Zehntes Kapitel

Das wuchtige, nun rußschwarze und zersplitterte Holztor war aus der oberen Angel gebrochen und hing schief. Alle Gebäude aus Holz waren entweder verkohlt oder zu Asche verbrannt, alle Steinbauten, die auf Stützbalken geruht hatten, waren eingestürzt.

Der Boden war mit Leichen übersät – die sterblichen Überreste einer Garnison, die bis zum Tod gekämpft hatte. Mehrere Füchse mit blutverschmierten Mäulern blickten auf, als Atius und Silus angeritten kamen. Widerwillig ergriffen die Tiere die Flucht, wobei sie Eingeweideschlingen hinter sich herzogen. Ein Krähenschwarm pickte an den Leichen. Die Toten waren so zahlreich, dass sich die Aasfresser noch immer satt fressen konnten, auch wenn das Gefecht schon einige Zeit zurücklag. Die Luft war von Brandgeruch und dem Gestank verwesender Leichen erfüllt.

Die beiden stiegen ab und sahen sich um. Atius murmelte ein Gebet. Sie waren untröstlich. Das hier war ihr Zuhause, diese Menschen ihre Freunde gewesen. Die meisten Leichen waren völlig verstümmelt. Der Schmuck, an dem man sie hätte erkennen können, war gestohlen. Diese Männer waren wie Brüder für Silus gewesen, und auch Atius, der etwas später zur Garnison gestoßen war, erbleichte angesichts des schrecklichen Anblicks und der Erkenntnis, dass nicht viel gefehlt hätte, und die Krähen hätten auch sein Fleisch von den Knochen gepickt.

Silus ging vor einem auf dem Gesicht liegenden Leichnam mit zerfleischten Gliedmaßen in die Hocke, drehte ihn um und wich zurück, als Maden und Würmer aus Mund und Augenhöhlen quollen. Der Glatzkopf und die Hakennase waren jedoch noch einigermaßen erkennbar. Es war Pallas, Menenius’ Sekretär. Er trug keine Rüstung, hielt jedoch ein Kurzschwert in den steifen Fingern. Selbst der frühere Sklave hatte sich trotz seines fortgeschrittenen Alters in den Kampf gestürzt.

Ein Leichnam in der Nähe trug eindeutig Geganius’ Rüstung, daneben lag ein Toter mit durchgeschnittener Kehle, in dem Silus Brinno zu erkennen glaubte.

Doch sie fanden nicht nur tote Römer. Als sie sich dem Tor näherten, deutete Atius auf die Stelle, an der das letzte Gefecht der Garnison stattgefunden hatte, wie an dem Leichenberg eindeutig zu erkennen war. Auf der einen Seite stapelten sich die Römer, auf der anderen langhaarige Stammeskrieger. Da die Barbaren keine Rüstungen getragen hatten, waren sie leichtere Beute für die Aasfresser und mehr oder weniger bis auf die Knochen und Knorpel abgenagt. Nur das lange rote oder blonde Haar klebte noch an den Schädeln.

Übel wurde Silus nicht. Er hatte in seiner Jugend und später bei der Armee genug Tod und Verwesung gesehen. Auch Wut verspürte er keine, obwohl die gewiss nicht lange auf sich warten lassen würde. Das Gefühl, das ihn in diesem Augenblick erfüllte, war Erstaunen über das Ausmaß der Zerstörung. Das unbezwingbare Kastell, bemannt von unbesiegbaren Römern, war nur noch Asche, Schutt und Knochen.

Sie bahnten sich einen Weg durch das zerstörte Tor. Der Gestank wurde unerträglich. Der Waldrand war nicht weit vom Kastell entfernt, und sie sahen bereits aus der Ferne eine Handvoll Gestalten, festgenagelt an den der Festung zugewandten Bäumen. Als sie sich näherten, flatterten die Krähen nur widerwillig auf.

Ein halbes Dutzend Römer hatte die Schlacht überlebt, um hier gefoltert und gekreuzigt zu werden. Man hatte die beiden an den vordersten Bäumen hängenden Leichen nackt ausgezogen, daher waren sie nicht an Schmuckstücken, Rangabzeichen oder Rüstungsteilen zu erkennen, und auch von ihren Gesichtern war so gut wie nichts mehr übrig. Dennoch war sich Silus aufgrund der Größe und der Haartracht der Toten sicher, Menenius und Damanais vor sich zu haben. Er machte ein Zeichen gegen das Böse und verfluchte die Barbaren im Namen von Antenociticus und Nemesis. Atius fiel auf die Knie, hob die Hände zum Himmel und stimmte einen Trauergesang an. Silus wartete geduldig, bis er damit fertig war.

Als sich Atius wieder aufrichtete, bemerkte Silus, dass sie beobachtet wurden. Ein kleiner Junge stand in etwa zwanzig Schritt Entfernung am Waldrand und sah mit traurigem Blick zu ihnen herüber. Silus rief ihm etwas zu, doch sobald dem Jungen klar wurde, dass man ihn entdeckt hatte, drehte er sich um und verschwand in den Tiefen des Waldes.

Silus fluchte und rannte hinterher. Atius folgte ihm auf dem Fuße. Der etwa zehnjährige Junge lief behände um Baumstämme und sprang über Bäche. Die älteren Männer holten ihn allmählich ein, ermüdeten dabei jedoch zusehends. Durch eine Lücke in den Bäumen sah Silus eine Felswand, auf die der Junge direkt zulief. Silus bedeutete Atius, sich von der anderen Seite zu nähern, und setzte die Verfolgung fort.

Der Junge erreichte in vollem Lauf den Fuß der Felswand, sprang hoch, klammerte sich mit den Händen und Füßen daran fest und kletterte hinauf wie ein Eichhörnchen an einem Eichenstamm. Silus machte sich ebenfalls an den Aufstieg. Er war ein einigermaßen geübter Kletterer, aber auch viel schwerer als der Junge. Schwer atmend arbeitete er sich mühsam von Vorsprung zu Vorsprung hinauf. Der Junge vergrößerte den Abstand. Steinchen und Erdbrocken, die sich unter seinen Händen und Füßen lösten, rieselten in Silus’ Augen und Mund.

Als der Junge beinahe oben angekommen war, hielt er inne, warf einen Blick auf den keuchenden Mann unter sich und spie aus. Silus sah, wie der Speichelklumpen auf ihn zukam, und drehte sich weg, sodass er auf seiner Wange landete.

»Fick dich, du beschissener Barbar«, rief der Junge mit hoher, vom Wind gedämpfter Stimme.

»Ich bin kein beschissener Barbar«, rief Silus zurück, als ihm einfiel, dass er keine Rüstung trug und deshalb auch nicht wie ein römischer Soldat aussah. Der Junge warf einen Stein nach Silus. Der konnte rechtzeitig den Kopf einziehen, aber nicht verhindern, dass ihn das faustgroße Geschoss schmerzhaft an der Schulter traf.

»Bleib stehen, du kleine Kröte«, rief Silus, doch der Junge machte eine obszöne Geste und verschwand hinter der Felskante, die Silus wenig später mit schmerzender Schulter, aufgeschürften Knöcheln und einem aufgeplatzten Knie erreichte. Er wuchtete sich über die Kante, rollte sich auf den Rücken und starrte schwer atmend in den grauen Himmel.

Atius kicherte leise. »Suchst du etwa den hier?«

Silus’ Freund hatte den langen, wuscheligen Haarschopf des Jungen mit der Faust gepackt und hielt das zappelnde, fauchende und fluchende Kind mit einem nachsichtigen Lächeln auf Armeslänge von sich weg.

»Verdammt, der kleine Scheißer ist vielleicht flink«, sagte Silus. »Und du hast es dir wie immer leicht gemacht.«

»Der Pfad um die Felswand herum war tatsächlich etwas weniger anstrengend«, sagte Atius.

Silus stand auf, packte grob das Kinn des Jungen und zwang ihn, ihm in die Augen zu sehen.

»Jetzt pass mal auf, Junge. Wir sind keine Barbaren.«

»Und wo sind dann eure Schilde? Wo ist eure Rüstung?«

»Wir reisen mit leichtem Gepäck. Hörst du unseren Akzent nicht? Sieh dir mein Haar und meine Haut an. Sehen wir etwa wie Maeatae oder Kaledonier aus?«

Der Junge sah erst Silus und dann Atius an, dann stellte er alle Gegenwehr ein. Atius ließ ihn los, und der Junge warf sich schluchzend auf den Boden. Atius ging neben ihm in die Hocke und wartete. Nach einer Weile wischte sich der Junge trotzig die Augen und blickte zu ihnen auf. Wut hatte Angst und Trauer verdrängt.

»Wo wart ihr?«

»Was? Wann?«

»Wenn ihr römische Soldaten sein wollt, wo wart ihr dann, als sie uns angegriffen haben?«

Atius öffnete den Mund, doch ihm wollte keine passende Antwort einfallen.

»Wo wart ihr, als die Barbaren ins Vicus gekommen sind und alle ermordet haben, die nach dem letzten Überfall noch übrig waren? Warum liegt ihr nicht bei den anderen toten Soldaten im Kastell, wie mein Vater?«

Der Junge stürzte sich mit solcher Wucht auf Atius, dass dieser auf dem Rücken landete, setzte sich rittlings auf ihn und prügelte auf ihn ein. Atius packte seine Handgelenke, warf ihn ab und schleuderte ihn von sich. Der Junge landete auf dem Boden und fing wieder an zu weinen.

Silus und Atius standen auf und schauten auf ihn herab.

»Er ist aus dem Vicus?«, fragte Silus.

»Und sein Vater war Soldat?«, fragte Atius.

»Ach du Scheiße. Junge, bist du etwa Brinnos Sohn?«

»Du darfst seinen Namen nicht in den Mund nehmen, du Feigling. Dessen bist du nicht würdig.«

Silus überlegte. Die wenige Zeit, die er im Vicus gewesen war, hatte er bei seiner Familie verbracht, und Sergia war noch zu jung gewesen, um mit Kindern im Alter des Jungen zu spielen. Aber dann erinnerte er sich daran, wie stolz Brinno ihm von seinem ersten Jagdausflug mit seinem Sohn berichtet hatte. »Fulco? Du bist Fulco, richtig?«

Der Blick des Jungen sprühte vor Trotz, dennoch nickte er zögernd.

»Hör mal, Fulco. Ich war während des Angriffs nicht im Kastell, sondern in Eboracum, weil ich einen wichtigen Auftrag für den Kaiser erledigen musste. Atius hier war in der Festung, aber er hatte den Befehl, den Kaiser von dem Überfall zu benachrichtigen und die Tochter des Präfekten zu retten.«

»Meine Mutter hat er aber nicht gerettet.«

Silus bemerkte, wie dünn, blass und hohlwangig der Junge war. »Wovon hast du in der Zwischenzeit gelebt?«, fragte Silus behutsam.

»Ich kann auf mich selbst aufpassen«, sagte der Junge.

Silus nahm ein Stück Zwieback aus der Tasche und gab es Fulco, der es einen Moment lang misstrauisch betrachtete, bevor er es hinunterschlang.

»Fulco, du musst uns erzählen, was nach Atius’ Flucht passiert ist.«

Der Junge hielt die Hand auf. Seufzend brach Silus einen Zwieback in zwei Hälften und gab ihm eine. »Den Rest kriegst du, wenn du uns alles erzählt hast.«

 

Atius machte Feuer, Silus erlegte eine Taube und ein paar Krähen, indem er seinen Gürtel als Schleuder und glatte Kieselsteine als Munition benutzte. Fulco sah mit widerstrebender Bewunderung zu, und während Atius die Vögel ausnahm und rupfte, zeigte Silus dem Jungen, wie man die Schleuder benutzte – genau wie es sein Vater ihm einst beigebracht hatte. Der Gürtel musste genau die richtige Dicke, Länge und Geschmeidigkeit haben, damit er als Schleuder dienen konnte. Wenn er im Einsatz war, führte Silus nur Gegenstände mit, die sich auf mindestens zwei verschiedene Arten nutzen ließen. Als Silus dem Jungen außerdem zeigte, wie man einen Wasserschlauch aufblasen und damit einen reißenden Fluss oder großen See überqueren, wie man mit einer Fangschlinge einen Mann erdrosseln oder aus seinem Umhang ein kleines Zelt bauen konnte und dann die tausend Gelegenheiten aufzählte, bei denen man ein scharfes Messer mit solidem Griff zur Hand haben musste, vergaß Fulco kurzzeitig seine Trauer.

Entgegen ihrer Abmachung bekam Fulco zu essen, noch bevor er zu Ende erzählt hatte. Das gebratene Vogelfleisch ließ ihnen das Wasser im Mund zusammenlaufen, und obwohl der Junge behauptet hatte, auf sich selbst aufpassen zu können, schlang er das Fleisch hinunter wie ein kleiner Wildhund ein Stück Aas, bevor es die größeren Tiere des Rudels entdeckten.

»Also, was ist passiert?«, fragte Atius vorsichtig.

Fulco, der gerade die Zähne in ein Taubenbein geschlagen hatte, hielt inne. Er blickte sie über das gebratene Fleisch hinweg an, dann riss er ein Stück davon ab und schluckte es ohne zu kauen hinunter. Atius und Silus warteten gespannt.

»Was glaubt ihr denn, was passiert ist?«, fragte Fulco böse.

»Wir wollen es trotzdem hören.«

Fulco nahm noch einen Bissen, schluckte und warf den Knochen wütend weg, obwohl noch Fleischfetzen daran klebten. Silus, der in der Wildnis oft genug mit weniger hatte auskommen müssen, verzog bei dieser Verschwendung das Gesicht, sagte aber nichts.

»Wie ihr wollt. Sie haben alle abgeschlachtet. Reicht euch das?«

»Wo warst du? Was hast du gesehen?«

Fulcos Blick huschte wild umher. Plötzlich war er wieder der ängstliche kleine Junge. »Ich war im Kastell. Ich hatte mich reingeschlichen, um meinen Vater zu besuchen. Die Wachen drückten da manchmal ein Auge zu, besonders, wenn er schon lange keinen freien Tag mehr gehabt hat. Dann war ich immer bei seinem Contubernum und hab mit den Jungs gewürfelt oder Tali geworfen oder zugehört, wie sie über den Krieg oder Frauen geredet haben. Manchmal durfte ich einen Schluck Wein trinken, aber das hat mir nicht geschmeckt.«

Der Blick des Jungen war in die Ferne gerichtet. Silus und Atius schwiegen, um die lebhafte Erinnerung nicht zu stören.

»Als dann Alarm geschlagen wurde, war es schon spät, aber sie haben immer noch getrunken oder gespielt. Besoffen waren sie aber nicht. Sie haben sich ihre Waffen und ihre Rüstungen geschnappt und sind auf ihre Posten gerannt. Mein Vater lief als Letztes hinaus. Er hat mich umarmt und gesagt, dass ich mich verstecken soll.

Erst hab ich nur die Hilfstruppensoldaten gehört, wie sie sich kampfbereit gemacht haben. Jemand hat Befehle gebrüllt, dann waren da Stiefelschritte. Ich hab mich unter dem Bett meines Vaters versteckt. Er hat da eine kleine Kiste voller Briefe auf kleinen Holztafeln. Die hab ich mir angesehen, aber ich kann nicht so gut lesen. Nur den Namen von meiner Mutter ganz unten, den hab ich erkannt.

Dann kam der Kampflärm. Schreie. Schwerterklirren. Und dann hat es ganz laut gekracht. Ich weiß nicht, ob das mutig oder feige von mir war, aber nach einer Weile wollte ich nicht mehr allein sein und bin unter dem Bett hervorgekrochen und hab aus dem Fenster gesehen. Da stand das große Tor schon offen und hat gebrannt, und die Römer haben einen Halbkreis drum herum gebildet, um die Feinde abzuwehren. Sie haben gekämpft, bis sie fast alle tot waren.

Irgendwann waren nur noch wenige übrig. Ein paar haben sich ergeben« – Fulco sah die beiden Männer scharf an –, »aber mein Vater nicht. Und der Kommandant und sein Stellvertreter und Zenturio Geganius auch nicht. Wie die anderen hießen, weiß ich nicht, aber sie haben gekämpft, bis die Barbaren sie überwältigt haben.

Die Offiziere mussten sich hinknien. Die beiden Barbarenhäuptlinge haben sich unterhalten, aber ich konnte sie nicht hören. Dann haben sie meinen Vater gebracht und … und …« Fulco schluckte. Seine Augen glänzten. »Sie haben ihn umgebracht. Und dann Geganius. Die anderen, die noch am Leben waren, haben sie zum Wald rübergezerrt. Alle Barbaren sind mitgekommen, weil sie sich das ansehen wollten, und niemand war mehr im Kastell. Da bin ich davongelaufen.« Fulco hob herausfordernd den Kopf. »Was hätte ich denn sonst tun sollen? Ich hätte sie so gerne alle umgebracht. Diese Mörder … aber … außer mir war ja niemand mehr da.«

Silus legte eine Hand auf Fulcos Schulter. »Du hast das Richtige getan, mein Junge. Genau das hätte dein Vater von dir gewollt.« Atius starrte mit hängendem Kopf den Boden an, und Silus fragte sich, ob ihn ebenfalls Gewissensbisse quälten, weil er den Angriff überlebt hatte.

»Hast du sonst noch was gesehen?«

Fulco schüttelte den Kopf. »Nicht mehr viel. Sobald ich aus dem Kastell war, hab ich mich zwischen den Felsen versteckt und … zugesehen, wie sie sie an die Bäume genagelt haben. Erst den stellvertretenden Kommandanten und noch einen Zenturio. Der Kommandant musste dabei zusehen. Die Männer haben geschrien und sie angefleht, und als die Barbaren alle festgenagelt hatten, haben sie den Kommandanten auf eins von ihren Pferden geworfen und festgebunden und sind verschwunden.«

»Was?« Silus’ Stimme klang grober als beabsichtigt, und der Junge zuckte zusammen.

»Was?«, wiederholte Fulco.

»Menenius war noch am Leben?«

»Heißt der Kommandant so? Ja, der hat noch gelebt. Als ich ihn zum letzten Mal gesehen habe jedenfalls.«

»Ihr Götter«, flüsterte Silus. »Der Arme.«

»Silus«, sagte Atius. »Wir müssen ihn retten. Christus allein weiß, welche Folterqualen er durchleiden muss.«

»Das gehört nicht zu unserem Auftrag.«

»Scheiß auf den Auftrag. Er ist unser Kommandant. Wir haben ihm die Treue geschworen.«

Die beiden Männer sahen sich wütend an.

»Und dann bin ich zum Vicus«, fuhr Fulco fort. »Und da waren auch alle tot.«

Atius und Silus wandten sich wieder Fulco zu.

»Alle?«

»Da hat nichts mehr gelebt. Kein Mann, keine Frau, kein Kind, kein Hund, kein Schwein oder Huhn.«

»Und deine Mutter?«, fragte Atius behutsam.

Fulco schüttelte den Kopf. »Die hab ich nirgendwo gefunden.«

Silus vermutete, dass sie sie verschleppt hatten. Wahrscheinlich erwartete sie ein noch schlimmeres Schicksal als Menenius. Diese Mutmaßung behielt er für sich, doch er wusste, dass Atius zu demselben Schluss gekommen war. Zum Glück war dies seiner eigenen Familie erspart geblieben.

Sie saßen schweigend da, froh um die Gesellschaft der anderen, aber allein mit ihrer Schuld und ihrer Trauer, ihrer Wut und ihrer Verzweiflung.

Das Feuer brannte allmählich nieder. Silus riss sich mit Mühe aus seiner Niedergeschlagenheit. »Es wird langsam spät, Atius«, sagte er. »Schlagen wir unser Nachtlager auf. Wir brechen morgen in aller Frühe auf. Junge, du kannst heute hier bei uns übernachten, aber morgen reiten wir nach Norden. Dort ist es gefährlich, deshalb kannst du nicht mitkommen.«

Fulco nickte.

»Such uns etwas Feuerholz. Braver Junge.« Fulco stand auf und trottete davon, um lustlos Zweige und Äste aufzusammeln. Atius und Silus schlugen das Lager auf. Obwohl das Kastell mit seinen Steinmauern und einigen noch nicht eingestürzten Dächern ganz in der Nähe war, herrschte die unausgesprochene Übereinkunft zwischen ihnen, dass sie die Nacht nicht zwischen den Leichen und Lemures ihrer Kameraden verbringen wollten.

Dann fing es an zu regnen.

 

»Glaubst du wirklich, dass er es schaffen wird?«, fragte Atius zum zehnten Mal.

Silus schüttelte entnervt den Kopf. »Wir haben ihm Vorräte mitgegeben und ihn in die richtige Richtung geschickt. Der Junge ist nicht dumm, er kommt schon zurecht.«

»Er hat alles verloren und niemanden mehr. Selbst wenn er es auf römisches Gebiet schafft – was für ein Leben erwartet ihn denn? Er wird auf der Straße leben oder versklavt werden.«

Silus riss so kräftig an den Zügeln, dass sein Pferd abrupt und mit einem protestierenden Wiehern stehen blieb.

»Atius, was hätte ich denn tun sollen? Ihn nach Rom begleiten, damit er von einer Adelsfamilie adoptiert und später mal Senator wird?«

»Du musst nicht gleich unhöflich werden.«

Sie ritten schweigend weiter.

»Ob Menenius noch lebt?«

Silus verdrehte die Augen. Auch das hatte Atius bereits mindestens zehnmal gefragt. »Das weiß ich jetzt genauso wenig wie vorhin, Atius. Obwohl ich um seinetwillen hoffe, dass er tot ist. Du weißt so gut wie ich, was die Barbaren mit ihren Gefangenen machen.«

»Ich bin nach wie vor der Meinung, dass wir nach ihm suchen müssen. Das sollte Vorrang haben.«

»Wir haben unsere Befehle, und diese Befehle lauten, den Dreckskerl zu suchen, der meine Familie ermordet hat. Und ich werde nicht zulassen, dass irgendjemand oder irgendetwas dazwischenkommt. Habe ich mich klar ausgedrückt?« Ohne eine Antwort abzuwarten, ließ Silus sein Pferd angaloppieren, bis er etwa hundert Schritt vor Atius war, dann ritt er wieder langsam. Die Pferde hatten sich den ganzen Tag über verbissen durch Schlamm gequält, in dem sie immer wieder bis zu den Fesseln eingesunken waren. Nun hatten sie das Marschland hinter sich gelassen und ein etwas höher gelegenes, mit Gestrüpp bewachsenes Terrain erreicht. Auf dem festeren Boden kamen sie schneller voran, und bei der Rast fanden die Tiere mehr Gras. Sie waren weit jenseits des Hadrianswalls und tief im Barbarenland. Horrea Classis, die Hafenstadt an der Ostküste, wo die Versorgungsschiffe anlandeten, lag in unerreichbarer Entfernung. Sie konnten nicht auf Verstärkung, Rettung oder Nachschub durch römische Truppen hoffen. Da sie sie nicht wie gehabt bei den vielen Mansiones, die in der Provinz Britannia die Heerstraßen säumten, die Pferde wechseln konnten, mussten sie mit den Kräften der Tiere haushalten. Wenn sich eines ein Bein brach, würden sie zu Fuß weitergehen müssen.

Trotz des Zwielichts und des die Sicht einschränkenden leichten Nieselregens erkannte Silus auf einem kleinen Hügel vor sich eine Palisade. Er wartete, bis Atius zu ihm aufgeschlossen hatte, und zuckte mit den Schultern, was dieser hoffentlich als Entschuldigung verstand. Sie ritten weiter.

Beim Näherkommen sahen sie, dass die Holzpfähle an vielen Stellen umgestürzt waren oder Brandspuren aufwiesen. Sie ritten durch eine der so entstandenen Lücken in der Palisade in die Wallburg, die wie viele ihrer Art in erster Linie als nicht militärische Siedlung gedient hatte und eher einem römischen Vicus als einer Festung ähnelte. Silus vermutete, dass hier mehrere Rundhäuser mit steilen, kegelförmigen Reetdächern und Wänden aus mit Lehm, Gras und Heidekraut verstärktem Weidengeflecht im Kreis um eine zentrale Freifläche angeordnet gewesen waren – zu sehen gab es davon nicht mehr viel, da die Dächer der meisten rußgeschwärzten Häuser in sich zusammengefallen und die Wände umgestürzt oder eingerissen waren.

Sie stiegen ab, machten die Pferde fest und gingen wachsam durch die Siedlung. Die hier herumliegenden Skelette waren schon vor langer Zeit vollständig abgenagt und vom Regen blank gespült worden, die Krähenschwärme und hungrigen Füchse längst weitergezogen. Silus ging neben einem Knochenhaufen in die Hocke, der trotz eines fehlenden Beins – das womöglich ein Fuchs als Festmahl für seine Jungen in seinen Bau gezerrt hatte – als menschlich zu erkennen war. Allerdings waren die Knochen zu klein für einen Erwachsenen. Es handelte sich um ein Kind unbestimmten Geschlechts. Er hob den Schädel auf, blickte in die leeren Augenhöhlen und drehte ihn herum. Nun sah er den langen, breiten und tödlichen Spalt, der sich quer über den Scheitel zog – verursacht, wie er vermutete, von einem schweren Zweihandschwert. Er ließ den Schädel aus den Fingern rollen und sah zu seinem Reisegefährten hinüber.

Atius spähte in eines der Rundhäuser, zog den Kopf aber schnell mit angewiderter Miene wieder heraus. Neugierig trat Silus näher, um herauszufinden, was seinen Freund so entsetzt hatte. Atius schüttelte den Kopf, doch Silus warf trotzdem einen Blick hinein.

Dadurch, dass das Dach und die Wände der Hütte einigermaßen unbeschädigt geblieben waren, hatte sich auch der Gestank noch nicht aus dem wie bei Rundhäusern üblichen einzigen großen, mit Fellen ausgelegten Raum verzogen. An den Rändern standen Betten und Vorratskrüge, in der Mitte befand sich eine Feuerstelle. Ein längst von einem Tier geleerter Kochtopf lag davor auf dem Boden.

Auf einem Bett waren die Skelette zweier erwachsener Menschen aufeinandergestapelt. Sie lagen mit der Vorderseite zueinander da, vom Pilum eines Legionärs durchbohrt wie Fleisch an einem Bratspieß. Eingetrocknete Sehnen und Muskeln klebten noch an den Knochen – vor allem dort, wo sich die beiden Gerippe berührten, und die die Aasfresser nicht so leicht hatten erreichen können. Ein Kinderskelett mit teilweise verkohlten Knochen lag halb in der Feuerstelle. Der Schädel befand sich etwas abseits von den Halswirbeln, doch ob es sich dabei um das Werk der wilden Tiere oder der römischen Soldaten handelte, die die Bewohner dieser Siedlung abgeschlachtet hatten, war unmöglich zu sagen.

Silus verließ die Hüte und ging zu Atius hinüber, der mit bleichem Gesicht dastand, ins Nichts starrte und ein stummes Gebet mit den Lippen formte. Silus wartete geduldig, bis er fertig war.

»War das wirklich nötig?«, fragte Atius schließlich.

»Es steht uns nicht zu, das zu entscheiden.«

Sie schwiegen eine Weile. »Einmal brachten die Eltern ihre Kinder zum Christus, damit er sie segnete und die Hand auf sie legte. Die Jünger des Christus wurden zornig und wollten sie davonscheuchen. Doch der Christus sagte: ›Lasst die Kinder zu mir kommen, verbietet es ihnen nicht, denn ihnen gehört das Reich Gottes.‹ Sie haben die Kinder umgebracht, Silus.«

»Du hast wohl vergessen, mit wem du sprichst«, sagte Silus mit leiser, drohender Stimme.

»Natürlich nicht. Aber diese Kinder haben deine Familie nicht getötet.«

»Aber ihr Blut hat mein Blut getötet. Sie verdienen jede Strafe, die die Augusti und die Götter für sie vorgesehen haben.« Silus drehte sich zur Hütte um und spie aus. Atius’ Miene verhärtete sich, doch dann ließ er den Kopf hängen und legte eine Hand auf Silus’ Schulter. Der drückte sie kurz.

»Es wird noch viel schlimmer, das ist dir doch klar?«, sagte Silus. »Das letzte Jahr war schon gnadenlos. Die Legionen sind wie ein Blitz durch Kaledonien gefahren und haben alles auf ihrem Weg vernichtet. Aber das war nur eine Machtdemonstration, um den Barbaren den Mut zur Revolte zu nehmen. Dieses Jahr wird anders. Diesmal will Severus sie auslöschen, und am Ende wird von den Stämmen der Maeatae und der Kaledonier nicht mehr viel übrig sein. Du solltest dankbar sein, dass du an meiner Seite den Mann suchen darfst, der das Friedensabkommen gebrochen und dieses Unheil über sein eigenes Volk gebracht hat. Womöglich müsstest du sonst mit den Hilfstruppen und Legionen diese sogenannten Unschuldigen niedermetzeln.«

Atius sagte nichts darauf. Nach einer Weile seufzte Silus. »Hier gibt es nichts für uns, keinen Proviant und keine Überlebenden. Es ist schon spät. Etwa zwei Stunden nördlich von hier haben wir letztes Jahr ein Marschlager aufgeschlagen. Seitdem war es nicht mehr in Gebrauch, aber vielleicht finden wir dort ja einen Unterschlupf für die Nacht.«

 

Das Lager war entweder weiter entfernt als in Silus’ Erinnerung, oder sie waren langsamer vorangekommen als erwartet, da sie den Fluss, den die Einheimischen Uisge Theamhich nannten, erst nach Einbruch der Dunkelheit erreichten. Silus hatte diese Gegend damals ausgekundschaftet – tatsächlich war er es gewesen, der das Nordufer als geeignete Stelle für das Marschlager vorgeschlagen hatte: leicht zu verteidigen und Wasser in der Nähe. Die Legionen Roms pflegten seit Jahrhunderten beim Marsch durch Feindesland jeden Abend ein befestigtes Lager zu errichten. Dazu führten die Soldaten stets alle nötigen Werkzeuge zum Ausheben von Gräben und Anfertigen der Palisaden mit sich. Obwohl es so viel Zeit kostete und für die Legionäre und Hilfstruppen eine zusätzliche Belastung am Ende eines langen Marsches darstellte, war dies schon in den Zeiten vor Julius Caesar ein unveränderlicher Bestandteil des Tagesablaufs einer Armee im Feld gewesen. Die Marschlager schützten die Truppen nicht nur vor nächtlichen Angriffen, sondern stellten für den Fall, dass die Vorhut auf eine feindliche Übermacht stieß, eine nicht zu unterschätzende Verteidigungsposition dar – und nicht zuletzt boten sie den nachfolgenden, zahlenmäßig schwächeren Einheiten, die das eroberte Gebiet halten und sichern sollten, einen ersten Anlaufpunkt.

Der Fluss war nicht besonders breit und an der Furt, die Silus letztes Jahr entdeckt hatte, nur hüfttief, dafür war die Strömung so stark, dass sie absteigen und die Pferde hindurchführen mussten. Sie wollten nicht riskieren, von einem ausrutschenden Pferd abgeworfen zu werden, und außerdem bot der Körper der Tiere einen gewissen Schutz gegen die kalte Strömung. Trotzdem waren sie völlig durchnässt und zitterten, als sie das nördliche Ufer erreichten. Das alte Lager war noch etwa hundert Schritt entfernt.

Die von Severus und Caracalla errichteten Marschlager folgten, von gewissen Zugeständnissen an das Terrain abgesehen, dem immer gleichen Aufbau. Sie waren von einem V-förmigen Graben und einem von einer Palisade aus angespitzten Holzpfählen gekrönten Erdwall umgeben. Tore im eigentlichen Sinn gab es nicht, nur bestimmte Abschnitte, an denen Graben, Wall und Palisade einige Schritt nach vorne versetzt waren, um einen gegnerischen Angriff zu brechen. Die Holzpfähle der Palisade wurden beim Aufbruch zur Wiederverwendung im nächsten Lager mitgenommen, Graben und Wall blieben zurück.

Silus und Atius ritten vorsichtig näher. Das Lager war am Ende des letztjährigen Feldzugs aufgegeben worden. Womöglich beherbergte es inzwischen jemand anderen, der Schutz für die Nacht oder für einen längeren Zeitraum gesucht hatte.

Und tatsächlich – als sie näher kamen, rochen Silus und Atius den Rauch eines Lagerfeuers und hörten Stimmen hinter Graben und Wall.

»Sollen wir einen Bogen darum herummachen?«, fragte Atius.

Silus überlegte. Ihm war kalt, er war durchnässt und hatte sich auf die Nachtruhe an einem warmen, trockenen Ort gefreut. Weiter durch die Dunkelheit zu irren, bis sie eine geeignete Stelle für ein Lager fanden, und dieses auch noch aufzuschlagen behagte ihm überhaupt nicht. Andererseits wollte er auch kein unnötiges Risiko eingehen.

»Sehen wir uns das erst mal genauer an«, sagte er.

Sie banden die Pferde an einen kleinen Baum und schlichen auf das Lager zu, das die gewaltige Fläche von beinahe einhundert Joch einnahm. Jede Seite war also etwa fünfhundert Schritt lang – genug Platz für eine fünftausend Mann zählende Legion. Die Einheimischen wagten es aus Angst vor der Rückkehr der Römer in der Regel nicht, die Vorteile des aufgegebenen Lagers zu nutzen. Die Stimmen gehörten höchstwahrscheinlich Reisenden oder einer Barbarenhorde, die groß genug war, dass sie die Römer nicht fürchten musste.

Aus jeder Himmelsrichtung führte ein Weg in das Lager hinein. Sie gingen für etwa ein Drittel seiner Länge neben dem südlichen Graben her, dann glitten Silus und Atius in die schlammige Vertiefung und schlichen geduckt bis zum Eingang des Lagers. Der Regen, der zwischenzeitlich etwas nachgelassen hatte, fiel nun wieder so stark, dass das Wasser in Strömen an Silus’ Rücken hinunterlief. Doch diese Unbequemlichkeit nahm er um der besseren Deckung willen gerne in Kauf. Als sie sich dem Eingang näherten, sahen sie einen eng in seinen Umhang gewickelten Wachposten, der sich auf einen Speer stützte und im vergeblichen Versuch, sich vor dem Regen zu schützen, den Kopf gesenkt hielt.

Silus ließ Atius anhalten, dann zog er sein Messer und schlich leise weiter. Der Wachposten bemerkte Silus im letzten Augenblick und riss vor Schreck die Augen auf, doch er war viel zu langsam. Silus’ Klinge durchbohrte den Kehlkopf des Mannes, der daraufhin die Hände um den Hals legte und mit einem leisen Gurgeln zu Boden ging. Silus winkte Atius zu sich. Jeder packte ein Bein, und gemeinsam zogen sie den Wachposten in den tiefen Schatten des Grabens. Nun war der Weg ins Innere des Lagers frei.

Auch der innere Aufbau eines Marschlagers folgte stets demselben Schema, sodass jedes Contubernium immer genau wusste, wo es sein Zelt aufzuschlagen hatte. Das Intervallum, ein breiter Streifen freier Fläche zwischen Palisade und Zelten, schützte die Soldaten vor Pfeilen und Wurfgeschossen, außerdem konnten sie so im Verteidigungsfall ungehindert an die Palisade gelangen. Und schließlich diente das Intervallum als Exerzierplatz, wo sich die Einheiten vor dem Einsatz formierten.

Nun hatten sich Barbaren auf dem Intervallum versammelt. Ein leeres Marschlager war ein unheimlicher Ort, und selbst nicht allzu abergläubische Männer mieden in der Regel die wenigen noch stehenden Holzgebäude in seiner Mitte.

Sie waren zu viert. Im flackernden Orange des Lagerfeuers wirkte ihr rotes Haar wie ausgebleicht. Regentropfen fielen zischend in die Flammen, Rauch und Dampf stiegen in den Nachthimmel auf.

Die Männer unterhielten sich leise, verfluchten abwechselnd das Wetter, die Römer, ihre eigenen Anführer und ihre Götter, weil sie sie an diesen verfluchten Ort geführt hatten. Silus lauschte, und es dauerte nicht lange, bis er herausgefunden hatte, dass sie ebenfalls Kundschafter waren, die nach in das Barbarengebiet vorgedrungenen römischen Einheiten Ausschau hielten. Er winkte Atius zu sich, und sie kehrten zur Palisade zurück, wo sie sich außer Hörweite der Stammeskrieger beraten konnten.

»Was meinst du?«, fragte Silus leise.

»Sie kommen mir müde und ziemlich unachtsam vor. Zwei können wir aus dem Weg räumen, bevor sie überhaupt wissen, was los ist. Dann steht es zwei gegen zwei, wobei wir das Überraschungsmoment auf unserer Seite haben. Wir sind im Vorteil, aber warum sollten wir sie überfallen? Nur wegen eines Nachtlagers?«

»Wir sollen doch herausfinden, wo Maglorix ist, oder? Und das sind dem Akzent nach zu urteilen Maeatae, also Maglorix’ Männer. Wenn wir einen lebend zu fassen bekommen, können wir vielleicht aus ihm herauskitzeln, wo sich dieser Drecksack verkrochen hat.«

Atius dachte nach, dann nickte er. Eilig schmiedeten sie einen Schlachtplan, dann schlichen sie mit gezückten Messern auf die Männer zu.

Die Barbaren hatten sich der gemütlichen Wärme und dem Licht des Feuers zugewandt und wurden deshalb von den Flammen geblendet. Offenbar setzten sie großes Vertrauen in ihren Wachposten oder glaubten, sich in einem Gebiet zu befinden, in dem ihnen keine Gefahr drohte. Silus und Atius konnten sich unbemerkt anschleichen. Sie sprangen gleichzeitig los, packten das Haar ihrer gerade eben auserkorenen Opfer, rissen deren Köpfe zurück, sodass die blassen Kehlen entblößt waren, und schlitzten sie auf. Dunkelrote Fontänen spritzten ins Feuer, und ein blutwurstähnlicher Geruch stieg auf.

Silus und Atius stießen die Männer beiseite, die im Todeskampf vergeblich versuchten, die tödliche Blutung zu stillen. Sie zogen die Kurzschwerter und griffen die beiden verbliebenen, völlig überrumpelten Stammeskrieger an.

Atius’ Gegner wich um Haaresbreite einem Schwertstoß aus, der ihn glatt durchbohrt hätte, und griff nach seinem Speer, den er mit dem hinteren Ende voraus in den Boden gerammt hatte. Atius ließ ihm jedoch keine Gelegenheit zum Angriff, indem er so nahe an ihn herantrat, dass der Speer wirkungslos wurde. Dann hieb er mit dem Schwert auf den ungeschützten Oberkörper des Barbaren ein. Der Mann wirbelte herum, sodass die Klinge an seiner Brust vorbeischrammte, ohne größeren Schaden anzurichten, ließ den Speer fallen und packte Atius’ Schwertarm mit beiden Händen.

Ihr Plan hatte vorgesehen, Silus’ Gegner lebend gefangen zu nehmen, weil er als der Kleinste von den vieren mutmaßlich am leichtesten zu überwältigen war. Leider war er aber auch der Schnellste. Sobald die beiden Römer aufgetaucht waren, hatte er sich umgedreht und war davongelaufen.

Silus wollte die Verfolgung aufnehmen, merkte jedoch schnell, dass er den sehnigen jungen Krieger nicht einholen würde. Doch er konnte ihn unmöglich ziehen lassen: Womöglich wartete gleich in der Nähe Verstärkung.

Silus ließ Schwert und Messer fallen, hob den Speer vom Boden auf, wog ihn prüfend in der Hand und zielte. Er hatte nur einen Versuch, und wenn der Krieger entkam, war ihr Leben in Gefahr. Er warf.

Der Speer schoss durch die Luft und bohrte sich genau zwischen den Schulterblättern in den Rücken des Kriegers, der mit einem Schrei vornüberfiel und reglos liegen blieb.

Silus wandte sich dem Kampf zwischen Atius und dem letzten überlebenden Barbaren zu. Der Krieger hielt Atius’ Schwertarm fest umklammert, doch der Römer konnte ungehindert mit dem Messer in der anderen Hand ausholen. Als Silus sah, wie Atius’ Klinge vorstieß, stürzte er sich auf den Barbaren, stieß ihn beiseite und rettete ihm so das Leben.

»Bei Christus! Silus, was soll der Scheiß?«

Der Barbar war außer Atem, doch als sich Silus auf ihn setzte und versuchte, seine Handgelenke zu packen, setzte sich der kräftige, biegsame Mann so sehr zur Wehr, dass er ihn nicht festhalten konnte.

»Meiner ist tot«, keuchte Silus. »Scheiße, nun hilf mir doch mal. Wir brauchen ihn lebendig!«

Die tastenden Hände des Barbaren schlossen sich um das Messer, das Silus fallen gelassen hatte. Dem fehlte die Kraft, um ihn daran zu hindern, die Waffe zu heben.

»Atius!«

Mit zwei schnellen Schritten war Atius bei ihm und trat auf die Hand, die das Messer hielt. Knochen knackten und der Barbar heulte auf. Atius richtete die Schwertspitze auf die Kehle des Kriegers, der umgehend alle Gegenwehr einstellte.

Silus stand langsam auf und holte tief Luft. Der Maeatae-Krieger lag auf dem Rücken, hielt das gebrochene Handgelenk vorsichtig mit der anderen Hand fest und blickte voller Zorn zu den beiden Hilfstruppensoldaten auf. Sonst verhielt er sich völlig ruhig, da die Spitze von Atius’ Gladius die Haut direkt über seinem Kehlkopf berührte und jede ruckartige Bewegung zu einer durchschnittenen Luftröhre führen konnte.

»Wie heißt du?«, fragte Silus in vollendetem britannischen Keltisch.

Der Maeata riss die Augen auf. »Du bist einer von uns!«, zischte er. »Verräter.«

Silus verzog keine Miene. »Ich bin keines von euch Barbarenschweinen, sondern Soldat der römischen Armee. Und wenn du meine Fragen nicht beantwortest, bist du gleich ein totes Barbarenschwein.«

»Stell ruhig deine Fragen, von mir erfährst du nichts.«

»Das werden wir ja sehen.«

Silus holte die Fangschlinge hervor und fesselte damit die Fußknöchel. Der Draht fraß sich tief in die Haut und schnitt die Blutzufuhr zu den Füßen ab. Dann wiederholte er dasselbe bei den Handgelenken. Der Barbar biss die Zähne zusammen, konnte jedoch einen Schmerzensschrei nicht unterdrücken, als sich die Schlinge zusammenzog und die gebrochenen Knochen aneinanderrieben.

Sobald der Barbar fest verschnürt war, trat Silus einen Schritt zurück und trat ihm fest in die Rippen. Der Mann stöhnte auf und kniff die Augen zusammen, öffnete sie jedoch sofort wieder und funkelte ihn erneut herausfordernd an.

»Wie heißt du?«, fragte Silus.

»Laeg«, sagte er. »Und jetzt sag mir deinen Namen, damit ich dich im nächsten Leben finde.«

»Ich bin Gaius Sergius Silus, und du kannst gerne nach mir suchen. Das hier ist Atius, aber er glaubt, dass er an einen anderen Ort kommt, daher wird er etwas schwerer aufzustöbern sein.«

»Was hast du gesagt?«, fragte Atius, der seinen Namen zwischen den Barbarenworten gehört hatte.

»Ich habe uns nur vorgestellt«, sagte Silus. »Hilf mir mal, ihn aufzurichten.«

Atius und Silus zerrten Laeg auf die Beine. Silus warf die Drahtschlinge, die um die Hände des Mannes gewickelt war, über einen der wenigen verbliebenen spitzen Palisadenpfähle. Das gebrochene Handgelenk bereitete dem Mann sichtlich Schmerzen. Er zog zischend Luft durch die zusammengebissenen Zähne, verhielt sich ansonsten aber völlig still.

»Na schön. Ich habe nur eine Frage«, sagte Silus. »Wo ist Maglorix?«

Laegs Miene blieb völlig ausdruckslos.

»Eines kann ich dir verraten«, sagte Silus. »Töten werden wir dich in jedem Fall. Aber du kannst dich entscheiden, ob du unter grässlichen Qualen sterben willst oder ein schnelles und schmerzloses Ende vorziehst.«

»Das ist mir einerlei, Verräter. Solange ich meine Ehre nicht verliere, wird mich Belenus mit seinem Streitwagen holen und in die Anderswelt bringen.«

»Und mein Freund hier glaubt, dass sein Gott Christus deinem Gott Belenus locker den Arsch aufreißen kann. Und nun sag mir, wo dieses Stück Scheiße steckt.«

Atius bedachte Silus mit einem strengen, gar warnenden Blick, als er den Namen seines Gottes hörte, sagte aber nichts.

»Wenn sein Gott so schwach ist, wie er aussieht, bezweifle ich, dass er Belenus etwas anhaben kann. Sieh dich vor, Verräter. Du sollst den Namen des Sonnengottes nicht leichtfertig im Mund führen.«

»Wer, ich? Die Götter bedeuten mir einen Scheiß. Wozu brauche ich sie denn, wenn sie nicht einmal unschuldige Frauen und Kinder beschützen können? Scheiß auf Belenus und scheiß auf dich.«

Laeg wollte sich auf Silus stürzen, kam jedoch nicht gegen seine Fesseln an und verdrehte die Augen vor Schmerz. Dann fing er an zu lachen. »Hast du etwa jemanden verloren, Verräter? Deine Frau? Deine Kinder? Hat Maglorix sie dir genommen? Willst du deshalb wissen, wo er steckt, anstatt mich nach seiner Kriegsbande oder den Kaledoniern zu befragen?«

Silus landete eine Rechte in seine Rippen, gefolgt von einer Linken ins Zwerchfell, dass es dem Krieger die Luft aus der Lunge und den Kopf gegen die Brust drückte. Silus versetzte ihm einen Aufwärtshaken gegen das Kinn und einen weiteren Schlag gegen die Nase. Knorpel knackten, Knochen brachen, Blut durchtränkte Laegs Bart. Als Silus zum nächsten Schlag ausholte, fing Atius seinen Arm ab und hielt ihn fest, was ihm einen bitterbösen Blick seines Freundes einbrachte.

»Silus«, sagte Atius sanft. »Ich weiß ja nicht, was er gerade gesagt hat, aber irgendwie hat er dich zum Ausrasten gebracht. Soll er weiter die Oberhand behalten?«

Silus widerstrebte noch einen Augenblick, dann nickte er und holte tief Luft. Atius hatte recht. Er hatte sich von seinen Gefühlen überwältigen lassen. Laeg versuchte ganz offensichtlich, ihn so sehr in Rage zu bringen, dass Silus ihn tötete, bevor er unter der Folter irgendetwas ausplaudern konnte. Was würde Oclatinius sagen, wenn er Silus so sah? Sein Lehrer hatte ihm beigebracht, einen Gefangenen mit in vielen Jahrzehnten zur Vollendung gebrachten Methoden zu verhören. Noch besaß Silus keine praktische Erfahrung darin, doch seine Wut war nun Eis, nicht Feuer. Er hatte sich wieder vollständig in der Gewalt.

Langsam und überlegt zog er das Messer aus dem Gürtel, hielt es in die Höhe und prüfte die Schneide mit dem Daumen. Laeg atmete schwer durch den Mund. Blutblasen quollen aus seiner Nase. Er starrte die Klinge mit einer eigentümlichen Faszination an.

»Silus?«, fragte Atius besorgt. »Was hast du vor?«

»Das, was mir Oclatinius beigebracht hat, in die Tat umzusetzen. Dreh dich weg, wenn du zu zimperlich dafür bist.«

Laeg trug noch seinen vor Kälte und Regen schützenden Umhang. Silus durchtrennte die Riemen, die ihn am Körper hielten, und er rutschte auf den Boden. Darunter kamen Laegs Hose und eine Tunika zum Vorschein.

»Wie ist das mit dieser Anderswelt?«, fragte Silus im Plauderton, während er Laeg die Tunika vom Leib schnitt. »Wenn dich Belenus dort hinbringt, macht er dich auch wieder ganz? Heilt er dein Handgelenk? Deinen Kiefer?« Silus kappte die Kordel, die Laegs Hose hielt, und sie rutschten bis auf die Knöchel hinunter. Silus betrachtete betont auffällig Laegs vor Angst und Schmerz recht zusammengeschrumpelte Männlichkeit und schüttelte den Kopf.

»Was ist mit deinem Schwanz? Der sieht zwar nicht danach aus, als könnte eine Frau viel damit anfangen, aber wächst der wieder nach?«

Laeg bewegte die Lippen. »Nein«, stammelte er. Silus nahm den Penis in die Hand und setzte die Klinge an der Wurzel an.

»Heilige Maria, Silus«, flüsterte Atius, machte aber keine Anstalten, ihn aufzuhalten.

»Wo ist Maglorix?«

»Bitte nicht«, flehte Laeg mit Tränen in den Augen. »Bitte tu das nicht.«

»Wie wird es dir in der Anderswelt wohl gefallen, wenn ich dir den Schwanz und die Eier abschneide und den Krähen zum Fraß vorwerfe? Ich frage dich noch ein letztes Mal: Wo ist Maglorix?«

»Sag’s ihm endlich«, rief Atius, der kein Wort verstanden hatte, aber trotzdem genau wusste, was Silus seinem Gefangenen angedroht hatte. Dabei vergaß er völlig, dass dieser ihn wiederum nicht verstehen konnte.

Einen Augenblick lang herrschte Schweigen. Dann seufzte Silus und schüttelte den Kopf.

»Warte«, sagte Laeg. »Ich sage dir, was du wissen willst. Belenus, vergib mir.«

Silus wartete gespannt, ohne das Messer wegzunehmen.

»Maglorix zieht mit seiner Kriegsbande umher, um weitere Maeatae-Stämme um sich zu versammeln und die Kaledonier für den Krieg zu gewinnen«, nuschelte Laeg mit näselnder Stimme.

»Wo ist er gerade?«

Laeg seufzte. »Inchtuthil«, sagte er und ließ den Kopf hängen.

Atius sah Silus an. »Hat er gerade …«

»Inchtuthil gesagt? Ja«, vollendete Silus den Satz. »Pinnata Castra. Das ist dreist.«

»Aber … dort spukt es doch, oder?«, fragte Atius.

Silus’ versuchte ein tapferes Lachen. Es klang gekünstelt und gequält. Pinnata Castra war ein über hundert Jahre altes Kastell aus den Anfangstagen der römischen Besatzung, als die Kaledonier noch nicht unterjocht gewesen waren. Der damalige Statthalter Agricola hatte es nach seinem glorreichen Sieg am Mons Graupius erbauen lassen – die Kaledonier schmerzte diese Niederlage noch immer so wie etwa der Fall Alesias die Gallier oder die Schlacht von Cannae die Römer. Die nach einer Bauzeit von drei Jahren fertiggestellte Festung stand den großen Legionskastellen in Eboracum, Deva Victrix oder Isca Silurum in nichts nach. Allerdings war die dort stationierte Legio II Adiutrix schon sechs Jahren später nach Moesia abberufen worden, um einen Einfall der Daker zurückzuschlagen, und Kaiser Domitian, der Agricola seine Erfolge neidete, hatte den Statthalter nach Rom zurückbeordert.

Mit penibler römischer Genauigkeit hatten die Soldaten bei der Aufgabe des Kastells alles mitgenommen, was nicht niet- und nagelfest war, und den Rest zerstört oder vergraben. Jeder Tontopf wurde in fingernagelgroße Stücke zerschlagen, die bei der Errichtung der Gebäude eingesetzten Holzbalken wurden zur weiteren Verwendung aus den Wänden gerissen und das verbliebene Flechtwerk verbrannt. Es ging sogar das Gerücht, dass die Soldaten eine Million Nägel, die zu schwer zum Tragen gewesen waren, an einem geheimen Ort vergraben hätten, damit sie nicht in die Hände der Einheimischen fielen. Inchtuthil, jenseits des Hadrians- und Antoninuswalls gelegen, stand verlassen und nutzlos im Feindesland und erinnerte die Barbaren dennoch daran, zu welchen erstaunlichen Leistungen Rom in der Lage war.

Silus hatte das Kastell einmal von der Ferne gesehen, als ihn ein Erkundungsstreifzug weit in den Norden geführt hatte. Die einst mit Stein verkleideten Festungsmauern aus Erde und Stützbalken waren teilweise zusammengefallen. Er hatte durch die Lücken gespäht, doch wo einst Baracken, Garnisonshallen, die Offiziersmesse, das Prätorium und die Werkstätten gewesen waren, hatte er nur Schutt erblickt.

Ein verlassenes Römerkastell war ein unheimlicher Anblick. Fünftausend Römer waren von dieser Festung aus zur Schlacht am Mons Graupius marschiert, von der Tausende Kaledonier und Hunderte Römer nicht wieder zurückgekehrt waren. Silus hätte schwören können, im Zwielicht die Lemures der vor langer Zeit gefallenen Soldaten auf den verfallenen Mauern patrouillieren zu sehen. Von den Einheimischen dagegen hatte jede Spur gefehlt. Sie hatten zweifellos ebenfalls Angst vor den gespenstischen Ruinen. Silus hatte einen großen Bogen um das Kastell gemacht und sich in sicherer Entfernung etwas zum Auskundschaften gesucht.

Und jetzt hatte sich Maglorix dort eingenistet.

»Das macht sicher großen Eindruck auf seine Männer«, sagte Silus. »Er will ihnen zeigen, dass er weder vor Rom noch vor dem Jenseits Angst hat. Im Gegensatz zu Laeg hier, der die nächste Welt nicht ohne seinen Schwanz betreten will.«

Laeg verstand kein Wort des Lateinischen, machte aber nach wie vor große Augen vor Furcht, da Silus die Klinge immer noch an seine Geschlechtsteile hielt. Silus blickte auf sein Messer hinab, als hätte er ganz vergessen, dass er es in der Hand hielt, trat einen Schritt zurück und ließ die angstgeschrumpften Geschlechtsteile des Kriegers los.

»Also gut«, sagte er. »Dann machen wir uns auf den Weg nach Pinnata Castra.«

Eine Vorstellung, die Atius nicht besonders zu behagen schien. Er spie aus, um das Böse abzuwehren. »Und was machen wir mit ihm?«, fragte er und deutete mit dem Kinn auf Laeg.

Silus dachte einen Augenblick nach, dann rammte er das Messer durch die Rippen in Laegs Herz. Der Krieger zuckte, und als er den Mund aufriss, quoll Blut daraus hervor. Dann sackte der Kopf seitlich weg und der Körper erschlaffte in den Fesseln.

Atius spitzte die Lippen. »Na, hoffentlich hat er im Jenseits auch Verwendung für seinen Schwanz.«

Silus sah ihn böse an, dann schüttelte er verständnislos den Kopf. »Schlagen wir unser Lager auf.«