In der Halle der Ratsversammlung herrschte gedrückte Stimmung. Maglorix saß auf seinem Thron, und nur wenige wagten es, den Blick zu erwidern, den er über den Ältestenrat schweifen ließ. Seit seiner Rückkehr nach Dùn Mhèad – auf einem Pferdefuhrwerk, halb benommen vor Schmerz – hatte niemand seinen Herrschaftsanspruch direkt infrage gestellt. Die Heiler hatten die Götter angerufen und ihnen um seiner Genesung willen zahlreiche Tieropfer dargebracht. Als das Fieber dennoch nicht sinken wollte, wurde sogar von Menschenopfern gesprochen, doch Maglorix war immerhin so weit Herr seiner Sinne gewesen, um dies zu unterbinden. Allmählich hatte sich seine vom Rauch verätzte Lunge erholt, sodass er leichter und ohne zu husten atmen konnte, und in der Zeit, in der die feuchten Wickel und Kräuter, die Umschläge und Salben ihre heilende Wirkung an seinen eitrigen Fußsohlen taten, war auch die Hitze hinter seiner Stirn abermals klarem Verstand gewichen.
Mittlerweile konnte er sogar wieder gehen, wenn auch nur unter großen Schmerzen. Er übte regelmäßig den Gebrauch von Schwert und Speer, und er konnte sich mit lose an der Flanke des Tieres herabbaumelnden Füßen auch wieder einigermaßen auf einem Pferd halten. Seine Kräfte kehrten zurück, und bald würde er wieder ganz der Alte sein.
Maglorix sah den Mann zu seiner Rechten an. »Verehrte Ratsversammlung, gestern Abend haben wir mit Taximagulus hier gefeiert, und es war ein Abend, an dem wir unsere Sorgen vergessen konnten. Wir haben unser Fleisch, unser Bier und unsere Frauen mit ihm und untereinander geteilt, wie es von jeher Brauch bei den Kaledoniern und Maeatae ist, auch wenn uns die Römer deshalb mangelnde Sittlichkeit unterstellen. Heute jedoch wollen wir uns über den Krieg beraten. Über unsere Antwort auf die römischen Freveltaten. Beugen wir uns vor ihnen und lassen wir uns von ihnen schänden wie eine im Krieg erbeutete Jungfrau von einem Haufen Soldaten? Oder stellen wir uns diesen Dämonen wie echte Männer?«
Die Ältesten sahen sich nervös an. Schließlich ergriff einer auf das stumme Drängen der anderen Ratsmitglieder hin das Wort. Es war Usnach, ein dünner, vom Alter gebeugter Mann mit gütigem Gesicht. »O Häuptling«, begann er. Der harmlose Usnach würde Maglorix’ Unmut wohl kaum so sehr erregen, dass er ihm ein Messer in den Hals rammte. Was vermutlich auch der Grund war, weshalb sie gerade ihn als Sprecher auserwählt hatten. Tarvos’ aufgespießter Schädel war noch geraume Zeit vor der Ratshalle zur Schau gestellt gewesen. Inzwischen war er so weit verwest, dass ihn Maglorix hatte abnehmen lassen, um seinen Thron damit zu schmücken. Von dort grinste er nun augenlos auf die im Saal versammelten Ältesten herab.
Usnach räusperte sich und versuchte es noch einmal. »O Häuptling.« Seine Stimme zitterte, was sowohl der Angst vor Maglorix als auch der ungewohnten Rolle als Sprecher des Rates geschuldet war – unter der laxen Herrschaft von Maglorix’ Vater war Usnach in erster Linie dafür bekannt gewesen, während der Versammlungen regelmäßig einzuschlafen. »Manche von uns, zu denen ich mich selbstverständlich nicht zähle, aber mir ist Entsprechendes zu Ohren gekommen …«
Maglorix starrte ihn unbarmherzig an. Usnach umklammerte seinen Gehstock noch fester mit der zitternden Hand, schluckte und fuhr fort. »Manche behaupten, dass die Römer zu mächtig sind. Dass wir die Auseinandersetzung mit ihnen scheuen sollten, bis sie unser Land satthaben und verschwinden.«
»Verstehe«, sagte Maglorix. »Und wer sind diese Männer, die so große Angst vor den Römern haben? Oder sprichst du etwa von den feigen Worten der Weiber und kleinen Kinder?«
»Sie s-sagen, dass die Römer zu gut bewaffnet sind. Zu gut ausgerüstet. In der Überzahl. Aber hier gibt es nichts für sie zu holen, und wenn ihr Kaiser genug t-triumphiert hat, wird er dieses Landes überdrüssig und zieht wieder ab.«
Maglorix wartete schweigend darauf, dass Usnach fortfuhr. Der wurde rot und warf dem neben ihm sitzenden Muddan einen Hilfe suchenden Blick zu. Muddan, der gegen Maglorix’ Ernennung zum Fürsten gewesen war, nickte beinahe unmerklich – Maglorix merkte es trotzdem.
»Er sagt – ich meine, sie sagen, dass wir die Römer im offenen Kampf niemals besiegen können und uns ihnen unterwerfen sollten, bis sie wieder weg sind.«
Maglorix stand langsam auf. Trotz der schmerzenden Fußsohlen verzog er keine Miene. Sein treuer Leibwächter Buan, der sich schwere Vorwürfe machte, weil er Maglorix’ Gefangennahme nicht hatte verhindern können, trat einen Schritt vor und streckte die Hand nach ihm aus. Der Barbarenfürst scheuchte ihn beiseite und kam steifen, langsamen Schrittes auf Usnach zu, der ängstlich zurückwich. Maglorix zog ein langes Messer aus dem Gürtel und stach mit der Spitze in seinen Daumen. Ein Blutstropfen quoll daraus hervor, fiel auf den Erdboden und wurde von ihm aufgesogen.
»Ich würde mein Blut für mein Volk geben, Usnach. Ich würde mein Leben dafür geben, dass es frei in seinem eigenen Land leben kann. Du auch?«
»Aber … aber selbstverständlich, mein Fürst«, stotterte der Älteste. Maglorix umrundete mit der Klinge in der Hand Usnachs Stuhl und legte ihm eine Hand auf die Schulter. Usnach zuckte zusammen, als hätte man ihm das Messer in den Leib gerammt, dann fing er am ganzen Körper an zu zittern. Maglorix ließ das Messer flink wie eine Wildkatze zur Seite schnellen und durchbohrte damit Muddans Hals von einem Ohr zum anderen. Muddan kam taumelnd auf die Beine und riss den Mund weit auf. Aus den glatt durchtrennten Halsschlagadern spritzte Blut durch die beiden Löcher in seinem Hals. Er wollte noch etwas sagen, hatte aber nur noch Luft zu einem unverständlichen Gurgeln. Dann bildeten sich Blutblasen auf seinen Lippen, er kippte nach vorne um, zuckte noch einmal und lag mit dem Kopf auf der Seite und weit aufgerissenen, aber blinden Augen da.
»Usnach«, sagte Maglorix, »nicht nur Feiglinge und Schlangen, auch ihre Fürsprecher leben gefährlich. Also, ist noch jemand aus diesem Rat oder aus unserem Stamm der Meinung, dass wir uns den römischen Bestien unterwerfen sollen?«
Usnach brachte kaum ein Wort heraus, doch Maglorix quetschte die Schulter des Alten immer fester, bis dieser doch zu verständlichen Sätzen in der Lage war. »N-nein, mein Fürst. Muddan war der Einzige. Er hat mich dazu gezwungen …«
Das deutlich erkennbare Entsetzen mehrerer Ratsmitglieder verriet dem Stammesfürsten, dass Muddan keinesfalls der Einzige gewesen war, der seiner Unzufriedenheit Ausdruck verliehen hatte, doch Maglorix glaubte, seinen Standpunkt einigermaßen deutlich dargelegt zu haben. Muddan war nicht besonders beliebt gewesen und hatte keine Kinder. Schlachtete er dagegen den halben Rat ab, hätte dies nur unnötige Blutfehden zur Folge.
Maglorix setzte sich wieder auf den Thron und machte trotz der unerträglichen, stechenden Schmerzen, die seine Beine hinaufkrochen, eine gleichmütige Miene. Der Anflug eines Grinsens spielte um Taximagulus’ Lippen.
»Ratsmitglieder!« Maglorix blickte auf Muddans Leichnam herab. »Verbliebene Ratsmitglieder«, verbesserte er sich, »die Römer sind in der Tat furchterregende Gegner und im offenen Kampf so gut wie unbesiegbar. Und doch haben wir im letzten Jahr bewiesen, dass wir in der Lage sind, sie zu bezwingen, wenn wir unsere weitaus größere Ortskenntnis dazu einsetzen, sie aus dem Hinterhalt zu überfallen und ihre Nachschubwege abzuschneiden. Dennoch war Muddan der Ansicht, dass wir uns unterwerfen sollten, bis sie wieder abziehen. Vielleicht glauben auch noch andere von euch, dass dies nur eine weitere, wenn auch etwas größere Strafexpedition der Römer als Vergeltung für unseren Angriff vor etwa einem Monat ist. Eine vorübergehende Unannehmlichkeit. Ratsmitglieder, hört Taximagulus an, den Vetter von Ir, dem Fürsten der mit uns verbündeten Damnonii. Taximagulus, bitte berichte dem Rat, was du mir gestern Abend erzählt hast.«
Taximagulus stand auf, und trotz des leicht höhnischen Grinsens zeigte seine Haltung eindeutig Respekt vor dem Rat. »Ihr weisen Männer der Ratsversammlung, es ist mir eine Ehre, vor euch zu sprechen. Ich entbiete euch die Grüße und die Freundschaft Irs und aller unserer Stämme. Die Römer sind noch immer auf unserem Grund und Boden. Sie haben das Kastell von Horrea Classis, wo sich die Flüsse Uisge Èireann und Tatha vereinigen und ins Meer fließen, noch weiter ausgebaut. Von dort aus können sie mit ihren Schiffen den Legionen auf unbestimmte Zeit Nachschub liefern. Die Römer haben nicht nur einen Raubzug oder eine Strafexpedition im Sinn. Sie wollen bleiben.«
Im Rat erhob sich Gemurmel. Köpfe mit schütterem weißem Haar darauf wurden geschüttelt, graue Bärte gezupft.
»Erzähl uns, was du im Norden gesehen hast«, sagte Maglorix.
Taximagulus schüttelte den Kopf, und das hämische Grinsen erlosch. »Wir alle mussten seit dem römischen Überfall im letzten Jahr Entbehrungen und Verluste ertragen. Auch ihr habt Schlachten geschlagen, eure Vorräte verloren und im Winter gehungert. Aber was ich dort gesehen habe …«
Taximagulus verstummte und starrte gedankenverloren vor sich hin, sodass ein, zwei Älteste seinem Blick folgten und sich umdrehten. Die meisten hatten jedoch schnell erkannt, dass er die erlebten Schrecken vor seinem geistigen Auge sah und nichts um sich herum wahrnahm.
Schließlich sprach er mit belegter Stimme weiter. »Die Römer haben uns in der Feldschlacht besiegt, dann aber schnell mitbekommen, dass sie uns nicht aufspüren können, wenn wir nicht gefunden werden wollen. Stattdessen haben sie sich gegen unsere Heimstätten gewandt. Gegen unsere wehrlosen Familien.
Ehrwürdiger Rat, die Römer wollten uns auslöschen. Sie haben unsere Ernte verbrannt, unsere heiligen Haine abgeholzt, unsere Dörfer überfallen und die Alten, die Frauen und Kinder schonungslos abgeschlachtet. Die Bewohner eines ganzen Dorfes dahingemetzelt zu sehen, dieser Anblick … Frauen mit gespreizten Beinen und durchgeschnittenen Kehlen, Säuglinge, die Köpfe an Bäumen zu Brei geschlagen, alte, um Gnade bettelnde Männer, einfach totgeprügelt, die Hände noch flehentlich gefaltet …« Taximagulus verstummte, und in der Halle war es still bis auf das mühsame Atmen der Alten. Maglorix ließ die Kraft des Augenblicks noch etwas wirken, bevor er dem Damnonier eine Hand auf die Schulter legte und ihn wieder zu seinem Stuhl führte.
»Ehrwürdiger Rat«, sagte Maglorix, »die Römer werden erst dann verschwinden, wenn wir sie dazu zwingen. Unser kleiner Stamm allein kann dies nicht vollbringen, doch wenn sich alle Maeatae und alle Kaledonier zusammenschließen und die Römer mit Weisheit und Verstand bekämpfen, können wir sie aus dem Norden unserer Insel verjagen. Wer weiß, vielleicht werden dann auch die unterdrückten Stämme Nordbritanniens ihren Mut wiederfinden. Gemeinsam werden wir ganz Britannien von der römischen Herrschaft befreien!«
Der gerade noch so eingeschüchterte Rat brach in Jubel aus. Muddans auf dem Boden der Ratshalle erkaltender Leichnam war völlig vergessen.
»Taximagulus, können wir auf die Unterstützung der Damnonii zählen?«
»Werter Fürst, ich kann nicht für alle Stämme sprechen, aber ich versichere Euch: Mein Vetter Ir war sehr empört darüber, dass Euer Vater ermordet wurde und die römischen Dämonen Euch hinrichten wollten, was ihnen jedoch glücklicherweise nicht gelungen ist. Bei der nächsten Versammlung der Stammesfürsten wird er sich für eine Fortsetzung des Krieges aussprechen.«
»Genau wie ich.«
Taximagulus reichte Maglorix die Hand, die dieser mit festem Griff packte. »Die Römer werden den Tag noch bitter bereuen, an dem sie den Fuß auf unser Land gesetzt haben.«
Maglorix deutete auf Muddan. »Buan«, sagte er und schon stand der Leibwächter vor ihm. »Du weißt ja, was du mit meinen Feinden zu tun hast. Sein Kopf soll auf einem Spieß verrotten, und dann wird er neben dem jungen Tarvos hier meinen Thron zieren.«
Buan nickte, zog das Schwert und trennte Muddan ohne Umschweife das Haupt vom Rumpf.
Das lauter werdende Klatschen feuchter Ledersohlen auf dem Kopfsteinpflaster Eboracums verriet Silus, dass sein Opfer sich näherte. Je ruhiger Atem und Puls gingen, desto fester war auch der Griff um das Messer in seiner Hand. Die etwas überstehende Dachtraufe, unter der er stand, schützte ihn etwas vor dem unaufhörlichen Nieselregen, trotzdem war er völlig durchnässt. Zitternd an der Straßenecke zu stehen war nicht viel angenehmer, als in der kaledonischen Wildnis zu frieren, doch hier war wenigstens das nächste Badehaus, wo man die Kälte aus den Knochen und den Schmutz aus den Poren schwitzen konnte, nicht weit entfernt.
Die Schritte kamen näher, hatten ihn beinahe erreicht. Er stellte sich vor, wie sein Opfer die um diese Zeit menschenleere Straße entlangging, versuchte anhand der Lautstärke seiner Schritte abzuschätzen, wo genau es sich befand. Als die Zehenspitzen des Mannes hinter der Gebäudekante auftauchten, war Silus bereits in Aktion getreten. In einer fließenden Bewegung legte er die linke Hand auf den Mund seines Opfers und riss den Überrumpelten nach hinten. Beinahe gleichzeitig versuchte er, das Messer in seiner rechten Hand unter dem Brustkorb und durch die Leber hindurch in das Herz des Mannes zu stoßen.
Doch sein Gegner war schnell. Er wirbelte so flink in Silus’ Griff herum, dass die Klinge lediglich die Außenseite der Rippen streifte, dann packte er mit der Linken Silus’ rechtes Handgelenk und stieß ihm den rechten Ellenbogen in den Bauch. Silus keuchte, als ihm die Luft aus der Lunge gepresst wurde, doch es gelang ihm, das Messer nicht fallen zu lassen. Er nahm die Hand vom Mund des Mannes, krallte sie in seine Schulter und schlang den Arm um seinen Hals. Dann drückte er so fest zu, wie er konnte, und ließ selbst dann nicht locker, als sein Widersacher noch zweimal mit dem Ellenbogen zustieß und Silus’ Handgelenk so fest umklammerte, dass dieser gebrochene Knochen befürchtete. Schließlich wurde der Druck auf seine Luftröhre so groß, dass der Mann gezwungen war, Silus’ Handgelenk loszulassen und an dem würgenden Arm zu zerren. Silus holte ein weiteres Mal mit dem Messer aus, um es dem Mann in die Brust zu rammen, doch der ergriff plötzlich den Arm, den Silus um seinen Hals gelegt hatte, mit beiden Händen, duckte sich und schleuderte Silus über seine Schultern hinweg. Silus landete mit dem Rücken auf den Pflastersteinen.
Er war einen Augenblick lang benommen, und sein Gegner nutzte die Zeit, indem er selbst ein Messer zog und in hohem Bogen ausholte. Silus rollte sich zur Seite, und die Messerspitze prallte an der Stelle gegen die Pflastersteine, an der einen Wimpernschlag zuvor noch Silus’ Brustkorb gewesen war. Als der Mann zum nächsten Stich ausholte, nahm Silus beide Arme über den Kopf, packte ihn bei den Fußknöcheln und zog ihm mit aller Kraft die Beine unter dem Körper weg. Der Mann landete ebenfalls auf dem Rücken. Silus wirbelte herum, setzte sich auf seinen Oberkörper und presste die Arme seines Opfers mit den Knien gegen den Boden. Dann richtete er sein Messer auf den Hals des Mannes und drückte es nach unten.
Zu Silus’ großer Erleichterung klopfte sein Gegner zweimal mit der Hand gegen sein Bein. Silus rollte sich keuchend von ihm herunter und starrte in den sternenlosen Himmel. Der Mann setzte sich mit steifen Bewegungen auf, rieb sich den Hals und schnappte nach Luft. »Scheiße, Silus. Das Messer ist zwar nur aus Holz, tut aber trotzdem ganz ordentlich weh.«
»Einen Moment lang dachte ich, Ihr hättet mich besiegt, Herr.«
»Das dachte ich auch«, sagte Oclatinius. »Du hast ein paar sehr nützliche Kniffe auf Lager.«
Silus stand ebenfalls unter Mühen auf und hielt Oclatinius die Hand hin. Der alte Veteran nahm sie und ließ sich hochhelfen.
»Also? Bin ich einsatzbereit?«, fragte Silus.
Oclatinius grinste. Er war völlig mit Schlamm beschmiert. Der Nieselregen floss in schmutzigen Rinnsalen über sein faltiges Gesicht. »Du warst vom ersten Tag an einsatzbereit.«
»Was? Was verdammt noch mal sollte dann die ganze Scheiße?«
»Das Schärfen einer bereits gut geschliffenen Klinge. Wer für Caracalla arbeitet, muss zu den Besten gehören.«
Silus sah ihn wutschnaubend an. »Die vielen Märsche mit dem schweren Marschgepäck auf dem Buckel, die Steingewichte im Gymnasium, die Übungskämpfe mit Fäusten und Holzschwertern und Messern, das ganze Fallenstellen und Verstecken und Überrumpeln, das alles war völlig überflüssig?«
Oclatinius ließ die Hand vorschießen und packte Silus an der Kehle. Der Veteran war trotz seines Alters noch so schnell wie eine zustoßende Viper und konnte Silus mühelos überrumpeln. »Jetzt pass mal gut auf, Bürschchen. Wenn du dich erst mal vor einer Barbarenarmee verstecken musst oder ein Rudel halb nackter Verrückter in den Bergen Jagd auf dich macht, wirst du mir für das, was ich dir beigebracht habe, so dankbar sein, dass du auf die Knie fallen und mir den Schwanz lutschen würdest.«
Silus schnappte sich Oclatinius’ Handgelenk und versuchte, sich aus dem Griff des alten Haudegens zu befreien. Dieser hielt einen Augenblick dagegen und ließ dann los. Silus rieb sich beleidigt die Kehle. »Ihr seid ein blöder Scheißkerl, Herr.«
»Schon möglich. Aber immerhin ein Scheißkerl, der dir Fähigkeiten beigebracht hat, die dir mal das Leben retten werden.«
»Schon gut, schon gut. Und was jetzt?«
»Jetzt genehmigen wir uns erst mal einen Schluck.«
Man hatte die letzten Zecher schon lange aus den Tavernen geworfen. Sie waren nach Hause gewankt, wenn sie nicht dabei eingeschlafen oder gar zusammengeschlagen, ausgeraubt und einfach liegen gelassen worden waren. Doch Oclatinius bestand darauf, noch etwas zu trinken, und auch Silus konnte einen Schluck, der den Durst löschte und die Nerven stärkte, gut gebrauchen. Schließlich kamen sie an einem Haus an der Hauptstraße vorbei, auf dessen Fassade ein blauer Eber gemalt war.
»Besser als nichts«, sagte Oclatinius.
»Ich glaube nicht, dass da noch geöffnet ist.«
Oclatinius trat die Tür kurz entschlossen auf. »Jetzt schon.«
Er ging in die Taverne, wobei er einen flüchtigen Blick auf den zersplitterten Türrahmen warf und etwas von windigem Pfusch murmelte. Der kleine Schankraum, in dem lediglich eine Handvoll Gäste mit Bier, Wein und einfachen Speisen bewirtet werden konnte, unterschied sich in nichts von denen der anderen Lokale, wie es sie zu Dutzenden in der Stadt gab.
»Bedienung«, rief Oclatinius aus vollem Hals. Kurz darauf kam ein alter Mann aus der Tür zum Hinterzimmer. Er hatte einen Kerzenhalter mit einer stinkenden, zischenden und nur wenig Licht spendenden Talgkerze in der Hand.
Das halbe Dutzend Tische war größtenteils mit dreckigen Bechern und Tellern vollgestellt. Oclatinius rümpfte die Nase. »Wie sieht es denn hier aus? Dein Sklave hat eine ordentliche Tracht Prügel verdient.«
»Wer … wer seid ihr? Was wollt ihr?«, stammelte der Alte.
»Etwas trinken, sonst nichts.«
»Ich habe einen Sklaven losgeschickt, um die Nachtwache zu holen.«
»Blödsinn«, sagte Oclatinius. Er setzte sich auf einen Stuhl, legte die Füße auf den Tisch und fegte damit das schmutzige Geschirr herunter. »Wenn ich mich hier so umsehe, kann ich mir nicht vorstellen, dass du mehr als einen Sklaven hast, und der ist entweder zu jung oder zu gebrechlich, um sich nachts allein herumzutreiben. Außerdem – glaubst du wirklich, dass die Nachtwache für einen dreckigen kleinen Spelunkenwirt auch nur einen Finger krumm machen wird?«
»Ich habe kaum Geld hier«, sagte der Wirt. »Ich habe es für eine große Fuhre vom besten Bier ausgegeben. Alles.«
»Na, umso besser«, sagte Oclatinius. »Dann weck deinen Sklaven, er soll uns Bier bringen. Und eine Pastete. Setz dich, Silus.«
Ein unterernährter Sklavenjunge von kaum zwölf Jahren spähte aus der Hinterzimmertür. Er war blond, hatte Sommersprossen und ein blaues Auge. Ein Kaledonier, schätzte Silus. Als der Junge den Mund aufmachte, bestätigte sein Akzent diese Vermutung. »Was ist denn los, Herr?«
»Bring unseren Gästen Bier und eine Fleischpastete«, sagte der Wirt.
»Und keine Plörre, verstanden?«, sagte Oclatinius.
Der Wirt seufzte. »Von der neuen Fuhre, Junge.«
Der Sklave war dafür, dass man ihn soeben aus dem Schlaf gerissen hatte, recht flink auf den Beinen. Schon bald kehrte er mit zwei Bechern voller Bier mit ordentlich Schaum darauf und zwei kleinen, knusprigen Pasteten zurück. Sobald er alles auf dem Tisch abgestellt hatte, scheuchte ihn Oclatinius wieder davon.
»Was sind wir dir schuldig?«, fragte er.
»Schuldig?«, fragte der Wirt und zog verwirrt die Augenbrauen in die Höhe.
»Für das Bier und die Pasteten«, sagte Oclatinius ungeduldig. »Was denn, hältst du uns etwa für Räuber oder Banditen?«
»Aber nein, die Herren, selbstverständlich nicht. Das macht zwei Kupferstücke, die Herren. Danke, die Herren.«
»Und für die Tür?«
»Herr?«
»Wie viel wird es kosten, die Tür zu reparieren?«
Der Wirt sah sie verblüfft an. »Einen Sesterz?«, antwortete er zögerlich.
»Hier hast du einen Denar für die Bewirtung und die Tür«, sagte Oclatinius. »Aber sieh zu, dass du sie diesmal ordentlich reparieren lässt – mit verstärkten Angeln und einem guten, festen Eichenbalken an der Innenseite. Die Tür da ist ja nur ein besserer Vorhang. Da kann doch jeder einfach reinspazieren. Du hast Glück, dass nur wir es waren.«
Oclatinius schnippte ihm die Silbermünze zu. Der Wirt schaffte es nicht, sie aufzufangen, und musste auf der Suche danach mit den Knien auf dem dreckigen Boden herumrutschen.
»Ja, Herr. Danke, Herr.«
»Und jetzt verschwinde, ich und mein Freund hier wollen essen, trinken und uns unterhalten. Wir melden uns, wenn wir mehr Bier wollen.«
Der Wirt zog sich unter mehreren unterwürfigen Verbeugungen zurück.
Silus hob den Becher und nahm einen tiefen Schluck. Der Wirt hatte nicht gelogen – das Bier war tatsächlich ganz schmackhaft. Vielleicht nicht das beste, das er jemals getrunken hatte, aber durchaus annehmbar und allemal geeignet, den Durst zu stillen, den er bei dem anstrengenden Übungskampf bekommen hatte. Es hatte eine bittere Note – Beifuß, wenn er sich nicht irrte. Oclatinius nahm ebenfalls einen großen Schluck, dann lehnte er sich zurück und betrachtete Silus mit nachdenklicher Miene.
»Was?«, fragte Silus leicht gereizt.
»Weißt du, ich glaube, du wirst dich in unserem Geschäft ganz gut machen.«
»Ergebensten Dank, aber ich kam als Kundschafter auch ohne Euch hässlichen alten Sack ganz gut zurecht.«
»Euch hässlichen alten Sack, Herr , wolltest du wohl sagen.« Oclatinius sah ihn streng an.
Silus blickte betreten auf den Boden. Er wusste zwar immer noch nicht so recht, ob er den alten Veteranen mochte oder hasste, aber auf jeden Fall respektierte er ihn. »Verzeiht, Herr.«
»Schon gut. Heute Abend darfst du mich nennen, wie du willst.«
»Jawohl, alter Schwanzlutscher. Herr.«
Oclatinius grinste. »Wer hat dir das alles beigebracht? Du warst schon ein guter Späher, bevor ich dich in die Finger bekommen habe. So etwas lernt man nicht bei den Legionären in der Kaserne.«
Silus nahm einen Schluck Bier. »Mein Vater«, sagte er nur.
»Ja?«
Silus spitzte die Lippen und schwieg. »Also gut«, sagte er schließlich. »Mein Vater war ein Frumentarius.«
Oclatinius sah ihn überrascht an. »Wirklich? Vielleicht bin ich ihm ja irgendwann mal über den Weg gelaufen. Wie hieß er?«
»Gnaeus Sergius Silus.«
»Sergius, Sergius …« Oclatinius dachte nach. »Doch nicht etwa Sergius der Barbarenficker?«
Silus biss die Zähne zusammen, ließ sich aber nichts anmerken. »Meine Mutter war eine Maeata.«
Wenn er dies jemandem erzählte, folgte normalerweise unangenehmes Schweigen. Oclatinius dagegen schien es überhaupt nicht unangenehm zu sein. Er lehnte sich zurück, nahm einen Schluck und starrte Silus so durchdringend an, als wollte er in sein Herz blicken.
Silus blinzelte zuerst. Er blickte auf seine Hände herab und kratzte etwas Schmutz unter einem Fingernagel hervor, der ihn plötzlich ganz furchtbar zu stören schien.
Oclatinius wartete eine Weile vergeblich darauf, dass Silus weitersprach, dann rülpste er. »Vor ein paar Jahren war ich Prokurator dieser beschissenen Insel.«
Das war Silus bekannt. Als Prokurator war Oclatinius für die finanziellen Angelegenheiten – wie etwa das Eintreiben der Steuern und Pachtgelder sowie der Aufsicht über die Bergwerke – zuständig gewesen. Ein wichtiger Posten, denn mächtiger war nur der Statthalter der Provinz. Dass Oclatinius als einfacher Legionär angefangen und sich langsam nach oben gearbeitet hatte, war allgemein bekannt. Und wenn er das geschafft hat, so dachte jeder Legionär insgeheim, kann ich das auch – obwohl Oclatinius’ Aufstieg aus ärmlichen Verhältnissen mehr oder weniger beispiellos war.
»Der Kaiser hatte schon seit mindestens sieben Jahren ein Auge auf diese Insel geworfen. Severus ist schlau. Er lernt aus seinen Fehlern.«
»Fehler?«
»Ja, genau. Es ist zwar nicht gerade vernünftig, offen über die Fehler eines Kaisers zu sprechen, doch selbst wenn uns dieser Angsthase von Wirt belauscht, wird er schon nicht gleich zum Palast rennen und uns verpfeifen. Als Severus in das Partherreich einmarschierte, eroberte er die Stadt Ktesiphon. Eine militärische Glanzleistung, die auf seinem Triumphbogen auf dem Forum in Rom verewigt ist. Leider wusste Septimius nicht, wie er die Stadt halten sollte, nachdem er sie eingenommen hatte. Weder kannte er sich in der Gegend aus noch wusste er, wohin der Partherkönig Vologaeses geflohen war, geschweige denn, wo er Vorräte herbekommen sollte, um seine Armee zu versorgen. Der strahlende Sieg, die Legionäre, die gefallen waren, um ihn zu erringen – alles war umsonst gewesen.
Als er dann Kaledonien ins Auge fasste, war ihm bewusst, dass er zunächst so viel wie möglich über dieses Land in Erfahrung bringen musste, damit er seine Siege leichter erringen und die besetzten Gebiete auch halten konnte. Und damit hat er mich beauftragt.«
»Ich habe viele Geschichten über Euch gehört. Ihr wart erst Legionär, dann Zenturio und habt schließlich als Praefectus castrorum ein Lager befehligt. Dann habt Ihr Euch den Speculatores angeschlossen, wart Scharfrichter und schließlich Zenturio bei den Frumentarii.«
»Ich bin ein alter Mann und weit herumgekommen«, sagte Oclatinius. »In deinem Alter war ich noch Legionär. Selbst ein Mann von meinem Format muss sich in Geduld üben, um den Makel seiner niederen Herkunft zu überwinden. Deine Mutter war eine Maeata, na und? Du erinnerst mich an mich selbst in jungen Jahren. Du kannst es weit bringen. Außerdem könnte deine Herkunft für einige der Aufgaben, mit denen ich dich betrauen will, durchaus von Nutzen sein.«
Aufgaben? Obwohl Silus müde war und das Bier ihn wärmte, schlug sein Herz schneller. Endlich würde man ihn losschicken, um Rache an diesen barbarischen Hundesöhnen zu üben.
»Erzähl mir von deiner Mutter«, sagte Oclatinius.
Diese überraschende Wendung des Gesprächs traf Silus völlig unvorbereitet. »Nein«, sagte er und funkelte seinen Vorgesetzten böse an.
»Wie du meinst. Dann vergessen wir das Ganze. Gleich morgen früh kehrst du in dein Kastell am Wall zurück. Als einfacher Soldat der Hilfstruppen.«
Silus fiel die Kinnlade herunter. »Was?«, keuchte er. War die Arbeit der vergangenen Wochen vergebens gewesen, der viele Hass und der Zorn, die ihm als Antrieb gedient hatten, um sich zu einer Waffe ausbilden zu lassen? Einer Waffe, die direkt auf das Herz jenes Mannes gerichtet war, der seine Familie abgeschlachtet hatte. Wie sollte er als einfacher Soldat Rache nehmen, wie überhaupt weiterleben?
Oclatinius beugte sich vor. »Du sollst von den Augusti mit gefährlichen Geheimaufträgen betraut werden und Kenntnis von sehr wichtigen Dingen erhalten, Silus. Und jetzt erfahre ich, dass dein Vater Sergius der Barbarenficker und deine Mutter eine Maeata waren. Wenn du willst, dass ich dir vertraue, musst du mir von deiner Vergangenheit erzählen.«
Silus schüttelte den Kopf. »Das geht nicht …«
Oclatinius stand ruckartig auf. Die Stuhlbeine kratzten über den Steinboden. »Melde dich morgen früh bei mir. Ich habe mehrere Mitteilungen für deinen Kommandanten in Voltania, die du überbringen wirst. Gute Nacht, Silus.« Er verschwand durch die aufgebrochene Tür. Silus starrte ihm ungläubig hinterher.
Die beiden Brüder waren betrunken. Sie machten selbst das Trinken zu einem Wettstreit, indem sie einen Becher des bitteren hiesigen Bieres nach dem anderen leerten, ohne dass einer aufgeben wollte. Als sie allmählich begriffen, dass sie höchstens ein Unentschieden erreichen und dabei vermutlich vor ihren jeweiligen Anhängern das Bewusstsein verlieren würden, einigten sie sich auf einen anderen Wettkampf – ein Rennen um die Festungsmauer.
Eboracum war nur wenige Jahrzehnte nach der ersten, von Claudius angeführten Invasion Britanniens als befestigtes Lager gegründet worden, und im Lauf der Zeit war um das Militärlager eine größere Siedlung entstanden. Diese verfügte über eine Stadtmauer, die jedoch, was ihre Dicke und Höhe betraf, nicht annähernd an die Mauer der Festung heranreichte, die bei Severus’ Ankunft zusätzlich noch ausgebessert, verstärkt und mit Tortürmen versehen worden war.
Und nun standen Severus’ Söhne Caracalla und Geta betrunken vor einem aus ebenfalls berauschten und jubelnden jungen Adligen, kopfschüttelnden Alten und einem bunten Haufen staunender Stadtbewohner bestehenden Publikum am Fuße einer der zum Wehrgang hinaufführenden Treppen. Obwohl sich alles drehte, wenn sie zum wolkenverhangenen Nachthimmel aufblickten, waren sie fest entschlossen, die fast eine Meile lange, tückische Strecke um die Wette zu laufen.
»Ich erwarte ein ehrliches Rennen ohne Schlagen, Beißen oder Treten«, lallte einer der Betrunkenen, den sie zum Schiedsrichter erkoren hatten. »Die Rennstrecke führt einmal um die Festungsmauer herum, Sieger ist der Erste, der wieder hier ankommt. Der Wetteinsatz beider Teilnehmer ist einer ihrer Lieblingssklaven. Sind die Wettkämpfer bereit?«
Caracalla hob zustimmend die Hand, Geta tat es ihm gleich.
»Los!«
Geta rempelte seinen Bruder von der Seite mit gerade so viel Schwung an der Schulter an, dass Caracalla mit dem Gesicht voraus gegen die Wand prallte, dann rannte er die Treppe hinauf, wobei er trotz seiner Trunkenheit zwei Stufen auf einmal nahm. Caracalla lief ihm fluchend hinterher.
Seine anfängliche Siegesgewissheit geriet ins Wanken. Er war davon ausgegangen, aufgrund seiner soldatischen Tugenden und durch das Marschieren und Exerzieren mit den Legionen in weitaus besserer körperlicher Verfassung als sein Bruder zu sein. Doch sein Bruder hatte trotz seiner sitzenden Tätigkeit offenbar Zeit zur Leibesertüchtigung gefunden. Außerdem war Geta leichter und kam so schneller die steilen Stufen hinauf, und nicht zuletzt war er um einiges jünger, was in der Vergangenheit stets Caracalla zum Vorteil gereicht hatte, sich aber plötzlich in einen Nachteil verwandelt zu haben schien.
Als Caracalla schließlich die etwa dreißig Stufen bezwungen hatte, rannte sein Bruder bereits mit mehreren Schritt Vorsprung den schmalen Wehrgang hinunter. Caracalla sprintete mit eingezogenem Kopf los, warf Arme und Beine energisch nach vorn. Er holte zwar langsam auf, doch dafür breitete sich ein Brennen in seinen Beinmuskeln und seiner Lunge aus. Ein längerer Spurt war keine ihm vertraute Übung – er war lange Märsche oder kurze, heftige Kraftanstrengungen wie beim Fechten oder Ringen gewöhnt. Schon bald schnappte er nach Luft. Obwohl er sich zusehends verausgabte, wurde sein Kopf kaum klarer.
Geta erreichte den ersten der acht Wachtürme, riss die Tür auf und warf sie hinter sich zu. Caracalla öffnete die Tür wieder und nutzte ihren eisernen Griff, um sich daran abzustoßen. Zwei Wachposten blickten schuldbewusst von ihren Knochenwürfeln auf. Offenbar wussten sie nicht, ob sie zuerst nach ihren Waffen greifen oder die Beweise für ihr im Dienst verbotenes Glücksspiel verstecken sollten. Aber noch bevor sie zu einem Entschluss kamen, waren die beiden Brüder auch schon durch die andere Turmtür verschwunden.
Caracalla bekam Seitenstechen. Es war wirklich keine sehr schlaue Idee gewesen, mit einem Bauch voller Fleisch und Bier zu einem Wettrennen anzutreten. Wahrscheinlich würde er irgendwann anhalten und sich über die Brustwehr übergeben müssen – eine äußerst demütigende Art und Weise, diese Wette zu verlieren.
Dieser Gedanke verlieh ihm neue Kraft, und als sie das zweite Tor erreichten, war er Geta bereits so nahe, dass er den Arm ausstrecken und die Tür aufhalten konnte, bevor sein Bruder ihm auch diese vor der Nase zuschlug. Zwei weitere Wachen blickten überrascht auf, und ihr Erstaunen wuchs noch, als Geta einen dreibeinigen Hocker mit einer Hand packte und seinem Bruder entgegenschleuderte.
Caracalla wollte zur Seite ausweichen, doch der Hocker traf ihn schmerzhaft an der Schulter und brachte ihn aus dem durch das Bier sowieso bereits beeinträchtigten Gleichgewicht, sodass er gegen einen Soldaten taumelte und diesen zu Boden stieß. Caracalla landete einigermaßen sanft auf ihm, während dem unglücklichen Legionär die Luft aus der Lunge gequetscht wurde. Sofort war der Augustus wieder auf den Beinen und lief fluchend hinter dem höhnisch lachenden Geta her.
Erst nach drei weiteren Tortürmen hatte er wieder einigermaßen aufgeholt, doch er spürte, dass ihm die Puste ausging, obwohl beinahe die halbe Strecke noch vor ihm lag. Die Anstrengung, seinen Bruder nicht nur einmal, sondern zweimal einzuholen, sowie die Tatsache, dass er älter und schwerer war, forderten ihren Tribut. Geta baute seinen Vorsprung wieder aus, und nach zwei weiteren Tortürmen mit schockierten Wachposten in den verschiedensten Stadien des Wachseins, der Wachsamkeit oder Trunkenheit lag Geta bequeme dreißig Schritt in Führung.
Die Muskeln in Waden und Oberschenkeln protestierten und sein Bauch fühlte sich an, als hätte man einen langen Dorn hineingetrieben. Obwohl sich sein mächtiger Brustkorb hob und senkte, bekam er einfach nicht genug Luft. Caracalla war der Verzweiflung nahe.
Doch als Geta den letzten Torturm erreichte und die Tür öffnete, knickte er mit dem Fuß auf einem hervorstehenden Pflasterstein um. Da er nicht weniger betrunken als Caracalla war, konnte er sich nicht auf den Beinen halten und fiel der Länge nach in den Wachraum. Bevor er sich wieder aufrappeln konnte, war Caracalla schon bei ihm und sprang mit der Kraft neu gewonnener Hoffnung in einem Satz über seinen Bruder hinweg.
Geta streckte den Arm aus und packte den Knöchel des sich im Sprung befindlichen Caracalla. Dieser war zu erschöpft und in seinem Zustand zu schwerfällig, um sich loszureißen und das Gleichgewicht nicht zu verlieren. Er kam so heftig auf dem harten Steinboden auf, dass ihm einen Augenblick lang die Luft wegblieb. Nun war Geta wieder auf den Beinen und lief, nun langsamer als vorher, zur anderen Tür.
Caracalla ergriff sein Bein und hielt sich daran fest. Geta kämpfte sich aus dem Turm, und die Zuschauer erblickten einen der drei Augusti, der einen anderen hinter sich über den Wehrgang zog, wobei sie sich gegenseitig derbe Flüche an den Kopf warfen.
Geta beugte sich vor, um Caracallas Griff zu lösen, doch der ältere Bruder war der eindeutig stärkere. In seiner Trunkenheit vergaß Geta, dass er nur ein Bein frei bewegen konnte, setzte zum Tritt an und ging ebenfalls wenig elegant zu Boden. Die Brüder rangen, zerrten sich gegenseitig an der Kleidung, schlugen und bissen, während die ersten Regentropfen auf sie niederfielen.
Caracalla konnte Geta einen kurzen Augenblick lang durch einen Schlag auf den Kopf gefechtsunfähig machen. Er löste sich aus dem Griff seines Bruders und richtete sich langsam und mühevoll auf. Ihm tat alles weh. Er schwankte zur Treppe und hielt inne, plötzlich unsicher auf den Beinen, bevor er einen weiteren zögerlichen Schritt machte.
Da hörte er ein Brüllen hinter sich. Sein Bruder rannte auf ihn zu und schlang einen Arm um seine Hüfte. Die beiden Augusti fielen sich überschlagend die Stufen hinunter. Caracalla bekam jede einzelne harte Kante zu spüren, dann prallten sie gegen die Wand und fielen aus etwa zwei Schritt Höhe von der Treppe. Beide landeten gleichzeitig auf dem Rücken und lagen keuchend und stöhnend da. Aus den wenigen Tropfen wurde ein Regenguss, und schon bald waren sie völlig durchnässt.
»Unentschieden!«, verkündete der Schiedsrichter, und die versammelten Höflinge brachen ebenso wie die Zuschauer in lauten Jubel aus. Die Anhänger des jeweiligen Augustus überhäuften ihren Favoriten mit Glückwünschen oder empörten sich über das Ergebnis, während sie ihm auf die Füße halfen. Der schlammbespritzte, etwas mitgenommene Caracalla sah seinen Bruder mit schlecht verborgener Missgunst an.
»Das war kein Unentschieden«, sagte Caracalla. »Er hat betrogen, so wie immer. Genau wie damals, als er mich bei dem Wagenrennen beinahe umgebracht hätte.«
»Du hattest Glück«, sagte Geta. »Wäre ich nicht kurz vor Schluss gestolpert, hätte ich ganz klar gewonnen.«
»Du bist aus Ungeschicklichkeit hingefallen, ich dagegen, weil du gegen die Regeln verstoßen hast.«
Geta trat auf ihn zu. Caracallas Herz hüpfte vor Freude bei der Vorstellung, seinen Bruder bei einem anständigen Faustkampf Mann gegen Mann in die Schranken zu weisen.
Dann verstummten die Umstehenden plötzlich, und Caracalla sah sich verwundert um. Die Menge teilte sich, senkte die Köpfe und machte einer reich verzierten, von acht kräftigen Sklaven getragenen Sänfte Platz, die vor den beiden Augusti anhielt. Die Vorhänge öffneten sich.
Dahinter kamen Kaiser Severus und Kaiserin Julia Domna zum Vorschein. Severus war bleich und ausgezehrt, sein Atem ging schwer und pfeifend, doch die Wut in seiner Miene war unverkennbar.
»Ich habe euch hierhergebracht, um eurem liederlichen Benehmen ein Ende zu setzen«, sagte er mit leiser, aber in der gespannten Stille deutlich zu vernehmender Stimme. »Ich habe euch Verantwortung übertragen, weil ihr euch in den Dienst eures Reiches stellen sollt. Aber ihr tut nichts anderes, als euch zum Narren zu machen – Saufen, Prügeln, Wettkämpfe. Ist überhaupt einer von euch fähig zu herrschen, wenn ich nicht mehr bin?«
Caracalla erbleichte, dann stieg Wut in ihm auf. »Vater, ich bin Euer Erbe. Wenn Ihr sterbt, habe ich das alleinige Recht, über Rom zu herrschen.«
»Vater, wir sind beide Augusti«, protestierte Geta. »Ihr habt entschieden, dass wir Rom gemeinsam regieren.«
»Genug!« Severus’ Stimme durchschnitt die ruhige Nachtluft. »Nicht das Recht der Geburt bestimmt, wer mir nachfolgt, sondern ich allein. Und wenn ihr mich weiterhin derart enttäuscht, werde ich lieber einen Freigelassenen zum Nachfolger erwählen als einen von euch.«
Caracalla öffnete den Mund, doch da ihm nichts Vernünftiges zu seiner Verteidigung einfallen wollte, schloss er ihn wieder und neigte demütig den Kopf. »Bitte verzeiht, Vater.« Er würde es auf dem Schlachtfeld wiedergutmachen und seinem Vater zeigen, wer der geeignetere Herrscher war.
Geta warf ihm einen Seitenblick zu, da er offenbar eine List hinter der Entschuldigung seines Bruders vermutete. Dennoch beugte auch er den Kopf. »Vater, auch mir tut es sehr leid. Ich schwöre, Euren hohen Erwartungen gerecht und ein würdiger Nachfolger zu werden.«
Caracalla mahlte bei diesen Worten mit den Zähnen, verkniff sich aber jeglichen Kommentar. Er hob den Kopf wieder. Der Kaiser schien einigermaßen versöhnt, seine Gemahlin dagegen betrachtete ihn mit einer Mischung aus Besorgnis und Enttäuschung. Caracalla suchte ihren Blick. Die anderen ahnten nicht, dass er ihr damit eine Frage stellte, auf die sie mit einem beinahe unmerklichen Nicken antwortete, bevor sie sich wieder abwandte.
Severus fing an zu husten und spie in ein Tuch. Caracalla glaubte, Blutflecken darauf zu sehen, doch sicher war er sich im schwachen Licht nicht.
»Geht nach Hause«, sagte Severus heiser. »Sklaven, zurück zum Palast.« Er ließ den Vorhang sinken und die Sänfte entfernte sich wieder.
Caracalla stand wütend, frustriert, müde und zerschlagen im strömenden Regen – und doch auch in freudiger Erregung, da er später noch eine Verabredung hatte.
Caracalla betrat Julia Domnas von goldenen Öllampen erhelltes und von einem unaufdringlichen Wohlgeruch erfülltes Schlafzimmer. Sie gehörte nicht zu den Ehefrauen, die jede Nacht das Lager ihres Gatten teilten. Das war auch nicht im Sinne des Kaisers gewesen, schließlich hätte er sich in ihrer Anwesenheit ja schlecht mit den Freien und Sklavinnen vergnügen können, die er begehrt hatte, als er noch an den Freuden des Fleisches interessiert gewesen war. Doch nun war er ein alter Mann und zu schwach dafür – ganz gleich, ob mit ihr oder mit anderen Frauen.
Julia Domna lag zurückgelehnt da und trank aus einem Bronzebecher. Die Fußbodenheizung verbreitete angenehme Wärme und sanfte Musik drang aus der Ecke, in der eine vertrauenswürdige Sklavin stand und auf einer Lyra spielte. Julias Gesicht war mit Bleiweiß geschminkt, die Augen dick mit Kajal umrandet und das Haar zu einer kunstvollen Frisur hochgesteckt. Trotz der späten Stunde erweckte sie ganz eindeutig nicht den Eindruck, als hätte sie vor, sich demnächst schlafen zu legen.
Sie blickte mit schweren Lidern unter den langen Wimpern zu ihm auf. Er schloss die Tür hinter sich und entledigte sich seines Caracallus, jenes dicken Wollmantels, dem er seinen Spitznamen zu verdanken hatte. Darunter trug er eine einfache, zweckmäßige Tunika, die allerdings mit kostbarem Purpur gefärbt war. Julia ließ ihren Blick langsam von den Sandalen über die behaarten, ausgesprochen muskulösen Beine, die schmale Taille, die breite Brust und den Stiernacken bis hinauf zu seinem ernsten, stattlichen, von dichtem, lockigem Bart und Haar umrahmten Gesicht wandern. Ihr Atem ging schneller, sie öffnete leicht den Mund und strich mit der Hand die rote Stola auf ihrem Oberschenkel glatt.
Caracalla war mit zwei schnellen Schritten über ihr und drückte sie auf den Rücken. Sie stieß ein Keuchen aus, das durch Caracallas Lippen gedämpft wurde. Seine Zunge schob sich in ihren Mund, sie schlang die Arme um ihn und erwiderte den Kuss leidenschaftlich. Gierig und ungestüm erkundeten ihre Hände den Leib des anderen. Er griff nach einer Brust, drückte sie und hörte mit Befriedigung ein Stöhnen.
Dann löste er sich von ihr, packte den Saum ihrer Stola und zog sie über ihren Kopf. Sie half ihm nach Kräften, sie loszuwerden. Er trat zurück. Sie lag nackt vor ihm, ein Knie angewinkelt, und biss neckisch lächelnd auf einen Finger. Julia war fünfzig, Caracalla sechsunddreißig, doch der Altersunterschied war ihm völlig egal. Sie hatte ein rundes Gesicht mit einer etwas zu langen Nase, die jedoch an ihrer Spitze einen reizenden Aufwärtsschwung aufwies. Die weiße Schminke konnte nicht ganz die Falten um Mundwinkel und Augen verdecken, und ihr Körper war schlank und wohlgeformt, aber nicht mehr so straff wie einst. Beinahe verblasste Schwangerschaftsstreifen an den Bauchseiten erinnerten daran, dass sie vor einundzwanzig Jahren seinen Bruder zur Welt gebracht hatte.
Caracalla fand sie unwiderstehlich. Er riss sich die Tunika vom Leib, warf sie beiseite und stürzte sich einmal mehr auf sie. Julia schlang Arme und Beine um ihn, als er in sie eindrang. Ihre Augen waren halb geschlossen, ihr Mund formte ein stummes O. Trotz ihrer drängenden, hitzigen Leidenschaft schien es den beiden, als dauerte der Liebesakt eine Ewigkeit, als wäre die Zeit gar stehen geblieben. Tatsächlich konnte die Lyraspielerin – die den Blick züchtig abgewandt hatte – vor ihrem Höhepunkt nur ein einziges Lied zu Ende spielen.
Dann lagen sie Seite an Seite da, atmeten schwer und glänzten vor Schweiß. Julia fuhr mit den Fingerspitzen durch sein Brusthaar.
»Ich liebe dich«, sagte Caracalla.
Julia legte einen Finger auf seine Lippen. »Sag das nicht.«
»Warum nicht?«, fragte er. »Wer soll uns denn hören?«
Die Lyraspielerin selbstverständlich, doch eine Sklavin fiel nicht ins Gewicht – nicht zuletzt deshalb, weil ihr grässliche Folter und die Hinrichtung drohten, falls sie auch nur ein Wort über das verlor, was sie hier gesehen hatte.
»Ich weiß es«, sagte Julia. »Und das reicht.«
Seufzend schmiegte er den Kopf an ihre Brust.
»Denkst du an eine Jüngere, wenn wir miteinander schlafen? An deine Frau beispielsweise?«
Caracalla schüttelte den Kopf. »Niemals.«
»Denkst du überhaupt jemals an sie?«
Caracalla drehte sich auf den Rücken und wischte sich mit dem Handrücken den Schweiß aus den Augen. »Wir wurden miteinander verheiratet, weil Vater es so wollte, und auch ihre Verbannung war sein Wille.«
Als er Severus erwähnte, schürzte Julia die Lippen. »Er hatte keine andere Wahl, das weißt du genau. Er konnte die Familie eines Verräters wie Plautianus nicht ungestraft davonkommen lassen.«
»Darüber will ich mich auch gar nicht beschweren. Wie du weißt, empfinde ich keine Liebe für Plautilla. Doch dass ich diese Entscheidung nicht selbst treffen durfte, nehme ich ihm übel. Wenn er nicht mehr da ist, kann ich endlich selbst über mein Schicksal bestimmen.«
»Antoninus, du darfst den Tod deines Vaters nicht herbeiwünschen«, sagte Julia. »Ich fühle mich für das, was wir hier tun, schon schuldig genug, da solltest du nicht mit solchen Bemerkungen riskieren, dass die Götter sein Schicksal vor der Zeit besiegeln.«
»Wie? Du hast mich doch heute Nacht zu dir gerufen.«
Sie gab ihm einen spielerischen Schlag auf den Arm. »Ach, jetzt habe ich dich also verführt, ja? In wessen Schlafzimmer sind wir gleich noch mal?«
»Ich wusste ganz genau, was der Blick zu bedeuten hatte, den du mir heute von der Sänfte aus zugeworfen hast.«
»Bin ich so berechenbar?«
»Es ist die Arithmetik der Liebe.«
»Das war ja beinahe eines Poeten würdig, mein Schatz. Kein Vergleich mit deinem rüpelhaften Benehmen von heute Abend. Was hatte das denn zu bedeuten?«
Sofort erlosch Caracallas Lächeln. »Dein Sohn provoziert mich«, sagte er mürrisch.
»Ja, das stimmt«, pflichtete Julia ihm bei. »Aber du bist der Ältere und solltest über solchen Dingen stehen.«
»Er fordert mich ständig heraus. Er will Mitkaiser werden, wenn Vater tot ist.«
»Wie es auch der Wunsch meines Gemahls ist, nicht wahr?«
»Das ist ungerecht!«, rief Caracalla und versetzte der Daunenmatratze einen so heftigen Schlag, dass die Lyraspielerin einen Ton verpasste. »Ich bin der Ältere. Ich habe Legionen befehligt und Siege auf dem Schlachtfeld errungen. Vater hat militärisches Können und Tapferkeit immer höher geschätzt als alles andere und mir versprochen, mich zu seinem Nachfolger zu machen.«
»Und das wirst du auch«, sagte Julia besänftigend und tätschelte seinen Arm.
»Aber nicht allein, da er Geta letztes Jahr ebenfalls zum Augustus ernannt hat. Und was hat der schon groß geleistet, außer sich die Beschwerden von irgendwelchen kleinen Beamten und Landadeligen anzuhören und Beschaffungsformulare für Caligae und Schaufeln zu unterzeichnen?«
»Nun, letztes Jahr ist es ihm gelungen, die Revolte in Verulamium zu beenden. Seitdem glaubt der Kaiser wohl, dass er bereit dafür ist, mehr Verantwortung zu übernehmen.«
»Die Revolte zu beenden? Er war der Urheber des Aufstandes! Er hat diesen Christusjünger … wie hieß er noch … Alban hinrichten lassen, nur weil er einem ihrer Priester Unterschlupf gewährt hat, und damit einen Aufruhr unter den Einheimischen verursacht! Um sie zu beruhigen, musste er alle möglichen Zugeständnisse machen und den Christusgläubigen versprechen, sie nicht länger zu verfolgen.«
»Ich weiß, wie sehr du meinen Sohn hasst …«
»Ich hasse ihn nicht, Julia. Er ist mein Bruder und dein Sohn. Aber er bringt mich eben zur Verzweiflung.«
Julia streichelte Caracallas Haar. Er verspannte sich kurz und sank dann wieder auf ihren Körper zurück.
»Antoninus, bitte versöhne dich wieder mit ihm«, sagte sie. »Deinem Vater und mir zuliebe.«
Caracalla seufzte tief. »Also gut, Julia. Dir und nur dir zuliebe.«