»Das Blatt hat sich gewendet«, sagte Maglorix.
Silus blickte aus zuschwellenden Augen zu ihm auf. Er befand sich in Maglorix’ Zelt. Man hatte ihn und Atius an Händen und Füßen stramm mit Seilen gefesselt. Menenius war ebenfalls herbeigeschafft worden, und auch er war gefesselt, obwohl er nicht so aussah, als hätte er noch die Kraft zu Gegenwehr oder Flucht.
Die ersten Strahlen der Morgensonne fielen auf das Zelt aus Tierhaut. Endlich schien sich in diesem trostlosen Land etwas besseres Wetter anzukündigen. Silus warf Maglorix einen hasserfüllten Blick zu. »Wir sind noch am Leben? Wieso?«
»Silus, mein Volk wird schon bald zu einem glorreichen Feldzug aufbrechen. Wir werden uns an den Römern rächen. Für ihre Grausamkeit, die Plünderungen, dafür, dass sie unser Land besetzt und unser Getreide auf dem Feld verbrannt und unsere Stämme niedergemetzelt haben. In wenigen Tagen ist es so weit. Ruhm und Ehre warten auf uns.«
»Wir haben euch letztes Jahr den Arsch aufgerissen«, sagte Silus. »Warum sollte es diesmal anders sein?«
»Weil ihr Römer so berechenbar seid. Severus oder einer seiner Söhne wird auf meine Provokation antworten, indem er eine gewaltige Streitmacht nach Norden schickt. Meine Kundschafter werden sie mühelos verfolgen können – eine Armee von dieser Größe kann man nicht verstecken. In einer Woche wird sie tief in kaledonisches Gebiet vorgedrungen sein. Kleinere Kriegergruppen werden sie mit ständigen Plänkeleien auf Trab halten. Und wir werden an ihr vorbeiziehen. Während eure Legionen durch die Wildnis im Norden irren und nach dem Feind suchen, werden meine Männer nach Süden marschieren und alles auf ihrem Weg dem Erdboden gleichmachen – bis hinunter zum Palast des Kaisers in Eboracum.«
Silus’ Herz schlug schneller. Wenn Severus oder Caracalla mit den Legionen tief nach Kaledonien vorstieß, war Eboracum so gut wie schutzlos. Die dort stationierte Garnison konnte es zahlenmäßig nicht ansatzweise mit den Maeatae aufnehmen, die Maglorix um sich geschart hatte, von den Kaledoniern ganz zu schweigen. Ohne die Legionen waren sie nicht aufzuhalten. Sie würden ein Massaker anrichten.
»Was aber nicht erklärt, weshalb wir noch leben«, sagte Silus.
»Es wäre hochmütig von mir, ohne den Segen der Götter zu einem solchen Feldzug aufzubrechen. Und was gibt es Besseres, um ihre Gunst zu gewinnen, als ihnen das Blut und das Fleisch unserer Feinde darzubringen?«
Silus gefror das Blut in den Adern. Menschenopfer waren bei den Keltenstämmen zwar nicht üblich, kamen jedoch durchaus vor, insbesondere in Kriegszeiten. Bei diesen Opfern handelte es sich meistens um Verbrecher, Kranke oder Schwache. Und manchmal waren es auch Feinde oder Gefangene. Deshalb hatten sie Menenius nicht getötet, und deshalb hatten sie auch Silus und Atius verschont.
»Das hier ist Lon, der höchste Druide meines Stammes«, sagte Maglorix. »Er wird euch alles ganz genau erklären. Sonst könnt ihr euch ja nicht auf das Schicksal freuen, das euch erwartet.«
Zu Maglorix’ Rechten stand ein Mann mit der Haartracht eines Druiden. Er trug eine lange, scharlachrote Robe mit Goldstickereien, hatte einen goldenen Torques um den Hals und führte einen Holzstab mit sich, an dessen Ende eine Glocke befestigt war. Lon blickte mit feierlichem Ernst auf die drei Gefangenen herab.
»Heute Nacht wird der Mond zu seiner vollen Größe angewachsen sein. Wir hatten die Absicht, diesen Mann« – er deutete auf Menenius – »Teutates zu opfern, dem Gott unseres Stammes. Doch die Aos-sídhe haben uns in ihrer Güte ein weitaus angemesseneres und lohnenderes Opfer für die Kriegsgötter geschickt. Um Mitternacht werdet ihr den dreifachen Tod sterben – für Teutates, den Vater des Stammes, Esus, den Herrn, und Taranis, den Gott des Krieges.«
»Ist dir der dreifache Tod bekannt, Römer?«, fragte Maglorix. »Es ist ein sehr mächtiger Zauber. Drei Männer – Verbrecher, Gefangene, Feinde – werden geopfert. Einer für jeden der hohen Kriegsgötter und jeder auf andere Weise. Den Festungshäuptling hier werden wir Teutates zu Ehren ersäufen, dein merkwürdig aussehender Freund wird als Opfer für Esus lebendig verbrannt, und dich, Römer, Mörder meines Vaters und Verräter an den rechtmäßigen Besitzern dieses Landes, werden wir in Taranis’ Namen an einen Baum hängen, um dir die Haut ganz langsam vom Leib zu schälen.«
Silus verlor die Gewalt über Blase und Darm, doch er hatte zu viel Angst vor dieser grässlichen Hinrichtungsart, um sich dafür zu schämen. Bei lebendigem Leib gehäutet zu werden war ohne Zweifel eine der schlimmsten Todesarten, die man sich vorstellen konnte.
»Tötet uns einfach«, sagte Silus. »Bitte.« Dann holte ihn die Scham ein. Was hätten Velua und Sergia gesagt, hätten sie ihn so sehen können, gefesselt, besudelt und um ein gnädiges Ende bettelnd? Doch er konnte nichts dagegen tun. Sein Mut hatte ihn vollständig verlassen.
Maglorix lachte. »Heute Nacht, wenn Lon seine Rituale vollzieht, wird er seine Seher anweisen, euch als Opfer darzubringen. Dann werden meine Männer mit eigenen Augen sehen, dass die hochmütigen, unbesiegbaren Römer in Wahrheit nur Schwächlinge sind, und die Barden werden im ganzen Land davon singen, dass das Ende der römischen Herrschaft nicht mehr fern ist. Am liebsten würde ich schon morgen in die Schlacht ziehen, aber wir müssen auf die Kaledonier warten. Eine Woche noch, dann marschieren wir los!« Er drehte sich um und verließ das Zelt. Lon folgte ihm auf dem Fuße.
»Was hat er gesagt?«, fragte Atius mit vor Verzweiflung hoher Stimme.
Sie wurden lediglich von einem einzigen Krieger bewacht, einem jungen Mann mit ernster Miene, der sichtlich stolz darauf war, für so eine wichtige Aufgabe auserwählt worden zu sein. Zwei weitere Krieger standen vor dem Zelt. Sonst war niemand zu sehen, doch das reichte ja auch, um diese drei erbärmlichen Gefangenen zu bewachen.
Silus zerrte an seinen Fesseln. Die drei Männer waren an fest in den Erdboden gerammte Pflöcke gebunden, die weit genug auseinanderstanden, damit sie sich nicht gegenseitig befreien konnten. Sie waren mitten im Lager des Feindes und sie waren allein, ohne Verbündete. Auf Rettung konnten sie nicht hoffen. Im Umkreis von vielen Meilen gab es niemanden, der auf der Seite der drei hilflosen und gefesselten Gefangenen in diesem Zelt gewesen wäre.
»Nun sag schon«, drängte Atius. Sollte Silus seinen Freund mit dem Wissen um ihr weiteres Schicksal belasten? Immerhin stand ihnen noch ein ganzer Tag bevor, um darüber nachzugrübeln. Dass er sterben würde, hatte sich Atius mittlerweile wohl zusammengereimt. Was hatte er davon, wenn er den Zeitpunkt und die genauen Umstände erfuhr?
Silus berichtete ihm, dass Maglorix Eboracum angreifen wollte.
Atius nahm dies mit ernster Miene zur Kenntnis, war aber noch nicht zufrieden. »Was noch?«
»Sonst nur Hohn und Spott«, sagte Silus. »Nicht so wichtig.«
»Ruhe!«, befahl der Wachposten auf Keltisch. Offenbar war er des Lateinischen nicht mächtig und es missfiel ihm, dass er die Gefangenen nicht verstehen konnte.
Atius beachtete ihn nicht. »Lüg mich nicht an, Silus. Ich habe noch nie eine solche Furcht in deinen Augen gesehen.«
Silus konnte dem anklagenden Blick seines Freundes nicht standhalten und wandte sich ab.
»Silus? Bist du das?«
Silus sah sich überrascht um. Menenius hatte die Augen einen Spalt weit geöffnet und sah in seine Richtung.
»Präfekt?«
Menenius blinzelte, dann erkannte er auch Atius. »Meine Tochter, Atius«, seine Stimme brach. Er bewegte lautlos die Lippen und musste zweimal schlucken, bevor er weitersprechen konnte. »Ist Menenia in Sicherheit?«
Atius nickte. »Sie ist in Eboracum und hat nichts zu befürchten, Herr.«
Menenius stieß einen tiefen Seufzer der Erleichterung aus. »Ich hätte mir nicht träumen lassen … noch eine so gute Nachricht zu erhalten. Ich bin dir zu ewiger Dankbarkeit verpflichtet.« Er zog schwach an seinen Fesseln, die keinen Fingerbreit nachgaben. »Dann erwartet uns also …« – er holte tief Luft – »dann erwartet uns also der dreifache Tod.«
»Woher wollt Ihr das wissen?«, gab Silus schnell zurück.
»Wer dreißig Jahre lang an der Nordgrenze Britanniens stationiert war, bekommt gezwungenermaßen einen kleinen Einblick in die Bräuche der Einheimischen.«
»Was ist der dreifache Tod?«, wollte Atius wissen.
Silus sah Menenius hilflos an.
»Er hat das Recht zu erfahren, was ihn erwartet«, sagte der Präfekt.
Da war sich Silus nicht so sicher, aber da Menenius den Sack nun einmal geöffnet hatte, konnte er die Katze auch herauslassen. »Ein Ritual. Jeden von uns erwartet ein anderer Tod. Menenius wird ertränkt und du wirst verbrannt.«
Atius erbleichte. »Und du?«, fragte er nach einer Weile.
»Ist doch egal. Es lässt sich nicht ändern.«
»Ich werde dafür beten …«
»Verschone mich«, blaffte Silus ihn an. »Eine wundersame Rettung wird es nicht geben.«
»Ich werde dafür beten, dass uns im Angesicht des Todes der Mut nicht verlässt, wollte ich sagen.«
Silus funkelte ihn böse an, dann ließ er den Kopf hängen und starrte auf den Erdboden.
Er hatte versagt. Ihn erwarteten Folter und Tod. Seine Familie war nicht mehr am Leben. Seine Kameraden, ja sogar sein Kaiser schwebten in großer Gefahr. Was hatte er in seinem Leben schon Gutes bewirkt? Er dachte an die vergewaltigte Frau, deren Peiniger er vor wenigen Stunden getötet hatte. Dass er sie gerettet hatte, musste die Waagschale doch zu seinen Gunsten verändern. Zumindest ein bisschen.
Der Zelteingang öffnete sich, der Wachposten trat zurück und stand mit kerzengerade aufgerichtetem Speer stramm. Lon trat ein. »Ihr werdet zu essen und zu trinken bekommen«, verkündete er. »Ein würdiges Opfer muss bei guter Gesundheit zu den Göttern gehen. Enid!« Er hielt den Eingang für eine Frau auf, die ein Tablett mit Brot und Wasser vor sich hertrug.
Silus hatte den Blick noch auf den Boden gerichtet und ihm fiel auf, dass sie leicht humpelte. Er hob den Kopf und verzagte vollends. Es war die Frau, deren Vergewaltiger er getötet hatte. Die Frau, die er gerettet zu haben glaubte. Das vermeintlich einzig Gute, das dieses Abenteuer mit sich gebracht hatte.
Sie war noch immer eine Sklavin der Barbaren.
Lon und der junge Krieger beobachteten wachsam, wie die Frau vor Menenius auf die Knie ging und ihm Wasser aus einem irdenen Becher reichte. Enid war schlank, hatte rotes Haar und denselben leeren Ausdruck im sommersprossigen Gesicht, den Silus noch vom Vortag kannte. Menenius trank etwas Wasser, schluckte, hustete und trank weiter. Als er den Becher mit tiefen Zügen geleert hatte, fütterte sie ihn mit Brot und Nüssen, wobei sie darauf achtete, dass er genug Zeit zum Kauen und Schlucken hatte. Anschließend füllte sie den Becher wieder und wiederholte das Ganze bei Atius. Er trank das Wasser, lehnte das Essen jedoch ab, da ihm vor Angst übel war und er sowieso keinen Bissen heruntergebracht hätte.
Schließlich ging sie vor Silus in die Knie. Sie hielt ihm den Becher hin, doch er trank nicht, sondern blickte nur suchend in ihre grünen Augen. Er konnte nichts sagen, da Lon sie beobachtete. Wenn der Druide mitbekam, dass sie – willentlich oder nicht – etwas mit dem Tod eines Kriegers zu tun hatte, erwartete sie ein mindestens so grausames Schicksal wie ihn.
Auch sie sagte kein Wort, doch etwas lag in ihrem Blick, das er nicht zu deuten vermochte. Mitleid? Bedauern? Etwas anderes? Silus trank aus dem dargebotenen Becher. Er hatte so wenig Appetit wie Atius und wandte sich ab, als sie ihm das Essen hinhielt, nur um ihr gleich darauf wieder in die Augen zu sehen. Sie erwiderte seinen Blick mit unergründlicher Miene. Dann stand sie auf. Lon scheuchte sie aus dem Zelt und folgte ihr, ohne sich noch einmal umzudrehen. Der Wachposten bezog wieder in der Nähe des Zelteingangs Stellung.
Die drei zum Tode Verurteilten saßen schweigend da. Jeder war mit seinen Ängsten allein. Silus versuchte, an Sergia und Velua zu denken, doch es wollte ihm nicht gelingen. Stattdessen sah er sich ständig selbst vor seinem geistigen Auge, wie er mit einer Schlinge um den Hals an einem Baum hing und um Atem für den nächsten Schrei rang, während man ihm die Haut aufschlitzte und abzog und das rohe Fleisch in der kühlen Luft dampfte. Die Panik drohte ihn zu übermannen, und um nicht wie ein Wahnsinniger zu schreien und vergebens an seinen Fesseln zu zerren, wandte er sich Menenius zu. »Präfekt« – er bemühte sich um einen ruhigen Tonfall – »wie seid Ihr hierhergeraten?«
Menenius starrte weiter mit leerem Blick vor sich hin und antwortete nicht.
»Atius, du hast mit eigenen Augen gesehen, wie hoffnungslos unsere Lage war«, sagte der Präfekt schließlich, als Silus schon aufgeben und wieder mit seinem eigenen Schicksal hadern wollte. »Es gab nichts, was wir noch hätten tun können, habe ich recht?«
Atius nickte. »Herr, Ihr habt alles in Eurer Macht Stehende versucht, um das Kastell zu halten. Ich fühle mich immer noch schuldig, weil Ihr mich weggeschickt habt.«
»Du hast meine Tochter gerettet, Atius. Dir ist es zu verdanken, dass etwas Wertvolles der Zerstörung entgangen ist.«
Atius ließ den Kopf hängen. Silus sah etwas in seinem Augenwinkel glänzen.
»Unser Weg nach Norden hat uns an Voltania vorbeigeführt«, sagte Silus. »Wir haben den Ort Eures letzten Gefechts gesehen. Ein paar Leichen waren an die Bäume im nahe gelegenen Wald genagelt. Wir wähnten Euch und Damanais auch darunter. Die Krähen hatten … es ließ sich nicht mit Sicherheit sagen.«
»Ich habe mitangesehen, wie sie Damanais an den Baum genagelt haben, und seine Flüche gehört, als sie mit mir davongeritten sind. Maglorix sagte, dass er mich für einen nutzbringenderen Tod vorgesehen hätte.«
»Als Opfer für die Götter«, sagte Atius niedergeschlagen.
»Das hat er mir nicht verraten. In den letzten Wochen hat er mir unzählige Male mit dem Tod gedroht. Er hat mich mit einer Henkersschlinge um den Hals unter einem Baum auf ein Pferd gesetzt. Er hat mich ins Wasser tauchen lassen, bis ich mir gewiss war zu ertrinken. Einmal hat er mich an einen dicken Baumstamm binden und seine Krieger darum wetteifern lassen, wie nahe sie an mir vorbeizielen konnten, ohne mich zu treffen. Das ist nicht allen gelungen. Dann hat er mich freigelassen und seinen Gefolgsleuten befohlen, mich zu jagen. Da war ich schon so schwach, dass es keine Stunde dauerte, bis ihre Hunde mich aufgestöbert hatten. Ich war ihnen ausgeliefert, bis die Krieger hinzukamen, um mich zu … ›retten‹.« Er lachte freudlos. Dann fiel ihm plötzlich etwas ein. »Was macht ihr überhaupt hier? Ihr habt mich für tot gehalten, also seid ihr nicht gekommen, um mich zu befreien.«
Silus sah zum Zelteingang hinüber. »Caracalla persönlich hat uns damit beauftragt, Maglorix zu töten.«
»Ach. Und was ist schiefgelaufen?«
Silus wollte seinen Freund nicht direkt für ihre missliche Lage verantwortlich machen, doch er blickte in seine Richtung.
»Es war meine Schuld«, gestand Atius. »Ich … ich habe mich von unserem Auftrag ablenken lassen.«
»Ich war … Ich war nicht ganz bei mir«, sagte Menenius wie zu sich selbst. »Sie haben mir so zugesetzt, dass ich nicht mehr Herr meiner Sinne war … aber ich erinnere mich daran, dass du … du hast meinen Bewacher getötet, Atius. Du hast mich von meinen Fesseln befreit. Du hast mich zur Flucht gedrängt.«
Atius blickte unglücklich drein, sagte aber nichts.
»Und ich habe mich nicht von der Stelle gerührt, richtig? Ich saß da wie ein mit einem Hammer betäubter Opferstier.«
»Ich habe es versucht«, sagte Atius. »Aber ich konnte Euch nicht zur Flucht bewegen. Selbst als ich Euch sagte, dass Menenia auf Euch wartet.«
»Ich sehe es jetzt wie durch einen Nebel. Du hast an mir gezerrt, du hast mir gut zugeredet, du hast geflucht. Und dann … ihr Götter, dann habe ich um Hilfe gerufen, nicht wahr?«
Atius ließ den Kopf hängen. Seine Tränen fielen auf den Boden.
»Vergib mir«, sagte Menenius. Seine Stimme war nur noch ein heiseres Flüstern. »Ich habe dir die Krieger auf den Hals gehetzt, Atius. Sie haben dich sofort zu Maglorix gebracht, und dann haben sie dich auch noch erwischt, Silus. Habe ich recht?«
Silus nickte nur. Es war besser, wenn er jetzt nichts sagte.
»O Fortuna, was habe ich getan?«
Sie verbrachten den Tag erfüllt von einer merkwürdigen Mischung aus Langeweile und Todesangst. Es waren Silus’ letzte Stunden auf Erden. Hätten sie da nicht tiefsinnige Gespräche darüber führen sollen, was ein gutes Leben ausmachte und was sie im Jenseits erwartete? Aber ihm war nicht der Sinn nach einer Unterhaltung, und den anderen ging es offenbar ähnlich. Jeder zog sich in sein Innenleben zurück, um sich dem, was sie an diesem Abend erwartete, zu stellen – oder es so gut es ging zu verdrängen.
Sie bekamen noch zweimal Essen und Wasser. Keiner brachte einen Bissen herunter, doch sie tranken gierig, da sich das Zelt in der Spätfrühlingssonne immer weiter aufwärmte. Es war jedes Mal eine andere Sklavin, die ihnen das Wasser brachte, unbeaufsichtigt bis auf den gelangweilten Wachposten am Zelteingang. Silus war erleichtert, dass Enid nicht mehr dabei war; er wollte nicht noch einmal in solcher Deutlichkeit an sein Versagen erinnert werden. Der Wachposten sagte den ganzen Tag über kein Wort. Silus hatte mit Spott und Demütigungen gerechnet, doch der junge Krieger schien beinahe Ehrfurcht vor den zu Gottesopfern Auserwählten zu haben.
Die Sonne schien immer heller durch die lichtdurchlässige Tierhaut. Dann erreichte sie ihren Zenit und wanderte wieder dem Horizont entgegen, bis es schließlich dämmerte.
»Zu dieser Jahreszeit sind es drei Stunden von Sonnenuntergang bis Mitternacht«, sagte Menenius.
»Wann sie uns wohl holen kommen?«, fragte Atius.
Silus sagte nichts. Er konnte über Menenius’ rasselnden Atem hinweg Schlachtgesänge und Loblieder auf die Götter, Gelächter und Wutschreie vernehmen. Der zu erwartende Lärm einer großen Barbarenhorde, die die Zeit totschlagen musste, bis es ans richtige Totschlagen ging.
Dann öffnete sich der Zelteingang wieder und eine Sklavin brachte ein Tablett mit Bechern. Es war Enid. Silus seufzte. Er wollte sie nicht sehen. Der Wachposten warf ihr einen gelangweilten Blick zu, dann wandte er sich wieder ab. Wahrscheinlich war er in Gedanken bei den bevorstehenden Schlachten. Enid kniete sich vor Silus hin und holte einen in ihrer Tunika verborgenen Metallgegenstand hervor. Silus sah voller Überraschung erst das Messer und dann die Sklavin an. Enid richtete sich in einer fließenden Bewegung auf, drehte sich um und rammte dem Wachposten das Messer in die Kehle. Dabei legte sie eine Hand auf seinen Mund, um den gurgelnden Schrei zu ersticken. Die Barbaren vor dem Zelt machten zwar genug Lärm, Silus täuschte dennoch sicherheitshalber einen lauten Hustenanfall vor. Der Wachposten sank auf den Boden, auf dem sich eine Blutlache ausbreitete.
Enid lief zu Silus und verschwand hinter ihm. Er spürte eine sägende Bewegung zwischen den Handgelenken, dann lösten sich die Fesseln. Es schmerzte wie Nadelstiche, als das Blut in seine Hände zurückfloss. Während er vorsichtig die Finger bewegte, befreite sie ihn von den Seilen um seine Knöchel.
Quälender Schmerz schoss in seine Füße. Enid ging erneut vor ihm in die Knie und hielt ihm das Messer hin.
»Das ist zu gefährlich, Enid«, keuchte er. Sie legte einen Finger auf die Lippen, dann bot sie ihm das Messer noch einmal an. Er rieb sich die Hände und deutete auf Atius und Menenius. Sie kroch zu ihnen hinüber und befreite sie ebenfalls. Als sie zu Silus zurückkehrte, hatte sich dieser bereits aufgerichtet und stand auf wackligen, steifen Beinen da. Sie reichte ihm die Hand, um ihn zu stützen.
»Seit mich die Barbaren gefangen genommen haben«, flüsterte sie, »haben sie mich schlechter als ein Tier behandelt. Du warst der Einzige, der Mitleid mit mir hatte.«
»Wir sind dir sehr dankbar, Enid«, sagte Silus. »Aber du hättest fliehen sollen, als du die Gelegenheit dazu hattest.«
»Und wohin, als einsame Frau, ohne Begleitung? Ich würde meine Heimat niemals erreichen. Aber mit euch …«
Nun begriff Silus. Sie befreite sie nicht nur aus – zweifellos aufrichtiger – Dankbarkeit, sondern auch um ihrer eigenen Freiheit willen.
»Es ist eine gefährliche Reise«, sagte Silus. »Aber solange du uns nicht aufhältst, kannst du mit uns nach Süden kommen. Wir müssen den Kaiser warnen, damit er dieser Gefahr rechtzeitig begegnen kann. Wenn wir versagen, ist die Provinz den Barbaren ausgeliefert.«
»Ich werde euch nicht aufhalten«, beteuerte Enid. Atius und Menenius richteten sich ebenfalls langsam auf. Silus blickte in die grimmigen Gesichter seiner Kameraden, worauf diese in stummer Einvernehmlichkeit nickten.
»Na schön.«
»Wir müssen uns beeilen«, sagte Enid. »Sie wollen euch eine Stunde vor Mitternacht holen, um euch für das Ritual vorzubereiten.«
»Dann haben wir etwa zwei Stunden Vorsprung«, sagte Silus. »Aber sie haben Pferde und Hunde.«
»Und wir sind nicht in bester Verfassung«, sagte Atius und bemühte sich, Menenius dabei nicht anzusehen.
»Wir müssen es versuchen«, sagte Silus. »Über eines sind wir uns doch einig: Sie werden uns nicht lebend bekommen.«
Er sah die anderen der Reihe nach an. Sie erwiderten seinen Blick mit einem entschlossenen Nicken.
»Dann los«, sagte Enid. »Macht ein Loch in die Rückwand. Dort sind keine Wachen.«
Silus schnitt die Tierhaut mit dem Messer auf. Enid schlüpfte durch den Schlitz in die Nacht hinaus. Die drei Römer folgten ihr.
Es war leichter, das Lager zu verlassen als zu betreten, da sich Enid gut darin auskannte und sie auf einen weiteren Versuch verzichteten, Maglorix zu suchen oder zu ermorden. Die wenigen patrouillierenden Krieger hielten nur Ausschau nach Eindringlingen und achteten nicht darauf, ob jemand aus dem Lager hinausging. Bei den vielen großen Lücken in der Festungsmauer war ein unbewachtes Schlupfloch schnell gefunden.
Silus überlegte kurz, ob er nicht kehrtmachen sollte, um seinen Auftrag doch noch auszuführen und Maglorix zu beseitigen, kam jedoch schnell zu dem Schluss, dass es ungleich wichtiger war, nach Eboracum zurückzukehren und den Kaiser zu warnen. Insgeheim wusste er selbstverständlich, dass Atius diese Aufgabe ebenso gut erledigen konnte. Silus hätte also bleiben können, um Maglorix zu meucheln, doch die Vorstellung, doch noch gefangen genommen, aufgehängt und gehäutet zu werden, hielt ihn davon ab. Und so verließ er die Ruine der großen Römerfestung mit brennender Scham im Herzen, aber auch mit einer Erleichterung, die ihm die Knie weich werden ließ.
Als sie sich ein gutes Stück von Inchtuthil entfernt hatten, übernahm Silus die Führung. Enid hatte sich gut im Lager ausgekannt, doch die Wildnis darum herum war ihr ebenso fremd wie den anderen, weshalb es Silus oblag, den richtigen Weg zu finden. Zuerst suchten sie die Stelle auf, an der sie ihre Habseligkeiten vergraben hatten, zogen sich hastig an und nahmen ihre Messer und den Proviant an sich. Silus verteilte etwas Zwieback, den sie allerdings im Gehen essen mussten.
Der klare Himmel erleichterte das Fortkommen ungemein, auch wenn es Silus jedes Mal kalt den Rücken hinunterlief, wenn er zum unheilvoll auf sie herabblickenden Vollmond hinaufsah, um sich zu orientieren. Noch gereichte das Licht zu ihrem Vorteil, doch das würde sich schnell ändern, sobald ihnen die Barbaren dichter auf den Fersen waren.
Silus führte sie zum nächsten Fluss und ließ sie darin stromabwärts marschieren. Das eisige Wasser betäubte ihre Füße. Sie stolperten über das unebene, felsige Flussbett, stießen sich die Zehen an und schnitten sich die Sohlen an scharfen Kanten auf. Enid klagte zwar fortlaufend darüber, doch Silus machte sich in erster Linie um Menenius Sorgen. Der watete schweigend, mit starrer Miene und zusammengebissenen Zähnen durch das Wasser, musste sich jedoch viel zu oft auf den Arm des neben ihm gehenden Silus stützen. Trotz dieser Hilfestellung stolperte der Präfekt über eine Wurzel im Wasser und fiel der Länge nach in den Fluss. Silus und Atius zogen ihn sofort wieder heraus, aber er war völlig durchnässt. Schon bald zitterte er am ganzen Körper.
Schließlich mussten ihn Silus und Atius links und rechts mit den Händen an den Ellenbogen fassen und wie einen Blinden führen. Atius warf Silus einen Blick zu. Silus verzog das Gesicht und schüttelte beinahe unmerklich den Kopf.
»Wie lange müssen wir denn noch in diesem eiskalten Wasser bleiben?«, fragte Enid. »Ich kann meine Füße nicht mehr spüren.«
Silus überlegte. Sie hatten ungefähr eine Viertelmeile zurückgelegt und befanden sich nun in einem dichten Wald. Der Fluss würde dafür sorgen, dass die Hunde ihre Fährte und die Verfolger ihre Spur nicht so leicht wiederfanden, doch dafür kamen sie nur langsam voran und wussten nicht, wie viel Zeit ihnen blieb, bis man ihre Flucht bemerkte und sich auf die Jagd nach ihnen machte.
»Das reicht«, sagte er. »Nun müssen wir versuchen, uns so weit wie möglich von den Barbaren zu entfernen.«
Enid stieg am südöstlichen Ufer aus dem Fluss und zog die Schuhe aus, rieb sich kräftig die Füße und wimmerte vor Schmerz, als die Taubheit nachließ. Atius kletterte als Nächster heraus und nahm Menenius’ Hand. Er zog, Silus schob und sie zerrten den Präfekten mit wenig Feingefühl aus dem Wasser. Sobald er das Ufer erreicht hatte, fiel er auf die Knie, legte sich dann auf den Rücken und schnappte nach Luft.
»Wir müssen weiter«, sagte Silus. »Atius, du führst die beiden eine Meile nach Osten und dann immer weiter nach Süden. Ich werde eure Spuren eine Weile verwischen, umkehren und eine falsche Fährte am Flussufer entlang nach Südwesten legen. Danach schließe ich zu euch auf. Zumindest werde ich es versuchen – sollte mir das aus irgendeinem Grund nicht gelingen, musst du unbedingt Segedunum erreichen und von dort aus einen Boten losschicken, um den Kaiser von den Plänen der Maeatae zu unterrichten. Das hat Vorrang vor allem anderen.« Dabei sah er unverhohlen Enid und Menenius an. »Ohne Ausnahme. Hast du mich verstanden?«
Atius zögerte, dann nickte er schweren Herzens. Wenn Menenius Silus gehört hatte, ließ er sich nichts anmerken. Enid, die nichts verstanden hatte, da Silus Lateinisch gesprochen hatte, sah die beiden argwöhnisch an.
Atius und Silus halfen Menenius auf. Silus brach einen Ast mit vielen Zweigen von einem Baum und verwischte dort, wo sie aus dem Fluss gestiegen waren und wo Menenius gelegen hatte, die Spuren im Schlamm.
»Ich hasse sie auch«, sagte Enid plötzlich.
Atius wartete darauf, dass Silus ihm übersetzte, doch der schwieg und wartete angespannt darauf, was sie als Nächstes sagte.
»Sie haben meine Familie getötet. Mich aus meiner Heimat entführt und zur Sklavin und Hure gemacht. Sie haben mich schlechter behandelt als ihre Hunde. Ich will zurück nach Hause, aber vorher werde ich euch helfen, wenn ich ihnen dadurch schaden kann.«
»Ich danke dir«, sagte Silus. »Für alles, was du für uns getan hast. Wenn du den Barbaren Schaden zufügen willst, dann hilf Atius und Menenius dabei, römisches Gebiet zu erreichen. Dann kannst du mit der Gewissheit, den Maeatae einen vernichtenden Schlag zugefügt zu haben, zu deinem Volk zurückkehren.«
Enid nickte und wandte sich zu Atius um. »Na los«, sagte sie und bedeutete ihm, einen Arm unter Menenius’ Schulter zu schieben. Gemeinsam führten sie ihn ins Unterholz. Silus ging ihnen ein paar Hundert Schritt lang hinterher und verwischte dabei gründlich ihre Spuren. Als er weit genug gekommen war, klopfte er Atius auf die Schulter, drehte sich wortlos um und lief den soeben zurückgelegten Weg wieder zurück.
Er bewegte sich schnell fort, achtete dabei aber sorgfältig darauf, selbst so wenig Spuren wie möglich zu hinterlassen. Seinem Zeitgefühl und dem Stand des Mondes nach zu urteilen waren sie seit etwa einer Stunde unterwegs. Wenn sie Glück hatten, würde man ihre Abwesenheit erst in ungefähr einer weiteren Stunde bemerken. Alles andere lag in Fortunas Händen. Wenn die Verfolger den Fluss erreichten, konnten sie nur raten, welche Richtung die Flüchtenden eingeschlagen hatten. Da nicht nur seine Ehre, sondern auch das Gelingen seines Überraschungsangriffes auf dem Spiel stand, würde Maglorix jedoch zweifellos genug Männer losschicken, sodass sie sich aufteilen und dem Fluss in beiden Richtungen folgen konnten. Silus hoffte, dass sie seiner falschen Fährte nachgingen, bis diese zu Ende war. Dann würde ihnen nichts anderes übrig bleiben, als zum Fluss zurückzukehren. Entweder entdeckten sie dort die Spuren, die Silus trotz aller Bemühungen unweigerlich hinterlassen hatte, und nahmen die Verfolgung wieder auf, oder sie durchkämmten großflächig das Gebiet, bis sie irgendwann wieder auf die Geflohenen stießen.
Sobald sie Silus’ Täuschung durchschaut hatten, spielte Schnelligkeit die alles entscheidende Rolle. Ohne Pferde aber waren sie hoffnungslos im Hintertreffen. Silus kehrte zum Fluss zurück und legte eine kaum zu übersehende Fährte, wobei er es aussehen ließ, als stammte sie von vier Personen. Dabei überlegte er fieberhaft, wie sie an Reittiere gelangen konnten.
Seit dem letzten Einfall der Maeatae konnte er sich nicht darauf verlassen, dass die Kastelle entlang des Antoninuswalls überhaupt noch von römischen Einheiten besetzt waren. Sie würden wohl oder übel den weiten Weg zum Hadrianswall auf sich nehmen müssen – eine Reise von vielen Tagen, selbst wenn es ihnen gelang, in dem dünn besiedelten Barbarenland Pferde aufzutreiben. Er stellte sich das Gebiet vor seinem geistigen Auge vor – so, als würde er die wichtigsten Wegmarken auf einem Tuch aufmalen und durch Linien verbinden, deren Länge der tatsächlich zurückzulegenden Entfernung entsprach. Der Hadrianswall und die Provinz Britannia waren schier unendlich weit entfernt. Er vervollständigte die geistige Landkarte mit den Dörfern und Weilern, die ihm von seinen Erkundungsstreifzügen bekannt waren. Mehrere davon befanden sich auf ihrem Weg, womöglich konnten sie dort Pferde stehlen. Dann folgte er im Geiste dem Antoninuswall, an dessen Verlauf bereits eine unbekannte Zahl von Befestigungen geplündert und zerstört worden waren, immer weiter bis zur Küste, als ihm plötzlich Horrea Classis einfiel.
Silus war nicht bei der Marine und deshalb noch nie selbst in Horrea Classis gewesen, doch er wusste, dass die Hafenstadt seit Beginn der Invasion Kaledoniens durch Severus Hauptquartier der Classis Britannica war – jenes Teils der römischen Flotte, der in den britannischen Gewässern operierte. Horrea Classis war mit seinen vielen Getreidespeichern von zentraler Bedeutung für die Versorgung der britannischen Legionen und dementsprechend stark befestigt. Außerdem konnte die Stadt einer Belagerung auf unbestimmte Zeit standhalten, da der Nachschub über den Seeweg erfolgte. Trotzdem war nicht auszuschließen, dass Maglorix Horrea Classis bereits durch einen Überraschungsangriff eingenommen hatte. Die Hafenstadt lag tief im Land der Venicones und war diesen daher ein steter Dorn im Auge. Ihre Eroberung wäre nicht nur für die Maeatae, sondern auch für Maglorix ein großer Sieg. Andererseits setzte dies eine mühevolle und zeitaufwendige Belagerung voraus, was nicht zu Maglorix’ Plan passte, mit der vollen Stärke seiner Armee so schnell wie möglich nach Süden vorzustoßen und einen Vernichtungsfeldzug durch Britannia zu führen.
Je länger er darüber nachdachte, desto überzeugter war er davon, dass es am vernünftigsten war, wenn sie ihr Glück mit Horrea Classis versuchten. Sicher, die Stadt lag mitten in Maglorix’ Heimatland und es bestand die Möglichkeit, dass sie bereits gefallen war – doch sie war auch nur zwei Tagesritte von Inchtuthil entfernt, und ein Bote aus Horrea Classis konnte Eboracum in kürzester Zeit über den Seeweg erreichen. Sie mussten es versuchen.
Als er glaubte, weit genug gegangen zu sein, kehrte er um und lief eine halbe Meile zurück, bevor er sich nach Osten wandte und einmal mehr sorgfältig darauf achtete, seine Spuren zu verwischen. Hoffentlich holte er die anderen bald ein. Da er bereits eine Entscheidung getroffen hatte und ihm der Marsch durch den Wald keine große geistige Leistung abforderte, ließ er die Gedanken schweifen. Unweigerlich kamen ihm Sergia und Velua in den Sinn. Selbst jetzt noch musste er schwer durchatmen und hatte das Gefühl, keine Luft mehr zu bekommen, wenn sie so plötzlich vor seinem geistigen Auge auftauchten. Er lenkte sich davon ab, indem er sich Kindheitserinnerungen ins Gedächtnis rief: seine frühe Jugend bei den Maeatae, die Spiele, die er mit seinen Barbarenfreunden im Sumpf, in den Wäldern und am Flussufer gespielt hatte. Sie waren auf Bäume geklettert, hatten Fangen gespielt, sich Speere geschnitzt oder im Schlamm miteinander gerungen und waren schließlich zu ihren schimpfenden Müttern nach Hause gelaufen. Dann dachte er an seinen Vater und die strenge Erziehung, die dieser ihm auf Wanderungen und Jagdausflügen durch die Wildnis hatte angedeihen lassen. Doch seine Frau und seine Tochter drängten sich stets in den Vordergrund. Irgendwann wusste er sich nicht anders zu helfen, als sich von seinen Seelenqualen und den körperlichen Strapazen dadurch abzulenken, dass er an Maglorix dachte und daran, was er mit diesem Hurensohn anstellen würde, sobald er ihn in die Finger bekam.
Als er auf die Spuren der anderen stieß, war es seiner Schätzung nach ungefähr Mitternacht. Kurz darauf hatte er sie eingeholt. Sie hatten den Wald hinter sich gelassen und befanden sich nun in offenem, sumpfigem Gelände, und obgleich die Jagd nach ihnen inzwischen in vollem Gange sein musste, waren sie nur entmutigend langsam vorangekommen. Menenius wankte dahin wie ein lebender Toter. Er stützte sich schwer auf Atius, dem die Anstrengung, den Präfekten mit sich zu schleppen, deutlich anzusehen war. Enid wirkte ungeduldig und wäre gern schneller gegangen, wollte sich aber auch nicht von den anderen trennen.
Silus klopfte Atius auf die Schulter und nahm ihm Menenius ab. »Wir brauchen Pferde«, teilte er Enid mit. »Wenn mich meine Erinnerung nicht trügt, ist hier in der Nähe ein Dorf. Kennst du es zufällig?«
Enid dachte einen Augenblick lang nach. »Meine Heimat ist weit, und ich bin mit dieser Gegend nicht besonders gut vertraut. Aber ich erinnere mich daran, dass die Horde hier durchgezogen ist.« Sie sah sich um, suchte im Mondlicht nach etwas, das ihr bekannt vorkam. »Ja, ich glaube, du hast recht. Hinter den Hügeln da vorne. Mehrere Rundhäuser, ein paar Schafe und Rinder.«
Silus übersetzte für Atius.
»Wenn die Barbarenarmee hier durchgekommen ist«, sagte Atius, »hat sie alle verfügbaren Pferde dann nicht schon längst mitgenommen?«
»Möglich«, sagte Silus. »Aber du weißt so gut wie ich, wie einfallsreich die Leute sind, wenn es darum geht, ihr Hab und Gut vor einer durchziehenden Armee zu schützen. Außerdem werden sie alle jungen Männer zum Kampf eingezogen haben. Das ist ein Vorteil für uns, denn sie werden uns nicht viel entgegenzusetzen haben.«
Atius warf einen Blick auf Menenius. »Wir ihnen aber auch nicht.«