»An der zweiten Ampel rechts rein.« So hatte ihm vor Kurzem Manni, sein Freund aus Berchtesgaden, beschrieben, wo er immer parkte, wenn er nach Bad Reichenhall zum Einkaufen kam.
Sascha war verwirrt. Er fuhr selbst kaum Auto, sondern ging in der Stadt alles zu Fuß, aber er wusste sicher, dass es in der Stadt mehr als zwei Ampeln gab. An der zweiten Ampel rechts, okay, aber von wo aus gezählt, also aus welcher Richtung überhaupt? Aus Richtung Berchtesgaden natürlich, meinte sein Freund. Logisch. Wenn der auf der B20 über Bischofswiesen, den Pass Hallthurm und Bayerisch Gmain nach Bad Reichenhall reinfuhr, dann war die erste Ampel die in die Kammerbotenstraße. Die nächste war eine Fußgängerampel, aber die zählte sein Freund nicht mit. Und die zweite Ampel rechts rein war dann die Liebigstraße, die Sascha im Augenblick überquerte. Deshalb war ihm die Geschichte auch gerade wieder eingefallen.
Die Berchtesgadener orientierten sich, genau wie alle anderen Ortsfremden, nicht an den Straßennamen, die sie nicht kannten, sondern an bestimmten Wegmarken. Die Alte Saline war so ein Punkt, der Kurpark, das Park-Kino, die Fußgängerzone, das Kaufhaus Juhasz, das Café Reber, der Optiker, die Buchhandlung Rupprecht oder das Eiscafé Simonetti. Und genau dahin, zum Simonetti, wollte Sascha, weshalb er von der Liebigstraße kommend gerade auf die erste Querstraße links trat, die Bahnhofstraße hieß, obwohl der Bahnhof ganz woanders war, nämlich an der Wittelsbacherstraße.
In solche Überlegungen vertieft, sah er gerade noch, wie sich von rechts ein beweglicher Schatten näherte, so richtig schnell, und ihn, obwohl er mit dem Oberkörper unwillkürlich zurückwich und mit dem Fuß quasi in der Luft stehen blieb, im Vorbeisausen an der Schulter streifte und ihn fast noch an der Nase erwischt hätte. Er sah dem rasenden Blitz hinterher und erkannte, dass es ein Fahrrad mit einer weiblichen Lenkerin war. Als die sich erschrocken nach ihm umwandte, sah er auch, um wen es sich handelte. Das war eindeutig Daniela Keck, seine Freundin beim Tagblatt.
Sie starrte ihn an, bremste quietschend und bekam noch die Kurve, obwohl sie schon bedenklich nach vorne gekippt war und beinahe über den Lenker abgestiegen wäre. Gut, dass die Bahnhofstraße wegen einer Ewigbaustelle immer noch eine Sackgasse war. Einbahnstraße sowieso. Gegenverkehr hätte Daniela wahrscheinlich zur Invalidin gemacht. Für ihr Wendemanöver brauchte sie jedenfalls die volle Straßenbreite.
»Sascha, du, sorry«, japste sie.
»Du spinnst doch«, antwortete er. »Bist du lebensmüde, oder was? Hast du es speziell auf angehende Mediziner oder ganz allgemein auf Leute, die Alexander mit Vornamen heißen, abgesehen?«
»Jetzt hör schon auf, Sascha. Sei doch nicht so furchtbar wehleidig! Es ist doch überhaupt nichts passiert. Oder fehlt dir was?«
»Ja, meine Nasenspitze. Und meine Schulter ist auch halb ausgekugelt vor Schreck.«
Daniela verdrehte die Augen, weil sie das für eine gnadenlose Übertreibung hielt.
»Sei bloß froh, dass nicht mehr passiert ist! Was ist denn überhaupt los? Bist du der Story deines Lebens auf der Spur oder verpasst du gerade den Zug nach Salzburg?«
»Falsch geraten. Es hat gar nichts mit mir zu tun, und mit dir übrigens auch nicht. Elina ist verschwunden.«
»Die Geigerin?«, fragte er.
Daniela nickte.
»Ja, wie jetzt, ich meine, verschwunden?«
»Was ist an dem Wort denn so unverständlich? Sie ist weg. Verschwunden eben.«
Daniela schob ihr schwarzes Mountainbike mit den fetten Reifen auf den Gehsteig, klemmte das Vorderrad zwischen die Knie und prüfte, ob der Winkel zur Lenkstange noch stimmte. Anscheinend passte alles so weit und nichts war verzogen.
»Ich bin dafür, dass du mich jetzt auf einen Espresso einlädst, und zwar einen doppelten«, sagte Sascha. »Wenn sie eh verschwunden ist, versäumst du jetzt nichts. Das ist wie in der Bulldozerszene von ›Per Anhalter durch die Galaxis‹.«
Daniela holte gerade wieder Luft, um sich richtig aufzuregen.
»Nein, pass auf, ich meine, es ist besser, wenn du erst über eine Sache nachdenkst und dann eine Strategie entwirfst, als einfach ohne Plan blind loszurennen. Verstehst du, was ich meine?«
Das tat sie offenbar, denn sie lehnte tatsächlich ihr Bike an das Mäuerchen vor der Eisdiele. Sie wählte einen Tisch auf der Terrasse, um ihr teures Bike gut im Blick zu behalten.
Elina war anscheinend seit zwei Tagen nicht mehr in der Stadt, ging nicht an ihr Handy und hatte keine Nachrichten mehr beantwortet.
»Vielleicht hat sie Urlaub«, sagte Sascha.
»Nein, du Schlauberger, hat sie nicht. So weit bin ich auch schon«, behauptete Daniela. »Sie hätte gestern eine Probe gehabt und heute ein Konzert, aber sie ist nirgendwo aufgetaucht. Ich war jetzt gerade bei ihr zu Hause, in der WG, weil ich sie nicht erreiche. Irgendwie habe ich so ein komisches Gefühl. Ich mache mir Sorgen, verstehst du?«
»Ja, aber warum? Weil sie am Wochenende bei unserem Gartenfest so seltsam drauf war?«
»Das auch, ja. Am Sonntagmorgen wollte ich sie rauslocken, in den Park oder in die Saalach-Auen, aber sie wollte nicht. Und dann hat sie ihr Handy abgeschaltet, und ich hab sie nicht mehr erreichen können.«
»Vielleicht war der Akku leer.«
»Und sie lädt ihn tagelang nicht auf? Jetzt hör aber auf. Und auch Ladekabel kriegt man hier bei uns, wenn man mal eines verschlampt.«
»Und was sagen ihre Mitbewohner?«
»Am Sonntag war sie den ganzen Tag in ihrem Zimmer gesessen und hat Musik gehört, und am Montag haben sie sie nicht mehr gesehen. Sie war weg, hat keinem gesagt, wo sie hingeht, was sie vorhat, ob sie verreist oder irgendwas. Und das ist schon ziemlich seltsam, weil die drei Mädels sich eigentlich sehr gut verstehen. Die gehen gemeinsam fort, schauen Netflix-Serien und kochen zusammen.«
Sie sah Sascha vorwurfsvoll an, während der sein letztes Tiramisu-Stück vom Teller schabte. Durfte er jetzt nichts Süßes mehr essen, nur weil die Geigerin verschwunden war?
»Gerade war ich auf dem Weg zu ihrem Freund, diesem Anatol. Vielleicht ist sie ja bei ihm.«
»Du meinst, es könnte die große Versöhnung gegeben haben zwischen den beiden?«
»Ich weiß es nicht, aber ich schätze, eher nicht.«
»Du meinst aber doch nicht, dass dieser Mann sie festhält oder so etwas, und sie nicht telefonieren lässt?«
Daniela kniff die Augen zusammen. »Sag mal, wie bist du denn drauf? Was sind denn das für kranke Fantasien? Wie kommst du denn jetzt auf so was? Dafür gibt es doch gar keine Anhaltspunkte. Du machst mir ja richtig Angst.«
»Ich hab nichts gesagt. Ich kenne den Typen doch gar nicht. Ich plappere hier einfach so vor mich hin, stelle Hypothesen auf, ohne dass ich wirklich was weiß. Deshalb musst du dich da jetzt auch nicht so reinsteigern. Komm mal wieder runter, okay?«
»Bah, du hast vielleicht Nerven. Da denke ich doch automatisch gleich an die Natascha Kampusch oder diesen grässlichen Fritzl, der seine Tochter über Jahre im Keller eingesperrt hat. Und mit ihr … um Himmels Willen. Diese ganzen grässlichen Szenen damals in den Zeitungen.«
»Jetzt hör aber mal auf, das war doch alles in Österreich, nicht bei uns. Dieser Anatol ist doch ein gebildeter, kultivierter Mensch, den kannst du doch mit diesen Bestien nicht vergleichen. Beruhige dich bitte.«
Daniela trank ihr Leitungswasser in einem Zug leer.
»Ich hab gedacht, ich fahre zu ihm, weil er vielleicht weiß, wo Elina steckt. Oder dass er zumindest eine Idee hat, wo sie sein könnte.«
»Jetzt mach dir mal nicht solche Sorgen. Vielleicht hat sie doch einfach Urlaub oder ist zu einer Freundin gefahren. Oder nach Hause, zu ihren Eltern.«
»Die Mädels sagen, es fehlen ihr Rucksack und ihre Geige, Handy, Geldbörse und solche Sachen. Hat sie alles mitgenommen. Aber wenn sie in Urlaub oder zu ihren Eltern fährt, warum geht sie dann nicht ans Telefon und sagt: ›Bin da und da, lasst mich in Ruhe, bei mir ist alles okay.‹ Dann würde ich mir auch keine Gedanken machen.« Dass Sascha nichts dagegen einwandte, wertete sie als Zustimmung. »Okay. Wir müssen also mit diesem Anatol reden.«
»Hast du gerade ›wir‹ gesagt?«, fragte Sascha. »Also ich zum Beispiel muss dann nach Hause. Wie dir ja bekannt ist, habe ich Besuch von meiner Freundin Mira. Ich kann jetzt nicht den ganzen Tag im Krankenhaus herumrennen und Braunülen legen und am Feierabend dann nach Geigerinnen suchen. Das verstehst du bestimmt.«
»Sag bloß, du bist von den paar Verpflichtungen schon ausgelastet. Famulatur, ich bitte dich! Da hast du so geregelte Arbeitszeiten, wie du sie als fertiger Arzt wahrscheinlich in deinem ganzen Leben nicht mehr haben wirst. Um neun gehst du rein und um fünf nach Hause …«
»Ha, neun Uhr, du träumst wohl. Und auf meinem Handy ist es jetzt schon nach sechs«, sagte Sascha und sah auf die Uhr. »Außerdem muss ich in meiner Freizeit auch noch fürs Studium lernen. Was heißt, dass ich praktisch gar keine Freizeit mehr habe.«
Die mitleidige Tour zog bei Daniela allerdings überhaupt nicht. Sie ignorierte einfach, was er gesagt hatte.
»Bleibt sie jetzt eigentlich da oder will sie weiter zwischen Bayern und Preußen hin und her pendeln?«
»Sobald die Wohnung in Berlin verkauft ist, sollte Schluss sein mit der Pendelei, nehme ich an. Man muss halt sehen, wie sich das Ganze weiterentwickelt. Bis jetzt fühlt es sich sehr gut an«, sagte Sascha nicht ohne Stolz. »Sehr harmonisch.«
»Dann kommst du jetzt so richtig unter die Haube, du alter Ladykiller? Feste Arbeit, feste Freundin, du wirst mir doch nicht so richtig voll seriös werden? Sascha, das kannst du nicht machen. Dann wird es in der Stadt ja noch ruhiger, als es sowieso schon ist.«
»So schlimm wird’s schon nicht werden mit mir. Jetzt mal den Teufel nicht an die Wand. Bei mir ist noch immer etwas schiefgegangen, wenn ich so richtig voll Speed auf der Überholspur war. Ich hab mir selbst noch jeden Erfolg torpediert. Darin bin ich absolut erfolgreich.«
»Bist du wenigstens noch ab und zu bei Ulli in der Praxis, wo du dein Unwesen treiben, oh, Verzeihung, weibliche Kurgäste mit deinen magischen Händen beglücken kannst?«
Ein Gentleman weiß, wann er am besten nur charmant lächelt und den Mund hält. Und Sascha war ein Gentleman.
Zur Abendessenszeit lehnte Daniela ihr schwarzes E-Bike gegen die Hauswand der Villa. Paulina füllte Zucchinihälften mit einer Reis-Gemüse-Mischung, und Mira machte gerade ihren Fenchelsalat mit Orangenschnitzen und Cashew-Joghurt an. Sie streute noch ein paar Erdnüsse darüber, natürlich ungeröstet und ungesalzen, dafür mit der roten Schale, die angeblich das Beste an den Nüssen war, denn: Alles Gute sitzt unter der Schale. Und das geht verloren, wenn man sie entfernt und die Nüsse ohne isst.
Daniela brachte einen gesunden Appetit mit und ein paar Neuigkeiten. Paulina und Mira waren schon im Bilde, dass Elina abgängig war.
»Also, ich habe mit diesem Anatol gesprochen. Eigentlich ein netter Kerl, sensibel, hübsch, volles dunkles Haar, schöne Musikerhände mit langen Fingern …«
»Bevor du ins Schwärmen kommst, wolltest du nicht erzählen, was es Neues gibt über die verschwundene Geigerin?«, fragte Sascha.
»Jetzt hab dich mal nicht so. Ich wär schon noch dazu gekommen, aber bitte, dann kürze ich eben ab. Elina – oder irgendjemand anderer – hat am Montagmorgen eine Krankschreibung für sie abgegeben, also die lag im Briefkasten. Gesehen hat sie – oder eine andere Person – dabei allerdings keiner.«
»Und? Was hat sie?«, hakte Paulina ein, wie zu besten Ermittlerzeiten in der Kurschatten-Affäre.
»Schon mal was von Datenschutz gehört, Tante Paulina?«, fragte Sascha. »Hat es zu deiner Zeit wahrscheinlich noch nicht gegeben. Aber heute erfährt niemand, woran eine Angestellte leidet, wenn sie krankgeschrieben wird. Das geht auch keinen etwas an.«
»Aha«, ließ Paulina sich belehren. »Außer man hat Corona, dann wird das dem Amt gemeldet, und die Kontakte werden nachverfolgt und informiert, die Quarantäne wird überwacht und so weiter. Da ist es dann mit dem Datenschutz auch nicht mehr weit her. Und dann noch die Apps, die ihr auf euren Handys habt, und die Kameras und Mikrofone. Hat es ›zu meiner Zeit‹ alles nicht gegeben, stimmt. Und überhaupt: Ich bin doch wohl immer noch da, also ist ›eure Zeit‹ auch ›meine Zeit‹. Also im Augenblick. Ihr tut ja grade so, als wär ich ein Spukgespenst, das in einer Zeit herumgeistert, die nicht die seine ist.«
Daniela und Mira beeilten sich zu versichern, dass sie mit Saschas flapsiger Ausdrucksweise genauso unzufrieden waren, wie Paulina es offenbar war. Aber die schnitt ihnen mit einer schwungvollen Armbewegung das Wort ab. Sollte heißen: Schwamm drüber, es gibt Wichtigeres zu besprechen.
»Zurück zur Geigerin«, sagte sie. »Ich habe immer gedacht, man sollte zu Hause sein und das Bett hüten, wenn man krank ist. Ist das heute nicht mehr so?«
»Nicht unbedingt«, antwortete Sascha. Denn das war eine Frage an den Arbeitsmediziner. »Das kommt auf die Art der Krankheit an. Wer krankgeschrieben ist, darf alles machen, was die Genesung nicht gefährdet. Die Person muss also nicht zwangsläufig zu Hause im Bett bleiben. Nur dann, wenn es die größte Chance auf Heilung verspricht. Ist jemand dagegen depressiv, dann wird man als Arzt dieser Person bestimmt nicht raten, dass sie im Bett bleiben soll. Im Gegenteil.«
»Ja, das würde ich auch raten«, stimmte Paulina ihm zu. »Um das zu wissen, muss ich noch nicht einmal Ärztin sein.«
»Und hat ihr Lover mit den schlanken Händen denn nun eine Idee, wo Elina sich aufhalten könnte?«, fragte Mira und zuzelte die roten Erdnussschalen.
»Er hat gesagt, er weiß von nichts«, antwortete Daniela. »Und darüber war er sogar ziemlich sauer. Also dass sie ihm nicht Bescheid gibt, wenn sie irgendwo hinfährt, einfach eine Krankschreibung abgibt, ohne ihm von ihren Plänen oder ihrer Krankheit zu erzählen.«
»Aber diese Beziehung ist doch schon so was von zerrüttet«, konstatierte Mira. »Anscheinend ist er der Einzige, der das noch nicht so richtig mitgeschnitten hat.«
»Er will es sich eben nicht eingestehen«, sagte Paulina fast mitleidig. »Wie die meisten Verliebten. Oder er hat dir nur was vorgespielt, Daniela. Vielleicht ist er nicht nur ein guter Musiker, sondern auch ein passabler Schauspieler.«
»Das glaube ich nicht«, meinte Daniela. »Mich führt keiner so leicht aufs Glatteis.«
»Auch nicht, wenn er so schöne Musikerhände mit feinen langen Fingern hat?«, äffte Sascha sie nach.
»Er hat mich sogar gefragt, ob ich da nicht was machen kann, er meinte in der Zeitung. Also der hat Nerven. Da müsste man schon den Verdacht haben, dass ihr etwas zugestoßen ist. Oder dass sie dabei ist, dumme Sachen zu machen. Aber das ist doch jetzt auch Quatsch. Oder? Was denkt ihr?«
»Wenn sie sich was antun wollte«, nannte Paulina die Sache beim Namen, »dann holt sie sich nicht erst vorher eine Krankschreibung und wirft die in den Briefkasten ihrer Arbeitsstelle. Das macht doch keinen Sinn.«
»Anatol hatte auch die Idee, zur Polizei zu gehen, aber das habe ich ihm ausreden können. Vielleicht ist sie ja wirklich nur zu einer Freundin gefahren, für ein paar Tage. Einfach raus, und keiner soll wissen, wo sie ist.«
»Aber mit Krankschreibung.« Paulina war nicht überzeugt von dieser einfachen Erklärung.
»Na klar, sonst kann sie ja nicht weg.«
»Und ohne dass sie irgendjemandem Bescheid sagt?« Skeptisch stocherte Paulina in ihrer gefüllten Zucchinihälfte herum. Mit Käse überbacken hätte die Füllung schon besser geschmeckt, aber sie hatte nur normalen Gouda im Haus gehabt, und der war aus echter Kuhmilch und daher nicht erlaubt.