Elftes Kapitel

Sie näherten sich dem alten Kastell in einer bedeckten, sternenlosen Nacht. Der beständige Nieselregen schaffte es irgendwie, durch jede wasserfeste Schicht und bis auf die Haut zu dringen. Die Ruinen der Festung ragten bedrohlich im Zwielicht empor, und es lag nicht am Regen, dass es Silus eiskalt den Rücken hinunterlief.

Das Kastell vor ihnen hatte keine Ähnlichkeit mit dem verlassenen Marschlager, in dem sie vor Kurzem genächtigt hatten. Nicht zuletzt war es viel größer – fünfzehnhundert Schritt im Quadrat – und ein zwanzig Fuß breiter und sechs Fuß tiefer Graben umgab die auf einem Erdwall errichteten, fünf Fuß dicken Mauern. Die Römer hatten ihr Kastell mit den eigenen Händen zerstört. Dass dies jemals einem Feind gelungen wäre, war unvorstellbar.

Als sie nahe genug waren, um Einzelheiten ausmachen zu können, hielten sie an, um das weitere Vorgehen zu planen. Nach Silus’ Schätzung war es noch vor Mitternacht, und Feuerschein und Gesang verrieten ihnen, dass das Barbarenlager noch nicht zur Ruhe gekommen war. Das Holztor, das sich einst zwischen zwei Steintürmen befunden hatte, war entweder von den Römern abgebaut oder verbrannt, von den Einheimischen für ihre Zwecke verwendet oder einfach dem Verfall preisgegeben worden. Die Steinwände wiesen an mehreren Stellen Lücken auf, die die Römer hineingerissen hatten, um die Festung für den Feind unbrauchbar zu machen. Die Elemente und die Einheimischen, die die Steine für ihre eigenen Häuser genutzt hatten, hatten das Zerstörungswerk im Laufe der Zeit fortgesetzt.

Der Graben war tief genug, um anstürmende Fußsoldaten oder Reiter aufzuhalten, für zwei sich vorsichtig anschleichende Männer stellte er jedoch kein nennenswertes Hindernis dar, im Gegenteil: Die Mauerruinen boten exzellente Deckung. Anders als die Kundschafter im alten Marschlager hatten diese Barbaren das Kastell nicht nur mit einem, sondern mit vielen und noch dazu aufmerksamen Wachposten gesichert, die trotz des schlechten Wetters gewissenhaft ihre Runden drehten.

»Und jetzt?«, flüsterte Atius. »Sollen wir auf Zehenspitzen hineintippeln und sie alle abmurksen?«

»Sehr witzig«, sagte Silus. »Lass mich nachdenken.«

Er verfolgte die Wege der Patrouillen, spähte auf der Suche nach möglicher Deckung in den Mauerruinen mit zusammengekniffenen Augen in den Nieselregen und schürzte schließlich die Lippen. »Da können wir uns unmöglich hineinschleichen. Sie sind zu zahlreich, und durch die vielen Feuer und Fackeln gibt es kaum Schatten, in dem man sich verbergen könnte. Außerdem wissen wir nicht, wo Maglorix ist, und wenn wir erst nach ihm suchen müssen, wird man uns früher oder später erwischen. Uns bleibt nur ein direkterer Weg.«

Atius runzelte die Stirn. »Mir schwant Übles.«

»Zuerst müssen wir uns Kleidung von ihnen besorgen. Die meisten tragen Umhänge nach gallischer Art und haben die Kapuzen aufgesetzt, siehst du? Das ist das erste Mal, dass ich den Göttern für das kaledonische Wetter danke.«

»Und wo gibt es diese Umhänge zu kaufen?«

Silus schnalzte missbilligend mit der Zunge. »Siehst du die beiden Wachen da? Sie entfernen sich auf ihrer Runde weiter vom Lager als die anderen, nehmen aber immer denselben Weg. Und sie haben ungefähr unsere Größe. Wir überwältigen sie, bevor sie Alarm schlagen können, und nehmen ihnen die Kleider ab.«

»Hmm, ein bisschen dünn sehen sie mir schon aus. Bist du sicher, dass du dich da reinquetschen kannst, Dicker?«

Silus schüttelte den Kopf. Er hatte kein Granum Fett am Leib, aber eine breitere Statur als sein keltiberischer Kamerad, der nur Haut und Knochen war. Silus versuchte, sich seinen Ärger über Atius’ Albernheiten nicht anmerken zu lassen. Er spielte ja immer den Witzbold, doch diesmal versuchte er seine Angst hinter den flapsigen Bemerkungen zu verstecken. Auch Silus’ Herz trommelte spürbar gegen seinen Brustkorb – es war die Anspannung vor der Tat, doch die damit einhergehende Furcht kam ihm jetzt etwas gedämpft vor. Mit dem Tod seiner Familie hatte sich sein Empfindungsvermögen geändert. Das Essen schmeckte fader, das Bier schal und Parfüm roch nach nichts. Manchmal glaubte er, in einem Traum zu sein, der mit einem plötzlichen Erwachen endete; und dann würden Velua neben ihm und Sergia und Issa aneinandergekuschelt zu seinen Füßen liegen. Doch solchen Tagträumen nachzuhängen konnte den Tod bedeuten. Und wer sollte dann seine Frau und seine Tochter rächen?

Sie krochen durch das harte Gras und versteckten sich hinter zwei dicken Baumstämmen in der Nähe der Strecke, die die Wachposten auf ihrer Patrouille entlangmarschierten, und warteten. Silus musste pinkeln und konnte sich nicht entscheiden, ob er seinem Bedürfnis keine Beachtung schenken oder freien Lauf lassen sollte.

Dann ertönten tiefe, mürrische Stimmen, begleitet von im sumpfigen Boden schmatzenden Schritten. Sie warteten mit angehaltenem Atem ab, bis die Männer an ihnen vorüber waren. Dann nickte Silus Atius zu, und sie traten gleichzeitig aus ihrer Deckung. Mit dem leisen Geräusch von geschärftem Metall auf Leder zogen sie die Messer, legten in vollkommenem Einklang der Bewegungen ihren Opfern eine Hand auf den Mund und schnitten ihnen die Kehle durch. Sie hielten die Männer fest, achteten darauf, dass das Blut nicht auf sie spritzte, und warteten, bis das Zappeln und Zucken vorüber war. Dann legten sie die Leichen ab.

Es kostete sie einige Mühe, den Toten die Umhänge und Hosen auszuziehen. Dann schlüpften sie im kalten Regen zitternd aus ihrer römischen Tracht und in die Kleidung der Maeatae-Krieger. Die Kapuzenmäntel verhüllten die Tatsache, dass sie weder tätowiert waren noch lange blonde oder rote Haare besaßen.

Sie versteckten die Leichen im Gebüsch, legten ihre Taschen, Waffen und die eigene Kleidung daneben und bedeckten alles mit Ästen und Laub. Dann nahmen sie die Speere ihrer Opfer und marschierten los, als wären sie auf Kontrollgang. Zwei Maeatae-Krieger kamen aus der anderen Richtung auf sie zu.

»Kein Wort«, flüsterte Silus.

»Wie denn auch, ich kann ja gar keines.«

Silus hielt den Blick auf den Boden gerichtet. Die Kapuze um seinen Kopf verstärkte das Pochen seines Herzschlags in den Ohren. Er hoffte, dass die beiden Krieger an ihnen vorübergingen, doch sie blieben vor ihnen stehen.

»So ein Scheißwetter«, sagte der eine in britannischem Keltisch.

Silus nickte.

»Habt ihr was zu essen?«, fragte der andere.

Ihr Proviant war noch in ihren Taschen, weshalb sich Silus keine Gedanken darüber machen musste, dass er sie durch seinen allzu römischen Geschmack verriet. So gerne er den Barbaren auch etwas gegeben hätte, damit sie sich wieder entfernten – seine Tasche hätte sich genauso gut in Eboracum befinden können.

»Leider nicht«, sagte Silus. Er fasste sich möglichst kurz, damit sein Akzent keinen Argwohn erregte.

Der zweite Barbar spie auf den Boden. »Ein verdammt mageres Jahr. Sogar für uns Krieger.«

»Die Scheißrömer«, sagte der erste. »Sie hungern uns aus.«

»Na, bald sind wir ja in ihrer sogenannten Provinz, fressen ihre Trauben, trinken ihren feinen Wein und ficken ihre eingebildeten Frauchen«, sagte der zweite. »Stimmt doch, Bruder?«, sagte er zu Atius und sah ihn erstaunt an, als er keine Antwort erhielt.

»Was ist denn mit dem los?«

Wenn sie Atius zwangen, etwas zu sagen, würden sie sofort merken, dass er kein britannisches Keltisch sprach, und sie wären enttarnt. Selbstverständlich konnten sie die beiden ebenfalls vom Leben zum Tode befördern, doch unbemerkt würde dies nicht vonstattengehen, dafür waren sie zu nahe am Lager.

Silus musste sich schnell etwas einfallen lassen. »Die verdammten Römer haben ihm als Kind die Zunge herausgeschnitten. Er war ihr Sklave, bevor wir ihn bei einem Überfall befreien konnten.«

Die beiden Maeatae sahen ihn mitleidig an. »Das arme Schwein. Wir werden die Römer für so vieles zur Rechenschaft ziehen.«

»Und sie werden bezahlen, Bruder«, sagte Silus. »Mögen die Götter mit euch sein.«

Die Maeatae-Krieger gingen weiter. Silus atmete erleichtert aus.

»Was haben sie gesagt?«, flüsterte Atius.

»Nicht so wichtig. Ach ja – ab jetzt kein Wort mehr. Man hat dir als Kind die Zunge herausgeschnitten.«

Atius sah ihn verwirrt an, dann streckte er ihm die Zunge heraus.

»Bei allen Göttern, Atius! Kannst du nicht einmal ernst bleiben? Wir sind fast im Lager, also lass den Blödsinn und halt die Klappe. Wir finden heraus, wo Maglorix ist, bringen ihn um und verschwinden wieder.«

»Ja, was könnte da schon schiefgehen?«

Silus warf ihm einen weiteren vernichtenden Blick zu, doch inzwischen waren sie zu nahe am Kastell, um sich weiter auf Lateinisch zu unterhalten. Sie gingen zum nächsten Eingang. Die beiden Wachposten davor waren auf ihre Speere gestützt und würdigten sie kaum eines Blickes. Einmal mehr gereichte ihnen die im Vergleich zur römischen Armee völlige Disziplinlosigkeit der Barbaren zum Vorteil. Um eine römische Festung zu betreten, musste man den Wachen ein geheimes Losungswort nennen. Wenn man dieses Wort nicht kannte, wurde man durchsucht und einem Zenturio vorgeführt, dem man über den Grund seines Besuchs Rede und Antwort stehen musste. Die Maeatae hatten ihr Quartier in einem römischen Kastell aufgeschlagen, aber damit endeten die Gemeinsamkeiten auch schon wieder.

Als Silus und Atius das Lager betraten, sahen sie sich erstaunt um. Die Gebäude von Pinnata Castra waren nur noch als undeutliche Linien auf dem Boden zu erkennen. Baracken, Werkstätten, Lagerhäuser, das Lazarett, die Stabsgebäude, nur noch ordentliche, gerade Linien und rechte Winkel. Ein Platz für alles und alles an seinem Platz.

Die Maeatae hatten sich breitgemacht, wie sie es auch auf freiem Feld getan hätten. Zelte, Lagerfeuer, aus den Wänden gerissene Steine als Sitzgelegenheiten, alles war kreuz und quer verstreut. Eine schlecht organisierte Streitmacht, aber von – wie Silus zugeben musste – durchaus eindrucksvoller Größe. Selbst wenn man berücksichtigte, dass die Barbarenhorde viel mehr Platz in Anspruch nahm als eine Legion, musste sie einige Tausend Krieger zählen. Mehr als genug, um in jedem beliebigen Teil der römischen Provinz Britannia verheerenden Schaden anzurichten. Wenn dann noch das Überraschungsmoment auf ihrer Seite war, konnten die hier versammelten Krieger selbst einer Legion gefährlich werden. Und dies war nur ein Teil des Maeatae-Stammesbundes. Auch die anderen versammelten sich irgendwo, und noch weiter im Norden machten sich die zahlenmäßig weit überlegeneren Kaledonier kampfbereit.

Dennoch würden die Maeatae die offene Feldschlacht meiden, wenn Caracalla seine Legionen nach Norden führte – eine durch viele bittere Niederlagen gelernte Lektion. Caracalla dagegen hatte von Severus den Befehl erhalten, die Maeatae ihre Aufsässigkeit bitter bereuen zu lassen.

Doch das war Silus nicht genug. Ein Sieg über die Maeatae würde ihm nicht die nötige Genugtuung verschaffen, um den immer wiederkehrenden Krampf in seinen Eingeweiden zu lösen. Dies würde erst mit Maglorix’ Tod geschehen. Irgendwo in diesem Lager saß der Unhold, der seine Frau und seine Tochter ermordet hatte, trank Bier und lachte und schmiedete Pläne, wie er noch mehr römische Ehefrauen zu Witwen machen und noch mehr Frauen und Kinder abschlachten konnte.

Silus bemerkte plötzlich, dass er die Kiefermuskeln angespannt und die Hände zu Fäusten geballt hatte. Er zwang sich dazu, sich zu entspannen, bevor noch jemand auf seine Wut aufmerksam wurde. Atius legte ihm tröstend die Hand auf die Schulter. Silus gab seinem Kameraden mit einem Nicken zu verstehen, dass er sich wieder in der Gewalt hatte.

Wenn es darum ging, unentdeckt zu bleiben, war die Disziplinlosigkeit der Maeatae ein großer Vorteil, bei der Suche nach Maglorix jedoch ein entscheidender Nachteil. In einem römischen Kastell befand sich das Quartier des Prätors oder des Lagerpräfekten stets im Prätorium, das zu den Principia gehörte, den immer direkt im Zentrum des Lagers befindlichen Stabsgebäuden. Der Barbarenfürst dagegen konnte überall sein. Einige Zelte waren größer als andere und beherbergten vermutlich Edelmänner und ihr Gefolge, doch Silus konnte kein Zelt entdecken, das sich deutlich von den anderen unterschieden hätte.

Er deutete auf ein Lagerfeuer, an dem sich mehrere Krieger wärmten. Die beiden Römer nahmen auf einem unbesetzten Steinblock Platz, hielten die Hände über das wärmende Feuer und lauschten der Unterhaltung.

Ein stämmiger Krieger mit dichtem roten Bart und platter, krummer Nase lallte laut und unterstrich seine Worte durch so ausgreifende Gesten mit dem Tonkrug in seiner Hand, dass er das Bier darin verschüttete. »Wenn ich’s dir doch sage, Kian. Die Votadini sind feige Verräter. Sie werden sich niemals gegen die Römer erheben.«

»Da liegst du falsch, Gebann«, sagte Kian, ein älterer Krieger mit Halbglatze, dem das verbliebene graue Haar bis über die Schultern reichte. »Wenn die Votadini erst mal merken, dass sich das Blatt gewendet hat, werden sie sich uns ganz schnell anschließen. Sie mögen Hasenfüße sein, aber sie werden auch Gebietsverluste befürchten, wenn die Römer nicht mehr da sind. Sollten sie unserem Bündnis nicht beitreten, werden sich die Kaledonier und Maeatae gegen sie wenden und sie wegen ihrer Feigheit zu Sklaven machen.«

Gebann warf die Hände in die Höhe, wobei er seinen Krug so gut wie leerte. »Ihre Hoden sind so groß wie Erbsen und ihr Rückgrat ist aus Suppe. Sie waren einst ein starkes Volk, doch das ist lange her.« Gebann deutete auf Atius. »Was sagst du dazu?«

Atius bemerkte, dass man ihn angesprochen hatte, und sah Silus Hilfe suchend an.

»Was denn?«, rief Gebann. »Hat dir jemand die Zunge abgeschnitten?«

»Ja, in der Tat«, sagte Silus. »Und zwar die Römer.«

Gebann sah sie finster an, unsicher, ob sie ihn zum Narren hielten. Doch Atius machte eine solche Elendsmiene und Silus ein so ernstes Gesicht, dass er ihren Worten nach einem letzten prüfenden Blick Glauben schenkte. »Mögen die Götter die Drecksäue niederstrecken, die dir das angetan haben. Dann frage ich eben den Kameraden des Zungenlosen – was hältst du von den Votadini?«

»Wenn wir mit den Römern fertig sind, sollten die Votadini als Nächstes an der Reihe sein.«

»Da hörst du’s«, triumphierte Gebann. »Der Mann hat Ahnung.«

Kian legte den Kopf schief, strich sich über den Bart und musterte Silus. »Bruder, wie heißt du und von welchem Stamm bist du? Dein Akzent ist mir nicht geläufig.«

Oclatinius hatte Silus beigebracht, dass eine Lüge am glaubhaftesten war, wenn sie der Wahrheit möglichst nahe kam. Allerdings wusste er nicht, wie weit sich die Taten seines Vaters herumgesprochen hatten. Sollte er seine brigantische Herkunft erwähnen?

»Ich heiße Syagris«, sagte er. Das war der Name eines Spielgefährten gewesen, der an Auszehrung gestorben war. »Ich habe bei den Damnonii das Licht der Welt erblickt, doch mein Vater war ein fahrender Händler vom Stamm der Brigantes.«

Kian wandte sich einem weiteren Krieger zu, der die ganze Zeit über in die Flammen gestarrt und der Unterhaltung nur wenig Beachtung geschenkt hatte. »Sittan, du gehörst zu den Damnonii. Kennst du diesen Mann, der sich Syagris nennt?«

Sitan zuckte mit den Schultern. »Nein. Aber dieser Name ist weitverbreitet und unser Stamm ist über das ganze Land verteilt. Woher sollte ich ihn kennen?«

»Nun sei doch nicht so misstrauisch, Kian. Er sitzt im Lager der Maeatae, spricht unsere Sprache und wärmt sich an unserem Feuer. Was, glaubst du etwa, dass er ein römischer Spion ist?« Bei dieser Vorstellung brüllte Gebann vor Lachen. Silus lächelte, während ihm das Herz bis zum Hals schlug.

Kian zögerte, dann reichte er Silus und Atius ein Stück vom über dem Feuer gebratenen Lammfleisch. »Entschuldigt, Brüder. Ich habe schon ein paar mehr Sommer auf dem Buckel als die Jungspunde hier, und mit dem Alter wird man eben misstrauischer. Bitte, esst mit uns.«

Silus und Atius nahmen das Angebot dankbar an und aßen. Atius bedeckte den Mund mit der Hand, damit niemand seine Zunge sah. Das Fleisch war heiß und saftig und viel schmackhafter als ihr Reiseproviant.

»Kommt ihr von weit her?«, fragte Gebann.

»Viele Tagesritte«, sagte Silus. »Aber wir haben gehört, dass der große Maglorix die Maeatae unter sich vereint, und wollten uns ihm anschließen, um gegen die Besatzer zu kämpfen.«

Die um das Feuer sitzenden Krieger nickten zustimmend.

»Ja, er ist wirklich ein großer Mann«, sagte Kian. »Schon sein Vater Voteporix, der so feige ermordet wurde, war ein guter Anführer. Aber Maglorix übertrifft ihn bei Weitem.«

»Ich will zu ihm und ihm die Treue schwören. Wo ist sein Quartier?«

Kian deutete in die Mitte des Kastells. »In dem großen roten Zelt mit den beiden Wachposten vor der Tür. Du kannst es gar nicht verfehlen. Aber ich glaube nicht, dass er euch jetzt empfangen wird. Es heißt, dass er heute Nacht allein sein will, um Zwiesprache mit den Göttern zu halten.«

»Ich werde es versuchen. Der Vetter meines Onkels war einst mit den Venicones auf der Jagd und hat sich mit Maglorix angefreundet. Ich soll Grüße von ihm bestellen. Vielleicht empfängt er mich ja doch.«

Kian spie ins Feuer. Der Speichel verwandelte sich mit leisem Zischen in Dampf. »Das bezweifle ich, aber versuchen kannst du es ja.«

»Dann wollen wir ihm mal unsere Aufwartung machen«, sagte Silus zu Atius. Der verstand kein Wort, doch als Silus kurz darauf aufstand, gab er ihm durch ein knappes Nicken zu verstehen, dass es Zeit zum Aufbruch war.

»Erfolgreiche Jagd auf dem Schlachtfeld, Brüder«, sagte Gebann.

»Gleichfalls«, sagte Silus, und sie entfernten sich.

Niemand schenkte ihnen größere Beachtung, als sie zwischen den Kriegergruppen hindurchgingen und über Vorratsstapel – Getreide, Bier, Talg für Fackeln und Holz für Speere und Pfeile – stiegen. In einem abgelegeneren Teil des Lagers mussten sie an einem Krieger vorbei, der sich an einer auf die Ladefläche eines Fuhrwerks gefesselten Sklavin von romano-britannischem Aussehen verging. Als sie an ihr vorübergingen, wandte sie sich zu Silus um. Einen Moment lang blickte er in ihre toten Augen, während sie von den groben Stößen des Barbaren hin und her gerüttelt wurde. Sofort sah er Maglorix vor sich, wie er seine Hose herunterließ, um seine Frau zu missbrauchen, und er trat einen Schritt auf den Barbaren zu.

Atius nahm seinen Ellenbogen und zog ihn vorsichtig mit sich. Silus warf der Frau noch einen Blick zu. Sie starrte mit leerer Miene ins Nichts. Er biss die Zähne zusammen, drehte sich um, blickte stur geradeaus und versuchte, nur an das zu denken, was als Nächstes zu tun war. An seine Pflicht und seine Befehle.

Er versagte kläglich. Bevor Atius ihn daran hindern konnte, war Silus mit zwei schnellen Schritten bei dem Krieger, packte seinen Kopf und riss ihn mit solcher Kraft herum, dass er ihm mit einem lauten Knacken das Genick brach. Der Barbar fiel um.

»Um Christus’ willen«, sagte Atius. »Silus, was soll denn das?«

»Wenn es bei Maglorix’ erstem Angriff auf Voltania nur ein wenig anders gekommen wäre, hätte Velua hier an ihrer Stelle gelegen. Oder vielleicht sogar Sergia.«

Atius schüttelte den Kopf, packte die Beine des toten Kriegers und zerrte ihn in die Schatten. Währenddessen befreite Silus die Sklavin von ihren Fesseln. »Schnell, verschwinde.«

Sie regte sich nicht. Sie machte noch nicht einmal Anstalten, ihre Blöße zu bedecken, und er fragte sich, wie viel sie in ihrem kurzen Leben schon hatte ertragen müssen. Silus hob den in der Nähe liegenden Umhang des Kriegers auf und legte ihn um ihre Schultern. Sie sah ihn mit leerem Blick unverwandt an.

»Bitte verzeih, dass ich nicht mehr für dich tun kann. Sieh zu, dass du irgendwie aus dem Lager entkommst.«

Atius stieß wieder zu ihm und zog Silus mit sich in die Richtung, in der Maglorix’ Zelt stand. Als sich Silus noch einmal umdrehte, hatte sich die Frau aufgesetzt und sah sich um, als wäre sie soeben aus einem grotesken Traum erwacht.

Dann erblickten sie Maglorix’ rotes Zelt, das alle anderen in der Nähe überragte. Es war nur noch fünfzig Schritt entfernt. Als sie sich ihrem Ziel näherten, verkrampften sich Silus’ Eingeweide.

Dann nahm er aus den Augenwinkeln etwas wahr, das unwillkürlich seine Aufmerksamkeit erregte, und er drehte sich danach um. Auf den ersten Blick bemerkte er nichts Ungewöhnliches: Ein Krieger hatte seine Hose halb heruntergelassen und urinierte gegen einen Pfahl. Sein behaartes Gesäß leuchtete hell im Feuerschein.

Nun sah er, dass etwas an den Pfosten gebunden war. Jemand. Er kam ein paar Schritte näher, um besser sehen zu können. Ein grauhaariger Mann mit langem, verfilztem Bart war mit den Handgelenken an den Pfosten gefesselt. Er war auf Knien, sein Kinn ruhte auf seiner Brust und sein Gesicht war geschwollen – frische blaue und ältere gelbe Blutergüsse zeichneten sich darauf ab. Er wehrte sich nicht, als der Urin auf ihn spritzte.

Silus sah genauer hin. Irgendwie kam ihm der Mann bekannt vor. Atius blieb verwirrt stehen, als Silus auf den Gefangenen zuging.

Der Krieger schüttelte die letzten Tropfen ab und zog die Hose hoch. Dann drehte er sich um und sah, dass Silus ihn anstarrte. »He«, sagte der Barbar. »Du kannst mit ihm machen, was du willst, aber sieh bloß zu, dass er danach noch lebt, sonst reißt dir Maglorix den Arsch auf. Mit dem da hat er noch viel vor.«

Der Mann entfernte sich und gab den Blick auf den bemitleidenswerten Gefangenen frei. Kein Zweifel – es war Menenius.

 

Caracalla stöhnte und blickte in die halb geschlossenen Augen seiner rittlings auf ihm sitzenden Stiefmutter. Sie hatte die Hand hinter den Rücken genommen, um ihn zu streicheln. Er stöhnte abermals und bemühte sich, den Höhepunkt hinauszuzögern. Dies würde für eine lange Zeit das letzte Mal sein.

Julia nahm ihn mit einem lang gezogenen Schrei tief in sich auf, und er konnte nicht länger an sich halten. Sie ließ sich auf ihn fallen, und sie klammerten sich aneinander, bis die Ekstase verklungen war. Dann lagen sie eng umschlungen, keuchend und schweißglänzend da.

Caracalla starrte an die Decke, auf der sich das Motiv der Wandfresken fortsetzte: das Panorama eines wunderschönen römischen Gartens mit kunstvoll in dekorative Formen geschnittenen Büschen und Bäumen, in denen sich allerlei kleines Getier versteckte, unter einem blauen, mit weißen Wolken und den Vögeln Italiens erfüllten Himmel. Beim Gedanken an den bevorstehenden Feldzug durch dieses triste Land bekam Caracalla Heimweh. Obwohl der Sommer nicht mehr fern war und sich sogar die Sonne hin und wieder zeigte, war es hier im Vergleich zur Pracht eines warmen Maitages in der Villa des Hadrianus in Tibur tiefster Winter.

»Ich muss an den Tag denken, an dem du meinen Vater geheiratet hast. Wie alt war ich da? Vierzehn? Du warst die schönste Kreatur, die ich je erblickt hatte. Ich habe die Zeremonie voller Ehrfurcht verfolgt, stolz darauf, dass mein Vater eine so mächtige und bezaubernde Frau gefunden hatte. Stolz und krank vor Eifersucht.«

»Das erinnert mich an einen gewissen tragischen Helden.«

Caracalla runzelte die Stirn. »Du bist nicht meine Mutter. Du bist nicht Jokaste und ich nicht Ödipus. Wir sind noch nicht mal Agrippina und Nero.«

»Vielleicht Phaidra und Hippolytos?«

»Auf keinen Fall!«, widersprach Caracalla entschieden. »Hippolytos hat Phaidra zurückgewiesen. Das würde ich nie tun.«

Julia lächelte, dann wurde sie wieder ernst. »Die Leute würden unsere Verbindung trotzdem nicht gutheißen. Und wenn dein Vater jemals dahinterkommt …«

»Zu seiner Zeit war mein Vater ein Alexander, jetzt ist er nur noch ein schwacher alter Mann. Er hätte auf dem Höhepunkt seiner Macht sterben sollen, anstatt so dahinzusiechen. Wieso lässt du es zu, dass er dich immer noch berührt?«

»Weil er mein Ehemann ist und ich ihn liebe«, sagte Julia tadelnd. »Aber du musst nicht eifersüchtig sein. Inzwischen wird auf unserem gemeinsamen Lager nicht mehr viel anderes getan als geschlafen.«

Caracalla knurrte, sagte aber nichts. Julia beugte sich vor und drückte ihm einen Kuss auf die Stirn. »Seine Lebenskraft schwindet, Antoninus. Du solltest sein Schicksal in die Hände der Götter legen und ihre Pläne nicht durchkreuzen. Tust du das für mich?«

Caracalla nickte. »Er ist mein Vater und ich liebe ihn, aber manchmal …« Er seufzte. »Für dich, Geliebte.«

Julia fuhr mit der Hand durch die drahtigen Locken auf seiner muskulösen Brust. »Wie lange wirst du fort sein?«

»Ich weiß es nicht. Ich rechne nicht mit einem harten Kampf, aber dieses Land ist ebenso groß wie trostlos, und diese Barbaren dazu zu zwingen, sich zum Kampf zu stellen, kann sich zu einer zermürbenden und zeitraubenden Angelegenheit entwickeln.«

»Aber du kehrst doch zurück, nicht wahr?«

Caracalla zog Julia an sich, schlang die Arme um sie und küsste sie leidenschaftlich. Dann löste er sich von ihr, stand auf, schlüpfte in seine Tunika und setzte sich auf die Bettkante, um die Stiefel anzuziehen. Als er fertig war, küsste er sie abermals und ließ einen letzten lüsternen Blick über ihren nackten Körper schweifen. »Wie töricht wäre es, nicht zu dir zurückzukehren?«

Julia lächelte, doch sie konnte ihre Besorgnis nicht verbergen. Er fuhr mit den Fingerspitzen über ihre Wange.

»Es ist noch jeder römische Kaiser aus der Schlacht zurückgekehrt«, sagte er in, wie er hoffte, ermutigendem Ton.

»Aber nicht jeder römische Feldherr. Marcellus zum Beispiel. Oder Varus. Was, wenn sich dieser Maglorix ein Beispiel an Arminius nimmt und dich in eine riesige Falle lockt?« Ihr Atem ging schneller, und sie sah ihn mit großen Augen an.

»Beruhige dich, Augusta«, sagte Caracalla und legte mit festem Griff die Hände um ihre Schultern. »Besinne dich deiner Dignitas und Gravitas. Außerdem hat Arminius vorgegeben, Freund und Verbündeter der Römer zu sein, was man von Maglorix nun wirklich nicht behaupten kann.«

Julia holte tief Luft und stieß sie langsam durch die gespitzten Lippen aus, sodass ihr Atem pfeifend durch ihre Zähne strich. Dann nickte sie. »Verzeih, Antoninus. Aber … ich werde Septimius bald verlieren und könnte es nicht ertragen, dich ebenfalls zu verlieren.«

»Vater ist stark wie ein Ochse. Er wird ewig leben.«

»Das stimmt nicht, und das weißt du ganz genau. Mit seiner Gesundheit geht es bergab. Und vergiss die Omen nicht. Der Traum von seiner eigenen Vergöttlichung. Die Statue, die bei den Spielen zur Feier seines Sieges in Horrea Classis vom Blitz getroffen wurde. Wie er anlässlich seiner Rückkehr nach Eboracum ein Opfer darbringen wollte und die Tiere alle schwarzes Fell oder schwarze Federn hatten, und als er sich weigerte, sie zu opfern, sind sie ihm bis zum Palast gefolgt.«

»Omen und Aberglaube sind nur etwas für Narren.«

»Antoninus, wie sprichst du nur mit der Tochter des Hohepriesters des Heliogabalus? Das ist eine Respektlosigkeit nicht nur meinem, sondern auch deinem Vater gegenüber. Vergiss nicht – Septimius ist nach Emesa gereist, weil ihm prophezeit worden war, dass er dort seine zukünftige Gemahlin finden würde. Und wen hat er dort gefunden? Mich.«

Caracalla öffnete den Mund, um dies als Zufall und geschickte Auslegung der Tatsachen abzutun, doch als er Julias eisigen Blick bemerkte, überlegte er es sich anders. Sie war sehr an Wissenschaft interessiert und eine Mäzenin der Philosophie und der Künste, weshalb ihn ihr tiefer Glaube an derlei Dinge immer wieder überraschte. Doch damit war sie beileibe nicht allein, und sie hatte insofern recht, dass sein Vater seinen Sehern und Propheten und Astrologen geradezu hörig war. Und auch wenn er selbst sich weigerte, bestimmte Dinge zu glauben, die man gemeinhin für die Wahrheit erachtete, suchte er doch die Hilfe von Serapis, dem aus dem Osten stammenden Gott der Gesundheit und Fruchtbarkeit, und Aesculapius, dem Gott der Heilkunst, wenn er hin und wieder von einer Krankheit heimgesucht wurde. Schließlich hatte er nicht vor, in jungen Jahren elend an einem einfachen Fieber zu verenden wie sein Held Alexander. Er legte die Arme um sie und küsste sie innig und spürte, wie sie sich entspannte.

»Ich werde zu dir zurückkehren, Geliebte«, flüsterte er in ihr Ohr.

»Das will ich doch hoffen, sonst kannst du was erleben«, flüsterte sie zurück.

 

Caracalla saß aufrecht und mit glänzender Rüstung auf seinem prächtig herausgeputzten, blütenweißen Ross vor einer gewaltigen Streitmacht, gebildet aus den von Rhein und Donau nach Britannien verlegten Armeen, den Legionen, die bereits auf der Insel stationiert waren – die Legio II Augusta, die Legio VI Victrix und die Legio XX Valeria Victrix –, sowie zahlreichen Hilfstruppeneinheiten. Auch sie hatten sich herausgeputzt wie selten zuvor in ihrem Leben, und die größtenteils jungen Soldatengesichter strahlten vor Aufregung und Tatendrang. Severus saß Caracalla gegenüber auf einem behelfsmäßigen Thron. Er sah müde aus, war in sich zusammengesackt und sein Brustkorb hob und senkte sich bei jedem Atemzug vor Anstrengung. Hin und wieder verzog er das Gesicht, wenn die Schmerzen in seinen gichtigen Beinen zu groß wurden. Sein Blick jedoch war unnachgiebig und unbarmherzig.

Julia Domna saß mit einer huldvollen, etwas abwesend wirkenden Miene zu Severus’ Rechten. Geta stand mit aufeinandergepressten Lippen und verkrampften Kiefermuskeln zu seiner Linken. Die Vorstellung, dass ihn der Neid förmlich auffraß, wenn er sah, wie sein Bruder an der Spitze einer mächtigen Armee Ruhm und Ehre entgegenmarschierte, löste ein tiefes, warmes Gefühl der Genugtuung in Caracalla aus. Er schenkte Geta ein breites, selbstgefälliges Grinsen, das dieser mit einem leichten Neigen des Kopfes, einem geheuchelten Lächeln und einem Blick wie glühende Kohlen und scharfe Dolche erwiderte.

Severus ergriff das Wort. Seine Stimme war heiser und schwach und würde nicht über die vorderste Linie hinaus zu hören sein. Doch die kurze Ansprache, mehr oder weniger eine Wiederholung dessen, was er bereits in privatem Rahmen gesagt hatte, würde sich mit wachsender Ungenauigkeit schnell bis in die hintersten Reihen verbreiten.

»Die Barbaren haben die mit uns getroffene Übereinkunft gebrochen. Sie haben das Friedensabkommen, dem wir im letzten Jahr in gutem Glauben zugestimmt haben, aufgekündigt und unsere Männer, Frauen und Kinder angegriffen und niedergemetzelt. Nun müssen sie den Preis für ihre Taten bezahlen. Um mit Agamemnon zu sprechen: Wir werden niemanden verschonen. Kein Mann, keine Frau, kein Kind, auch nicht die Ungeborenen im Mutterleib sollen dem Verderben entrinnen. Die Barbaren werden den Tag bitter bereuen, an dem sie die Waffen gegen das mächtige Rom erhoben haben.«

Die von den Zenturionen und Optiones angefeuerten Männer stießen begeistertes Gebrüll aus und schlugen mit den Schwertern auf ihre Schilde.

»Vater«, sagte Caracalla, »wir werden dich nicht enttäuschen. Wir werden dein Feuer und deinen gerechten Zorn zu den Eidbrüchigen im Norden tragen. Sie werden nie wieder deine oder die Macht Roms herausfordern.«

Das erneute Gebrüll der Soldaten hallte dröhnend in seinem Innersten wider, als wäre sein Körper eine Trommel, auf die eine ganze Armee schlug. Er kostete dieses Gefühl aus, dann brachte er die Männer zum Schweigen, indem er das Schwert hob.

»Männer, wir ziehen in den Krieg!« Er riss das Pferd herum, und mit Caracalla an der Spitze machte sich der Großteil der in Britannien befindlichen römischen Soldaten auf den Weg nach Norden.

 

Kurz nach Silus erkannte auch Atius mit Erstaunen ihren Kommandanten. Er trat einen Schritt auf ihn zu, doch Silus legte seinen Arm fest um seine Schulter und führte ihn von ihm weg.

»Silus, wo willst du denn hin?«, protestierte Atius. »Das ist Menenius!«

»Nicht so laut. Du sollst doch nichts sagen, und schon gar nicht auf Latein.«

»Aber …«

»Jetzt hör mal gut zu. Unser Befehl lautet, Maglorix zu töten. Und das werden wir tun und nichts sonst, verstanden?«

»Nun nimm doch Vernunft an, Silus. Er war unser Kommandant. Sieh ihn dir an. Er wird gequält. Gedemütigt. Wir können ihn doch nicht im Stich lassen.«

»Können wir und werden wir auch. Er wäre der Erste, der uns zur Erfüllung unserer Pflicht ermahnen würde.«

»Du hast gerade die Erfüllung unserer Pflicht für eine Hure aufs Spiel gesetzt, die du noch nie zuvor gesehen hast!«

»So gefährlich war das nicht. In dieser ruhigen, dunklen Ecke hat niemand etwas mitbekommen. Und ich hatte auch nicht vor, sie an fünftausend bis an die Zähne bewaffneten Kriegern vorbeizuschmuggeln. Menenius dagegen befindet sich auf einem belebten Platz. Wir kämen doch gar nicht an ihn heran, und befreien können wir ihn erst recht nicht. Ende der Diskussion.«

Mehrere Krieger, die vor einem kleinen Zelt in der Nähe saßen, sahen neugierig zu ihnen hinüber. Erst jetzt fiel Silus auf, wie laut er gesprochen hatte. Er nahm Atius beim Ellenbogen und zog ihn außer Hörweite der Männer.

»Atius, sieh dir die Barbaren um uns herum an. Es sind Tausende. Sie sind hier, weil Maglorix sie gerufen hat. Letztes Jahr noch waren sie geschlagen und erniedrigt und haben uns um Frieden angefleht. Jetzt haben sie neue Zuversicht gewonnen – weil sie einen neuen Anführer haben. Es wäre doch möglich, dass ihr Bündnis wieder zerbricht, wenn wir Maglorix beseitigen. Überleg doch, welches Unheil der Provinz Britannia andernfalls droht. Unsere Kameraden werden den Speeren der Barbaren zum Opfer fallen. Denk an die Familien in den Vici, an die Frauen und Kinder.« Er umklammerte fest Atius’ Arm und zog ihn zu sich, bis ihre Gesichter nur noch wenige Fingerbreit voneinander entfernt waren. »Familien wie meine, Atius.«

Atius riss sich wütend los. »Deine Trauer und dein Rachedurst trüben deine Urteilskraft. Maglorix’ Tod ist unser wichtigster Auftrag, aber niemand hat uns verboten, einen Gefangenen zu retten, wenn sich die Gelegenheit dazu bietet.«

»Maglorix’ Tod ist unser einziger Auftrag. Wenn ich dich daran erinnern darf: Ich habe das Kommando. Da hat sich Oclatinius ganz unmissverständlich ausgedrückt.«

»Dann könnt Ihr mich mal, Herr. Wie willst du mich denn aufhalten? Willst du dich mitten in einem feindlichen Lager mit mir prügeln? Ich werde unseren Kommandanten nicht einem weiß Christus was für grässlichen Schicksal überlassen.«

Sie starrten sich wütend an. Sie waren sich völlig uneins und trotzdem auf Gedeih und Verderb aufeinander angewiesen. Silus spürte, dass sein Freund nicht nachgeben würde, und holte tief Luft. »Du bist dir im Klaren darüber, dass es so gut wie unmöglich ist, ihn zu befreien und lebend zu entkommen?«

»Ja. Das nehme ich in Kauf.«

»Und Maglorix aus dem Weg zu räumen ist nach wie vor unser wichtigster Auftrag?«

»Selbstverständlich.«

Silus starrte seine Füße an. »Dann brauchen wir einen neuen Plan.«

»Gab es denn einen alten?« Atius grinste und Silus musste gegen seinen Willen lächeln.

»Du mich auch. Also, wir machen es folgendermaßen: Ich sorge für ein Ablenkungsmanöver, und währenddessen wirst du dich zu Menenius schleichen und ihn befreien. Dann ist er auf sich allein gestellt. Wir treffen uns bei Maglorix’ Zelt, setzen die Wachen außer Gefecht, befördern den Bastard ins Jenseits und rennen um unser Leben.«

»Genial«, sagte Atius, und wie so oft war sich Silus nicht sicher, ob es sarkastisch gemeint war oder nicht.

»Finde ich schon, in Anbetracht der Vorbereitungszeit. Und jetzt los. Aber vergiss nicht: Du hast keine Zunge.«

»Verdammt. Hoffentlich laufen mir keine schönen Frauen über den Weg.«

»Verpiss dich.«

Silus ließ Atius im Schatten stehen und kehrte in die Lagermitte zurück. Er sah Maglorix’ großes, rotes Zelt, vor dessen Eingang zwei gelangweilt dreinblickende Wachen standen. Alles war so, wie es der Krieger beschrieben hatte. Silus sah sich Hilfe suchend um. Was konnte er tun, um die Barbaren abzulenken? Ein Feuer zu entfachen war bei dem Nieselregen nicht so einfach, außerdem würde es nicht überspringen, dafür standen die Zelte zu weit auseinander. Ein solches Ablenkungsmanöver hätte nur ein paar Eimer Wasser und ein paar Flüche zur Folge.

In der Nähe saßen mehrere Krieger um ein Lagerfeuer und warfen Tali. Sie spielten ernst und verbissen, da der Einsatz aus Schmuck bestand, darunter eiserne Torques, Halsketten aus Bernstein und sogar ein paar Goldringe. Silus betrachtete eingehend die farbigen Muster, die ihre Gesichter zierten, und ihm fiel auf, dass sie alle unterschiedlich waren. Das bedeutete, dass sie verschiedenen Stämmen angehörten. Leider war ihm entfallen, welches Muster für welchen Stamm stand, immerhin war es viele Jahre her, dass er bei diesem Volk gelebt hatte. Aber für das, was ihm ganz plötzlich einfiel, spielte das auch keine Rolle.

Er setzte sich zu ihnen, sah zu, wie die Knochen geworfen wurden und die Wertgegenstände ihren Besitzer wechselten. Es herrschte eine gereizte Stimmung. Die Stammeskrieger waren vereint in ihrem Hass auf die Römer, doch das bedeutete nicht, dass sie alle Vorurteile und allen Groll ihren Nachbarn gegenüber abgelegt hätten. Ganz gleich, ob es sich um den Mann von nebenan handelte, dessen Großvater dem eigenen Großvater ein Schwein gestohlen hatte, um das nächste Dorf, das nicht genug Wintervorräte angelegt und einem die eigenen genommen hatte, oder den nächsten Stamm, mit dem man schon seit Jahrhunderten Grenzstreitigkeiten ausfocht – es lag in der menschlichen Natur, seinen Nächsten, sofern er anders war als man selbst, inbrünstiger zu hassen als Fremde von weit her, auch wenn sie noch so seltsame Sitten und Gebräuche hatten.

Ein Mann mit dem Akzent der Taexali fluchte laut, als ein Spieler vom Stamm der Venicones die Partie mit einem glücklichen Wurf gewann. Silus beherrschte die Regeln nur in Grundzügen, da er zu jung zum Spielen gewesen war, als er noch zu den Damnonii gehört hatte, aber sie schienen denen des Tali-Spiels, das im ganzen Römischen Reich beliebt war, recht ähnlich zu sein. Der Krieger der Venicones hob unter dem Jubel seiner Stammesgenossen triumphierend die Hände, die Taexali und Damnonii dagegen schienen verärgert.

Silus beugte sich zu dem Taexalikrieger vor. »Die Tali scheinen mir gewichtet zu sein«, flüsterte er ihm ins Ohr.

Der Veniconeskrieger wollte nach seinem Gewinn greifen, einem Dolch mit reich verziertem und mit Edelsteinen besetztem Griff, als der Taexalus ebenfalls die Hand ausstreckte und auf die seines Mitspielers legte. Der blickte überrascht auf. »Was soll das werden, Bruder?«

»Lass mich die Tali sehen«, sagte der Taexalus mit leiser, drohender Stimme.

»Was faselst du da?«

»Hast du etwa Angst, sie mir zu zeigen, Bruder?« Das letzte Wort war kaum mehr als ein Knurren.

»Nennst du mich etwa einen Betrüger?«, rief der Mann vom Stamm der Venicones mit vor Fassungslosigkeit und Wut erhobener Stimme. »Zweifelst du an meiner Ehre?«

»Gib mir die Knochen, damit ich mich davon überzeugen kann, dass alles mit rechten Dingen zugeht, und ich stelle überhaupt nichts infrage.«

»Niemand zweifelt die Ehre der Venicones an«, sagte ein Stammesgenosse des Gewinners, »ohne seine Behauptungen mit der Klinge zu verteidigen.«

»Wer einen Taexalus betrügt, begibt sich in große Gefahr«, sagte ein weiterer Taexalus.

»Ich bin kein Betrüger!«, schrie der Veniconeskrieger und griff nach dem Dolch. So schnell wie eine zuschnappende Schlange bohrte der Taexalus das eigene Messer in den Handrücken des vermeintlichen Falschspielers. Knöchel knackten, Blut spritzte um die Klinge herum aus der Wunde. Während der eine Veniconeskrieger vor Wut und Schmerz aufschrie, stürzte sich der andere brüllend auf den Taexalus. Wenige Augenblicke später prügelten alle, die um das Feuer gesessen hatten, aufeinander ein.

Als sich Silus davonschlich, erregte das Handgemenge bereits größere Aufmerksamkeit. Die Kriegergruppen in der Nähe, die nach dem Rechten sehen oder den Streit womöglich schlichten wollten, wurden ebenfalls hineingezogen. Die Schlägerei breitete sich schneller aus als ein Waldbrand. Silus wartete unterdessen nicht weit von Maglorix’ Zelt auf eine günstige Gelegenheit. Die beiden Leibwächter sahen sich nervös an, rührten sich aber nicht von der Stelle. Silus fluchte leise. Er konnte sie nicht beide aus dem Weg räumen, ohne Maglorix aufzuschrecken. Der verdammte Atius mit seiner unverbrüchlichen Treue. Gemeinsam hätten sie die Wachen überwältigen, unbemerkt das Zelt betreten, Maglorix töten und wieder verschwinden können, bevor die Schlägerei vorbei war. Er sah sich ratlos um, doch ein größeres Ablenkungsmanöver konnte er sich beim besten Willen nicht vorstellen.

Dann streckte Maglorix den Kopf aus dem Zelt. Silus sah den Mann lange an, dem er mehr Hass entgegenbrachte, als er zu empfinden jemals für möglich gehalten hätte, dann zog er sich tiefer in die Schatten zurück. Maglorix hatte Silus nicht bemerkt, auch die Schlägerei würdigte er kaum eines Blickes. »Sorgt da mal für Ordnung«, befahl er seinen Leibwächtern.

Diese waren selbst für Maeatae-Krieger wahre Riesen. Sie ergriffen ihre Speere, stürzten sich ins Getümmel und teilten mit dem stumpfen Ende ihrer Waffen nach allen Seiten kräftig aus, wenn jemand ihrem Wunsch nach Ruhe und Frieden nicht schnell genug nachkam. Die getroffenen Krieger gingen bewusstlos oder womöglich gar tot zu Boden, und langsam wurde die Ordnung wiederhergestellt.

Silus beobachtete Maglorix’ Zelt. Der Eingang war unbewacht. Er holte tief Luft, atmete langsam wieder aus und marschierte dann zielgerichtet darauf zu.

Bei jedem Schritt erwartete er, eine Hand auf seiner Schulter oder einen Speer in seinem Rücken zu spüren, doch er erreichte das Zelt unbehelligt. Sein Ablenkungsmanöver war ein voller Erfolg gewesen. Silus schlug den Zelteingang zurück und schlich sich hinein.

Ein kleines Holzfeuer spendete Licht, sein Rauch zog durch ein Loch in der Mitte des Zeltdaches ab. Schweißgeruch hing in der warmen Luft. Nachdem Maglorix seine Wachen weggeschickt hatte, war er wieder zu der soeben unterbrochenen Beschäftigung zurückgekehrt, die darin bestand, auf dem Bauch zu liegen und sich von zwei Sklavinnen – eine Kaledonierin und eine Romano-Britannierin, möglicherweise vom Stamm der Brigantes – massieren zu lassen. Silus bemerkte die Narben auf den Unterschenkeln: Sie stammten von den Flammen, denen er so knapp entkommen war.

Er zog das Messer. Sobald ihn die Sklavinnen erblickten, keuchten sie mit schreckgeweiteten Augen auf. Er richtete die Klinge auf sie und legte einen Finger auf die Lippen. Die Frauen waren so geistesgegenwärtig, keine Schreie auszustoßen. Silus machte zwei schnelle Schritte auf Maglorix zu und hielt die Messerspitze an seinen Hals.

Der Barbarenfürst erstarrte. Er wollte den Kopf drehen, doch Silus bohrte die Klinge noch tiefer in seine Haut.

»Kein Laut«, zischte Silus. »Ihr beiden, stellt euch irgendwohin, wo ich euch sehen kann, und verhaltet euch ruhig.«

Die beiden Frauen traten von Maglorix zurück und suchten nach etwas, um sich zu bedecken, doch Silus hatte nur Augen für den Stammesfürsten.

»Darf ich mich aufsetzen?«, fragte Maglorix. »So ist es zum Plaudern etwas unbequem.«

»Ich will nicht mit dir plaudern, du barbarischer Wilder. Ich will dich töten.«

»Ohne mir zu verraten, wer du bist und warum du das tun willst? Möchtest du dir diese Genugtuung tatsächlich versagen? Lass mich raten … du bist ein römischer Spion, obwohl dein Britannisch ziemlich gut ist.«

»Ja, du sollst erfahren, warum ich hier bin.«

»Um die Rebellion zu beenden? Die lässt sich nicht aufhalten. Wenn ich sterbe, werden sie sich einen neuen Anführer suchen.«

»Dem Aufstand einen Dämpfer zu verpassen ist eine nette Dreingabe. Doch mir geht es um Gerechtigkeit für meine Familie.«

Nun bewegte sich Maglorix doch. Das Messer bohrte sich in seine Haut und ein rotes Rinnsal quoll aus der Wunde, doch der Fürst drehte weiter den Kopf, bis er Silus in die Augen sehen konnte. Auf seinem Gesicht zeichnete sich weniger Überraschung als vielmehr Schicksalsergebenheit ab. Er wusste genau, dass jemand, dessen Frau und Tochter er getötet hatte, nicht mit sich handeln ließ. »Dann bring’s hinter dich.«

Silus klopfte das Herz bis zum Hals. Ihm stockte der Atem. Von diesem Augenblick hatte er geträumt, seit ihm in Eboracum die Gerechtigkeit versagt worden war. Er hatte vieles für diesen Moment auf sich genommen, und doch zögerte er. Was passierte danach? Gesetzt den unwahrscheinlichen Fall, dass er die Flucht überlebte – was war dann? Was würde von ihm übrig bleiben, wenn sein Hass verraucht war, wenn er seine Nemesis vernichtet und seinen Rachedurst gestillt hatte? Er fürchtete die Antwort auf diese Frage.

Aber was spielten sein Glück und sein Leben für eine Rolle? Viel wichtiger war, dass den Lemures von Velua und Sergia endlich Gerechtigkeit widerfuhr. Er holte tief Luft und verstärkte den Griff um das Messer.

Der Zelteingang wurde zurückgeschlagen und ein Leibwächter stürmte herein. Silus drehte sich zu ihm um. Der stämmige Krieger – es war Buan, der Leibwächter, den Silus am Anfang dieses unglückseligen Abenteuers in Begleitung von Maglorix und dessen Vater gesehen hatte – hielt Atius im Schwitzkasten.

»Mein Fürst, wir haben einen Spion dabei erwischt, wie er den römischen Offizier befreien wollte.«

Silus zögerte nur einen Herzschlag lang, doch es war ein Herzschlag zu viel. Maglorix warf sich zur Seite, packte Silus’ Handgelenk und drückte die Klinge von seinem Hals weg.

Silus war über ihm und deshalb im Vorteil. Er rollte sich auf Maglorix und legte sein volles Gewicht auf das nach unten gerichtete Messer. Maglorix biss die Zähne zusammen und spannte die Muskeln an, doch er konnte nicht verhindern, dass die Messerspitze – wie ein Stein, der einen Berg hinunterrollt und dabei immer schneller wird – seiner Brust näher und näher kam. Er riss die Augen auf und stieß einen verzweifelten Schrei aus.

Dann knallte das hintere Ende eines Speers gegen Silus’ Kopf und er fiel der Länge nach hin. Schwärze sickerte in sein Blickfeld, während helle Lichtpunkte vor seinen Augen tanzten. Er zog sich auf alle viere hoch. Irgendwie war es ihm gelungen, das Messer in der Hand zu behalten. Das Zelt drehte sich, als wäre es an einem Wagenrad befestigt. Als er sich mühsam wieder aufgerappelt hatte, erhielt er einen weiteren Stoß mit dem Ende des Speers, diesmal ins Zwerchfell. Er krümmte sich zusammen, übergab sich und versuchte dabei verzweifelt, das Messer nicht fallen zu lassen, doch der Speer ging auf seine Fingerknöchel nieder. Er öffnete die Hand und die Waffe fiel zu Boden.

Silus stand taumelnd da wie ein Faustkämpfer, der einen heftigen Schlag abbekommen hatte. Maglorix erschien vor ihm, und sie sahen sich einen Moment lang in die Augen, bevor ihm der Barbarenfürst einen kräftigen Kinnhaken verpasste. Silus brach zusammen und Maglorix prügelte rasend und brüllend vor Wut auf ihn ein, trat ihm so lange in die Rippen und Nieren, bis er erschöpft und Silus nur noch ein Häuflein weich geklopften Fleisches und geprellter Knochen war.

»Schafft sie beide weg«, hörte Silus Maglorix noch sagen, »und bewacht sie gut. Morgen werdet ihr alle sehen, welches Schicksal sie erwartet.«