Erstes Kapitel

210  n. Chr.
Kaledonien

Silus kämpfte sich fünfzehn Meilen nördlich des Antoninuswalls mitten im Feindesland durch dichtes Unterholz.

»Scheiße«, sagte er.

Regenwasser lief aus seinem Haar über die Stirn und tropfte von seiner Nase, was sich anfühlte wie ein schlimmer Schnupfen. Er zitterte, obwohl er ein wollenes Unterhemd unter der wasserdichten Lederkleidung trug und sich mit spärlich belaubten Zweigen zugedeckt hatte. Dass es so früh am Tag bereits dämmerte, überraschte ihn nicht, immerhin lag Kaledonien weit im Norden und war berüchtigt für sein schlechtes Wetter, insbesondere gegen Ende des Winters – so wie jetzt im Martius, dem ersten Monat des Amtsjahres. Die Augusti hatten entschieden, den Feldzug gegen die aufständischen Stämme jenseits der nördlichsten Grenze des Reiches um ein weiteres Jahr zu verlängern. Diese Stämme mussten vor der Ankunft der Legionen selbstverständlich ausgekundschaftet werden, und mit dieser spannenden und verantwortungsvollen Aufgabe hatte man Silus betraut, der im Rang eines Explorators bei den romtreuen Hilfstruppen diente. Aus diesem Grund also lag er hier draußen in diesem nasskalten Wald und versuchte, nicht an Unterkühlung zu sterben.

Er rutschte auf dem Boden herum, da sich ein Ast gefährlich nahe an den Weichteilen in seinen Körper bohrte. Dabei floss ihm das kalte Wasser, das sich in einer Falte seines Umhangs gesammelt hatte, den Rücken hinunter. »Scheiße!«, fluchte er abermals und so laut, wie er es sich erlauben konnte, ohne auf sich aufmerksam zu machen. Man konnte sich keinen beschisseneren Auftrag vorstellen. Seine Kameraden saßen gerade bei ihren jeweiligen Contubernales schön gemütlich in ihren Baracken, schoben Wachdienst oder wurden allerhöchstens auf kurze Patrouillen geschickt. Er dagegen fror sich hier seit Tagen die Eier ab, lebte von dem, was er jagte und sammelte, und wenn er sich nicht gerade vor Entdeckung, Gefangennahme, Folter und Hinrichtung fürchtete, zerfloss er vor Selbstmitleid.

Wo bei allen Göttern war er überhaupt? Irgendwo in der Nähe musste die Wallburg sein, die die Einheimischen Dùn Mhèad nannten. Seinen Befehlshabern waren Gerüchte von einer bevorstehenden Rebellion zu Ohren gekommen, woraufhin sie ihn losgeschickt hatten, um das zu tun, was er am besten konnte. Und dazu gehörte nun mal, irgendwo im Wald zu kauern, unentdeckt zu bleiben, den Feind auszukundschaften und lebendig zurückzukehren.

Sein Zenturio hatte Silus als »einen der besten Exploratores der ganzen Armee« bezeichnet. Die strenge Erziehung, die ihm sein römischer Vater hatte angedeihen lassen, hatte seinen Körper gestählt und ihn mit einer bedingungslosen Treue dem römischen Imperium gegenüber erfüllt. Gleichzeitig fühlte er sich als halber Barbar in der Wildnis Kaledoniens wie zu Hause: Er beherrschte die Sprache der Einheimischen fließend und hatte keine Schwierigkeiten, als einer der ihren durchzugehen. Doch das alles half ihm einen Scheiß dabei, diese gottverdammte Wallburg zu finden.

Inzwischen war es zu dunkel, um noch irgendetwas auszukundschaften. Er beschloss, sein Nachtlager in einer Mulde zwischen den Wurzeln einer großen Eiche aufzuschlagen. Er füllte seinen Wasserschlauch an einem nahe gelegenen Wasserlauf und legte zwei Fangschlingen aus. Dann nahm er das letzte Stückchen Käse aus dem Leinensack, wickelte es aus, verschlang es in zwei Bissen und spülte es mit ein paar Schlucken eiskalten Wassers hinunter. Anschließend erleichterte er sich ein Stück flussabwärts, kauerte sich in die Mulde und bedeckte sich zur Tarnung und zum Schutz vor der Kälte mit Zweigen. Ohne große Hoffnung auf Schlaf schloss er die Augen und stellte sich vor, den warmen, weichen Körper seiner Frau in den Armen zu halten.

Er wurde von einem Rascheln in der Nähe geweckt. Silus riss die Augen auf, widerstand jedoch dem Drang, aufzuspringen und nach seinen Waffen zu greifen. Es war gut möglich, dass man ihn noch nicht entdeckt hatte. Durch den plötzlichen Übergang vom Schlaf in einen Zustand äußerster Wachsamkeit raste sein Herz. Erst jetzt bemerkte er mit Erstaunen, dass es bereits dämmerte. Er hatte die ganze Nacht hindurch traumlos geschlafen. Das Rascheln auf dem laubbedeckten Boden wurde immer lauter. Er wusste zwar nicht, mit wie vielen Gegnern er es zu tun hatte, doch seine einzige Chance war, das Überraschungsmoment zu nutzen, möglichst viel Schaden anzurichten und in der darauffolgenden Verwirrung zu entkommen.

Dann tauchte nur wenige Fuß von ihm entfernt ein schwarzer Schatten aus dem Unterholz: ein großer Eber, der im Laub nach Wurzeln und Schnecken wühlte. Silus atmete erleichtert auf und musste gleichzeitig an Wildschweinbraten am Spieß denken, woraufhin sich sein Magen verkrampfte und ihm das Wasser im Mund zusammenlief. Vorsichtig bewegte er die Hand auf das Messer in seinem Gürtel zu, hielt dann aber inne. Der Eber war ziemlich groß und hatte scharfe Hauer. Es wäre kein leichter Kampf. Da er keinen Bogen mitgenommen hatte, blieb ihm nur ein Überraschungsangriff mit dem Messer. Doch selbst wenn es ihm gelänge, den Eber zu überrumpeln, wären der Kampflärm und die Schreie des Wildschweins – und im schlimmsten Fall auch seine eigenen – meilenweit zu hören. Sehr zum Missfallen seines knurrenden Magens wartete er also ab, bis sich das Tier wieder getrollt hatte. Dann verließ er sein Versteck, streckte sich und dehnte den in letzter Zeit ständig verspannten Nacken, bevor er ohne große Zuversicht nach den Fangschlingen sah.

Die erste war leer, in der zweiten hatte sich zu seiner Freude ein Eichhörnchen verfangen. Es kämpfte nur noch schwach gegen den Draht an, der tief in seinen Hals schnitt. Silus brach dem Tier mit einem Handgriff das Genick, häutete es und weidete es aus. Ein Feuer kam nicht infrage – erstens durfte er nicht entdeckt werden und zweitens hätte er es bei diesem Regen sowieso nicht in Gang bekommen. Für den Fall, dass das Kaninchen an ansteckenden Krankheiten litt, sprach er ein kurzes Gebet an Valetudo, die Göttin der Gesundheit, sowie an Apollo, den Gott des Sonnenlichts und der Heilung, den er bei der Gelegenheit auch um ein Nachlassen des Regens bat. Dann schlang er das rohe Eichhörnchenfleisch in großen Bissen hinunter, um es so wenig wie möglich schmecken zu müssen.

Dabei erinnerte er sich an das erste Eichhörnchen, das er roh verzehrt hatte. Damals – er war fünf Jahre alt gewesen – hatte seine Familie noch beim Stamm der Brigantes gelebt. Sein Vater hatte es ihm auf einem langen Jagdausflug gegeben, doch das Fleisch war so glitschig und schleimig gewesen, dass er es sofort wieder von sich gegeben hatte. Sein Vater hatte ihm eine Tracht Prügel verpasst und ihn gezwungen, das Erbrochene noch einmal zu essen und diesmal auch bei sich zu behalten. Vater, was warst du nur für ein Arschloch, dachte er. Trotzdem war das, was er Silus beigebracht hatte, für die Legion von großem Wert – und damit letzten Endes auch die Ursache dafür, dass er hier in diesem ungemütlichen Wald hockte. Ein Grund mehr, dich zu hassen, Vater.

Silus vergrub die Überreste seiner Mahlzeit, füllte den Wasserschlauch auf, sammelte die Schlingfallen ein und verrichtete seine Notdurft. Dann blickte er zum Himmel auf. Die Eichen und Birken hatten noch nicht angefangen zu blühen, sodass die Äste über ihm größtenteils kahl waren. Lediglich die immergrünen Fichten sorgten für Farbtupfer. Die Wolkendecke war so dick, dass er den Stand der Sonne nicht ausmachen konnte. In einem weniger dichten Wald hätte er womöglich anhand der Wuchsrichtung der zum Licht strebenden Zweige ermitteln können, wo Süden war, doch hier standen die Bäume so eng beisammen, dass sich ihre Äste einfach nur kerzengerade nach oben zum spärlichen Sonnenlicht streckten. Auch das Moos, das in lichteren Wäldern an der schattigeren Nordseite der Bäume zu finden war, half ihm nicht weiter. Hier in diesem beständigen Dämmerlicht wuchs das Moos überall.

Silus zuckte mit den Schultern und marschierte seiner Schätzung nach in nördlicher Richtung weiter.

Nachdem er sich einen halben Tag lang durch den Wald gequält hatte und über vom Laub bedeckte Wurzeln und Erdlöcher gestolpert war, lichteten sich die Bäume schlagartig. Zu seiner Rechten ragte auf dem breitesten und höchsten Hügel der Umgebung Dùn Mhèad auf, die Wallburg, die er gesucht hatte.

Jedenfalls war er sich einigermaßen sicher, dass es sich um Dùn Mhèad handelte, da es in der Nähe keine andere größere Ansiedlung gab. Die Wallburg bestand aus einigen wenigen reetgedeckten Rundhäusern, einem Langhaus, mehreren Zelten und kleineren Gebäuden, die von einem Gürtel aus Erdwällen und Gräben sowie von einer Palisade aus zugespitzten Baumstämmen umgeben waren. Silus konnte keine einzige Mauer aus Stein oder Ziegel entdecken, und auch sonst hatte das Ganze wenig Ähnlichkeit mit einer römischen Befestigung. Eine gut ausgerüstete Legion wäre in der Lage, die Burg im Handstreich einzunehmen – vorausgesetzt, sie kämpfte sich zuvor viele Meilen lang durch feindliches, unwirtliches Terrain. Die Kaledonier sowie die Maeatae – ein Zusammenschluss mehrerer Stämme, zu denen auch die Venicones gehörten – waren inzwischen Meister der indirekten Kriegsführung und hatten den römischen Invasoren durch Hinterhalte und Fallen größere Verluste beigebracht als jemals in einer offenen Feldschlacht.

Silus suchte sich ein Versteck am Waldrand, tarnte sich mit Nadelzweigen und beobachtete die Wallburg. Er war noch etwa eine Viertelmeile entfernt und konnte kaum Einzelheiten erkennen, doch dass in der befestigten Siedlung Hochbetrieb herrschte, war offensichtlich. Das Klirren von Hammer auf Amboss hallte hell über das tiefe Muhen des innerhalb der Befestigung zusammengetriebenen Viehs hinweg. Zu Silus’ Rechten – von Osten, wenn er sich nicht irrte – stieg ein etwa zwanzig Mann starker Kriegertrupp den Hügel hinauf. Sie waren mit Speeren und kleinen Rundschilden bewaffnet und trugen Umhänge und Hosen, aber keine Rüstungen. Als das Tor in der Palisade geöffnet wurde, um sie einzulassen, konnte Silus einen Blick in die Festung werfen, in der sich bereits eine größere Streitmacht versammelt zu haben schien. Die Männer saßen herum und tranken, trugen Übungskämpfe mit ihren Speeren aus oder gingen anderen Beschäftigungen nach. Dann wurde das Tor wieder geschlossen. Silus schätzte, dass sich etwa vierhundert Menschen in der Wallburg befanden. Frauen, Kinder oder Alte hatte er allerdings nur wenige gesehen.

Das war eine Kriegerschar, die sich für einen Überfall bereit machte.

Silus dachte an seine Kameraden im Kastell. Sosehr er sie auch darum beneidete, dass sie warm und trocken und satt in ihren Baracken hockten und höchstens hin und wieder auf ungefährliche Patrouillen geschickt wurden, durfte er doch auf keinen Fall zulassen, dass dieser Haufen ohne Vorwarnung über sie herfiel.

Falls sie überhaupt vorhatten, das Kastell anzugreifen. Möglicherweise hatten sie es auch auf eine römische Siedlung abgesehen wie die, in der er mit seiner Frau Velua und seiner Tochter Sergia lebte. Bei dieser Vorstellung krampften sich seine Eingeweide zusammen. Nun musste er sich entscheiden, ob er abwartete und versuchte, noch mehr in Erfahrung zu bringen, oder das, was er hier gesehen hatte, so schnell wie möglich seinen Befehlshabern meldete. Nach kurzer Überlegung kam er zu dem Schluss, dass nichts, was er hier noch auskundschaften mochte, wichtiger als die Nachricht war, dass sich eine kriegslüsterne Barbarenhorde für den Kampf rüstete. Wenn er blieb, riskierte er zudem, entdeckt zu werden. Vorsichtig ging er rückwärts in den Wald zurück, bis er sich einigermaßen im Schutz der Bäume befand. Er richtete sich auf und streckte sich, dann kehrte er der Wallburg den Rücken und machte sich auf den Heimweg.

Er hatte gerade einmal fünfzig Schritt zurückgelegt, als ihn ein Geräusch innehalten ließ. Etwas brach durch das Unterholz. Er legte die Hand auf das Messer und drehte sich mit klopfendem Herzen in die Richtung, aus der der Lärm kam. Ein großer Hirsch lief durch den Wald auf Silus zu, schreckte zurück, sobald er ihn bemerkte, und verschwand im Dickicht. Silus wartete, bis sich Atem und Herzschlag beruhigt hatten, dann machte er sich wieder auf den Weg, weg von der Wallburg und tiefer in den Wald hinein.

Kurz darauf blieb er ein weiteres Mal stehen; diesmal hörte er tiefe, immer lauter werdende Stimmen. Er versteckte sich hinter einer Eiche und spähte vorsichtig um den dicken Baumstamm. Als er eine Bewegung bemerkte, sah er genauer hin: Zwei, nein, drei Männer führten ihre Pferde am kurzen Zügel am Waldrand entlang. Silus schlich sich näher, wobei er den Boden mit den Zehenspitzen prüfte, bevor er sein Gewicht darauf verlagerte, damit er nicht versehentlich auf einen trockenen Ast trat. Bald war er den Männern so nahe, dass er ihre Unterhaltung belauschen konnte. Sie sprachen Keltisch mit veniconischem Dialekt, sodass Silus das meiste verstand.

Seinem Tonfall nach zu urteilen war der älteste der Männer auch ihr Anführer.

»Maglorix, der Hirsch gehört mir. Ich allein werde ihn zur Strecke bringen.«

»Aber mein Fürst! Das ist doch Zeitverschwendung. Wir müssen uns um dringendere Angelegenheiten kümmern.«

»Zeitverschwendung? Wähle deine Worte mit Bedacht, Maglorix. Auch wenn du mein Sohn bist – wenn du mir nicht den nötigen Respekt erweist, mache ich dich einen Kopf kürzer.«

Maglorix neigte das Haupt. »Voteporix, mein Herr und Fürst, bitte verzeiht mir, doch es ist meine Pflicht, Euch zu beraten. Die Männer warten darauf, dass Ihr zu ihnen sprecht. Sie wollen erhebende Worte und Geschichten und Bier.«

»Wovor fürchtest du dich, Maglorix? Glaubst du etwa, dass wir hier, tief in unserem eigenen Land, auf Wegelagerer oder gar eine römische Patrouille treffen? Ganz bestimmt nicht. Was macht dir dann Angst? Geister und Dämonen?«

Sofort machte Maglorix ein kurzes Handzeichen zur Abwehr des Bösen. Sein Vater schnaubte verächtlich.

»Natürlich nicht«, sagte Maglorix. »Ich fürchte nichts außer der Hexe, den Aos-sídhe und meinen Fürsten.«

Voteporix nickte. »Nun gut. Buan, du kümmerst dich um die Pferde. Maglorix, mit mir.«

Buan, ein großer, glatzköpfiger Krieger, nahm gehorsam die drei Zügel in die Hand und führte die Pferde mit ausdrucksloser Miene weiter.

Silus überlegte fieberhaft. Die Namen sagten ihm nichts, doch der Sohn hatte seinen Vater als Fürsten bezeichnet. Er hatte es also mit dem Anführer und obersten Kriegsherrn des Stammes sowie seinem Sohn und vielleicht auch Thronfolger zu tun! Was jetzt? Noch konnte er den Rückzug antreten, um seinen Vorgesetzten von dem bevorstehenden Überfall Meldung zu machen. Doch was, wenn er etwas Wertvolleres mitbrachte – zum Beispiel den Kopf eines rebellischen Stammesfürsten? Wenn er ihren Anführer unschädlich machte, konnte er nicht nur einen Einfall der Barbaren verhindern, sondern sich zudem auf eine ordentliche Belohnung freuen. Wie mochte die wohl aussehen? Geld? Eine Beförderung? Die Versetzung in eine nicht ganz so beschissene Einheit, sodass er mehr Zeit zu Hause bei Velua und Sergia verbringen konnte?

Silus biss die Zähne zusammen. Er war hin- und hergerissen. Die Vernunft befahl ihm, die Beine in die Hand zu nehmen, sich für einen zur Zufriedenheit ausgeführten Auftrag loben zu lassen und weiter für einen beschissenen Sold dieses beschissene Land auszukundschaften, während seine Frau und seine Tochter in einem beschissenen Haus saßen und sich fragten, wo er war und ob und wann er wieder nach Hause kam. Doch was, wenn er eine wahre Heldentat vollbrachte?

Die beiden Männer kamen immer näher. Silus hatte die Gelegenheit zur unbemerkten Flucht verstreichen lassen: Seine Unentschlossenheit hatte die Entscheidung für ihn getroffen. Er zog das Messer und nahm so leise wie möglich eine Fangschlinge aus der Tasche.

Die beiden Männer schlichen auf der Suche nach der Hirschfährte durch den Wald. Silus verhielt sich vollkommen ruhig. Er hatte den Rücken gegen den dicken Eichenstamm gepresst und lauschte konzentriert den Schritten im Laub. Dann schloss er die Augen und stellte sich die genaue Position der beiden Männer vor. Der größere – der Stammesfürst – ging zuerst am Baum vorbei. Sein Sohn folgte ihm auf dem Fuße. Silus verließ seine Deckung und pirschte sich an sie heran. Er roch Bier und ranzigen Schweiß.

Maglorix, ein großer, schlanker und kräftiger Mann mit langen roten Locken, ging vorsichtig hinter seinem Vater her. Silus passte sich seinem Rhythmus an, sodass seine eigenen Schritte von denen des Fürstensohnes übertönt wurden. Als er nahe genug war, holte er tief Luft, hob das Messer und ließ den Griff mit voller Wucht auf Maglorix’ Hinterkopf krachen.

Sofort ging der junge Mann ohne einen Laut zu Boden. Silus ließ das Messer fallen. Voteporix wollte sich gerade umdrehen, als sich der Kundschafter auf ihn stürzte und ihm eine Fangschlinge um den Hals legte. Der Stammesfürst riss vor Schreck die Augen auf. Vergebens versuchte er, den Draht, der Luftröhre und Blutzufuhr abschnitt, mit den Fingern zu lösen. Er schlug und trat um sich und warf ruckartig den Kopf zurück, sodass sein Schädel mit Silus’ Gesicht zusammenprallte. Dieser lockerte seinen Griff selbst dann nicht, als ihm das Blut aus der Nase schoss und ihm vor Schmerz Tränen in die Augen traten. Er biss die Zähne zusammen und zog weiter an der Schlinge, bis die Gegenwehr seines Opfers allmählich schwächer wurde und schließlich ganz aufhörte.

Silus ließ den leblosen Körper vorsichtig zu Boden sinken, lockerte die Schlinge aber erst, als er sich sicher war, dass der Mann sein Leben ausgehaucht hatte. Er warf einen Blick auf den reglos und mit blutendem Kopf daliegenden Maglorix, dann suchte er das Messer und packte Voteporix bei den Haaren. Die Augen des Toten waren weit geöffnet, die Pupillen nach oben verdreht. Der Draht hatte tief in den Hals geschnitten. Silus setzte das Messer an der blutigen Linie an und schnitt drauflos, indem er die Klinge wie eine Säge hin und her fahren ließ. Blut spritzte, als er die Arterien durchtrennte, blutiger Schaum quoll aus der Luftröhre. Schließlich klappte er den Kopf nach hinten und kappte die Sehnen, die die Halswirbel zusammenhielten. Mit einem letzten Schnitt durch die Haut löste sich das Haupt vom Torso. Er hob es hoch und starrte in das tote Gesicht. Ein Schauer durchfuhr ihn, und er fragte sich, ob er wirklich die richtige Entscheidung getroffen hatte.

»Vater!«

Silus wirbelte herum. Maglorix lag auf einen Ellenbogen gestützt da. Seine Augen rollten wie die eines Wahnsinnigen hin und her, eine Gesichtshälfte war blutverschmiert. Vor Schreck stand ihm der Mund offen.

»Vaaaater!« Nun schrie er. Instinktiv drehte sich Silus zum Waldrand um und hörte kurz darauf, wie Buan durch den Wald pflügte, um seinem Herrn zu Hilfe zu eilen. Silus machte einen Schritt auf Maglorix zu und trat ihm kräftig ins Gesicht. Der Kopf des Fürstensohnes wurde nach hinten geschleudert und er verlor erneut das Bewusstsein. Silus stopfte das blutige Haupt von Fürst Voteporix, dem Stammesoberhaupt der Venicones, in seinen Rucksack und rannte los.

Er versuchte erst gar nicht, Lärm zu vermeiden, da ihn Maglorix durch seinen Schrei ohnehin verraten hatte. Jetzt kam es allein auf Schnelligkeit an. Kurzzeitig spielte er mit dem Gedanken, stehen zu bleiben und sich zum Kampf zu stellen, doch Buan war von kräftiger Statur und zweifellos ein erfahrener Krieger. Silus dagegen war kleiner als die meisten Männer, und obwohl er Messer und Drahtschlinge geschickt einzusetzen vermochte, wenn er das Überraschungsmoment auf seiner Seite hatte, bezweifelte er, dass er einen ihm körperlich derart überlegenen Gegner in einem Kampf Mann gegen Mann besiegen konnte. Außerdem durfte er sich durch nichts davon abhalten lassen, mit dem Kopf und der Nachricht von einem bevorstehenden Kriegszug das Kastell zu erreichen.

Buan würde beim Anblick seines enthaupteten Fürsten ganz sicher vor Schreck innehalten und dann nach dem bewusstlosen Maglorix sehen, was Silus einen Vorsprung verschaffte. Allerdings wusste er nicht, in welchem Zustand Maglorix war. Vielleicht war er bereits wieder bei Bewusstsein, doch es war auch nicht ausgeschlossen, dass er nie wieder aufwachte. Buan würde sich entscheiden müssen, ob er zur Wallburg zurücklief und Hilfe holte oder auf eigene Faust die Verfolgung aufnahm: eine Verzögerung, die Silus so gut wie möglich auszunutzen gedachte.

Nachdem er eine Weile geradeaus gelaufen, absichtlich Äste zertreten und deutliche Fußspuren in Matsch und Laub hinterlassen hatte, blieb er stehen und lief etwa hundert Schritt in seinen eigenen Fußstapfen zurück, bevor er in einen im rechten Winkel abgehenden Wildwechsel einbog. Nun achtete er sorgfältig darauf, keine abgebrochenen Äste oder sonstige Spuren zu hinterlassen. Er bewegte sich schnell, aber gleichzeitig so vorsichtig und leise wie möglich.

Kurz darauf ertönte lautes Knacken und Rascheln hinter ihm. Er widerstand dem Drang, einfach loszurennen, und verließ sich ganz auf sein Täuschungsmanöver. Silus konnte zwei unterschiedliche Stimmen ausmachen, von denen eine Befehle brüllte und Wutschreie ausstieß: Maglorix war ganz offensichtlich wieder bei Bewusstsein. Silus’ Herz raste vor Anstrengung und Furcht. Als sich die Stimmen im Wald verloren, atmete er etwas ruhiger, doch schon bald wurden sie wieder lauter. Sie hatten das Ende seiner Fährte erreicht und schnell herausgefunden, dass er in seinen eigenen Fußspuren rückwärtsgegangen war. Also war wenigstens einer der beiden nicht dumm und ein guter Fährtenleser. Sie kamen immer näher. Mit Schrecken begriff Silus, dass sie dem Weg folgten, den er eingeschlagen hatte.

»Beim Hades, so eine Scheiße«, murmelte er und rannte los. Mit der Heimlichtuerei war es nun vorbei – jetzt zählte nur noch, schneller als seine Verfolger zu sein.

Es war eine Frage der Ausdauer. Das Unterholz war viel zu dicht, um einfach loszurennen, und des störenden Rucksacks konnte er sich auch nicht entledigen. Zum einen befand sich darin sein Proviant für den Rückweg, zum anderen hatte er sein Leben für den Kopf riskiert und würde ihn ganz bestimmt nicht einfach so zurücklassen. Seine Beine schmerzten und er keuchte vor Anstrengung. Nun verfluchte er sich für seinen Wagemut und versuchte den Gedanken zu verdrängen, dass er dadurch vermutlich seine Frau zur Witwe und seine Tochter zur Halbwaise gemacht hatte.

Doch nach und nach wurden die Geräusche hinter ihm leiser. Entweder war Silus der Ausdauerndere oder Maglorix war noch zu mitgenommen für eine längere Verfolgungsjagd und Buan wollte ihn in diesem Zustand nicht allein lassen. Schließlich verstummten das Knacken der Äste und das Trampeln der schweren Schritte vollständig.

»Rööööömer!«

Maglorix’ Schrei wurde durch den Wald gedämpft, drang aber immer noch laut und deutlich an Silus’ Ohren.

»Röööömer! Ich habe dein Gesicht gesehen und werde dich finden! Du gehörst mir!«

Silus zog den Kopf ein und rannte los.

 

Als sie am südlichen Waldrand ankamen, musste sich Maglorix auf Buan stützen. Die gänseeigroße Beule an seinem Hinterkopf pulsierte schmerzhaft im Takt seines Herzschlags. Sein Bart war mit dem Blut verklebt, das nach dem Tritt des Römers aus seiner Nase gespritzt war. Als er vorsichtig die höchstwahrscheinlich gebrochene Nase betastete, überkam ihn ein plötzlicher Schwindel, und einen Augenblick lang wurde ihm schwarz vor Augen. Buan merkte, dass Maglorix’ Beine nachgaben, legte wortlos einen Arm um seinen Brustkorb und stützte ihn, bis der Schwächeanfall nachließ. Der Sohn des Stammesfürsten ließ den Blick über die Auen, Hügel und Wälder seiner Heimat schweifen und sprach ein Gebet in nüchternem Ton und ohne die Stimme zu erheben.

»Cailleach Bhéara, göttliche Hexe, ich schwöre bei allem, was mir lieb und teuer ist, dass ich mich an dem Römer rächen werde, der meinen Vater getötet und entehrt hat. Er wird leiden, so wie ich gelitten habe. Dies gelobe ich feierlich.«

Buan neigte als stummer Zeuge dieses Gelübdes den Kopf. Maglorix schloss die Augen. Zwei Bilder hatten sich tief in seinen Geist eingebrannt: das abgetrennte, bluttriefende Haupt seines Vaters und das Antlitz des Römers, der es in die Höhe gehalten hatte. Er hatte das schlammverschmierte Gesicht des Mörders lediglich im Zwielicht und auch nur einen Augenblick gesehen, bevor dieser ihn bewusstlos geschlagen hatte, doch er würde es nicht vergessen. Niemals.

Maglorix starrte auf den Boden. Der Römer war längst über alle Berge. Wut und Trauer verliehen dem Fürstensohn nicht länger die nötige Kraft für die Verfolgung. Buan wäre noch ausdauernd genug gewesen, weigerte sich aber standhaft, seinem angeschlagenen Schützling von der Seite zu weichen und dem Römer hinterherzujagen. Maglorix musste sich wohl oder übel damit abfinden, dass ihm seine Beute entkommen war.

Er deutete auf die Spuren der genagelten Stiefel im Schlamm.

»Ich muss wissen, wo er herkam. Und was er mit dem Kopf meines Vaters vorhat.«

»Herr, Eure Familie und Eure Männer machen sich bestimmt schon Sorgen. Wir sollten umkehren.«

»Nein!« Maglorix spie das Wort förmlich aus. »Heute ist nicht der Tag der Vergeltung, aber er wird bald kommen. Doch dazu muss ich wissen, wo der Römer zu finden ist.« Er ließ den riesenhaften Krieger stehen und folgte stur den Spuren in südlicher Richtung. Buan folgte seinem Herrn seufzend und hielt sich immer in seiner Nähe, um ihn aufzufangen, falls ihm erneut schwarz vor Augen wurde.

Sie marschierten den ganzen Tag durchs Grenzgebiet, vorbei an einsamen Gehöften und Siedlungen. Mehrmals verloren sie die Spur, doch Maglorix, der sich seit frühester Kindheit mit den besten Kriegern und Jägern seines Vaters im Fährtenlesen geübt hatte, fand sie immer nach kurzer Zeit wieder. Als es dämmerte, sahen sie in der Ferne den Antoninuswall und das Kastell, das die Römer Voltania nannten.

Maglorix spuckte aus. Der Antoninuswall mit seinen Gräben, Schanzen, Kastellen und Befestigungen, der sich von der Ost- bis zur Westküste Kaledoniens erstreckte, war ein Stachel in seinem Fleisch. Der Wall war zu Lebzeiten seines Großvaters errichtet worden, doch kurz nach seiner Fertigstellung hatten die Kaledonier die Römer bis zum Hadrianswall im Süden zurückgedrängt – bis der verfluchte römische Feldherr Septimius Severus mit seinen Legionen das Gebiet erneut besetzt, den Wall wiederaufgebaut und Kaledonien verwüstet hatte.

Sein Großvater hatte ihm von dem großen kaledonischen Heerführer Calgacus erzählt, der dem römischen Eroberer Agricola Widerstand geleistet hatte, aber schließlich bei der Schlacht am Mons Graupius besiegt worden war.

Über hundert Winter später waren Severus und sein Sohn im Hochland eingefallen. Die Kaledonier und die mit ihnen verbündeten Stämme, darunter auch die als »Hundesippe« bezeichneten Venicones, zu denen Maglorix gehörte, hatten einen zermürbenden Kleinkrieg gegen die Legionen und ihre Hilfstruppen geführt und ihnen schwere Verluste beigebracht. Severus hatte mit Verwüstung und Grausamkeit geantwortet. Noch heute kamen den kampfgestählten Kriegern aus Maglorix’ Stamm die Tränen, wenn sie am Lagerfeuer davon erzählten, wie ihre Eltern an Bäume genagelt, ihre Schwestern von ganzen Kompanien vergewaltigt und ihre Kinder dem Hungertod überlassen worden waren, nachdem die Römer das Korn verbrannt und das Vieh niedergemetzelt hatten. Die einst so stolzen Kaledonier hatten sich angesichts ihrer drohenden Vernichtung zu Friedensverhandlungen bereiterklärt, die jedoch an den unannehmbaren Forderungen des hochmütigen Severus gescheitert waren. Die Kaledonier und ihre Verbündeten waren zu schwach, um die Römer in einer offenen Feldschlacht herauszufordern, und setzten ihre Strategie der Nadelstiche fort, indem sie von Dùn Mhèad aus zu Überfällen und Raubzügen aufbrachen. In der Wallburg hatte sich fast ein halbes Tausend wütender Krieger versammelt, die es kaum erwarten konnten, Tod und Verderben über die römischen Barbaren zu bringen.

Und dann war dieser römische Spion aufgetaucht, der nicht nur Maglorix’ Vater ermordet und dessen Leichnam geschändet, sondern zweifellos auch die Kriegsvorbereitungen beobachtet hatte. Gut möglich, dass er genau in diesem Augenblick seinen Befehlshabern darüber Bericht erstattete, während Maglorix vor der uneinnehmbaren römischen Befestigung stand und seine Zeit verschwendete, anstatt seinen Kriegern den Befehl zum Angriff zu geben, bevor sich die Römer gefechtsbereit machen konnten.

»Buan …«, fing er an, dann runzelte er die Stirn. Die Spuren des römischen Kundschafters waren immer noch deutlich im morastigen Boden zu erkennen. Doch sie führten nicht auf das Kastell zu.

Maglorix folgte der Fährte, wo sie den Weg nach Voltania verließ. Buan blieb stets dicht an seiner Seite. Der Leibwächter sagte nichts, hielt jedoch wachsam nach Patrouillen oder feindlich gesonnenen Einheimischen Ausschau, die sie den Römern ausliefern wollten. Maglorix dagegen war ganz auf die Fußspuren konzentriert. Mit Einbruch der Dämmerung erreichten sie den Gipfel eines Hügels, von dem aus sie eine jener kleinen, von den Römern Vicus genannten Siedlungen erblickten, die in der Nähe jedes Kastells zu finden waren und diejenigen beherbergten, die den Legionen folgten oder von ihnen profitierten: Händler, Handwerker, Schankwirte, Huren und nicht zuletzt die Familien der Soldaten.

Maglorix schüttelte den Kopf, was er sofort bereute, als ihn ein stechender Schmerz durchzuckte. Dann tadelte er sich für seine Begriffsstutzigkeit. Erst jetzt wurde ihm klar, weshalb der Kundschafter nicht gleich zu seinen Vorgesetzten gerannt war, um Meldung zu machen und das Haupt seines Vaters zu überbringen. Der Römer war eine lange Zeit unter miserablen Bedingungen allein im Feindesland unterwegs gewesen. Was war diesem Mann wichtiger, als seine Pflicht zu erfüllen? Eine Hure? Das war nicht ausgeschlossen, doch Maglorix bezweifelte, dass einem Mann, der so lange Kälte, Hunger und Einsamkeit ertragen hatte, zuallererst der Sinn nach Befriedigung fleischlicher Gelüste stand. Er an der Stelle des Soldaten mit den genagelten Stiefeln hätte sich nach warmem Essen, einem warmen Bett und den Umarmungen seiner Liebsten gesehnt. Kein Zweifel: Der Römer war bei seiner Familie.

Maglorix sah sich das kleine Städtchen genauer an. Es bestand aus mehreren größeren Gebäuden – Tempel, Geschäfte, Lagerhäuser – und vielen bescheidenen, aus Backsteinen oder lediglich aus mit Lehm verkleidetem Flechtwerk errichteten Wohnhäusern. Hunde, Hühner, Schweine und Kinder trieben sich spielend, pickend und schnüffelnd in den Gassen zwischen den Gebäuden herum. Eine Tür ging auf und eine dicke Frau schrie etwas Unverständliches auf Latein, woraufhin zwei Kinder widerwillig das Spiel mit einem Welpen einstellten und ins Haus schlichen. Die Tür fiel wieder zu.

Maglorix hatte genug gesehen.

»Buan, merk dir diesen Ort gut«, sagte er. »Hier werden wir den Römern zeigen, wie es sich anfühlt, wenn das eigene Heim dem Erdboden gleichgemacht wird.«