Caracalla lief wutschäumend in seiner Amtsstube auf und ab. Oclatinius, Silus und Atius standen vor ihm stramm, die Augen geradeaus, und wagten kaum zu atmen.
»So eine Scheiße kommt heraus, wenn dieses blöde Arschloch Kaiser spielt. Wir hatten gewonnen! Der Sieg war unser! Jetzt geht alles von vorne los. Nur weil meinem idiotischen Halbbruder, der sich aus unerfindlichen Gründen ebenfalls Augustus schimpfen darf, einer seiner Hofschranzen wichtiger war als eine ruhige, friedliche Provinz und Ruhe und Frieden im ganzen beschissenen Imperium. Was, wenn die Parther den Waffenstillstand brechen und im Osten angreifen, während wir auf dieser götterverfluchten Insel unsere Zeit verschwenden? Was, wenn die Germanen Gallien überfallen? Was, wenn einer der uns noch treuen Statthalter von Africa oder Syria plötzlich der Meinung ist, dass er einen besseren Kaiser abgibt, und mit seinen Legionen auf Rom marschiert, während mein Vater hier am Arsch der Welt herumsitzt?«
Keiner der vor ihm Stehenden antwortete. Silus ging davon aus, dass diese Fragen rhetorischer Natur waren, bis Caracalla herumwirbelte und den Zeigefinger auf ihn richtete. »Was dann?«
Silus’ Eingeweide verflüssigten sich. »Also …«, stammelte er, »die Treue des Imperiums gegenüber den Augusti ist felsenfest.«
»Einen Felsen kann man mit einer Spitzhacke in Stücke schlagen, wenn man weiß, wo seine Schwachstelle ist. Du!« Caracalla deutete auf Atius. »Was, wenn der Feind im Osten einfällt?«
»Ich bin nur ein einfacher Hilfstruppensoldat«, sagte Atius, und Silus atmete erleichtert aus, weil sich sein Freund zu keiner unüberlegten Bemerkung hatte hinreißen lassen. Doch er hatte sich zu früh gefreut. »Aber wenn Ihr mich nach meiner Meinung fragt«, fuhr Atius fort, »so solltet Ihr im Falle eines parthischen oder germanischen Angriffs mehrere Legionen aus Kaledonien abziehen und der Bedrohung so schnell wie möglich begegnen. Wenn es sich um eine groß angelegte Invasion handelt, sollte sich mindestens ein Augustus an der Spitze dieser Armee befinden, um Rom zu beruhigen und die Moral der Truppe zu heben. Es ist zu hoffen, dass die dortigen Garnisonen lange genug durchhalten, bis Ihr zu ihrer Rettung eintrefft. Ich würde vorschlagen, dass Ihr die Vexillationen aus den Legionen am Rhein und an der Donau mitnehmt, und da sich die Legio VI Victrix in Eboracum sehr heimisch fühlt, wäre meine Empfehlung, aus Vexillationen dieser Legion sowie einer abgespeckten Legio II Augusta und der Legio XX Valeria Victrix eine Garnison zu bilden und den Hadrianswall als Grenze festzusetzen, da er näher an der Provinz und damit an den Nachschubwegen liegt. Da Euer Vater offenbar gesundheitlich angeschlagen ist, sollte er nach Rom zurückkehren, um die Machtansprüche Eurer Familie weiter zu festigen. Ihr habt Euch bereits als fähiger Feldherr erwiesen, daher solltet Ihr die der Invasion entgegentretende Armee befehligen. Mein Rat wäre jedoch, dafür zu sorgen, dass Euer idiotischer Halbbruder hierbleibt und sich um die Organisation des Ganzen kümmert, immerhin ist er ja der Urheber dieser ärgerlichen Situation.«
Während dieses Vortrags starrte Caracalla Atius mit offenem Mund an. Silus schloss die Augen und wartete auf die erzürnte Antwort. Doch Caracalla brach in Gelächter aus und klopfte Atius so kräftig auf den Rücken, dass dieser einen Schritt nach vorne taumelte. »Oclatinius! Wo hast du den denn aufgetrieben?«
»Meines Wissens hat er sich erst kürzlich den hiesigen Hilfstruppen angeschlossen, Augustus. Ein heller Kopf, leider mit einem allzu losen Mundwerk.«
»Sind die beiden die Richtigen?«
»Ein ausgezeichneter Arcanus und ein brauchbarer Speculator sind so gut geeignet wie jeder andere. Außerdem bringen sie den nötigen Antrieb mit – Maglorix hat Silus’ Familie und Atius’ Kameraden auf dem Gewissen.«
Bei der Erwähnung seiner Familie biss Silus die Zähne zusammen, sagte aber nichts.
»Na schön«, sagte Caracalla. »Ich vertraue deinem Urteil. Männer, ich kann diesen Maglorix nicht leiden. Er ist wie ein Stein in meinem Stiefel, der mich bei jedem Schritt stört. Und wenn man Oclatinius Glauben schenken kann, habt ihr ihn auch nicht gerade ins Herz geschlossen. Er ist seiner gerechten Strafe bereits einmal entkommen. Ich will seinen Tod.
Es wird eine Weile dauern, bis die Legionen abmarschbereit sind, doch dann wird es ein Blutbad geben, wie es sich die Bewohner dieses Landes in ihren schlimmsten Albträumen nicht hätten vorstellen können. Maglorix scheint mir ein gewisses Talent dafür zu haben, die Stämme um sich zu scharen und aufzuwiegeln. Zweifellos genießt er bei den Barbaren inzwischen Heldenstatus. Er muss unschädlich gemacht werden. Wenn wir ihn im Feld schlagen müssen, soll mir das auch recht sein, aber falls es uns gelingt, ihn auf andere Weise aus dem Weg zu räumen, könnten wir den Widerstand erheblich schwächen und nicht zuletzt viele Legionäre und Hilfstruppensoldaten vor dem Tod bewahren. Ihr beide werdet euch ins Feindesland begeben, Maglorix aufstöbern und töten.
Aber seid euch im Klaren darüber, dass ihr nicht offen im Namen des Römischen Reiches handeln könnt. Wenn ich dies zu einem offiziellen Auftrag mache, würde sich mein Bruder zweifelsohne irgendeinen Vorwand ausdenken, um euch zu behindern oder aufzuhalten, und sei es nur, um mich zu ärgern. Mein Vater ist nicht mehr der Draufgänger von einst und könnte sich auf seine Seite schlagen. Also seht zu, dass ihr diese Angelegenheit erledigt, ohne euch dabei erwischen zu lassen.«
»Jawohl, Augustus«, sagte Atius. »Ich nehme den Auftrag an.«
Caracalla sah ihn verwundert an. »Oclatinius, habe ich nach Freiwilligen gefragt?«
»Nicht, dass ich wüsste, Augustus.«
»Männer, ihr habt eure Befehle. Wegtreten.«
»So langsam freunde ich mich mit der Vorstellung an, euch Idioten nie mehr wiederzusehen«, sagte Oclatinius, sobald sie wieder in seiner Amtsstube waren. »Wieso hast du da gerade eben versucht, mir ans Bein zu pissen?«
»Euch, Herr?«, fragte Atius unschuldig. »Ich habe nur eine Frage beantwortet, die mir der Augustus gestellt hat.«
Oclatinius schüttelte den Kopf. »Für so eine Unverfrorenheit hätte er dich genauso gut den wilden Tieren in der Arena vorwerfen können. Du hast Glück, dass sein Zorn bereits auf einen anderen gerichtet war. Nun, wie dem auch sei: Du hast deine Befehle. Atius, ich befördere dich hiermit zum Speculator. Aber eines will ich gleich klarstellen: Als Arcanus ist Silus dein Vorgesetzter. Er hat das Sagen. Du bist mir ein bisschen zu leichtfertig. Habt ihr das verstanden?«
»Ja, Herr«, sagten beide.
»Also gut. Geht zum Quartiermeister und holt euch alles, was ihr braucht. Atius, verabschiede dich von deinem Mädchen. Silus, verabschiede dich von deinem Hund. Heute Abend könnt ihr machen, was ihr wollt. Geht in die Stadt und besauft euch oder legt euch früh schlafen. Morgen macht ihr euch auf den Weg nach Kaledonien.«
Atius und Silus salutierten und entfernten sich hastig.
»Du blöder Arsch«, sagte Silus, sobald sie außer Hörweite waren. »Oclatinius hat recht. Du hättest uns gerade eben fast umgebracht!«
»Ich weiß nicht, worüber ihr euch so aufregt«, sagte Atius beleidigt.
»Egal, vergiss es. Wirst du die Nacht bei Menenia verbringen?«
»Die ganze Nacht?« Atius sah ihn entsetzt an. »Was soll ich denn die ganze Nacht lang bei ihr?«
»Sie trösten zum Beispiel? Sie hat viel durchgemacht. Ihren Vater verloren.«
»Ich lenke sie eine Weile von ihren Sorgen ab, reicht das? Und danach machen wir einen drauf.«
Silus verzog das Gesicht, doch da er zu aufgeregt war, um sich früh schlafen zu legen, nickte er. »Wir treffen uns zwei Stunden vor Mitternacht in der Taverne zum Blauen Eber. Dann trinken wir auf die Schatten der Verstorbenen.«
»Ich trinke auf alles, was Ihr befehlt, Herr«, sagte Atius augenzwinkernd.
»Hör bloß auf mit dem Scheiß. Und sag bitte nicht ›Herr‹ zu mir.«
»Wie Ihr wollt, Herr.«
»Ach, leck mich. Besorg dir deine Ausrüstung und hol dir deinen Fünfminutenfick ab, wir sehen uns später.«
Silus holte sich beim Quartiermeister etwas Reiseproviant, bestehend aus Käse und Pökelfleisch, und eine neue Feldflasche. Viel mehr brauchte er nicht. Die nötigen Waffen – Dolch, Fangschlinge, Kurzschwert – besaß er bereits und eine Rüstung war bei einer solchen Unternehmung nur hinderlich, und alles andere würden sie sich durch Jagen, Sammeln und Stehlen besorgen. Je weniger sie mit sich herumschleppten, desto schneller konnten sie Maglorix aufspüren und vor allem wieder fliehen, nachdem sie ihn erledigt hatten. Den Rest des Tages verbrachte er mit leichten Gewichthebeübungen im Gymnasium und ging dann ins Badehaus, wo er im Tepidarium entspannte und abwechselnd das Frigidarium und das Caldarium besuchte. Das kühle Frigidarium weckte Erinnerungen an die eiskalten, im Freien verbrachten Nächte sowohl in seiner Kindheit als auch während seiner Dienstzeit als Soldat. Danach drängte ihn sein Herz, die Aufwärmräume zu genießen, so lange er noch konnte, sein Verstand dagegen riet ihm, die Kälte in Vorbereitung auf die bevorstehenden Entbehrungen so lange wie möglich zu ertragen.
Nachdem er sich von einem Badehaussklaven massieren und einölen hatte lassen, machte er sich auf den Weg zum Blauen Eber. Der Wirt erkannte Silus sofort wieder und sah sich ängstlich nach Oclatinius um. Nachdem er sich vergewissert hatte, dass Silus allein war, grüßte er ihn argwöhnisch. »Was wollt Ihr?«
Die Taverne war zur Hälfte gefüllt, und mehrere Gäste blickten überrascht auf, als sie den sonst so freundlichen Wirt in ungewohnt barschem Ton mit einem Gast sprechen hörten.
»Keinen Ärger«, sagte Silus. »Nur was zu essen.«
Der Wirt nickte grimmig.
»Schöne neue Tür übrigens«, sagte Silus. »Sieht sehr stabil aus.«
Der Wirt blickte ihn misstrauisch an. Offenbar wusste er nicht so recht, ob sich Silus einen Scherz mit ihm erlaubte. Dann beschloss er, das Kompliment für bare Münze zu nehmen. »Solides Handwerk, ja. Das war mir wichtig, um ungebetene Gäste fernzuhalten.«
Die anderen Gäste verloren schnell das Interesse an Silus, tranken und lachten weiter oder widmeten sich wieder ihren Würfeln und Tali.
Silus bestellte Lammeintopf. Er aß langsam, blies auf das heiße Essen auf dem Löffel, bevor er ihn in den Mund steckte. Obwohl er sich bemühte, einen möglichst klaren Kopf zu behalten, pendelten seine Gedanken ständig zwischen Vergangenheit und Zukunft, zwischen Verlust und Rache hin und her. Seine Gefühle wechselten ebenso sprunghaft zwischen Trauer und Wut, sodass er in einem Moment feuchte Augen bekam und im nächsten den Kiefer anspannte und die Hände zu Fäusten ballte. Schließlich kam er zu dem Schluss, dass ein großes Bier wohl genau das Richtige war.
Er war bei seinem zweiten Krug, als Atius mit einem frechen Grinsen auf dem Gesicht die Taverne betrat, scheinbar unberührt von der Angst und dem Schrecken, die er vor so kurzer Zeit erfahren hatte. Silus fragte sich, wie er es schaffte, sich das alles nicht so sehr zu Herzen zu nehmen – vielleicht lag es daran, dass er jünger war als Silus, vielleicht konnte er es auch nur besser verdrängen. Atius nahm den Hocker eines Mannes, der soeben verkündet hatte, nach draußen zum Pissen zu gehen, tat so, als würde er den Protest seiner beiden Freunde nicht hören, und setzte sich an Silus’ Tisch.
»Sieht gut aus. Was ist das? Ich sterbe vor Hunger.«
»Nur Eintopf. Aber das Fleisch ist nicht allzu zäh.«
Atius bestellte sich eine Portion, dazu Bier und einen kleinen Brotlaib. Der Wirt löffelte den Eintopf aus einem der großen Töpfe hinter der Theke in eine Schüssel und reichte sie Atius zusammen mit einem Becher Bier und dem Brot.
Atius stellte die Schüssel auf den Tisch und brach das Brot in zwei Hälften. Dabei senkte er den Kopf und schloss die Augen. »Nehmt und esst, das ist mein Leib, der für euch gebrochen wird; so sollt ihr es tun, um meiner zu gedenken.«
Silus sah ihn neugierig an. »Leck mich, Silus«, sagte Atius, als er Silus’ Miene bemerkte. »Das verstehst du sowieso nicht.«
Silus zuckte mit den Achseln, und sie aßen und tranken. »Was macht Menenia?«, fragte Silus.
»Einfach alles, unglaublich«, sagte Atius. »Sie war unersättlich.«
»Ich meinte: Wie geht es ihr?«
»Ach so. Ja, also, danach musste sie weinen.«
»Und du bist einfach abgehauen?«
»Sie kann ja mit Issa schmusen. Das wird schon wieder.«
»Atius, du bist wirklich ein Arschloch.«
Atius wirkte beleidigt, dann bemerkte er eine junge Sklavin, die mehrere Bierkrüge zu einem Tisch brachte, und stieß einen leisen Pfiff aus. »Schau dir diese Titten an. Scheiße, da hätte ich nichts dagegen, wenn ich nicht schon völlig fertig wäre. Was ist mit dir, Silus?«
Silus’ starrte ihn so finster an, dass Atius zusammenzuckte. »Entschuldige, mein Freund. Ist wohl noch zu früh für so was?«
»Es wird mein ganzes Leben lang noch zu früh sein.«
Atius starrte in seinen Becher und ließ das Bier darin kreisen. Der Lärm aus der Taverne übertönte das unbehagliche Schweigen.
Der Mann, der gerade vor die Tür gegangen war, kehrte zurück und suchte nach seinem Hocker. Silus beobachtete über Atius’ Rücken hinweg, wie seine Freunde auf ihren Tisch deuteten. Der Mann hatte lange rote Haare und war im besten Mannesalter, untersetzt, aber auch muskulös. Er baute sich hinter Atius auf. »He, hast du meinen Hocker genommen?«, fragte er auf Keltisch. Seinem Akzent nach gehörte er zum Stamm der Brigantes.
Atius drehte sich noch nicht einmal um, sondern trank von seinem Bier, als hätte er ihn nicht gehört. Silus war sich nicht sicher, ob Atius dieser britannischen Variante des Keltischen mächtig war, aber die Absicht des Mannes war auch so unmissverständlich. Silus machte sich auf Ärger gefasst.
Der Mann legte eine Hand auf Atius’ Schulter. »Ich hab dich gefragt, ob du …«
Atius packte die Hand, sprang auf, wirbelte herum und drehte dem Mann den Arm auf den Rücken. Mit der anderen Hand gab er dem Rothaarigen einen Stoß, sodass er mit dem Gesicht voraus auf den Tisch knallte. Seine Nase brach mit einem Knacken und Blut spritzte aus den Nasenlöchern.
Atius beugte sich vor. »Fass mich nie wieder an«, flüsterte er dem Mann auf Lateinisch ins Ohr. Dann drehte er ihn um und gab ihm einen Stoß, sodass er gegen seine drei Freunde prallte, die soeben aufgestanden waren, um ihrem Saufkumpan zu Hilfe zu eilen. Alle vier krachten rücklings auf ihren Tisch – Becher, Essen und Würfel flogen durch die Gegend.
Sobald sie sich wieder aufgerappelt hatten, machte sich Atius zur nächsten Runde bereit. Silus stand laut seufzend auf. Er war froh, das Messer bei sich zu tragen, behielt es aber in der Scheide und hoffte, dass sich diese Auseinandersetzung ohne weiteres Blutvergießen beilegen ließ.
Die übrigen Gäste verließen eilig die Taverne oder machten den Streithähnen Platz. Ein geschäftstüchtiger Mann im hinteren Teil der Wirtsstube verkündete, dass er beim Kampf Neuankömmlinge gegen Einheimische Wetten annehme, ein Angebot, das sofort regen Zuspruch fand.
Der Wirt kam hinzu. »Bitte, nicht schon wieder«, sagte er und stellte sich zwischen Atius und Silus auf der einen und die Brigantes auf der anderen Seite. Der Mann mit der gebrochenen Nase schleuderte ihn beiseite und ging auf Atius los. Atius drehte sich und nutzte den Schwung des Angreifers, um ihn mit einem ausgestreckten Bein zu Fall zu bringen. Dabei gelang es dem Rothaarigen jedoch, dieses zu packen und Atius mit sich zu Boden zu reißen. Dort wälzten sich die beiden im schmutzigen Stroh und prügelten aufeinander ein.
Die übrigen drei Brigantes traten vor, um ihrem Freund zu helfen. Silus stellte sich ihnen in den Weg. Die Zechbrüder sahen sich an und gelangten zu einem wortlosen Einverständnis. Dann stürmten sie gleichzeitig auf Silus los.
Da nicht viel Platz in der Taverne war, gerieten sich die Männer gegenseitig ins Gehege, wodurch ihr Angriff an Schwung verlor. Silus nahm sich den linken zuerst vor. Er ergriff die Hände, die er nach ihm ausstreckte, zog daran und trat gleichzeitig nach links. Der Mann rannte mit dem Kopf voraus gegen einen Pfeiler und brach ohnmächtig zusammen.
Unverzüglich wandte sich Silus dem nächsten Angreifer zu. Er verpasste ihm einen zweihändigen Schlag gegen die Schläfe, der ihn gegen den dritten Raufbold taumeln ließ. Silus trat ihm so fest gegen das Knie, dass es mit einem lauten, peitschenden Geräusch nach hinten wegknickte. Noch während er in sich zusammensackte, hatte Silus seinem letzten Gegner bereits zwei Schläge in den Bauch und einen gegen die Kehle verpasst.
Sobald er sich sicher war, dass alle drei gefechtsunfähig waren, wandte er sich Atius zu. Sein Freund benötigte ganz offensichtlich keine Hilfe. Er saß rittlings auf dem Rothaarigen und deckte ihn so mit Schlägen ein, dass der Kopf des Mannes hin und her geschleudert wurde. Silus wartete ab, bis sich Atius einigermaßen verausgabt hatte, dann packte er ihn unter den Achselhöhlen und zog ihn hoch. Atius drehte sich blind vor Wut und mit zum Schlag erhobener Faust zu ihm um.
Dann wurde er allmählich wieder Herr seiner Sinne, ließ die Hände sinken und sah sich an, was sie angerichtet hatten. Er warf den Kopf zurück und lachte.
Der junge Mann im hinteren Teil der Wirtsstube sammelte seinen Gewinn von den Verlierern ein, während der Wirt empört auf Silus zumarschierte. »Nun seht euch das an«, schimpfte er. »Ihr habt meinen Tisch zerschmettert und meine Gäste vergrault.«
»Nur die Feiglinge«, sagte Atius. »Die anderen fanden das Ganze doch recht unterhaltsam. Oder etwa nicht?« Sein Publikum jubelte. »Hier ist das Geld für den Tisch und eine Lokalrunde. Und eine Kupfermünze für den, der ein paar Sklaven auftreibt, die diese Schlappschwänze wegschaffen.«
Weiterer Jubel ertönte, und kurz darauf floss das Bier in Strömen. Die halb bewusstlosen bis immer noch völlig weggetretenen Brigantes wurden hinausgetragen, während sich Atius und Silus zu den Einheimischen gesellten, unter denen weitere Brigantes, ein paar Votadini sowie einige Batavi und Tungri waren, die ihren Wehrdienst bereits abgeleistet und sich auf der Insel zur Ruhe gesetzt hatten. Silus vergaß für eine Weile seine Trauer und Wut und lachte und trank mit den anderen.
Doch diese Ablenkung währte nur kurz. Später am Abend kam Atius zu ihm, eine junge, rothaarige Frau vom Stamm der Brigantes in einem und eine blonde Votadina im anderen Arm. Beide waren ganz offensichtlich ebenso sturzbetrunken wie Atius, kicherten und lächelten ihn verführerisch an.
»Mein Freund«, sagte Atius. »Ich habe den beiden hier von deinen unerreichten Fähigkeiten als Liebhaber vorgeschwärmt, und jetzt können sie es kaum erwarten. Sie wollen, dass du dir eine aussuchst – welche darf es denn sein?«
Silus betrachtete erst die rothaarige und dann die blonde Frau, und alles brach wieder über ihn herein: seine Frau und seine Tochter. Sein Auftrag. Maglorix.
Er beugte sich vor und erbrach sich lautstark auf den Boden.
»Oje, schöne Scheiße«, sagte Atius. »Also gut. Tut mir leid, Mädels, vielleicht ein andermal. Na los, ich bring dich nach Hause.«
Atius schob einen Arm unter Silus’ Achsel hindurch und half ihm auf. Nachdem er den Frauen über die Schulter hinweg Luftküsse zugeworfen hatte, führte er Silus aus der Taverne.
Das ständige Auf und Ab im Sattel war die reinste Folter. Silus’ Wadenmuskeln schmerzten, die Innenseiten seiner Oberschenkel waren wund gescheuert und seine Beckenknochen fühlten sich an, als hätte er mehrere saftige Arschtritte kassiert. Von Eboracum in nördlicher Richtung bis nach Segedunum am Ostende des Hadrianswalls waren es auf der römischen Heerstraße etwa vier bis fünf Tagesritte. Da sie jedoch an jedem Stützpunkt der Hilfstruppenreiterei die Pferde wechselten und zwölf Stunden am Tag ritten, schafften sie es in nur drei Tagen.
Als sie sich dem Südtor der Befestigung näherten, erkannte Silus eine der dort postierten Wachen: Es war Suadurix, ein Nervius aus der Provinz Belgica. Die Cohors VI Nerviorum, der er angehörte, war zuerst in Segedunum stationiert gewesen, später von der Cohors IV Lingonum abgelöst und in ein Kastell am Antoninuswall verlegt worden. Es war jedoch nicht ungewöhnlich, dass die Soldaten zwischen den Garnisonen hin und her wechselten. Silus hatte Suadurix des Öfteren bei Manövern getroffen und war auch gelegentlich bei ihm untergekommen, wenn er bei einem seiner Erkundungsstreifzüge näher an Suadurix’ als seinem eigenen Kastell gewesen war und ein Nachtlager gebraucht hatte.
Der andere Wachposten senkte den Speer, als sich die beiden Reiter näherten, doch Suadurix trat vor. »Silus! Lange nicht gesehen.« Er sprach Latein mit starkem gallischem Akzent.
Silus stieg stöhnend aus dem Sattel und lehnte sich gegen die Flanke des Pferds, dann schüttelte er Suadurix erfreut die Hand. »Schwere Zeiten«, sagte Silus ernst.
Suadurix nickte. »Was führt euch hierher?«
»Das darf ich dir leider nicht verraten.«
»Immer noch in geheimem Auftrag unterwegs, wie? Wollt ihr mit dem Präfekten sprechen? Er müsste im Prätorium sein.«
Silus schüttelte den Kopf. »Nein, wir wollen so wenig Aufmerksamkeit wie möglich erregen. Bitte erzähl nicht weiter, dass wir hier sind.«
»Wie du willst«, sagte Suadurix. »Ich stehe in deiner Schuld, weil du mich damals aufgeweckt hast, als ich beim Wachdienst eingeschlafen bin. Du hast mir den Arsch gerettet – der Zenturio, der mir sowieso schon ans Leder wollte, hätte Kleinholz aus mir gemacht.«
»Du hättest für mich doch dasselbe getan. Was treiben die Barbaren denn so? Gibt es etwas Neues?«
»Ja, aber nicht viel. Ich werde in einer Stunde abgelöst, dann besorgen wir uns was zu trinken und zu essen und lästern über unsere beschissenen Offiziere, ja?«
»Klingt gut. Wir stellen einstweilen die Pferde unter. Wo treffen wir uns?«
»In meiner Baracke. Die letzte im nordwestlichen Block. In meinem Contubernium fehlen sowieso zwei Mann, also könnt ihr euch bei uns einquartieren, einverstanden? Es stört euch doch nicht, wenn ich schnarche?«
Silus lachte, dann sah er zu Atius hinüber. Der nickte und stieg ebenfalls ab. Suadurix wechselte mit seinem Kameraden ein paar Worte auf Keltisch, wie es in Belgica gesprochen wurde und von dem Silus nur die Hälfte verstand, dann trat auch der andere Wachposten beiseite und ließ sie hinein. Atius und der humpelnde Silus führten ihre Pferde in das Kastell.
Die Baracke, die Suadurix’ Contubernium beherbergte, war erst kürzlich im Rahmen der von Severus bei seiner Ankunft in Britannien angeordneten Instandsetzung und Verstärkung des Hadrianswalls errichtet worden – sehr zur Freude der im Kastell stationierten Hilfstruppensoldaten, die vorher in zugigen, feuchten Bretterverschlägen gehaust hatten.
Silus und Atius setzten sich auf eines der vier an den Wänden des Raums aufgereihten Stockbetten. Suadurix war Decanus seines Contuberniums und damit der Anführer der kleinen, normalerweise achtköpfigen Einheit, die jedoch – wie er bereits erwähnt hatte – nur noch aus sechs Mann bestand, da zwei Ende letzten Jahres bei einem Patrouillengang in einen Hinterhalt der Maeatae geraten und bisher nicht ersetzt worden waren.
Suadurix reichte Silus und Atius je eine Schüssel mit heißer Puls, jenem einfachen Weizenbrei aus der täglichen Getreideration des Contuberniums, der die Grundlage der Legionärsverpflegung bildete. Atius murmelte vor dem Essen leise ein Gebet, und Suadurix warf Silus einen fragenden Blick zu. Der formte das Wort Christus mit den Lippen, woraufhin Suadurix verstehend nickte.
Um seine Gäste angemessen zu bewirten, holte Suadurix auch die anderen Vorräte des Contuberniums hervor und überraschte Silus mit einem schmackhaften Myma – einem Eintopf aus Innereien, Blut, Kräutern und Ziegenkäse, den er auf dem Kohleofen der Baracke zubereitete. Da sie während des mehrtägigen Ritts nur harten Zwieback gegessen hatten, konnten sie dem köstlichen Duft nicht widerstehen und machten sich, sobald sie ihre Puls verzehrt hatten, über den dampfenden Bronzetopf her.
Als sie schließlich sogar die Löffel blank geleckt und das jüngste Mitglied des Contuberniums mit dem Abwasch beauftragt hatten, zog Silus die Stiefel aus, lehnte sich mit dem Rücken gegen die Wand und ließ die Beine vom Bett baumeln.
»Ich habe das von deiner Familie gehört«, sagte Suadurix. »Mein Beileid.«
Silus nickte dankbar.
»Es sind schlimme Zeiten«, sagte Suadurix.
»In der Tat«, sagte Silus. »Atius war in Voltania.«
Die Soldaten des Contuberniums spitzten die Ohren und sahen Atius an. Dieser drückte den Rücken durch und starrte herausfordernd zurück.
»Du bist der, der entkommen ist?«, fragte Suadurix mit einer gewissen Ehrfurcht.
»Ich habe das Kastell auf Befehl des Präfekten verlassen, um dem Kaiser die Nachricht von dem Angriff zu überbringen«, sagte Atius mit immer noch trotziger Miene. »Und um die Tochter des Präfekten in Sicherheit zu bringen. Beides ist mir gelungen.«
»Wir haben drei Tage nach dem Überfall davon erfahren, als ein Schiff der Classis Britannica hier angelegt hat. Der Zenturio meinte, dass wir uns auf einen neuen Krieg vorbereiten müssen.«
»Was habt ihr sonst noch gehört?«, fragte Silus.
»Dass wir jeden Tag mit einem Angriff rechnen müssen und auf uns gestellt sind, bis die Legionen aus Eboracum eintreffen. Doch bis jetzt war alles ruhig.«
»Was haben die Barbaren stattdessen getan?«
»Unheil angerichtet«, sagte Suadurix unglücklich. »Ein paar Soldaten und Zivilisten konnten sich zu uns durchschlagen. Viele waren es nicht. Was sie uns erzählt haben, war schlimm. Sehr schlimm.«
Silus und Atius warteten gespannt, und selbst das übrige Contubernium lauschte seinem Anführer, gierig nach blutigen Einzelheiten.
»Voltania war nur der Anfang«, sagte Suadurix. »Die Maeatae haben überall entlang des Antoninuswalls angegriffen. Einige Garnisonen konnten sich geordnet zurückziehen, doch die meisten wurden niedergemetzelt. Die wenigen, denen die Flucht gelungen ist, haben erzählt, dass die Maeatae ihre Gefangenen foltern und bei lebendigem Leib verbrennen. Und wenn sie die Kastelle erobert haben, nehmen sie sich die Vici vor.«
Silus erfasste eine plötzliche Kälte, als ihn ungebetene Erinnerungen heimsuchten. Er biss sich auf die Innenseite seiner Wange, um sich durch den Schmerz abzulenken, und versuchte, seine Aufmerksamkeit voll und ganz auf Suadurix zu richten.
»Gestern kam eine schwangere Frau mit einem Säugling in den Armen. Es war nicht ihr Kind, sondern das ihrer Schwester, mit der sie zusammen auf der Flucht war. Die Maeatae haben zuerst sie und dann ihre Schwester vergewaltigt. Sie konnte fliehen, als die Barbaren mit ihrer Schwester beschäftigt waren, hat aber noch gesehen, wie sie sie getötet und sich selbst danach noch an ihr vergangen haben.
Am Tag davor ist ein alter Mann hier aufgetaucht. Er hatte Brandwunden an den Händen und im Gesicht und bekam kaum Luft. Unter Tränen hat er uns erzählt, dass die Maeatae sein Haus mit seiner Frau darin niedergebrannt haben. Er konnte sie nicht retten. Gestern ist er gestorben.«
»Warum tun sie das? Nur aus Rache?«, fragte Atius.
»Natürlich«, sagte Suadurix. »Sie hassen uns, weil wir ihr Land besetzt haben, und bringen uns den Tod, wie wir ihn über sie gebracht haben.«
»Da steckt noch mehr dahinter«, sagte Silus. »Sie wollen Caracalla reizen, damit er tief in ihr Gebiet vordringt und sie ihn in einen Hinterhalt locken können. Und wenn die anderen Barbarenstämme mitbekommen, dass Caracalla auf dem Vormarsch ist, bleibt ihnen nichts anderes übrig, als ebenfalls Widerstand zu leisten.«
Die Soldaten tranken missmutig und mit bleichen Gesichtern ihr Bier oder ihren wässrigen Wein und wussten nicht, was sie darauf sagen sollten.
»Aber jetzt bist du ja da, Silus. Du wirst uns alle retten, nicht wahr?« Suadurix klopfte Silus lachend auf die Schulter.
Silus zwang sich zu einem halbherzigen Lächeln. »Oder bei dem Versuch draufgehen, mein Freund.«