zopf starrt. «Wie auch immer», platzt es aus ihr raus. «Ich war mal wieder etwas zu expressiv auf unserer Reise. Tut mir leid, wie ich mich benommen habe.»
«Schon okay», Silke guckt vom Zopf hoch und merkt, dass es wirklich okay ist. Renate ist eben Renate. «Schwamm drüber. Geht gleich los hier.»
Renate verschwindet mit ihrer großen Sporttasche in der Umkleidekabine, Willy-Martin schiebt Frau Goebel zum Anmeldetisch. Gegen halb zehn ist der Sportplatz gut gefüllt, die Sonne scheint, die Leute sind motiviert. Silke hat bereits die halbe Thermoskanne Schlotter-Dotter getrunken, um sich über Wasser zu halten. Vielleicht ist es nur der Placeboeffekt, aber sie hat das Gefühl, dass das scheußliche Zeug wirklich hilft. Die halbe Stadt scheint heute gekommen zu sein: alle Kolleginnen und Kollegen aus der Bahnhofsmission, sogar Marquardt ist da. Hoch ambitioniert, in Radlerhosen-Langarmtrikot-Kombination, mit einem Fitness-Tracker am Handgelenk und Bluetooth-In-Ear-Kopfhörern in den Ohren, joggt er schon auf der Stelle, dann dehnt er sich ausgiebig an einer Bank die Beine. Auf seiner Brust klebt ein Patch mit dem Logo der Bahnhofsmission Borken, «schließlich sollte man zu jeder Zeit sein Unternehmen angemessen repräsentieren». Auch sein Kumpel Gadget-Stefan ist da, selbstverständlich auf seinem Trike. «Moin, Stefan», ruft Marquardt aus einem halben Spagat rüber.
«Möge der Bessere gewinnen!», ruft Gadget-Stefan zurück und nickt ihm herausfordernd zu. Selbst in dieser uneigennützigen Veranstaltung, einem Spendenlauf für einen krebskranken Obdachlosen, sehen Marquardt und Gadget-Stefan noch einen Wettkampf, eine Herausforderung, die ultimative Competition. «Alt ist man erst dann, wenn man sich nicht mehr mit seinen Gegnern messen will», das war schon immer Marquardts Credo. Angespornt von Gadget-Stefans Kampfansage, macht er spontan fünfzig Liegestütze in dessen Sichtweite. Silke schüttelt nur den Kopf, huscht zwischen den vielen Leuten hindurch, hakt fleißig ihre Listen ab und beantwortet Fragen aller Art. Renate hat sich in einen wild gemusterten Lycra-Zweiteiler gepellt und ihre Haare mit einem Schweißband zurückgeschoben; sie sieht aus, als würde sie jetzt ein «Aerobic fürs Wohnzimmer»-VHS-Video drehen.
Kaum zu überhören sind Mutter Petra und die Hunde, als sie auf dem Platz einlaufen.
«Die Hunde bitte an die Leine», ermahnt Willy-Martin sie bei ihrer Ankunft.
«Ja, ja, ja», ruft Mutter Petra. Sie kann nicht mitlaufen, die Hüfte, der Ischias, aber sie hat eine große Tupperdose unter dem Arm. «Ich hab die Flattermann-Reste mitgebracht! Falls ihr Hunger bekommt!»
Silke wird schon beim Gedanken an den alkoholgetränkten Vogel sofort wieder schlecht. «Danke, Petra. Renate isst später bestimmt gerne was davon.»
«Super, super, super! Ich setz mich mit den Kleinen hier an den Rand, wir feuern euch an!»
Als Mutter Petra und die Hunde die Sitzbank besetzen, springt Marquardt mitten in einer Einheit Sit-ups auf. «Das ist ein Sportplatz und keine Hundekackwiese. Hier wollen sich MENSCHEN bewegen, und zwar frei!» Er mustert erst die Hunde, dann Mutter Petra, dann ihre Tupperdose mit einem abschätzigen Blick. Doch sein Ärger hält nicht lange an, denn ein Kamerateam kommt auf ihn zu. «Mensch, Tobi, grüß dich! Super, dass es noch geklappt hat.» Die beiden schlagen sich laut in die Hände und klopfen dann in einer angedeuteten Umarmung so fest auf den Rücken des anderen, dass beide fast husten müssen. Tobi ist Außenreporter bei der WDR Lokalzeit Münsterland, gemeinsam mit Kameramann Axel und Tonmann Kai tut er seinem alten Schulkumpel Marquardt einen brüderlichen Gefallen und berichtet über sein unerschütterliches Engagement beim Spendenlauf, die tragische Geschichte von Zippo und dem Krebs und die neue Siebträgermaschine in der Bahnhofsmission. Als kleine Gegenleistung hat Marquardt Tobi angeboten, ihn am Samstag in zwei Wochen an seiner Broil King-Gasgrillstation zu bewirten, sechs Brenner, zwei unabhängige Grillkammern, Kontrollknopfbeleuchtung, elektrische Zündung, neuartige Edelstahlgussgrillroste, Flav-R-Wave-Verdampfersystem.
«Wir würden dann gleich mal ein paar O-Töne von dir sammeln. Warum bist du hier? Was hat es mit diesem Zippo auf sich? Wie lang ist der schon obdachlos? Wie lang hat er noch zu leben? Vielleicht ein bisschen was darüber, wie er dir über die Jahre ans Herz gewachsen ist, was euch verbindet, warum er es verdient hat, dass heute so viele Leute mitlaufen et cetera pp. Und noch irgendwas Rührseliges fürs Ende am besten. Wo schläft Zippo, wenn er draußen schläft? Wurde er schon mal überfallen oder verletzt? So was kommt immer gut. Am besten stellst du dich hier vorne hin, da ist das Licht gut und nicht zu viele Leute, wegen Ton.»
«Der Fokus sollte aber schon auf der Bahnhofsmission liegen. Ich will ja hier was verkaufen. Und achtet bitte darauf, dass das Logo im Bild ist», merkt Marquardt an, dann verschwinden die vier auf einem ruhigen, hinteren Abschnitt der Laufbahn und beginnen mit den Dreharbeiten. Um kurz vor zehn ist der Platz brechend voll, auf der Wiese mittig der Laufbahn tummeln sich Läuferinnen und Läufer, jung und alt, dick und dünn, im Rollstuhl und auf Inlineskates. Renate und Willy-Martin wärmen sich auf, indem sie sich gegenseitig auf die Schultern fassen und abwechselnd versuchen, den linken und den rechten Fuß zum Po zu ziehen. Frau Goebel ist in ihrer roten Fleece-Decke eingenickt und schreckt immer wieder hoch, wenn sie husten muss. Mutter Petra sucht verzweifelt einen ihrer Hunde, auf der Tribüne essen Sponsoren und Schaulustige die ersten Bratwürste und trinken Warburger Pils.
Dann geht es los: Silke stellt sich mit einem Megaphon auf den Anmeldetisch und erklärt den Spendenlauf für eröffnet. Die Masse setzt sich in Bewegung, die Kinder laufen voran, dann die Erwachsenen; den Fahrrädern, Rollstühlen und Inlineskates gehört die rechte Spur. Die Stimmung ist gut, aus den Boxen der Anlage schallt Good Feeling von Flo Rida. Willy-Martin schiebt im Stechschritt die schlafende Frau Goebel vor sich her und kommt dabei schon vor der ersten Kurve ins Schwitzen. Nach wenigen Metern hat Marquardt alle Kinder und den Rest der Menge überholt und läuft in gleichmäßigem Takt souverän voraus, das Kamerateam versucht angestrengt nebenherzujoggen. Mutter Petra wird von der lauten Musik mitgerissen, sie hat den verlorenen Hund gefunden und wirft ihn fröhlich tanzend immer wieder in die Luft. Silke steht am Rand, mit schrecklichen Kopfschmerzen und zittrigen Händen. All die Wochen harter Arbeit, die vielen Telefonate und Formulare, Absagen und Zusagen, und jetzt laufen sie hier, bestimmt zweihundert Menschen, Fremde, Bekannte, für Zippo. Nur Marquardt und Gadget-Stefan, die hätten ihre Eitelkeit zu Hause lassen können.
Die erste Runde ist geschafft, da verlässt Renate keuchend die Bahn. Silke läuft ihr entgegen. «Renate, alles okay?»
«Abbruch! Abbruch!», ruft die.
«Jetzt schon? Ist doch grad mal eine Runde vorbei. Was ist denn los?»
«Chronischer Bananenrücken», schnauft sie und stützt sich mit beiden Händen am Geländer ab. «Hab ich seit meiner Kindheit. Da kannste nichts machen. Das kommt und geht, wie es will.»
Silke schaut sie skeptisch an, wie sie sich mit der Hand an den Rücken fasst und die Hüfte kreisen lässt, als stünde sie unmittelbar vor einer Entbindung. «Chronischer Bananenrücken? Hab ich noch nie was von gehört.»
«Ist nicht sehr verbreitet. Da geht jetzt gar nix mehr. Tut mir auch leid. Ich geh mal eben zum Auto.» Renate verschwindet leicht humpelnd auf dem Parkplatz, auf Silkes Gesicht steht ein großes Fragezeichen. Der Himmel zieht sich langsam zu, die klarblaue Sicht weicht einer grauen Wolkendecke, die bedrohlich tief hängt.
«Bitte kein Regen. Bitte kein Regen. Bitte kein Regen», murmelt Silke vor sich hin.
Einige Minuten später haben die ersten Teilnehmer aufgegeben. Ein kleiner Junge hat sich das Knie auf der Tartanbahn aufgeschlagen und rennt schreiend in die Arme seiner Eltern, eine ältere Dame muss das Rennen wegen Kreislaufproblemen beenden. Silke wird nervös. Immer wenn Willy-Martin mit Frau Goebel an ihr vorbeifährt, winkt er ihr freundlich zu und zeigt den Daumen nach oben, dabei versucht er angestrengt, nicht angestrengt zu wirken, sein Kopf ist hochrot und das Shirt nass geschwitzt, Silke findet ihn einfach drollig. Renate hat es sich inzwischen auf ihrem selbst mitgebrachten Campingstuhl gemütlich gemacht und teilt sich mit Mutter Petra die Flattermann-Reste. Sie sitzen plaudernd nebeneinander und picken mit zwei Plastikgabeln das Fleisch aus der Tupperdose, immer wieder springen die Hunde hoch und schlecken die Soße vom Rand, Renate und Mutter Petra geben beide gerne ab.
«Chronischer Bananenrücken», wispert Silke und schüttelt den Kopf.
Auf dem Parkplatz hält plötzlich ein großer schwarzer Kastensprinter, der Fahrer lässt die Türen knallen und räumt unter Krach und Getöse den Kofferraum aus. Silke erkennt ihn von weitem: Roland. Sie dreht ihm den Rücken zu. Diesen einen Tag wird er ihr nicht vermiesen. Dafür hat sie zu hart gearbeitet. Sie füllt geschäftig die Wasserbecher auf, sortiert ihre Formulare und hofft, dass Roland so schnell verschwindet, wie er gekommen ist. Immer wieder schielt sie rüber zum Parkplatz, er ist noch da und scheint irgendwas an seinem Wagen aufzubauen, er klappt einen großen Tisch auseinander und stapelt darauf bunte Kartons.
Die Läuferinnen und Läufer drehen jetzt seit zehn Minuten ihre Runden, das Tempo wurde teilweise schon merklich gedrosselt, die meisten spazieren nur noch um den Platz. Marquardt läuft weiter diszipliniert in steter Geschwindigkeit, Gadget-Stefan verausgabt sich laut schnaufend auf seinem Trike und ist ihm durchgehend auf den Fersen. Das Kamerateam hat das Rennen aufgegeben, stattdessen haben sie sich jetzt bei Renate aufgebaut und setzen zum Interview an, die pult sich noch die Flattermann-Reste aus den Zahnzwischenräumen. Mit einem Mal tropft es auf Silkes Formulare, erst leicht, dann fallen dicke, schwere Tropfen. Binnen weniger Sekunden regnet es wie aus Eimern auf den Sportplatz, die Läufer halten sich schützend die Hände über den Kopf. Viele stoppen den Lauf und suchen Schutz unter anliegenden Bäumen, Silke bringt panisch die Unterlagen in Sicherheit. Mit letzter Kraft schiebt Willy-Martin die klitschnasse Frau Goebel ins Vereinsheim, sie ist blassbleich, ihre Haut sieht aus wie ein großes Stück Transparentpapier, das sich wegen des Regens glitschig auf ihre hervorstehenden blaugrünen Adern gelegt hat. Sie schläft mit halboffenen Augen, ihr Kopf fliegt unkontrolliert von einer Seite zur anderen, generell macht sie einen besorgniserregenden Eindruck. Willy-Martin versucht unbeholfen, Frau Goebel mit einem seiner mitgebrachten Sporthandtücher zu trocknen, ihre Gliedmaßen sind dabei wie Wachs in seinen Händen.
«Ihr bleibt jetzt erst mal hier drin!», befiehlt Silke und dreht die Heizung hoch. «Frau Goebel holt sich noch den Tod da draußen!»
Willy-Martin nickt, während er Frau Goebel die nassen Sandalen auszieht. Silke schaut aus dem Fenster. Nur noch ein paar einzelne Personen laufen auf dem Platz, Marquardt trotzt dem Regen und hält konsequent sein Tempo, Gadget-Stefan ist auch noch auf der Bahn, allerdings kämpfen die Räder seines Trikes sichtlich mit dem nassen Boden. Viele haben sich schon die Jacken angezogen, spannen Schirme auf und gehen Richtung Parkplatz.
«So eine Scheiße!» Silke rennt verzweifelt zum Megaphon, stellt sich auf den nassen Campingtisch und ruft aufgebracht: «Der Regen zieht schon wieder weiter! Gleich ist es wieder trocken! Denkt an Zippo, er hat Krebs!» Auf dem Parkplatz bleiben einige stehen und drehen sich zu Silke um. «Wisst ihr, was das bedeutet, Krebs zu haben? Bestimmt nicht! Und wisst ihr, was das bedeutet, obdachlos zu sein? NEIN! Und verdammt noch mal, weiß irgendwer von euch, wie es ist, Krebs zu haben UND obdachlos zu sein? NEIN? KEINER?» Die Mehrheit der Leute schaut betroffen auf den Boden. «Ich gebe euch allen mal einen Tipp: Das ist nicht wie ein kleiner Regenschauer, das ist nicht wie nasse Klamotten tragen, die in zehn Minuten wieder trocken sind! Da kann man auch nicht mal eben einfach so nach Hause fahren, und dann ist alles wieder in Ordnung! Reißt euch verdammt noch mal zusammen!» Silke hat sich in Rage geredet, ihre Haare triefen vom Regen, sie zittert am ganzen Körper.
Renate springt an ihr hoch. «Silke, gib mir das Ding, du bist doch ganz durch den Wind.»
Silke hält sich beim Absteigen an Renate fest und fällt, als sie unten ist, weinend in ihre Arme. «Ist ja alles gut, Silke. Ist ja alles gut. Das ist die Anspannung, Liebelein. Komm mal mit rein, du musst dich setzen.» Als Silke wieder im Vereinsheim ist, direkt an der Heizung, mit Blick auf die merklich geschrumpfte Gruppe an Teilnehmern, hört der Regen auf, gegen das Fenster zu prasseln. Die Sonne ist zurück, die Stimmung wieder ausgelassener, ein paar kommen vom Rand zurück auf die Bahn.
«Na, Gott sei Dank», murmelt Silke und fasst sich an die Schläfen. «Dann kann’s ja jetzt weitergehen.»
«CAPRI-SONNE ORANGE, CAPRI-SONNE ORANGE, GRATIS, AUF DIE HAND, DAS GIBT’S NUR HIER», tönt es in dem Augenblick. Die Stimme kommt Silke bekannt vor. Als sie zum Parkplatz läuft, ist ihr sofort alles klar: Roland hat sich mitten zwischen den Autos einen mobilen Stand mit Restposten aufgebaut, er hat sogar eine große und offenbar sehr gut funktionierende Anlage installiert und brüllt jetzt energisch und mit Headset im Mundwinkel den Leuten vom Sportplatz entgegen: «MISTER MONEY IST HIER! NUR HEUTE, SPENDENLAUF SPEZIAL, DAS GAB’S NOCH NIE, HUNDERT PROZENT RABATT, FÜR UNSEREN GUTEN ALTEN KUMPEL ZIPPO! KEIN SCHEISS. KOMMT RAN HIER!» Die ersten Neugierigen trotten vom Sportplatz rüber zum Parkplatz und schauen, was es abzustauben gibt. «Ja, es ist wahr. Trauen Sie sich! Kommen Sie ran! Sensationell, aber wahr! Wir haben hier Capri-Sonne, das macht jeden Läufer fit, alle noch haltbar, heißt jetzt Capri Sun, deswegen im normalen Handel unverkäuflich, aber das macht uns nichts, da ist das Gleiche drin, nehmen Sie sich einen Karton mit oder direkt zwei – Sie haben sicher eine Freundin oder einen Neffen, der auch Capri-Sonne liebt! Und was haben wir hier? Einen eins a Sandwichmaker von Severin! Antihaftbeschichtung, wärmeisolierter Griff, rutschfest, mit Kabelaufwickler! Nehmen Sie ihn mit, direkt auf die Hand. Nach dem Laufen schmeckt das Sandwich gleich doppelt so geil!»
Um den Stand von Roland bildet sich rasend schnell eine Traube von Menschen. «Was das ist? Das kann ich Ihnen sagen! Ein Smoothiemaker, vom allerfeinsten! Ein Smoothiemaker im Wert von 25 Euro UVP! Und der kommt nicht mit einer Flasche, der kommt mit zwei Flaschen! Und das Allergeilste ist, guckense mal hier, da ist der Mixer schon in der Flasche drin! Eis rein, Obst rein, Proteinpulver rein, und du machst dir den geilsten Milchshake deines Lebens! Und jetzt gibt’s natürlich den ein oder anderen, der wird hier meckern, Plastikflaschen, giftig! Denkste! Nicht bei mir, nicht bei Mister Money. Guckt euch das an, bpa-frei, pah-frei und pak-frei, also Lösemittel-frei, Giftstoff-frei, Farbreste-frei! Alles geprüft, komplett! Das Teil hat 22500 Umdrehungen! Du kannst dadrin Eis klein hexeln, du kannst dadrin Kaffeebohnen klein hexeln, wie geil ist das denn, bitte! Sofort zuschlagen, hundert Prozent umsonst, nur der Tod ist billiger!»
«Ist das Bruchware?», fragt eine Frau mit der Startnummer 72 auf der Brust ungläubig. Roland lacht. «Bruchware? Seh ich so aus, als würde ich Ihnen hier Bruchware andrehen? Ich zeig Ihnen mal, was Bruchware ist!» Unwirsch reißt er einen Smoothiemaker-Karton auf und zieht das Gerät heraus, dann holt er weit mit dem Arm aus und schmettert es mit voller Wucht auf den Asphalt. Das Kunststoffgehäuse zerspringt in seine Einzelteile, die Frau macht entsetzt einen großen Schritt zurück, Roland steht die blanke Wut ins Gesicht geschrieben. «DAS! DAS IST BRUCHWARE! UND SIEHT DAS SO AUS, ALS KÖNNTE MAN DAS NOCH VERKAUFEN?»
«Ehm, nein», stammelt die Frau und versteckt sich halb hinter anderen Schaulustigen, Roland nickt selbstgerecht.
«Na, also!» Seine Verkaufsoffensive kommt gut an, es sind mittlerweile mehr Menschen an seinem Stand als auf dem Sportplatz.
Silke kocht vor Wut. Wie festgefroren steht sie in fünf Meter Entfernung und sieht tatenlos mit an, wie Roland ihre Spendenlaufteilnehmer vom Platz holt. Die ersten haben sich die Kartons auf die Arme gestapelt. «Ich muss dann jetzt auch nach Hause, bin zu Fuß hier, und nicht dass mir noch jemand meine Kartons klaut, wenn ich laufe», motzt ein junger Mann in Radlerhose, zig andere tun es ihm nach und verlassen mit fetter Beute unterm Arm den Sportplatz. Die Gratisschnäppchen von Roland sprechen sich schneller rum als ein Lauffeuer, nach weniger als fünf Minuten ist der Platz wie leergefegt, wer sich nicht mit Smoothie- und Sandwichmaker nach Hause gerettet hat, sitzt Capri-Sonne trinkend auf der Tribüne. Nur Marquardt läuft eisern seine Runden, Gadget-Stefan und sein Trike haben auch noch nicht aufgegeben. Silkes Blick bleibt bei Renate stehen, die sich den Kofferraum mit Kartons volllädt. «Renate! Ist das dein Ernst?»
Renate fühlt sich ertappt. «Na ja, es ist halt gratis. Das wär doch blöd, wenn ich da nicht … Ich wollte schon lange mal das mit den Smoothies ausprobieren.»
Silke schaut sie entrüstet an, Renate merkt, dass sie härtere Argumentationsgeschütze auffahren muss. «Der Arzt meinte, jeden Tag ein Smoothie kann gegen den Bananenrücken helfen», sagt sie unschuldig und fasst sich schnell an den Steiß.
«Weißt du was, Renate, fahr doch zur Hölle mit deinem scheiß Bananenrücken!»
Renate fällt die Kinnlade herunter, Silke läuft aufgebracht zum Sportplatz zurück und tritt auf dem Weg dorthin noch mal wütend und mit voller Kraft gegen Rolands Sprinter.
«Hey!», fängt er sie ab. «Das muss doch nicht sein.»
«Du kannst mich mal, Roland! Du machst alles kaputt, alles!»
«Wie bitte? Ich mache hier kostenlose Promo für DEINEN Spendenlauf, siehst du nicht, wie die Leute hier rankommen?»
«Guck mal auf den Sportplatz, siehst du da noch irgendwen laufen?»
Roland scheint tatsächlich erst jetzt zu registrieren, dass die Mehrheit der Leute schon gegangen ist.
«Eh, also. Die kommen sicher wieder, wenn sie die Geräte nach Hause gebracht haben. Der Tag ist ja noch jung. Ist aber auch nicht optimal geplant, ich hätte an deiner Stelle schon vor Anpfiff Regencapes für alle ausgeteilt. Hättest du mal was gesagt, ich hab da letzte Woche sechs Paletten reinbekommen.»
Silke atmet flach, die Wut drückt sich durch alle Fasern ihres Körpers, sie will Roland in seinen Schnäppchentisch stoßen, sie will sehen, wie er rücklings auf den Boden stürzt, seine dämlichen Billigprodukte mit auf den Boden reißt und wie alles in tausend Teile zerspringt. Sie holt schon mit beiden Armen aus, da kommt Willy-Martin aus dem Vereinsheim gestürzt und schreit: «Silke! Komm schnell! Ich glaub, Frau Goebel stirbt! Sanitäter! Sanitäter!»
Frau Goebel ist im Rollstuhl zur Seite gekippt, ihr Oberkörper hängt schlaff über die Armlehne hinaus, sie ist nicht mehr ansprechbar, und aus ihrem halb geöffneten Mund fließen zähe Speichelfäden. Die Sanitäter kommen und verfrachten die alte Dame blitzschnell auf eine Trage, messen Blutdruck und Fieber und wickeln sie in eine Isolierdecke. Willy-Martin versucht laut und deutlich mit ihr zu sprechen: «Frau Goebel, können Sie mich hören? Frau Goebel, wir bringen Sie jetzt ins Krankenhaus, da können Sie sich ein bisschen ausruhen. War ja viel los hier heute. Auch mit dem Regen, Sie müssen sich mal richtig aufwärmen, Sie kommen jetzt in ein schönes, warmes Bett. Dann wird alles wieder gut. Wir sind da, machen Sie sich keine Sorgen.» Silke macht sich Sorgen. Frau Goebel reagiert nicht mehr.
«Schwacher Puls», informiert einer der Sanitäter mit ernstem Blick. «Die kommt direkt auf Intensiv.»
«Wir kommen nach!», ruft Willy-Martin. Binnen Sekunden sind die Sanitäter mit der regungslosen Frau auf der Trage im Rettungswagen verschwunden und mit lauten Sirenen davongefahren. Silke schaut Willy-Martin verzweifelt an, Willy-Martin schaut Silke verzweifelt an. Draußen setzt der Regen wieder ein.
Marquardt und Gadget-Stefan sind sichtlich erschöpft, aber keiner von ihnen will das Feld räumen. Die beiden haben sich in einen internen Wettkampf verstrickt und sind zu stolz, jetzt das Handtuch zu werfen. Silke dreht die Anlage aus, es ist still. Dann stürmt sie zum Megaphon. «Der Spendenlauf ist beendet! Geht nach Hause!» Keiner der beiden reagiert. Marquardt zieht sein Tempo sogar noch an, Gadget-Stefan strampelt stöhnend und völlig durchnässt hinterher. «Na, gibst du schon auf?», ruft Marquardt gehässig nach hinten.
«Aufgeben?», lacht Gadget-Stefan affektiert. «Ich kann das hier Stunden so weitermachen.»
«Na dann, auf die nächsten Stunden!» Marquardt will Gadget-Stefan provozieren, die kleine, spitze Unterhaltung hat ihn motiviert, nach vorne gepeitscht, er wird noch mal deutlich schneller, rennt mit riesengroßen Schritten unbeeindruckt durch den Regen. Gadget-Stefan zieht nach, das lässt er nicht auf sich sitzen, sein Gesicht ist von der Anstrengung schon ganz verzerrt. Der Regen prasselt unbarmherzig auf seinen Fahrradhelm, er kann nur noch schlecht sehen. Er sitzt jetzt halb in seinem Liegerad und steuert Marquardt an, mit wahnsinnigem Blick und eisernem Willen tritt er in die Pedale und kommt seinem Rivalen immer näher. Als Marquardt das merkt, fängt er an, zickzack zu laufen, Gadget-Stefan muss in voller Fahrt bremsen, sein Trike schlittert auf dem klitschnassen Boden, er verliert die Kontrolle über das Gefährt, fast fährt er Marquardt in die Hacken, dann kippt das Rad mit einem großen Knall seitwärts um, und Gadget-Stefan stürzt zu Boden. Bäuchlings liegt er nun im Regen und schlägt verärgert mit der Faust auf den Boden. Marquardt dreht sich kurz zu ihm um, sieht, dass er gestürzt ist, und bricht dann in Jubel aus.
«YES!», schreit er zu sich selbst und hält einen Arm siegessicher in die Luft, während er langsam ausläuft. Gadget-Stefan versucht keuchend aufzustehen, seine Knie bluten, die Achse seines Trikes ist verzogen. Marquardt trommelt sich auf die Brust. «Erster. Erster», zischt er vor sich hin. Erst als er beim Vereinsheim zum Stehen kommt, scheint er wahrzunehmen, dass außer ihm und dem lädierten Gadget-Stefan niemand mehr auf dem Platz ist. Selbst sein Kumpel Tobi und das Kamerateam sind inzwischen mit Sandwichmaker im Arm verschwunden, niemand ist da, um seinen vermeintlichen Sieg zu würdigen oder für die Nachwelt festzuhalten. «Gibt’s denn wenigstens ’nen Pokal?», fragt er Silke schnippisch.
«Das war kein Wettbewerb, Herr Marquardt. Deswegen ist hier auch kein Schwein mehr. An Ihrer Stelle würde ich mir darüber mal Gedanken machen.» Silke sieht Marquardt in sein rot leuchtendes Gesicht mit dem süffisanten, rachsüchtigen Grinsen. Der Regen lässt nicht nach, einfach alles ist heute schiefgelaufen, alles, das Wetter, dann Roland und seine scheiß Smoothiemaker. Die Runden, die gelaufen wurden, sind ein Witz, Frau Goebel ist halb tot, und jetzt steht dieser gewissenlose, eitle Idiot vor ihr und will einen Pokal für seine Leistung. Silke ist froh, als Willy-Martin sie am Ärmel zieht.
«Hab abgeschlossen und die Formulare ins Auto gepackt. Mutter klärt hier alles mit dem Pächter. Komm, wir fahren.»
Noch am Abend des Spendenlaufs hat Frau Goebel im St.-Marien-Hospital Borken das Atmen eingestellt. Diagnose: starke Lungenentzündung. Zusammen mit Altersschwäche und einem angeschlagenen Immunsystem eine listige Kombination. Silke und Willy-Martin saßen bis zuletzt an ihrem Bett, haben ihre Hand gehalten und auch, obwohl sie gar nicht mehr ansprechbar war, mit ihr über die schönen Dinge geredet, von denen Frau Goebel Silke so oft erzählt hatte. Ihr Geschäft, die Reisen nach Südamerika und Schweden, der Tag, an dem sie auf dem ökumenischen Kirchentag 2003 in Berlin Condoleezza Rice traf.
«Sie hatte ein erfülltes, glückliches Leben», versicherte Willy-Martin Silke, als die Maschine am Krankenhausbett keine Herztöne mehr anzeigte. Silke wollte nur nach Hause, sie war immer noch durchnässt vom Regen, sie fror und fühlte sich leer. Willy-Martin schlief in dieser Nacht bei ihr auf der Couch. Morgens machte er ihr Frühstück, das sie nicht aß, mittags ließ er ihr ein Bad ein, das sie nicht nahm, abends legte er eine DVD ein, die sie nicht schaute. So ging es mehrere Tage, Silke ging nicht zur Arbeit, sie lag die meiste Zeit in ihrem Bett und starrte auf die weiße Wand. Dahinter war kein Husten mehr zu vernehmen, kein lauter Fernseher, Frau Goebel war nicht mehr da. Und das Gleiche würde mit Zippo geschehen, er würde auch sterben, von heute auf morgen, und Silke würde daran Schuld tragen, denn bei dem Spendenlauf waren nur knapp 240 Euro zusammengekommen, das war noch nicht mal ein Bruchteil von der Summe, mit der sie gerechnet hatte. Abzüglich der Pacht für den Sportplatz waren es noch vierzig Euro, die übrig blieben. Vierzig Euro.
Silke schämt sich. Zippo kann sie so nicht mehr unter die Augen treten. Sie sieht in nichts mehr einen Sinn. Willy-Martin organisiert gemeinsam mit Renate und Mutter Petra die Beerdigung, die drei schauen im Wechsel nach Silke, schlafen bei ihr, kochen für sie. Silke ist nicht einen Tag oder eine Nacht allein, manchmal sind sogar noch sechs Hunde in der Wohnung, selbst das ist ihr egal. Drei Tage vor der Beerdigung kommt ein Schreiben für sie an, das Willy-Martin ihr beim Frühstück vorliest. Frau Goebel habe sie in ihrem Testament bedacht, es gebe keine direkte Verwandtschaft, und ein Termin beim Notar stehe bevor.
«Aha», kommentiert Silke nur und verschwindet wieder in ihrem Bett.
Für den Termin beim Notar hat Willy-Martin für Silke ihren feinen Blazer gebügelt und die Kleider rausgelegt, er kämmt ihr sogar die Haare und fährt sie bis vor die Haustür. «Soll ich mit reinkommen?», bietet er an.
«Geht schon», antwortet Silke, schenkt ihm ein kleines Lächeln und steigt aus dem Wagen aus. Der Notar redet viel, Silke versteht nur die Hälfte, bei der anderen Hälfte hört sie nicht zu. «Rechtmäßige Erbin», schnappt sie auf und: «Meine Mandantin hat Sie bedacht.» So geschwollen, wie er redet, wird Silke unruhig, sie will wissen, was es denn jetzt ist, das große Erbe.
«Ich darf Ihnen mitteilen, dass Sie gemäß Paragraph 1937 des Bürgerlichen Gesetzbuches von unserer Mandantin als Alleinerbin ernannt wurden. Damit können Sie frei über Frau Goebels Nachlass verfügen.»
«Nachlass?», stammelt Silke.
«Nach unserem jetzigen Kenntnisstand ist das ihr Mobiliar, alles, was sich noch in ihrer Wohnung befindet, Gold- und Silberschmuck und ihr monetäres Vermögen, aktuell sind das 73,29 Euro auf ihrem regulären Konto plus noch mal 192 Euro auf einem Tagesgeldkonto.» Silkes kurze Aufregung weicht einer großen Ernüchterung. Emotionslos unterschreibt sie ein paar Formulare, bedankt sich beim Notar und verlässt die Kanzlei. Als sie wieder in Willy-Martins Auto steigt und ihm vom Erbe erzählt, ist auch er enttäuscht.
«Das ist ja echt ärgerlich!»
Silke nickt nur, im Radio läuft Imagine Dragons.
Das Geld von Frau Goebels Konten nutzen sie für eine Friedwald-Bestattung, davon hatte sie immer geschwärmt und gesagt, wenn sie mal nicht mehr ist, dann möchte sie nicht so einen spießigen Grabstein, wo dann jede Woche jemand zum Gießen kommen muss. Das wäre doch alles nur Schikane für die Hinterbliebenen, ne, ne, so wär sie nicht, sie wär ja ein Menschenfreund. Die alte Dame wird also eingeäschert, ihre Überreste kommen in eine biologisch abbaubare Urne und werden an einem für sie ausgewählten Baum unweit der Wurzeln begraben. Willy-Martin hat extra den kleinsten Baum ausgewählt, eine junge Buche, aber auch hier liegen die Kosten für das ganze Prozedere weit über 1000 Euro. Sie legen alle zusammen, um Frau Goebel ein schönes, ruhiges Plätzchen im Wald zu ermöglichen.
Bei der Beerdigung sind sie nur zu viert, Mutter Petra hat ausnahmsweise die Hunde zu Hause gelassen, Willy-Martin trägt Anzug und Krawatte, Renate hat einen modischen Fascinator auf ihrem Kopf drapiert – sie ist ja Britin – und sieht aus, als müsse sie gleich noch auf die Pferderennbahn, zwanzig Euro auf Noble Moon setzen. Die freie Rednerin erzählt irgendwas vom ewigen Kreislauf, Asche zu Asche, Ökosystem, Frau Goebel könne jetzt wieder eins sein mit der Natur und würde gehen, wie sie gekommen war. Mutter Petra meldet sich mitten während der Ansprache aufgeregt mit schnipsenden Fingern und fragt, ob die Urne nicht von Füchsen oder anderen Tieren ausgebuddelt und geschändet werden könne, Willy-Martin stößt ihr daraufhin den Ellbogen in die Seite und wirft ihr einen mahnenden Blick zu. Es dauert nicht länger als zwanzig Minuten, bis die Zeremonie vollbracht und Frau Goebel an ihrem Baum bestattet ist. Renate ist die Einzige, die weint, ihr Schluchzen hallt in den sonst so ruhigen Wald, bei Beerdigungen muss sie immer an Mandarine Schatzi denken. Der hätte so eine Friedwald-Bestattung auch gut gefallen, bei Waldspaziergängen hatte sie an solchen Buchen immer am allerliebsten ihr großes Geschäft verrichtet.
Nach der Beerdigung geht es zu Mutter Petra, sie muss ja nach den Hunden gucken, und außerdem hat sie gebacken. Bei www.chefkoch.de stand unter der Kategorie «Leichenschmaus», dass ein typisches Essen für eine Beerdigung der Streuselkuchen sei, also war sie am Vorabend fleißig und hat drei Bleche davon gebacken. Allerdings haben ihr die Rezepte aus dem Internet «zu wenig Pep» gehabt, und sie hat eine «Eigenkreation» daraus gemacht. Wie Silke und die anderen schnell feststellen, handelt es sich bei dieser Eigenkreation um einen mit in sehr hochprozentigem Alkohol eingelegten Früchten gefüllten Streuselkuchen, der vor allem nach Branntwein schmeckt.
«Tja, tja, tja. So schnell ist das Leben vorbei, von jetzt auf gleich», seufzt Mutter Petra, als alle vier am Tisch Platz genommen haben. Renate schluchzt immer noch vor sich hin, Willy-Martin gießt allen Kaffee ein, Silke isst winzige Stücke vom Kuchen.
«Hat doch alles gut geklappt. Ich denke, Frau Goebel wäre zufrieden, wie das heute abgelaufen ist, mit dem Baum und so, ist ’ne schöne Sache», versucht Willy-Martin die angeschlagene Stimmung zu heben.
«Können wir die Beerdigung für Zippo ja auch schon mal planen», nuschelt Silke und stochert verbittert in ihrer Schnapsaprikose. Die drei starren sie erschrocken an.
«Silke! Der Zippo ist doch noch nicht tot, jetzt mal doch nicht den Teufel an die Wand!», empört sich Renate.
«Nur noch eine Frage der Zeit. Oder was denkst du, wie lange wir ihn mit vierzig Euro am Leben halten?», kontert Silke.
Stille.
Niemand weiß mit der Situation umzugehen, Mutter Petra wendet sich verunsichert den Hunden neben ihrem Stuhl zu. «Ja, seid ihr fein. Feini, feini, feini!»
Renate schnieft in ein Stofftaschentuch, mit dem sie unmittelbar danach ihre Brillengläser poliert. Willy-Martin legt behutsam seine Hand auf Silkes Schulter. «Wir finden eine Lösung.» Silke ist nicht überzeugt. Am frühen Abend fahren sie nach Hause.
«Das ist ja fast wie damals, als wir zu Tropical Islands gefahren sind!», quiekt Renate, als die drei beengt im Auto sitzen. «Nur dass die alte Goebel jetzt tot ist», fügt sie hinzu, als würde es ihr jetzt erst wieder einfallen. Silke schweigt die ganze Fahrt über. Heute Nacht möchte sie allein sein.
Zu Hause legt sie sich mit einer großen Flasche Grauburgunder ins Bett. Der Wein wärmt ihren Rachen, die Daunendecke ihre Füße. Was, wenn sie die Notbremse nie gezogen hätte? Würde sie dann jetzt in einem 1,80-Meter-Boxspring-Bett liegen und traurig Wein trinken, weil Roland sie beim Abendessen wieder gedemütigt hat? Oder hätte er irgendwann mal die Kurve gekriegt, diese berühmte Kurve, von der so viele Frauen sprechen, wenn sie sich nicht von ihrem Freund oder Ehemann oder Lebensabschnittsgefährten trennen können, weil das eine Mal ja nur ein Ausrutscher war und er sich halt noch die Hörner abstoßen muss und Männer ja nun mal so sind? Hätte er sich irgendwann selbst die Hemden gebügelt und den Salat geschnitten und die Geschenke an Weihnachten selbst verpackt, obwohl Frauen «das nun mal einfach besser können»? Sicher hätten sie Geld gehabt, genug Geld, um Zippo zumindest einen Teil seiner Behandlung bezahlen zu können, «Sicherheit, Verfügbarkeit, Rendite», das war laut Roland das magische Dreieck der Geldanlage. Er hatte vorgesorgt, schon früh viel gearbeitet, um viel zur Seite zu legen. Ja, sie hätten keine Sorgen gehabt, sie wären einmal im Jahr nach Teneriffa geflogen und im Winter zum Skifahren nach Ischgl. Irgendwann hätten sie wahrscheinlich Kinder bekommen, weil man das eben so tut, wenn man verheiratet ist und in einem Haus wohnt, da kommt eins zum anderen. Silke hat es nicht vermisst, das Muttersein. Überhaupt ist es ihr gerade mehr als recht, allein zu sein, in ihrem Bett mit der warmen Daunendecke und der Flasche Grauburgunder. Als sie zu einem neuen Schluck ansetzt, klingelt es plötzlich Sturm. Renate steht vor der Tür, sie ist aufgebracht.
«Was ist denn jetzt los?», fragt Silke mit trübem Blick, als Renate mit einem großen Rucksack auf dem Rücken an ihr vorbei in die Wohnung stürmt.
«Tür zu, Tür zu!»
Nachdem die Tür ins Schloss gefallen ist, vergewissert Renate sich, ob sie allein in der Wohnung sind.
«Ich hab schon geschlafen!», brummt Silke genervt, Renate lässt hastig die Jalousie im Wohnzimmer run ter.
«Silke, das muss jetzt unter uns bleiben.»
«Was denn?» Silke hat keine Lust auf eine von Renates Showeinlagen.
Renate wirft ihr den schweren Rucksack vor die Füße.
«Was ist das?», fragt Silke.
«150000 Euro.»
«WAS?», schreit Silke und muss dabei Weißwein aufstoßen.
«Nicht so laut!» Renate ist nass geschwitzt. «Ich bin eine Kriminelle, Silke! Ich habe schlimme Dinge getan.» Ihre Augen füllen sich mit Tränen. «Ich kann das nur dir erzählen, weil ich weiß, du verurteilst mich nicht. Oder vielleicht verurteilst du mich doch, aber wir bleiben trotzdem Freundinnen, das weiß ich. Bitte, nimm das Geld und gib es Zippo, für die Behandlung. Ich kann es nicht behalten, ich bin eine Kriminelle, an meinen Fingern klebt Blut!»
Silke hat die Augen weit aufgerissen, ihre Hände zittern. «Hast du jemanden umgebracht?»
Renates Lippen vibrieren, ihre Nase läuft. Sie kann ihr Taschentuch nicht finden und schnieft kurzerhand in ihren linken Ärmel. «Ich hab dir doch von Weißrussland erzählt und von Thailand und Ghana und der Sache mit dem Scamming.»
«Ja.»
«Na ja, es stimmt schon. Ich hab sie gefunden, die Übeltäter, in einem Internetcafé in Minsk. Zwei Männer und eine Frau, das war organisierte Kriminalität. Ich habe sie zur Rede gestellt, kennst mich ja, wie ich bin, ich hab mich vor die hingestellt und denen sinngemäß gesagt, also auf Englisch, dass ich das gar nicht okay fand. Da waren die erst mal baff, dass ich sie gefunden hatte und alles, und wir sind dann auch schnell ins Gespräch gekommen. Die machen das jeden Tag, total professionell mit iPad und allem. Da war ich schon fasziniert, und einer, der war ehrlich ganz toll lieb zu mir, der Juri, den kennst du ja auch von den Fotos.»
«Nein! Daher kennst du den Juri? Und was ist mit Vladimir und Sean?»
«Ja, die gibt es schon, aber wirklich verliebt bin ich nur in Juri. Wir haben uns einfach gut verstanden. Ich hab mit der Bande gekocht, und die haben mir erklärt, wie sie das machen, mit dem Anschreiben im Internet und mit WhatsApp, das war schon ganz schön clever, und ich konnte das dann auch irgendwie verstehen, dass die das machen, so viel Arbeit gibt es da halt nicht. Und dann sind wir ins Gespräch gekommen, Juri hat mich gefragt, ob ich nicht Lust hätte, bei ihnen mitzumachen von Deutschland aus, die Gewinne könnten wir uns immer teilen, und, na klar sag ich da nicht nein. Ich meine, es ist leicht verdientes Geld, und mit WhatsApp konnte ich schon immer gut, und ich habe mich gefühlt wie Bonnie von Bonnie und Clyde, weißte? Wirklich, Silke, ich wollte die einfach nicht enttäuschen.»
«Dann warst du nie in Thailand?»
«Ich musste doch meine Spuren verwischen.»
Silke öffnet fassungslos den Rucksack, ganze Bündel Hunderterscheine fallen ihr entgegen.
«Ich mach das nicht mehr, Silke, ich bin da ausgestiegen!», heult Renate und schnieft jetzt auch in ihren rechten Ärmel. «Ich hab dem Juri gesagt, dass ich raus bin, ich kann das nicht mehr, das ganze Geld, ich weiß gar nicht, wohin damit, und dann die Lügerei den ganzen Tag, das hat mich alle gemacht. Das waren ganz arme Schweine, die ich da belogen habe, Leute wie ich und du. Nimm du das Geld, ich bin eine Kriminelle. Damit muss ich jetzt leben, ich werd im Leben nicht mehr froh, aber du kannst das Geld nutzen für was Gutes, vielleicht wird der Zippo gesund, dann hat es noch einen guten Zweck erfüllt.»
Eine Weile stehen Silke und Renate sich gegenüber, zwischen ihnen der Rucksack mit den 150000 Euro, Renate schnieft und weint und zetert, Silke sieht ihr dabei zu. Schließlich streckt sie ihr die Arme entgegen, Renate weicht erst reflexhaft zurück, dann geht sie schluchzend auf Silkes Umarmung ein. Die beiden Frauen liegen sich in den Armen, Silke weint stille Tränen, Renate schluchzt laut, sie weinen und wiegen sich und hören nicht auf, sich immer wieder fest zu drücken, und sie stehen so da, eng umschlungen, und weinen ins Wohnzimmer.
«Hast du getrunken?», fragt Renate mit tränenerstickter Stimme.
«Nicht genug», antwortet Silke.
Als Silke zwei Wochen später mit Zippo das Krankenhaus betritt, um ihn zu seiner Skelettszintigraphie zu begleiten, sind beide mehr als angespannt.
«Was soll schon passieren?», fragt er, als er den gelben Pfeilen auf dem Boden zum Aufzug folgt.
«Wird schon», antwortet Silke. Es fühlt sich an, als läge ein großer Stein in ihrem Magen. Am Behandlungszimmer angekommen, drückt sie Zippo noch mal fest an sich.
«Du musst nicht hier warten», versichert er ihr.
«Ich bin da», sagt Silke und deutet auf eine Sitzreihe gegenüber der Tür.
«Das dauert insgesamt fünf Stunden, hast du selbst gesagt.»
«Ich bin da.»
Zippo nickt und verschwindet hinter der weißen Tür, Silke lässt sich auf den metallenen Mehrzweckstuhl fallen. Das Krankenhaus riecht genau wie beim letzten Mal, als sie mit Frau Goebel hier waren. Über den Flur hasten Ärztinnen, trotten Patienten, die sich auf Rollatoren stützen, schieben Krankenpfleger große Metallwagen mit Handtüchern. Da war sie also wieder. In diesem verdammten Krankenhaus.
«Das Leben ist eins der Härtesten», hatte Silkes Oma immer zu ihr gesagt, wenn die Depressionen im Winter wieder schlimmer wurden und ihr nichts anderes mehr übrigblieb, als über die ganze Sache zu lachen. Es war ein verzweifeltes Lachen, ein alternativloses, aber eben auch ein Lachen.
ENDE