Als wir an diesem Punkt der Recherche angekommen sind, spüren wir instinktiv, dass wir noch keinen Schritt weiter sind, unseren Streit zu klären. Christian A., der glaubt, dass da doch was sein muss, kennt jetzt zwar die aktuellen Forschungsergebnisse der Ufo-Kommission, die Christian S. aber wiederum nur lapidar mit »Nichts Genaues weiß man nicht« zusammenfasst. Außerdem haben wir tief in der Geschichte der Ufologie gewühlt, haben uns angesehen, wie die Wellen des Ufo-Glaubens immer wieder aufbrausen und dann verebben. Es ist ein ewiges Auf und Ab, bei dem immer wieder dieselben Argumente ausgetauscht werden. Und hinzu kommen dann noch Geschichten wie die von Bill Moore und Paul Bennewitz, die eine ernsthafte Auseinandersetzung so schwer machen. Denn wenn Ufo-Gläubige (also Christian A.) mit vermeintlichen Zeugenaussagen von Pilotinnen wie Alex Dietrich daherkommen, die bis heute fest davon überzeugt ist, dass das von ihr beobachtete Ufo nicht menschlichen Ursprungs ist, dann kommt Christian S. an und zieht die lange Geschichte der Desinformation aus der Kiste. Wie soll man so denn bitte weiterkommen?
Nach langem Grübeln – also einer Partie »Mount and Blade: Bannerlord« auf der Playstation – kommt dann die Idee. Um all die sich überkreuzenden, ineinanderlaufenden Geschichten wirklich verstehen und einordnen zu können, müssen wir einen Schritt zurücktreten und generell über unser Verhältnis zu Aliens nachdenken. Denn natürlich haben wir alle Geschichten im Kopf, wenn wir ein Licht am Nachthimmel sehen. Geschichten, wie wir sie aus Filmen wie »Contact« oder »Unheimliche Begegnung der dritten Art« gesehen haben. Oder auf unserem Fernseher in den 90ern, als wir Erich von Däniken und »Akte X« verfolgten.
All unser Denken über Ufos ist bestimmt von Geschichten, die wir mal irgendwo aufgeschnappt haben. Lasst uns also noch einmal wirklich detailliert hinschauen. Wie sehr prägt die Popkultur unser Denken über Aliens? Sind Menschen wie Christian A. schlicht und ergreifend nur popkulturverstrahlt, weil sie zu viel »Akte X« geglotzt haben und einfach wollen, dass dort draußen etwas ist? Weil sie darin einen Sinn sehen, sich nicht allein fühlen, Teil eines großen Ganzen sein wollen? Fangen wir mit der größten Geschichte aller Zeiten an. Nein, nicht die Wiederauferstehung Jesu, sondern die Geschichte der Area 51. Der größten Ufo-Verschwörung aller Zeiten (GröUVaZ).
Irgendwo im südlichen Nevada befindet sich die Area 51. Und wahrscheinlich haben Sie jetzt schon Bilder im Kopf. Vielleicht von einer fliegenden Untertasse in einem riesigen Hangar. Vielleicht von einer Untertasse, die über dem staubigen Wüstenboden abhebt. Vielleicht aber auch von einem grauen Alien mit großen mandelförmigen Augen, das wie ein toter Aal auf einem OP-Tisch liegt. Vermutlich haben Sie von den Gerüchten gehört, die die Militäranlage umwehen. Davon, dass hier die Überreste des Ufo-Absturzes in Roswell aus dem Jahr 1947 liegen. Davon, dass hier tote oder noch lebende Aliens untersucht werden. Oder davon, dass hier der grobkörnige Film gedreht wurde, mit dem die US-Regierung der Welt vorgegaukelt hat, auf dem Mond gelandet zu sein, was übrigens gar nicht mal so unplausibel ist. Also angenommen, man wollte unbedingt ein Mondlandefakevideo drehen, dann doch am besten in dieser Gegend. Hier, wo die Apollo-11-Crew für ihre Mondmission in den Kratern trainiert hat, die US-Atombombentests in die Wüste von Nevada gesprengt haben. Es gibt auf der Welt nur wenige Orte, die sich besser als Mondkulisse eignen.
Vielleicht haben Sie auch davon gehört, dass die Area 51 gerne mal als Treffpunkt genutzt wird, wenn wichtige Alien-Vertreter etwas mit wichtigen Menschen-Vertretern zu besprechen haben. 1954 soll beispielsweise der damalige US-Präsident Dwight D. Eisenhower während eines Golfurlaubs in Palm Springs mal für 24 Stunden verschwunden sein, wegen eines Zahnproblems, hieß es. Die fragliche Zahnärztin konnte sich an den Besuch des prominenten Patienten aber gar nicht erinnern, und so gibt es die Spekulation, Eisenhower wäre kurz zur gut 300 Kilometer entfernten Area 51 gejettet und hätte sich dort mit Aliens getroffen. Die seien Eisenhower etwas »unförmig« vorgekommen, hätten ein neues Bildungsprogramm für die ganze Erde gefordert und ihm auch ihr Ufo gezeigt.
Vielleicht haben Sie auch von Janet gehört, der geheimnisvollsten Fluglinie der Welt. Die Flugzeuge dieser Fluggesellschaft sind meist weiß und haben eine rote Streifenlackierung, jedoch keine Firmenlogos oder andere Identifikationsmerkmale. Die Janet-Maschinen starten von einem geheimen Terminal am internationalen Flughafen von Las Vegas und bringen die gut 1500 Mitarbeiter der Area 51 zur Arbeit. Vielleicht befindet sich ja auch das ein oder andere Alien mit an Bord und ärgert sich über den schlechten Service in der Economy Class und darüber, dass unförmige Alien-Körper in einem Ufo mehr Beinfreiheit genießen?
Erst 2013 bestätigt die CIA offiziell die Existenz des streng bewachten Militärgeländes, auf dem jahrzehntelang klandestine Forschungs- und Entwicklungsprojekte vorangetrieben wurden. Unter anderem werden dort die Spionageflieger SR-71-Blackbird, der Tarnkappenbomber Lockheed F-117 und moderne Kampfdrohnen erprobt. In den 50ern testet man hier das Spionage-Flugzeug U-2, das eigens dafür konstruiert wurde, enorme Höhen zu erreichen. Das Flugzeug fliegt auf 18 000 Metern, was praktisch ist, wenn man unerreichbar sein will für die feindliche Flugabwehr und andere Flugzeuge. Genau diese Eigenschaft macht das Flugzeug zu einem exzellenten »Ufo-Stimulus«, so nennen Ufo-Forscher Flugkörper, die von unbedarften Beobachtern als Ufo fehlinterpretiert werden. Das Flugzeug fliegt nämlich so hoch, dass die Flügel die Sonneneinstrahlung auch dann noch reflektieren, wenn die Sonne für Flugzeuge auf niedrigeren Flughöhen schon längst untergegangen ist. Vor allem in den frühen Abendstunden sehen Piloten merkwürdige Lichter am Himmel und melden unidentifizierte Flugobjekte. Um diese Vorfälle zu klären, werden mehrere Untersuchungen angestrengt. 1948 wird das »Project Sign« ins Leben gerufen, 1949 das »Project Grudge«. Es sind beides »So und jetzt gehen Sie mal bitte schön weiter, denn hier gibt es nichts zu sehen«-Projekte, die mehr oder weniger das Ziel haben, jeden, der Ufos sieht, zum Spinner zu erklären. 1952 kommt dann das »Project Blue Book«, und hier werden die Vorfälle zum Teil wirklich untersucht.
Die Air Force sammelt akribisch die Berichte, verschleiert aber die wahre Ursache der Ufo-Sichtungen und behauptet stattdessen, dass das da am Himmel nur optische Täuschungen gewesen seien, atmosphärische Phänomene oder konventionelle Flugobjekte wie Wetterballons oder Flugzeuge. Die Ufo-Sichtungen gehen weiter, aber vermutlich ist die US-Regierung damals gar nicht mal so unglücklich darüber, dass man streng geheime Militärprojekte bisweilen nicht für streng geheime Militärprojekte hält, sondern für streng geheime Ufos. Die US-Journalistin Annie Jacobsen hat 2011 einen Bestseller über die Area 51 geschrieben, in dem sie argumentiert, dass die US-Regierung und das Militär Ufo-Gerüchte möglicherweise nicht direkt gefördert, aber die Verwirrung und das öffentliche Interesse an Ufos ausgenutzt hätten, um die auf Area 51 durchgeführten Projekte geheim zu halten.
Die Area 51 ist heute längst ein Mythos, aber einer, der doch einigermaßen entzaubert ist. 1995 hat die damalige Air-Force-Chefin während eines Gerichtsprozesses wegen Umweltschutzverstößen nicht einmal den Namen der Basis nennen dürfen, die von den 50ern bis in die frühen 90er auch als »Dreamland«, »Groom Lake« oder auch einfach nur »The Ranch« bekannt ist. Und heute? Heute pilgern Ufo-Fans aus aller Welt in die kleinen Ortschaften rund um die Militärbasis, erfreuen sich an der Vielzahl von Museen, Restaurants und Motels, die am Alien-Hype verdienen wollen, und shoppen in einem Souvenirladen namens »Alien Fresh Jerky« lecker Trockenfleisch.
Mittlerweile wissen wir, wo genau die Area 51 sich befindet, und wenn wir per Google Earth an einzelne Gebäude heranzoomen und die Erde näher und näher kommt, dann können wir erspüren, wie es sich anfühlen würde, dort in einem Ufo zu landen. Und die Janet Airline? Die transportiert vermutlich keine Aliens, sondern ist mehr so ein luxuriöser Shuttle-Service für die Mitarbeiter der Area 51. Natürlich gibt sich die US-Regierung, was die Area 51 angeht, immer noch verschlossen wie ein Gartentor. Aber so ist das eben bei Regierungen, sie wollen, und sie müssen, einerseits transparent sein, aber zugleich auch geheimnisvoll. Die Aura des Ungefähren verleiht einer Institution Macht. Ein bisschen Rest-Neugierde bei der Bevölkerung ist aber immer noch da.
Im Juni 2019 hängt der 21-jährige Collegestudent Matty Roberts auf Facebook ab. Roberts wohnt bei seinen Eltern in Bakersfield, Kalifornien, und verbringt viel Zeit in der Anime- und Videospiel-Community. Eine Sache hat es Roberts dabei besonders angetan, nämlich das sogenannte »Shitposting«. Roberts kippt gern dumme Memes ins Internet, etwa einen SpongeBob, der sich über den eigenen Rauschgiftkonsum lustig macht, oder einen Remix von einem Billie-Eilish-Video, aber mit Furzgeräuschen. An jenem Tag bleibt Roberts lange wach und postet ein Facebook-Event. Er nennt es: »Storm Area 51, They Can’t Stop All of Us«. Die Idee ist simpel: Wenn nur genügend Leute das streng geheime Militärgelände stürmen, ist das streng geheime Militärgelände bald nicht mehr so streng geheim, und dann wüsste man endlich auch, was dort so geht mit Aliens und Ufos. Dann passiert das, was so oft im Internet passiert: Ein Witz wird zu einem viralen Phänomen. Prominente springen auf, der Rapper Lil Nas X etwa produziert ein Musikvideo zu der Aktion. Irgendwann wird aus dem viralen Phänomen eine veritable Staatskrise. Innerhalb weniger Tage sagen fast zehn Millionen Menschen ihre Teilnahme an dem Event am 20. September 2019 zu, zusätzlich klicken 1,5 Millionen auf »interessiert«. Die Sache eskaliert so sehr, dass ein Sprecher der Air Force die Menschen eindringlich davor warnt, sich der Basis zu nähern, man werde tödliche Waffen gegen jeden Eindringling einsetzen. Zwei Countys erklären vorsichtshalber schon mal den Notstand. Aber am 20. September kommen dann doch nur ein paar hundert Leute, viele von ihnen als Aliens verkleidet. Dazu gibt es Musik, Foodtrucks und Dokumentarfilm-Vorführungen.
Inspiriert zu der Aktion wurde Matty Roberts von einer schillernden Figur, nämlich Bob Lazar. Der schlanke US-Amerikaner, der mit seiner Brille sympathisch-nerdig wirkt, ist im Juni 2019 bei dem berühmten Podcaster Joe Rogan zu Gast und erzählt dort die Geschichte, die er seit bald drei Jahrzehnten erzählt, nämlich dass er in der Area 51 an streng geheimer Ufo-Technologie gearbeitet hat. Lazar ist der Ufo-Whistleblower schlechthin. Schon in den 70ern gibt es zwar den ein oder anderen Area-51-Maulwurf, der mal in einem Ufo-Magazin zitiert wird. Doch das, was Lazar 1989 zum ersten Mal in einer Fernsehsendung in Las Vegas berichtet, ist spektakulär. Er habe nicht nur irgendwo auf der Area 51 gearbeitet, sondern im noch geheimeren militärischen Bereich S-4. Und dort habe er nicht irgendetwas gemacht, sondern an einer fliegenden Untertasse herumgeschraubt, am sogenannten »Sport Model«. Und das nicht aus irgendeinem Grund, sondern um aus Alien-Technologie schlau zu werden, sodass wir Menschen sie irgendwann nachbauen können. Insgesamt würden auf der Area 51 sogar mindestens neun Ufos herumstehen. Lazar kann toll erzählen, man hört ihm gerne zu, aber er nimmt es mit der Wahrheit nicht immer so genau, sagen seine Kritiker. So gäbe es keinerlei Beweise, dass Lazar wirklich in der Area 51 gearbeitet habe. Lazar behauptet zudem, am renommierten Massachusetts Institute of Technology einen Abschluss gemacht zu haben, doch auch hier: kein Bob-Lazar-Eintrag im Studentenverzeichnis, kein Bob Lazar auf einer der Abschlusslisten, kein Bob-Lazar-Bild in einem Jahrgangsbuch, nichts. Was Lazar auch nicht glaubwürdiger macht, und okay, das ist jetzt etwas geschmäcklerisch, ist die Tatsache, dass er mal eine rote Corvette mit »MJ-12« im Autokennzeichen gefahren hat. Und trotzdem muss man Lazar eines lassen: Seine Story hat sich in all den Jahren, seit er damit an die Öffentlichkeit ging, vergleichsweise wenig gewandelt. Lazar ist verhältnismäßig konsistent in dem, was er sagt, hat zumindest keine auffälligen Änderungen vorgenommen oder neue Sachen dazugedichtet. Und er hat sich nicht allzu sehr in die ganz krasse Alien-Spinner-Ecke begeben und betont auch immer wieder, dass er vieles nicht weiß und keine Lust hat auf Spekulationen. Das lässt Bob Lazar für viele glaubwürdig erscheinen. Und es ist auch durchaus denkbar, dass Lazar etwas mit dem US-Militär am Laufen hatte.
Das US-Militär und die CIA haben in den 70ern und 80ern immer mal wieder Leute in ihre Programme geholt, die man in diesen Institutionen eigentlich gar nicht erwarten würde. Leute, die man als »Querdenker« bezeichnen könnte, wenn der Begriff seit Corona nicht ähnlich kontaminiert wäre wie das Atomtestgelände von Nevada. Leute wie Russell Targ, der am Stanford Research Institute für das US-Militär »remote viewing« untersuchte, bei dem es darum geht, ein entferntes oder unsichtbares Ziel durch, nun ja, Hellsehen wahrzunehmen. Oder Leute wie John C. Lilly, der (zumindest angeblich) daran forschte, ob sich Delfine darauf trainieren lassen, Schiffe anzugreifen oder Minen aufzuspüren. Eine Zeit lang hatten das Militär und die Geheimdienste durchaus ein Herz für interessante Spinner, die lustige Ideen und clevere Einfälle hatten, und es ist gut möglich, dass Lazar genau so ein Typ war. Und dennoch: Vieles, was Lazar behauptet, lässt sich nicht belegen oder wirkt zumindest aufgepumpt. Da ist zum Beispiel die Sache mit dem Element 115, das von Anfang an Teil seiner Story ist. Element 115, das auch als Moscovium bezeichnet wird und aus 115 Protonen besteht, kennt man aus vielen Filmen oder Computerspielen. In der Popkultur treibt es Raumschiffe an, ermöglicht Zeitreisen und bringt futuristische Waffen zum Laufen, kurz, Element 115 ist das Mittel der Wahl, wenn man etwas total Absurdes erklären, aber nicht gleich mit Magie oder Mystery-Quatsch anrücken will. In »Tomb Raider« ist Element 115 ein Meteoritenstück, mit dem die Evolution verändert wird. Im Blockbuster-Shooter »Call of Duty« werden Menschen durch das Element 115 zu Zombies. Und in der »X-COM«-Serie nutzen Aliens es als Waffe und Ufo-Antrieb. Bob Lazar behauptet 1989, dass dieses Element 115 ultraschwer und ultrapotent sei, bereits 230 Gramm würden ausreichen, um ein Raumschiff rund 20 bis 30 Jahre lang zu betreiben. In der Area S-4 lagern laut Lazar 450 Kilogramm des Zeugs, sodass man, grob geschätzt, mit einem davon angetriebenen Raumschiff gut 50 000 Jahre durch das Universum düsen könnte.
Als Bob Lazar Ende der 80er der Welt von Element 115 erzählt, ist es eigentlich noch gar nicht entdeckt. Es wird erst 2003 in einem russischen Kernforschungslabor synthetisiert. Ja, aber wie kann Bob Lazar von einem Element wissen, das erst 14 Jahre später entdeckt wird? Gibt es dafür noch eine andere Erklärung, als dass, sagen wir mal, Lazar es in einer streng geheimen Militäreinrichtung aus dem Tank irgendwelcher Alien-Ufos abgepumpt hat? Ja, die gibt es. Denn bereits zu Lazars Zeit wird viel über hypothetisch machbare Elemente geforscht. Vor 115 wird bereits Element 116 synthetisiert, das Livermorium. Und fast zur gleichen Zeit 114, genannt Flerovium. Dass diese Elemente herstellbar sind, ist also bekannt, und eigentlich ist es nur eine Frage der Zeit, es auch hinzubekommen. Lazar hat also einfach gut geraten. Zudem stimmen seine Angaben über das Element 115 nicht mit der Realität überein. Der vermeintliche Alien-Whistleblower hatte das Element als stabil beschrieben. In Wahrheit ist es aber instabiler als eine Braut, die auf ihrer lang geplanten Traumhochzeit merkt, dass ihre verhasste Cousine aus Rache ebenfalls ein weißes Kleid anhat. Wir sprechen hier aus Erfahrung.
Lazar hat sicherlich mit dazu beigetragen, dass in den 90ern die Area 51 in den Medien und in der Popkultur allgegenwärtig ist. Seine Geschichte passt auch in die Zeit, denn in den 90ern gibt es (wieder) einen regelrechten Ufo- und in gewisser Weise auch einen Verschwörungsboom. Angeblich erkundigt sich der damalige US-Präsident Bill Clinton gleich nach seinem Amtsantritt über Ufos. 71 Prozent der Amerikaner sollen damals der Meinung gewesen sein, die Regierung wisse mehr über Ufos, als sie zugibt.
Die amerikanische Historikerin Kathryn Olmsted beschreibt in ihrem Buch »Real Enemies« die 1990er-Jahre als den Höhepunkt der paranoiden Stimmung. Der Kommunismus war endlich weg, doch das Misstrauen gegen Staat und Regierung blieb. Die 90er sind das Jahrzehnt des Neoliberalismus. Der Kapitalismus hatte sich also endgültig durchgesetzt – und drehte jetzt richtig auf. Am 11. September 1990 hält US-Präsident George Bush Senior eine Rede. Überschrieben ist sie mit »Toward a New World Order«. Die neue Weltordnung, sie soll von neoliberaler Wirtschaftspolitik und US-amerikanischer Militärmacht geprägt sein. Dagegen wendet sich die politische Linke. 1996 laden die linksgerichteten Zapatisten zum ersten »intergalaktischen Treffen« im Amazonas ein, 5000 Menschen kommen im mexikanischen Regenwald zusammen. Daraus entwickelt sich nach und nach eine Bewegung, die scharfe Kritik übt an der neoliberalen Globalisierung. Kritisiert werden das hemmungslose Konsumverhalten und die Ausbeutung des Globalen Südens. Doch bisweilen mischt sich hier auch ein unterkomplexes Verschwörungsgeraune in die Kritik, etwa wenn behauptet wird, die Kriege der Zukunft würden in Hinterzimmern auf irgendwelchen Weltwirtschaftsforen ausgehandelt und geplant.
Im Kino beginnt das paranoide Jahrzehnt 1991 mit Oliver Stones Verschwörungsepos »JFK« und endet 1999 mit »Matrix«. »Die Matrix ist die Welt, die über deine Augen gestülpt wurde, damit du blind für die Wahrheit bist«, erklärt uns Morpheus gleich zu Beginn. Und dazwischen? Dazwischen ist »Akte X« und ganz viel Geraune. Während Tom DeLonge in Kalifornien an der Halfpipe abhängt, singen Nirvana »Just because you’re paranoid, don’t mean they’re not after you«, und im Discman läuft Radioheads meisterhafte Heulbojen-Hymne »Paranoid Android« auf Repeat. Die 90er sagen uns: Es gibt eine Welt hinter der Welt und dieser Welt hinter der Welt, und da geht es richtig rund: Aliens, Ufos, Verschwörungen und kettenrauchende Deep-State-Funktionäre, die dafür sorgen, dass die Wahrheit nicht als Licht kommt und wir weiter in der Matrix vor uns schlafschafen. Mandela, Macarena, »Mortal Kombat«: Kein Zweifel, die 90er waren ein tolles Jahrzehnt, aber hier nimmt dann auch so einiges von dem seinen Anfang, was uns heute Probleme macht. Darunter ist auch eine Spielart des Verschwörungsglaubens, der eine Menge mit Ufos zu tun hat. Die Rede ist vom libertären Verschwörungsglauben. Aber um das zu erklären, müssen wir ein wenig ausholen.
Heute, wo Verschwörungstheoretiker Parlamente stürmen, eigene Fantasie-Staaten ausrufen, Polizisten erschießen und Impfungen verweigern, klingt das seltsam, aber ja: Verschwörungstheorien und Verschwörungstheoretiker waren wirklich mal cool. Und das hat eine Menge mit »Akte X« zu tun. Am 10.9.1993 wird in den USA die erste Folge ausgestrahlt, wenig später verwandeln Mulder und Scully den furchtbarsten aller Wochentage hier in Deutschland in den besten, nämlich in den Mystery-Montag auf Pro7.
Im Zentrum von »Akte X« stehen die FBI-Agenten Dana Scully und Fox Mulder. Die beiden sollen mysteriöse Fälle aufklären, wobei »mysteriös« hier eine Untertreibung ist. Nach dem Schema »Monster of the Week« spüren Mulder und seine Kollegin mal Wurmmutanten in Abwasserkanälen, gen-manipulierten Killerbienen, Geistern und natürlich auch Aliens nach. Mulder ist der Typ mit dem »I want to believe«-Poster im Büro. Er glaubt an Ufos und an allerlei Verschwörungstheorien. Nicht ganz ohne Grund, denn er ist überzeugt, dass seine Schwester einst von Außerirdischen verschleppt wurde. Scully wiederum ist eine Ärztin und Skeptikerin. Sie glaubt, dass es für alles eine logische Erklärung gibt, und rückt den Fällen mit dem Arsenal des kritisch-rationalen Denkens zu Leibe. Wobei sie damit gerne mal an ihre Grenzen stößt.
Kaum etwas hat das Bild von Verschwörungstheorien und Verschwörungstheoretikern so sehr geprägt wie »Akte X«. Das beginnt schon allein bei der Vorstellung, es gäbe eine geheime FBI-Abteilung, die obskure Fälle untersucht. Ein wenig erinnert das an die »Men in Black«, auch so ein Ding der 90er übrigens. Wobei, kurzer Klugscheißereinwurf, dieser Mythos natürlich sehr viel älter ist. Erzählungen von dunkel gekleideten, mysteriösen Figuren tauchen schon in den 1950er- Jahren auf. Es gibt Berichte von Leuten, die behaupten, mitten in der Nacht hätten wildfremde, ernst dreinblickende Männer in schwarzen Anzügen vor ihrer Tür gestanden. »Wir müssen den Gaszähler ablesen!«, hätten sie gesagt. Und dann seien sie in den Keller gegangen und, wait for it, nie wieder zurückgekommen. Vermutlich haben die Männer aber niemanden geblitzdingst, vielmehr lässt sich das Phänomen vor dem Hintergrund der paranoiden McCarthy-Ära erklären. Die »Phantom Meter Reader« wurden verdächtigt, Agenten zu sein, die Häuser verwanzen. Es gibt auch Schilderungen von Menschen in schwarzen Anzügen, die plötzlich vor einem Haus gestanden seien. Bewegungslos. Und dann, wait for it, nach einer Stunde einfach wieder gegangen seien. Und dann gibt es diese Story, die der Autor John Keel in seinem Klassiker »The Mothman Prophecies« schildert, und die geht so: Im Sommer 1967 betritt ein auffälliger, groß und unbeholfen wirkender Mann einen Laden. Er trägt einen altmodischen, schlecht sitzenden schwarzen Anzug und hat hervorstehende Augen »wie bei einem Schilddrüsenkranken«. Mit seinen dürren Fingerchen winkt er die Bedienung zu sich heran und bestellt, Zitat, »Essen«. Die Bedienung reicht ihm die Karte, aber die versteht er nicht, er will einfach nur »Essen«. Also bringt die Bedienung ihm ein Steak, aber da das nächste Problem: Der merkwürdige Gast kann nicht mit Messer und Gabel umgehen. Also schneidet die Bedienung ihm das Steak zurecht, und der merkwürdige Gast spießt die Fleischbröckchen mit der Gabel auf. Irgendwann fragt die Bedienung: »Woher kommst du?«, und der merkwürdige Gast antwortet, wait for it, »nicht von hier. Ich komme aus einer anderen Welt«.
Dass die »Men in Black« Aliens sind, vielleicht sogar aus einer Galaxis, mit anderen Tischgewohnheiten als denen hier auf der Erde, das ist eine Sichtweise. Andere wiederum halten diese Typen für Roboter. Dass sie heute vor allem als Ausputzer in Ufo-Angelegenheiten wahrgenommen werden, verdanken sie jedenfalls Albert Bender, einem bekannten Ufologen, der in den 50er-Jahren das beliebte Ufo-Magazin Space Review herausgibt. Im Spätsommer 1953 macht Bender eine Reihe von Entdeckungen und ist überzeugt, endlich die Wahrheit über die Ufo-Vertuschung gefunden zu haben. Er plant eine fette Veröffentlichung in der Oktober-Ausgabe. Doch kurz bevor sie erscheint, bekommt er Besuch von drei »schwarz gekleideten Männern«, die ihm eine solche Angst einjagen, dass Bender den Bericht nicht publiziert und sogar sein Magazin einstellt.
Solche und ähnliche Ufo-Folklore greift »Akte X« auf, und das macht die Serie damals so faszinierend: Von vielen der Mythen, mit denen es Mulder und Scully zu tun bekommen, hatte man vorher schon mal etwas gehört. Es geht um Übertragung von Krankheiten durch genmanipulierte Bienen, subliminale Beeinflussung, Wurmmutanten in Abwasserkanälen, Geister, Alien-Verschwörungen, Alien-Hybride-Züchtungsprogramme, geheime Militäranlagen, also um alles, was wir damals faszinierend und cool fanden. Die Serie traf auch deswegen einen Nerv, weil viele der Theorien, die da am Mystery-Montag über die Röhrenfernseher flimmerten, zuvor bereits über unsere VGA-Computermonitore geschwappt waren. Wenige Monate vor der Premiere von »Akte X« hatte das Direktorium des europäischen Kernforschungszentrums CERN das World Wide Web kostenlos für die Öffentlichkeit freigegeben. Diese bahnbrechende Entscheidung entfacht eine Informationsrevolution und leitet unwiderruflich das Zeitalter des rund um die Uhr zur Verfügung stehenden Internets ein. Schon bald kann jeder, der einen 386er besitzt und ein fiependes Modem in seinem Flur stehen hat, sich Zugang zu wissenschaftlichen Papers und seriösen Qualitätsmedien verschaffen – oder eben zu Gerüchten und Spekulationen über Ufos und Regierungsverschwörungen.
Gleichzeitig bietet dieses neue Medium allerlei Freaks ganz neue Möglichkeiten, sich zu vernetzen und ihre Ideen zu verbreiten. So laufen die damaligen Internet-Boards schnell von Verschwörungstheorien über, dazu kommen Zeitschriften, die sich explizit den wilden Theorien widmen. Heute reagieren wir genervt, wenn uns Jürgen in der Sauna vom Gym volllabert mit seinen YouTube-Weisheiten zu Corona, dem Ukraine-Krieg oder dem 11. September. Aber damals konnte man auf Cocktailpartys durchaus reüssieren, wenn man nach zwei Mai Tais die »Theorie der magischen Kugel« aus Oliver Stones Film »JFK« oder sein Wissen über die geheime Existenz von Zeitreise-Experimenten zum Besten geben konnte.
Gleichzeitig prägt »Akte X« aber auch das Bild der Verschwörungstheoretiker selbst. In der Serie waren das keine Freaks, die stundenlang auf Facebook, Reddit oder 4chan abhängen, um sich die neuesten Krümel der QAnon-Verschwörungstheorie zusammenzusuchen und dann im Bärenkostüm das US-Kapitol zu stürmen. Das waren eher leicht spinnerte, aber schlaue Typen, die »den Widerstand« darstellen und die sogar über sich selbst lachen konnten. Leute, die mehr »Conspiracy Realists« waren und weniger »Conspiracy Theorists«. Die wussten, dass Verschwörungen durchaus real sein könnten, dass das Militär im Geheimen an krassen Sachen forscht, dass Geheimdienste im Ausland Regierungen stürzen und dass die CIA Castro killen will. Leute, die zwar wussten, »was wirklich vor sich geht«, aber niemandem damit auf den Wecker gingen. Den Verschwörungstheoretikern am Mystery-Montag reicht es, eine Untergrund-Zeitung herauszugeben, sich im Schein von Neonröhren durch Berge von geheimen Dokumenten zu wühlen und ansonsten Mulder hier und da mal mit brühheißen Infos zur geheimen Existenz von Überwachungssatelliten und deren Verbindung zu angeblichen außerirdischen Entführungen zu versorgen.
»Akte X« löst eine Welle ähnlicher Serien wie »Millennium«, »Prey«, »Dark Skies«, »Sleepwalkers«, »Roswell« und das offizielle Spin-off »The Lone Gunmen« aus und beeinflusste nicht nur die Ufo- und Verschwörungsszene. 2009 veröffentlicht die britische Regierung eine Reihe geheimer Ufo-Akten. Daraus geht hervor, dass 1995 117 Ufo-Sichtungen gemeldet wurden, 1996 waren es 609. 1996 war das Jahr, in dem »Independence Day« in die Kinos kommt und die »Akte X«-Manie ihren Höhepunkt erreicht. Und als National Geographic 2012 eine Ufo-Umfrage durchführt, sagen 27 Prozent der Befragten, »Akte X« zeige am realistischsten, wie es wäre, wenn Außerirdische wirklich unter uns wären – so viele wie bei keiner anderen Serie oder keinem anderen Film.
Und dann ist da die Sache mit dem Pilotfilm des Spin-offs »The Lone Gunmen«. In der Serie, die in Deutschland »Die einsamen Schützen« heißt, geht es um eine kleine Gruppe von Verschwörungstheoretikern, die in der »Akte X«-Hauptserie immer wieder vorkommen. Die drei Investigativ-Nerds helfen Mulder und geben ein eigenes Untergrund-Magazin heraus mit den hottesten Verschwörungsnews. Viele im Internet haben sich gerne mit den Lone Gunmen identifiziert. Im Pilotfilm geht es darum, dass die US-Regierung ein Passagierflugzeug per Funkfernsteuerung in das World Trade Center lenkt, um dadurch dem Militär ein größeres Budget zu verschaffen und das Ganze ausländischen Diktatoren anzuhängen. Diese Folge wird in den Vereinigten Staaten Anfang März 2001 ausgestrahlt, ein halbes Jahr also vor dem tatsächlichen Anschlag auf die Twin-Towers. Die in der Serie geschilderte Handlung wird sich als Verschwörungstheorie bald über die ganze Welt verbreiten.
Das ist nur ein kurioser Zufall, aber in einer Hinsicht hat »Akte X« ein wirklich düsteres Erbe hinterlassen. Denn jenseits der »Monster of the Week« spinnt die Serie über mehrere Staffeln hinweg die finstere Erzählung eines »Deep State«. Nicht die Regierung ist die eigentliche Macht, sondern eine kleine Gruppe von sehr mächtigen und einflussreichen Menschen, eine Art Schattenstaat, der im Hintergrund die Fäden in der Hand hält und alle Geschicke lenkt. In der Serie sind das der kettenrauchende Krebskandidat und seine Mitverschwörer. Deswegen wirkt »Akte X« heute, wo Leute ernsthaft glauben, der Deep State hätte Donald Trump die Wahl geklaut, irgendwie aus der Zeit gefallen. Den Machern um Drehbuchautor Chris Carter kann man keinen Vorwurf machen, denn in den 90ern hätte man nicht unbedingt voraussehen können, dass irgendwann irgendwelche Leute allen Ernstes aufgrund von merkwürdigen Internet-Posts auf irgendeiner windigen Internet-Plattform auf die Idee kommen könnten, es gäbe eine konspirative Unterwanderung der US-Regierung – so wie das bei der Verschwörungsbewegung QAnon der Fall war.
Damals, als »Akte X« seinen Hype erlebt, gelten Verschwörungstheorien noch als harmlos, oder genauer: Sie scheinen harmlos. Verschwörungstheorien waren für viele eher so etwas wie moderne Märchen, Erzählungen, vor denen man sich gruselte oder über die man kurz grübelte.
Sie waren eine krude, aber faszinierende Parallelwelt, in die man gerne eintauchte. Aber eben letztlich genau das: eine Parallelwelt, die mit unserem Leben nichts zu tun hatte. Im Real Life hatten wir andere Probleme, als tagein, tagaus darüber nachzudenken, was wohl genau in der Area 51 passiert, ob »das Syndikat« tatsächlich einen Plan zur Kolonisierung der Erde durch Außerirdische hat (Staffel 4, Folge 24) oder ob das »schwarze Öl« ein Alien-Virus ist, das offensichtlich von Aliens und ihren Helfern eingesetzt wird, um eine Invasion vorzubereiten. Wobei, ach, so ganz klar ist das alles nicht. Denn »Purity«, wie dieses Öl eigentlich heißt, ist wohl schon vor Jahrmillionen auf die Erde gekommen und könnte auch der Ursprung allen Lebens hier sein (Staffel 3, Folge 15). Egal.
Anders sieht das bei den Verschwörungstheorien aus, die heute kursieren. Die haben direkten Einfluss auf das Leben und den Alltag vieler Menschen, sie sind weit mehr als faszinierende, aber doch ausgedachte Gruselgeschichten. Wenn es zum Beispiel heißt, die Corona-Impfung sei in Wirklichkeit dazu da, dass uns Bill Gates Chips zur Gedankenkontrolle implantieren kann, dann hat das eine Menge mit unserem Leben zu tun. Sehr viel mehr zumindest, als wenn in »Akte X« davon die Rede ist, dass irgendwo an menschenähnlichen Alien-Hybriden gearbeitet wird (Staffel 4, Folge 1).
Ganz ähnlich steht es um die Behauptung, 5G-Netzwerke würden zur Verbreitung von Viren eingesetzt werden oder die Kondensstreifen am Himmel seien in Wirklichkeit Chemtrails, die versprüht werden, um uns zu manipulieren oder gar zu vergiften. Jedes Mal sind das Dinge, die uns direkt betreffen, uns krank machen und uns schaden, und die Gräben zwischen uns ausheben und das Miteinander erschweren. Und was erschwerend hinzukommt: Solche Theorien liefern auch immer (oft zweifelhafte) Ideen mit, wie man Abhilfe schaffen kann für das vermeintliche Problem. Als 15-Jährige (und zu unserer eigenen Enttäuschung auch heute noch) hatten wir wenig Einfluss auf das, was in der Area 51 passiert. Wer heute aber ein Problem mit Chemtrails hat, der kann sich auf eBay für schlappe 12 500 Euro eine Akasha-Säule kaufen (Service-Hinweis: Gibt’s auf Amazon günstiger). Dieser »Umweltharmonisierer der Sonderklasse stellt sozusagen das Flagschiff (sic) von Oz-Orgonite dar«, heißt es in dem dazugehörigen Werbetext. Nicht-Eingeweihte sehen nur ein paar lange Metallstäbe, die in einem Stein stecken. Profis erkennen darin die einzig wirksame Abwehr gegen Chemtrails, Elektrosmog und generell negative Energie. Wer wiederum glaubt, Bill Gates würde ihn chippen wollen, der kann Impfungen verweigern. Und wer denkt, 5G-Netzwerke seien für die Corona-Ausbreitung verantwortlich, kann Funkmasten anzünden, so wie es 2020 in Großbritannien geschehen ist.
An diesen Problemlösungsbeispielen sehen wir aber auch, wie schnell Verschwörungsmythen in Gewalt umschlagen können. Bei dem Verschwörungsmythos, Juden würden Medien, Wirtschaft und Politik bestimmen, ist es dann gleich das ganze Leben, die Wirtschaft und jegliche gesellschaftliche Entwicklung, die von angeblich übermächtigen jüdischen Zirkeln bestimmt wird. In der dunkelsten Zeit der deutschen Geschichte wurde auch hier eine »Lösung« propagiert, die dann zur Endlösung führte, zum ultimativen Zivilisationsbruch und zur industriellen Vernichtung der europäischen Juden.
Viele der Verschwörungstheorien, die heute (immer noch) kursieren, haben kaum etwas mit denen zu tun, die uns in den 90ern so fasziniert haben. Heute ist nicht mehr die Wahrheit irgendwo da draußen, sondern nur noch der Wahn.
An der Stelle könnten wir es uns nun einfach machen. Zum Beispiel sagen: Na ja, wenn die Leute schon unbedingt an irgendwelche Verschwörungsmythen glauben wollen, dann doch bitte schön an gut abgehangene aus »Akte X«. An Ufos und Aliens, an gestaltwandelnde Killer-Außerirdische, an kettenrauchende Deep-State-Apparatschiks und sinistre Kulte, die irgendwelche Klon-Experimente durchführen. Back to the 90s! Back to harmlosen Kram! Back to Verschwörungsmythen, die so wenig wie möglich mit unserem Leben zu tun haben! Können wir nicht einfach wieder mehr über außerirdische Entführungen und geheime Regierungsbunker in der Wüste reden und weniger über Impf-Verschwörungen, Chemtrails und QAnon-Typen, die aussehen wie Jamiroquai? Tja, ganz so einfach ist es leider nicht.
Im Sommer 1994 betritt ein junger Mann die Area 51. Er ignoriert das Schild, auf dem steht, dass das Betreten dieser Anlage verboten ist und dass Zuwiderhandlung mit tödlicher Gewalt beantwortet werden kann. Er ignoriert auch die Tatsache, dass Fotografieren untersagt ist. Ihr könnt mir nicht erzählen, dass ich auf öffentlichem Grund kein Foto machen darf, denkt sich der junge Mann. Der 26-jährige Veteran des Ersten Golfkriegs hat nicht nur eine Kamera dabei, sondern auch ein halb automatisches Gewehr. Natürlich hat auch er von den Gerüchten gehört, davon, dass das Militär hier exotische Flugzeuge testet, dass hier vielleicht sogar mal ein Ufo gelandet ist, dass Forscher hier mit außerirdischen Lebensformen herumexperimentieren und dass das alles von der US-Regierung geheim gehalten wird. Er weiß, dass er eigentlich nicht hier sein darf. Aber er weiß auch, dass ihm das niemand so wirklich verbieten kann. Das ist öffentlicher Grund und Boden! Der junge Mann weiß, dass die Area streng bewacht wird von einem privaten Wachdienst, dessen Mitarbeiter Cammo Dudes genannt werden, wegen ihrer sandfarbenen Tarnklamotten (vom englischen Camouflage = Tarnkleidung), und die hier in sehr auffälligen weißen Pick-ups herumfahren. Er weiß aber auch, dass die Cammo Dudes eigentlich gar nichts dürfen. Er hat schließlich selbst einmal bei einem privaten Wachdienst gearbeitet, ein Knochenjob, 80 Stunden in der Woche, ohne echte Aufstiegsmöglichkeiten und ohne echte Kompetenzen. Die Cammo Dudes dürfen niemanden verhaften. Und erst recht dürfen sie mir als Amerikaner nicht das Recht nehmen, öffentlichen Grund und Boden zu betreten und dabei eine Waffe zu tragen!
Der junge Mann hat einen Plan: Er will so weit wie möglich in das streng bewachte Gebiet hineinfahren und dann einen Berg hochklettern, von dem aus man eine perfekte Sicht auf die Militärbasis hat. Er parkt also seinen Chevrolet Spectrum, dem er den Kampfnamen »Road Warrior« gegeben hat, und marschiert los. Nach einiger Zeit bemerkt er Sicherheitskräfte in einem weißen Grand Cherokee ohne Kennzeichen. Das ist typisch für die Cammos. Sie beziehen für gewöhnlich auf einem Hügel Stellung und beobachten aus sicherer Entfernung mit starken Ferngläsern jeden, der sich in die Nähe der Basis wagt. Der Jeep nähert sich, der junge Mann taucht ab, versteckt sich hinter einem Gebüsch in einer kleinen Senke. Die Wachen steigen aus, inspizieren den »Road Warrior«, der junge Mann hält den Atem an – und springt dann plötzlich auf. Eigentlich könnte er die beiden nun erschießen, aber stattdessen sagt er einfach nur »Hi!«. Die Wachen erschrecken, wer ist dieser Typ? Aber dann lassen sie ihn ziehen.
Der junge Mann, von dem hier die Rede ist, heißt Timothy McVeigh. Und Timothy McVeigh hasst den Staat. Auch deswegen würde er nie auf private Wachmänner schießen, denn McVeighs Feinde sind Regierungsangestellte, keine privaten Wachleute. Am nächsten Tag im Morgengrauen kommt McVeigh wieder. Er schleicht sich auf die Anlage, und es gelingt ihm tatsächlich, ein paar Fotos zu machen, obwohl kurzzeitig sogar ein einschüchternder Regierungshubschrauber des Typs Black Hawk vor ihm auftaucht. Beweise für Ufos findet er allerdings nicht.
Wenige Monate später. Timothy McVeigh fährt frühmorgens in einem gemieteten Truck nach Oklahoma City. Er trägt ein T-Shirt, darauf ein Bild von Abraham Lincoln und die Worte »SIC SEMPER TYRANNIS« (»So soll es Tyrannen ergehen«), die der Mörder Lincolns bei seinem Attentat 1865 ausgerufen haben soll. Gegen 8.50 Uhr trifft McVeigh in Oklahoma City ein, fährt seinen Lastwagen vor das Murrah Federal Building, in dem mehrere der von ihm so gehassten Regierungsbehörden ihren Sitz haben, und aktiviert eine 2,4 Tonnen schwere Bombe, die er aus Mineraldünger und mehreren 100 Litern Nitromethan gebaut hat. Dann verriegelt er das Fahrzeug und läuft schnell zu einem nahe gelegenen Gebäude der YMCA. Dann explodiert der Lastwagen. Der Anschlag verwandelt die ruhige, von Bäumen beschattete Innenstadt von Oklahoma City in ein Trümmerfeld und zerstört die nördliche Front des Gebäudes. Aus dem zerstörten Beton hängen Kabel und Stahlträger, Papier flattert im Wind. Angestellte taumeln aus den Treppenhäusern, Gliedmaßen werden durch die Explosion abgetrennt, insgesamt kommen 168 Menschen ums Leben, mehr als 500 werden verletzt. Im ersten Stock des Gebäudes befindet sich ein Kindergarten, 19 der 168 Opfer sind Kleinkinder. Es ist das bis dahin schwerste Attentat in der Geschichte der USA, das zeigt, dass die USA damals schon ein Problem mit inländischem Terrorismus hatten, und dass der Ufo-Glaube auch eine dunkle, menschenverachtende und zerstörerische Seite haben kann. Timothy McVeigh wird kurz darauf verhaftet und am 11. Juni 2001 im Bundesgefängnis Terre Haute mittels einer Giftinjektion hingerichtet. Die Faszination für Ufos lässt den Terroristen nie los. Während McVeigh auf seine Hinrichtung wartet, schaut er allein innerhalb von zwei Tagen sechsmal den Film »Contact«, in dem Jodie Foster als Wissenschaftlerin Signale von außerirdischem Leben empfängt.
Bevor wir darauf zu sprechen kommen, wie genau eine Ufo-Faszination in Verschwörungsglauben umschlagen kann, müssen wir etwas tun, was wir eigentlich schon längst hätten tun sollen. Wir müssen erst einmal klären, was das überhaupt ist, eine Verschwörungstheorie. Eine Verschwörungstheorie ist die Vorstellung, dass durch das konspirative Wirken einer kleinen Gruppe ein Zustand oder ein Ereignis herbeigeführt wird. Das zumindest ist die gängige Lexikon-Definition. Wichtig ist aber ein Detail: Dieser Zustand oder dieses Ereignis hat für die allermeisten Menschen negative Auswirkungen. Die Verschwörer planen in ihren konspirativen Verschwörungstreffen halt nicht Freibier für alle oder ein allgemeines Verbot von Hausaufgaben, sondern die Versklavung und Verdummung der Bevölkerung, damit sich eine kleine konspirative Clique an der Macht halten kann. Die Frage ist nun: Wäre die Tatsache, dass die Regierung einen Alien-Kontakt vor uns geheim hält, etwas, das uns negativ betreffen würde? Zweifel scheinen zumindest angebracht, oder anders: Die Regierungen hätten zumindest verdammt gute Gründe, die Tatsache geheim zu halten, dass Außerirdische die Erde besucht haben.
»Außergewöhnliche Behauptungen erfordern außergewöhnliche Beweise«, hat der amerikanische Astronom Carl Sagan ja einmal gesagt. Und jetzt stellen Sie sich vor, dieser außergewöhnliche Beweis für die außergewöhnliche Behauptung, dass außerirdisches Leben auf der Erde existiert, würde wirklich endlich erbracht werden. Wie würde so ein Beweis aussehen? Vielleicht würde der US-Präsident zusammen mit dem UN-Generalsekretär und einem glubschäugigen Alien ein Foto machen, das eine Zeitung vom heutigen Tag in den Tentakeln hält. Vielleicht gäbe es zusätzlich eine Zellprobe für die Wissenschaft. Vermutlich würde es aber eher formal zugehen mit einer Pressekonferenz, live übertragen in die ganze Welt und einem begleitenden wissenschaftlichen Handapparat, darin Formeln, Berechnungen und Messungen, basierend auf einer Beobachtung durch eine Sonde, die entsprechende Daten zur Erde funkt. Vielleicht würden wir auch auf ein Raumschiff stoßen, das nachweislich aus Materialien gefertigt ist, die wir nicht kennen, oder auf einen seltsamen Monolithen. Am Abend würde der Bundeskanzler eine Fernsehansprache halten, die laut ChatGPT irgendwie so klingen würde: »Liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger, ich wende mich heute in einer besonderen Situation an Sie. Wir befinden uns an einem Punkt, der in der Geschichte der Menschheit ohne Beispiel ist. Wie Sie sicher bereits aus den Medien erfahren haben, sind wir nicht mehr allein. Wir haben Besuch erhalten – Besuch von außerhalb unserer Erde.« Wir wären hyped. Aber was würde dann passieren? Welche Folgen hätte dieses epochale Ereignis?
Klar, die Kontaktmethode von Aliens könnte vollkommen außerhalb unseres bisherigen Erfahrungsraums liegen; vielleicht fällt uns ein Alien-Kontakt aber auch gar nicht auf. Vielleicht wäre die Ankunft von Aliens zunächst total umwerfend, dann aber auch ziemlich trivial. Wir wissen es einfach nicht. Es gibt unterschiedliche Szenarien, die sehr unterschiedlich verlaufen können. Aber gehen wir mal von dem unserer Meinung nach interessantesten Szenario aus, nämlich einem direkten Kontakt zwischen Menschen und Außerirdischen.
Wir wissen aus der menschlichen Geschichte, dass der Zusammenstoß zwischen »Entdeckern« und »Entdeckten« für die »Entdeckten« meist nicht besonders erfreulich verläuft. Allerdings sind die Voraussetzungen für einen solchen »asymmetrischen Kulturkontakt« in diesem Fall ein wenig anders. Die indigenen Völker im 15. Jahrhundert waren auf die Ankunft der Europäer nicht vorbereitet. Wir hingegen denken seit jeher über die Frage nach, ob es da draußen intelligentes Leben gibt, und sind durch Unmengen an Science-Fiction für eine Begegnung mit Außerirdischen »gebrieft« worden. Sollte es wirklich zu einem Alien-Kontakt kommen, hätten wir schon eine grobe Vorstellung davon, mit wem wir es zu tun hätten und was das jetzt für eine Situation wäre. Aber wie die Soziologen Michael Schetsche und Andreas Anton in ihrem hochinteressanten Buch »Die Gesellschaft der Außerirdischen« schreiben, kann das auch ein Nachteil sein, eben gerade weil so viele Filme, Serien, Bücher und Computerspiele uns darauf vorbereitet haben, was uns blüht, wenn der Erstkontakt mit Aliens nicht so gut läuft. Auch durch die Ufo-Szene geht ein großer Riss, wenn es um diese Frage geht. Menschen wie Dr. Steven Greer, der glaubt, Ufos herbeitelepathieren zu können, sind fest davon überzeugt, dass außerirdische Intelligenzen gutmütig sind. Andere – wie Tom DeLonge – glauben daran, dass sie feindselig und mehr oder weniger auf dem Sprung sind, uns zu unterjochen.
Natürlich hängt die Frage, wie wir als Menschheit auf einen Kontakt mit Außerirdischen reagieren würden, auch maßgeblich davon ab, wie sich die Außerirdischen uns gegenüber verhalten. Aber egal, wie freundlich das Alien auch dreinschauen mag, irgendwo in uns wird auch das Misstrauen lauern, dass die Aliens bestimmt nur gekommen sind, um uns als Spezies zu vernichten. Panik könnte deswegen um sich greifen, Börsen würden kollabieren, vielleicht käme es sogar zu Massenselbstmorden, und an jeder Ecke würde eine neue Weltuntergangssekte entstehen, die auf Plakaten die Alien-Apokalypse verkünden würde.
Vor allem aber hätten Politik und Nationalstaaten ein Problem. Die beiden Politikwissenschaftler Alexander Wendt und Raymond Duvall argumentieren, dass das Konzept des Nationalstaates grundlegend anthropozentrisch ist. Mit anderen Worten, es basiert auf der Annahme, dass Menschen das Zentrum der politischen Welt bilden. Sollten Außerirdische in unser politisches Bewusstsein treten, würde dies diese grundlegende Annahme infrage stellen. Das könnte die Autorität und Legitimität menschgeschaffener politischer Strukturen, so wie wir sie kennen, vollkommen untergraben. Und das wiederum könnte zu einem Machtverlust der Staaten führen, was wiederum die öffentliche Ordnung destabilisiert. Die Folge: Die Macht der Staaten erodiert, die öffentliche Ordnung bricht zusammen, Unruhen und Bürgerkriege greifen um sich und irgendwann das totale Chaos. All diese möglichen Folgen hängen nicht unbedingt vom konkreten Handeln der Außerirdischen ab, sondern eher von der menschlichen Reaktion und Interpretation dieser neuen Realität. Glaubt man Soziologen und Politikwissenschaftlern, dann haben Staaten also wirklich sehr, sehr gute Gründe, die Existenz von Ufos und Aliens so geheim wie möglich zu halten. Und man kann ihnen eigentlich im Interesse von uns allen nur wünschen, dass sie damit erfolgreich sind.
Oben haben wir gesagt, dass eine Verschwörungstheorie die Vorstellung beinhaltet, eine kleine sinistre Gruppe würde ein Ereignis oder einen Zustand herbeiführen, der für die allermeisten Menschen negative Auswirkungen hat. Und der bei Ufo-Verschwörungen als negativ wahrgenommene Zustand ist die Vorstellung, dass der Staat uns Bürgern die Existenz von Außerirdischen verschweigt. Wie gesagt, so negativ ist dieser Zustand wahrscheinlich gar nicht, eher im Gegenteil, es wäre vermutlich eine Katastrophe, wenn die Menschheit morgen erfahren würde, dass Aliens unter uns sind. Aber Leuten, die dem libertären Verschwörungsglauben anhängen, geht es nicht um soziologische Überlegungen, sondern ums Prinzip. »Die Regierung verschweigt uns etwas! Ihr kann man nicht trauen!« Das ist der Kern libertärer Verschwörungsideologie, wie sie in den USA häufig anzutreffen ist. Und manchmal gesellt sich als Argument hinzu, dass man der Regierung auch und vor allem deswegen nicht trauen kann, weil sie ihre Ufo- und Alien-Erkenntnisse vor uns verbirgt. So führt der Ufo-Glaube dann auch mal zum Aluhut.
Libertäre Verschwörungstheorien drehen sich oft um Themen, die mit persönlicher Freiheit, individuellen Rechten und Misstrauen gegenüber dem Staat zu tun haben. Dazu können Themen wie Zentralbanken, Waffenkontrolle, Überwachung und Impfpflicht gehören. Im Allgemeinen geht es darum, die Freiheiten und Rechte des Einzelnen vor dem Übergriff des »großen Staates« zu schützen. Linke Verschwörungstheorien wiederum tendieren dazu, auf Ungleichheit und Ungerechtigkeit zu fokussieren, sie betonen oft die Rolle von Großkonzernen und der Elite bei der Unterdrückung der Arbeiterklasse oder der Zerstörung der Umwelt. Auch bei Kriegen den Militärisch-industriellen Komplex oder ganz generell die USA oder Israel als Dauerbösewicht anzusehen, gehört zum Standardrepertoire linker Verschwörungstheorien. Rechte Verschwörungstheorien hingegen neigen dazu, sich auf Themen wie Einwanderung, Nationalismus und die Rolle traditioneller Werte und Identitäten zu konzentrieren und Kräfte abzulehnen, die sie als »globalistisch« empfinden. Natürlich sind die Grenzen fließend, und die verschiedenen Schwurbelmilieus überlappen sich. Manche linken und rechten Verschwörungstheoretiker können sich beispielsweise durchaus vorstellen, dass der Ukraine-Krieg nur ein perfider NATO-Plan war, um westlichen Waffenfirmen neue Aufträge zu verschaffen. Und natürlich verschmelzen libertäre und rechte Verschwörungsideologien besonders oft zu einer toxischen Mischung.
Der Ufo-Interessent und Attentäter Timothy McVeigh, wie gesagt, hasste den Staat. Er glaubte an die geheimen Machenschaften einer »Neuen Weltordnung« und dachte, dass die Vereinten Nationen in Amerika einfallen würden. Vor allem die Ereignisse 1993 im texanischen Waco scheinen ihn radikalisiert zu haben. Dort hatten Bundesbehörden 51 Tage lang die Siedlung der Davidianer-Sekte belagert. Als die Polizei das Gelände stürmt, legen die Sektenmitglieder Feuer. Insgesamt sterben dabei 82 Menschen, einschließlich des Davidianer-Anführers David Koresh. Eine kleine religiöse Gemeinschaft im Kampf gegen den übermächtigen Staat: Es ist klar, wem hier McVeighs Sympathien gehören. Er fährt damals nach Waco, um die Ereignisse vor Ort zu verfolgen. Den blutigen Bombenanschlag auf das Regierungsgebäude in Oklahoma verübt er auf den Tag genau zwei Jahre nach der Erstürmung von Waco.
Vor allem in den USA, wo die Skepsis gegenüber der Regierungsgewalt traditionell groß ist, ist die libertäre Form des Verschwörungsglaubens weit verbreitet, aber auch in Deutschland gewinnt sie zunehmend an Einfluss, etwa bei Reichsbürgern oder sogenannten »Souveränisten«. Corona war diesbezüglich ein Brandbeschleuniger, und mancher Alien-Verschwörungsmythos, etwa dass unschuldigen Bürgern Chips eingepflanzt werden, erinnert frappierend an den Unsinn, der von Impfskeptikern verbreitet wurde. Vor allem aber der Glaube an eine korrupte Schattenregierung eint Trump-Fans und manche Ufo-Gläubige. Und so überrascht es nicht, dass ausgerechnet Ron Watkins 2021 eine Leaking-Seite für geheimen Alien-Kram ins Leben gerufen hat. Ron Watkins, das hat eine HBO-Doku plausibel nachgewiesen, ist mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit kein Geringerer als Q, die Person, die hinter dem ganzen QAnon-Wahnsinn steckt, einem bizarren Verschwörungskult, der letztlich auch zur Stürmung des US-Kapitols geführt hat. Watkins und Aliens, das passt natürlich wie Kippe auf Krebskandidat.
Wer an Ufos glaubt, hat nicht gleich einen Aluhut auf. Ufo und Aliens liegen im Bereich dessen, was wissenschaftlich möglich ist. Sehr viel weniger plausibel ist allerdings die Annahme, dass unsere Regierungen in der Lage wären, eine solch weitreichende und koordinierte Verschwörung aufrechtzuerhalten. Oft schreiben Verschwörungstheoretiker den vermeintlichen Verschwörern nahezu übermenschliche Fähigkeiten zu und übersehen dabei, wie komplex, ineffizient und manchmal auch vertrottelt es im Regierungsalltag zugeht. In Regierungen arbeiten Menschen. Viele Menschen. Menschen mit unterschiedlichen Interessen und Ideologien. Menschen, von denen manche ihren Job besser machen und andere schlechter und die von tausenden Journalisten beobachtet werden, von denen jeder einzelne scharf darauf ist, einen Pulitzer-Preis abzustauben, weil er die große Alien-Verschwörung aufgedeckt hat.
Es gibt Beispiele, in denen ein großes Projekt unter großer Geheimhaltung und mit vielen Mitwissern zu Ende gebracht wurde, ohne dass jemand geplaudert hätte, etwa das Manhattan-Projekt zur Entwicklung und zum Bau einer Atombombe. Aber hier sprechen wir von der vermutlich potenziell größten Entdeckung der Menschheit, nämlich, dass wir nicht nur nicht allein im Weltall sind, sondern regelmäßig extraterrestrischen Besuch einer intelligenten Spezies bekommen. Und wir sprechen nicht von wenigen Jahren, sondern von Jahrzehnten, in denen dieses Geheimnis geheim gehalten hätte werden müssen. Ein Geheimnis, das über verschiedene US-Administrationen hätte bewahrt werden müssen, von denen sich manche so gut verstehen wie Kaktus und Luftballon. Was auch häufig vergessen wird: Auch wenn hier dauernd von der US-Regierung die Rede ist, werden Ufos ja überall auf der ganzen Welt gesehen. Diverse Regierungen hatten entsprechende Programme zur Untersuchung von Ufos, darunter Frankreich, Peru oder Uruguay. Wäre es nicht denkbar, dass, wenn irgendein uruguayischer Astronom von einer Alien-Begegnung Wind bekommt, er dann auch irgendwem davon erzählt?
Der libertäre Verschwörungsglaube mancher Ufo-Fans offenbart eine recht unterkomplexe Sicht auf die Welt und auf die Art, wie große Organisationen funktionieren. Und manchmal kann der Ufo-Verschwörungsglaube Teil einer toxischen Mischung sein. Dabei wäre es doch so einfach: Glauben Sie an Ufos, glauben Sie an Aliens, glauben Sie, an was Sie wollen, aber lassen Sie bitte schön die Regierung dabei raus. Die können Sie immer noch für misslungene Wärmepumpengesetze kritisieren oder für den Zustand der Bildung oder dafür, dass Ihr Lieblingsparkplatz in eine Fahrradstraße umgewandelt wurde. Verschwörungstheorien, wenn sie abstrakt bleiben, wenig konkret und weit von unserem Alltag weg, sind ein unterhaltsamer Zeitvertreib, ein interessantes Gedankenexperiment und ein aufregender Ausflug in die Welt des »Was wäre, wenn«. Werden sie jedoch dazu genutzt, die real existierenden politischen Prozesse zu verzerren und zu diskreditieren, verwandeln sie sich in eine Quelle von Misstrauen, Spaltung und Gewalt.
Glauben Sie also gern an das Ungewöhnliche und Unbekannte, an die Mysterien des Universums, die wir noch nicht erklären können. Seien Sie neugierig, aber bleiben Sie dabei skeptisch. Und vor allem: Seien Sie nicht allzu enttäuscht, wenn Sie suchen und suchen und das nur, um am Ende feststellen zu müssen, dass »die Wahrheit« nirgendwo da draußen ist.