Dreizehntes Kapitel

Das Dorf auf dem Hügel bestand aus einem halben Dutzend Rundhäusern ohne schützende Palisade darum herum. Schon bald rochen sie den Rauch von Holz und Torf, der durch die über den Feuerstellen angebrachten Löcher in den Dächern stieg. Bis auf ein paar grasende Kühe auf den nahe gelegenen Wiesen regte sich nichts. Silus wies Menenius und Enid an, sich zu verstecken, dann schlich er sich mit Atius näher. Erst jetzt fiel Silus ein, dass er seinem ehemaligen Kommandanten Befehle gab, die dieser befolgte wie ein geprügelter Hund. Die Barbaren hatten seinen Kampfeswillen wohl tatsächlich gebrochen.

Nun erkannten sie auch mehrere Nebengebäude. Eines schien ein Schuppen zu sein, bei den anderen handelte es sich vermutlich um Ställe. Leise näherten sie sich dem ersten und Silus drückte die Tür auf. Dahinter war es stockdunkel, doch milchiger Geruch nach Dung und ein hohes und direkt darauf ein tiefes Muhen ließen auf mindestens eine Milchkuh mit Kalb schließen. Silus machte die Tür leise wieder zu und hoffte, dass die Tiere nur harmlose Laute ausgestoßen hatten, die die Dorfbewohner nicht aufschreckten.

Beim nächsten Stall war ihnen Fortuna hold. Sobald sich ihre Augen an das Mondlicht gewöhnt hatten, das durch ein hohes Fenster in der gegenüberliegenden Wand fiel, erkannten sie drei an Pfosten angebundene Pferde. Silus schlich sich hinein und streckte vorsichtig den Arm nach dem ersten Tier aus. Die Pferde schnaubten und traten ängstlich von einem Fuß auf den anderen, doch sie waren ordentlich eingeritten und leisteten keinen Widerstand, als Silus und Atius Sättel und Zaumzeug von den Haken an der Wand nahmen und ihnen anlegten.

Sobald sie die Tiere gesattelt und gezäumt hatten, banden sie sie los und führten sie aus dem Stall. Erst jetzt fiel ihnen auf, dass ihnen Fortuna doch nicht so hold gewesen war wie gedacht. Ein Pferd lahmte stark und senkte jedes Mal den Kopf, wenn es das linke Vorderbein belastete. Silus untersuchte es und ertastete eine Schwellung über dem Strahlbein, die nach Eiter stank.

»Scheiße«, sagte er. »Es hat ein Geschwür. Das können wir nicht brauchen.« Er ließ das Tier stehen.

»Da drüben ist noch ein Stall«, sagte Atius. »Sollen wir da mal nachsehen?«

Eines der Pferde, verstört durch die unbekannten Menschen oder die ungewohnte nächtliche Aktivität, stieß ein lautes Wiehern aus. Ein langbeiniger, zotteliger Hund, der vor einem Rundhaus geschlafen hatte, hob den Kopf, erblickte die Fremden, sprang auf und fing an laut zu bellen. Weitere Hunde stimmten ein und ein jaulender, heulender Chor erhob sich. Schon bald waren die ersten schlaftrunkenen Stimmen der überraschten Dorfbewohner zu hören.

»Keine Zeit«, sagte Silus. »Verschwinden wir.«

Sie stiegen auf zwei Pferde und führten das dritte, gesunde im schnellen Galopp aus dem Dorf. Hinter ihnen wurden Türen aufgestoßen und Flüche hallten durch die Nacht.

Menenius und Enid hatten sich nicht von der Stelle gerührt. Enid stand mit einem breiten Lächeln auf, das jedoch erlosch, sobald sie die Pferde gezählt hatte. »Nur drei?«

»Einem geschenkten Gaul schaut man nicht ins Maul«, sagte Silus.

»Die sind aber nicht geschenkt, sondern gestohlen.«

»Menenius und Atius sind am schwersten und bekommen jeweils ein Pferd. Wir teilen uns das dritte«, sagte Silus.

Enid sah aus, als wollte sie Widerspruch einlegen, erkannte, dass es zwecklos war, und zuckte mit den Achseln.

»Macht schon, steigt auf. Sobald Maglorix’ Männer das Dorf erreichen, wissen sie auch, dass wir dort waren, und werden sich an unsere Fersen heften. Wir müssen weiter.«

Atius half Menenius aufs Pferd und stieg dann selbst auf. Silus nahm den Sattel vom anderen Pferd und streckte dann den Arm aus, um Enid hinaufzuhelfen. Durch die Unterernährung war sie leicht wie eine Feder. Sie setzte sich hinter ihn und legte nach kurzem Zögern die Arme um seine Taille. Silus wurde sich ganz plötzlich der Tatsache bewusst, dass sich eine junge Frau an ihn schmiegte, und war froh, dass seine Kameraden in der Dunkelheit nicht sahen, wie er errötete. Er trieb das Pferd mit den Fersen an und sie galoppierten davon. Die Rufe der wütenden Dorfbewohner hallten schließlich nur noch von fern durch die Nacht.

 

Sie hielten sich an Wildwechsel und Dachspfade und vermieden alle Wege, die aussahen, als würden sie von Menschen frequentiert. Nachdem sie die zerklüfteten Hügel hinter sich gelassen hatten, durchquerten sie Marschland und schließlich dichten Wald, den sie so schnell wie möglich durchqueren wollten, ohne ihre Pferde in Gefahr zu bringen. Silus wurde bei jedem Stolpern seines Reittiers angst und bange. Wenn es in ein Dachsloch trat und sich den Fuß brach, war damit auch jegliche Hoffnung dahin, sich rechtzeitig in Sicherheit zu bringen.

Glücklicherweise überstanden die Pferde den Ritt unbeschadet bis zur Morgendämmerung. Der dunkle Himmel hellte sich im Osten auf, färbte sich erst hellblau und dann leuchtend orange. Die wenigen, tief am Himmel hängenden Wolken glühten in einem feurigen Rot, das in Silus ungute Erinnerungen an ein brennendes Reetdach weckte. Er schüttelte den Kopf, um diesen Gedanken zu vertreiben. Enid klammerte sich immer noch an ihm fest, die Wange gegen seinen Rücken gedrückt. Sie hatte einen Teil des Rittes schlafend verbracht, und auch er war hin und wieder eingenickt. Atius dagegen war die ganze Nacht über wachsam gewesen und hatte nicht nur auf den Weg seines eigenen Tiers, sondern auch auf Menenius geachtet, der sich manchmal nur mit Mühe im Sattel halten konnte.

Der Pfad, dem sie soeben folgten, kreuzte eine breitere Straße mit von Karren und Fuhrwerken stammenden Fahrrinnen im schlammigen Schotter. Silus brachte das Pferd zum Stillstand und wartete, bis Atius zu ihm aufgeschlossen hatte.

»Ich schätze, dass Horrea Classis noch etwa einen halben Tagesritt entfernt ist«, sagte Silus. »Wenn wir ausschließlich anhalten, um den Pferden die nötigen Ruhepausen zu gönnen. Sollen wir gleich weiterreiten oder erst einmal eine Rast einlegen?«

Atius sah sich nach Menenius um, dessen Pferd gemächlich auf sie zutrabte und dann stoppte. Der Präfekt schwankte im Sattel, schien kurz davor, herunterzufallen, fand in letzter Sekunde das Gleichgewicht wieder und hielt sich mit größter Mühe aufrecht. Er lächelte Atius und Silus gequält an. Die hinter Silus sitzende Enid schlief tief und fest.

Atius zuckte mit den Schultern. »Mein Kopf sagt mir, dass wir weiterreiten sollten. Mein Herz will sich ausruhen. Mein Allerwertester auch.«

»Wenn wir nur wüssten, wie viel Vorsprung wir haben. Oder ob sie unsere Spur überhaupt gefunden haben.«

»Wir müssen davon ausgehen, dass uns zumindest ein kleiner Trupp auf den Fersen ist. Es waren sicher so viele, dass sie mehrere Fährten auf einmal verfolgen können. Und in unserer Verfassung reichen schon ein paar Krieger, um uns den Garaus zu machen.«

Silus nickte. »Jetzt hängt alles davon ab, wie schnell wir sind. Doch was ist der beste Weg? Sollen wir reiten, bis wir oder die Pferde zusammenbrechen, oder Rast machen und darauf hoffen, die Zeit mit frischer Kraft wieder hereinzuholen?«

»Ginge es nur um uns beide, würde ich zum Weiterreiten raten. Aber sieh dir die anderen doch an. Sie brauchen eine Pause.«

Silus drehte sich um und spähte in die Dunkelheit im Nordwesten. Halb rechnete er damit, dass eine Barbarenhorde aus dem Zwielicht auftauchte und sich mit Gebrüll auf sie stürzte. Doch alles war ruhig. Vor ihm lagen die Wagenspuren, die den Weg zur rettenden Zuflucht wiesen.

Er seufzte. Atius hatte recht. Ohne Rast würde Menenius bald überhaupt nicht mehr weiterkönnen. Silus deutete auf ein kleines Wäldchen in der Nähe. »Dort machen wir ein paar Stunden Pause, dann reiten wir weiter.«

»Sollten wir nicht bis zum Einbruch der Dämmerung warten, ehe wir wieder aufbrechen?«, fragte Atius.

»Nein. Wenn sie Hunde dabeihaben, hilft uns auch der Schutz der Dunkelheit nichts.«

Sie ritten zu dem kleinen Wäldchen, stiegen ab und führten die Pferde so tief hinein, dass sie von der Straße aus nicht zu sehen waren. Sobald sie die Tiere festgemacht hatten, kauerten sie sich in eine kleine Mulde unter den Wurzeln einer alten Eibe. Silus verteilte etwas Brot und Wasser aus seinem Proviant und sie aßen und tranken gierig. Dann ließ sich Menenius gegen den Baumstamm sinken und fiel sofort in einen unruhigen Schlummer. Seine Augen rasten hinter den Lidern hin und her und sein Körper zuckte gelegentlich, als würde man ihn in die Rippen treten. Silus lehnte sich gegen eine vorstehende Wurzelknolle und machte es sich auf etwas Laub bequem.

Enid setzte sich neben ihn, legte die Arme um ihn und den Kopf auf seine Brust. Er verkrampfte sich, woraufhin sie fragend zu ihm aufsah. Er drehte sich um und kehrte ihr den Rücken zu. Einen Augenblick später stand sie auf und ging zu Atius hinüber. Als Silus sich umschaute, hielt Atius Enid fest in den Armen. Silus warf ihm einen warnenden Blick zu. Atius sah ihn an wie die Unschuld persönlich.

»Ich übernehme die Wache«, sagte Silus, stand abrupt auf und ging zum Waldrand. Er ließ den Blick über die Landschaft unter dem immer heller werdenden Himmel schweifen und fragte sich, ob er sich nun sein Leben lang in der Gegenwart einer Frau unwohl fühlen würde.

 

Atius hatte die Arme fest um Enid geschlungen und schnarchte laut. Silus trat ihm in den Hintern, und Atius schreckte so ruckartig hoch, dass Enid mit einem Schrei erwachte. Atius sah Silus böse an, dann löste er sich von Enid.

»Wir müssen weiter«, sagte Silus. Menenius schlief noch. Sein Gesicht war blass, sein Kopf zur Seite gerollt und sein Mund stand offen. Silus ging vor ihm in die Hocke und legte behutsam eine Hand auf seine Schulter. Menenius riss vor Schreck die Augen auf und packte Silus’ Handgelenk.

»Beruhigt Euch, Herr«, sagte Silus sanft. »Es besteht keine Gefahr. Aber wir müssen weiter.«

Menenius brauchte einen Augenblick, um sich zu sammeln, dann nickte er. »Natürlich.« Silus half ihm auf die Füße. Dabei fragte er sich, ob Menenius’ Körper oder seine Seele den größeren Schaden davongetragen hatte. Dass beides arg in Mitleidenschaft gezogen worden war, war nicht zu übersehen. Atius und Silus setzten Menenius auf sein Pferd und stiegen selbst auf.

Sie folgten den Wagenspuren in lockerem Trab nach Osten. Silus versuchte abzuschätzen, wie weit sie bereits gekommen waren, wie weit es noch war und wie lange es bei diesem Tempo dauern würde, bis sie ankamen, gab aber bald auf. Es waren zu viele Unwägbarkeiten, um eine Voraussage zu treffen. Er war sich ja noch nicht einmal sicher, dass dieser Weg die Straße nach Horrea Classis war. Er konnte sie genauso gut an der großen Hafenfestung vorbeiführen.

Horrea Classis lag am Südufer des Tatha an der Stelle, an der er sich mit dem Uisge Èireann vereinigte. Der Tatha war ein breiter Strom, und wenn sie weiter in Richtung Südosten ritten, würden sie früher oder später sein Nordufer erreichen. Dort konnten sie sich dann ein Boot suchen und in den sicheren Hafen bringen lassen.

Nach Sonnenaufgang begegneten ihnen hin und wieder Reisende in beide Richtungen: Viehtreiber, Händler, fahrende Handwerker. Ausnahmslos alle sahen sie neugierig an. Manche grüßten sie freundlich, andere misstrauisch. Einige wollten ein wenig plaudern, doch Silus gab sich wortkarg. Es gab nichts, das sie in Erfahrung bringen wollten, und je öfter sie den Mund aufmachten, desto offensichtlicher wurde es, dass sie nicht aus der Gegend stammten.

Die Straße wand sich um einen Hügel herum. Silus warf einen Blick über die Schulter. Von Verfolgern keine Spur. Nun konnte es nicht mehr weit sein. Trügerische Hoffnung stieg in ihm auf.

Als sie die Biegung umrundeten, sahen sie zwei Reiter in etwa fünfzig Schritt Entfernung vor sich. Silus’ Eingeweide verkrampften sich. Er hoffte, dass es nur Einheimische auf dem Weg von einer Wallburg zur nächsten waren, doch tief in seinem Inneren machte sich die Gewissheit breit, dass man sie entdeckt hatte.

Die Reiter blieben neben der Straße stehen und beobachteten sie. Silus hob die Hand zum Gruß und ließ gleichzeitig sein Pferd schneller traben, um zu ihnen aufzuholen oder zumindest den Abstand zu verringern. Die Reiter berieten sich kurz, dann rissen sie ihre Pferde herum und ritten davon.

Silus fluchte und trieb sein Pferd zu vollem Galopp an. Atius neben ihm tat es ihm gleich.

Silus’ Pferd hatte zwei Personen zu tragen und war zu langsam, um die Reiter einzuholen. Atius’ Tier dagegen war zu klein, um mit dem großen Mann auf dem Rücken besonders schnell galoppieren zu können. Der Abstand wurde immer größer und Silus verzweifelte. Da geriet eines der vor ihnen davongaloppierenden Pferde ins Straucheln und verletzte sich das Bein. Der Reiter fluchte und versuchte vergebens, das Tier zum Weiterlaufen zu bewegen. Sein Kamerad warf ihm noch einen letzten Blick zu und verließ dann an einer nach Osten führenden Abzweigung die Straße. Der Reiter mit dem lahmenden Pferd rief ihm wütend etwas hinterher, dann stieg er ab, zog den Speer aus der Satteltasche und stellte sich seinen Verfolgern.

Silus und Atius umkreisten ihn. Es war eindeutig ein Maeatae-Krieger. Der Mann spie aus. »Der Verräter, der römische Abschaum und die Sklavenhure«, sagte er. »Und da ist ja auch der Gefangene, oder was von ihm noch übrig ist. Ihr habt nicht mehr viel Zeit. Wir haben euch fast eingeholt.«

»Wo ist der Rest deines Trupps? Wie weit sind sie noch entfernt?«

»Nicht weit«, sagte der Krieger. »Gar nicht mehr weit. Eure Strafe dafür, den Göttern ihr Opfer vorenthalten zu haben, wird so grausam sein, dass ihr euch noch wünschen werdet, ihr wärt gestern Abend gestorben.«

Silus versuchte, seine Worte nicht an ihn heranzulassen. Trotzdem lief es ihm kalt den Rücken hinunter. Lebendig würden sie weder ihn noch seine Gefährten in die Finger bekommen, dafür würde er schon sorgen. Die ungeschützte Enid, die sich hinter ihm an ihn klammerte, schränkte ihn in seiner Bewegungsfreiheit ein, daher stiegen sie ab. Atius tat desgleichen im Rücken des Kriegers, der mit dem Speer schließlich nur in eine Richtung zielen konnte. Für den Nahkampf dagegen war die Waffe denkbar ungeeignet. Der Barbar machte ein paar halbherzige Drohgebärden.

»Sag uns, wo deine Waffenbrüder sind, und wir werden dich verschonen. Dein Kamerad ist uns bereits entkommen, wir haben also keinen Grund, dich zu töten.«

»Lieber sterbe ich«, sagte der Krieger.

Die Spitze von Atius’ Schwert durchbrach die Brust des Maeata, begleitet von einem Schwall aus Blut. Ein roter Strahl schoss aus seinem Mund, dann kippte er vornüber.

Silus sah Atius mit offenem Mund an.

»Wir haben keine Zeit für Geschwafel. Sein Kamerad ist entkommen und kann jeden Augenblick mit Verstärkung über uns herfallen«, sagte Atius.

»Das hattest nicht du zu entscheiden«, knurrte Silus. Atius zuckte mit den Schultern und stieg wieder auf. Kopfschüttelnd warf Silus einen Blick auf die Leiche im blutigen Schlamm, sprang dann ebenfalls wieder in den Sattel und machte Menenius, der langsam auf sie zutrabte, ein Zeichen. Als der Präfekt sie erreicht hatte, stieg er langsam und vorsichtig vom Pferd, bückte sich nach dem Speer des Kriegers und saß wieder auf. Dann sah er Silus mit festem Blick an, sagte aber nichts. Silus nickte nur. »Wir müssen es bis zum Fluss schaffen und uns auf eine Fähre retten, bevor sie uns einholen. Das wird ein Gewaltritt. Sind alle bereit?«

Sobald ihm alle ihre Zustimmung signalisiert hatten, lenkte er das Pferd in die richtige Richtung, dann rammte er ihm die Fersen in die Flanken. Die anderen folgten Silus in einem lockeren Galopp die Abzweigung nach Süden hinunter. Verzweifelt widerstand er dem Drang, das Pferd zu größerer Eile anzutreiben, um sich so schnell wie möglich von seinen Verfolgern abzusetzen. Selbst mit seinen begrenzten Reitfähigkeiten wusste er, dass ein Pferd den gestreckten Galopp höchstens ein, zwei Meilen durchhalten konnte, bevor es ermüdete.

Je höher die Sonne stieg, desto wärmer wurde es. Schon bald waren Reiter und Pferde mit Schweiß bedeckt. Der verdammte Weg schien sich ewig hinzuziehen. Sein Vater hatte ihm einmal in einem Kodex eine Karte der ganzen Welt gezeigt. Ein gewisser Ptolemäus hatte versucht, alles, was man über die Gestalt der Welt wusste, zusammenzutragen. Silus konnte sich noch gut an sein Staunen über Orte am anderen Ende der Erde wie Sinae oder Taprobane erinnern, die so weit von den Grenzen des Imperiums entfernt waren, dass man sie nur aus Mythen und Legenden kannte. Als er dagegen die Darstellung von Britannien und Kaledonien betrachtet hatte, war seine Enttäuschung groß gewesen. Er hatte schon damals ganz genau gewusst, dass das Ende der Insel weit im Norden lag und nicht wie auf der Karte in einem rechten Winkel nach Osten hin abknickte. Und auch der Tatha floss in Wahrheit nicht von Norden nach Süden, sondern von Westen nach Osten. Hätte er dieser Karte anstatt seiner Ortskenntnis vertrauen müssen, sie hätten Horrea Classis niemals gefunden. Dennoch – sie hatte ihm ein Gefühl dafür vermittelt, wie groß die Erde war, wie riesig die Landmassen jenseits des Imperiums. Silus kämpfte gegen das wachsende Gefühl von Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit an.

Als sich die Sonne bereits dem Horizont näherte, ritten sie einen Hügel hinauf und sahen in etwa zwei Meilen Entfernung endlich den Tatha vor sich. Der Weg dorthin führte durch das Bett eines zu dieser Jahreszeit trockenen, aber wohl hin und wieder Wasser führenden Nebenflusses. Das ließen zumindest die Pflanzen vermuten, die zu beiden Seiten des steilen Ufers wuchsen. Das feuchte Flussbett bildete einen engen, aber für die Pferde gangbaren Weg. Silus wartete, bis Menenius und Atius zu ihm aufgeschlossen hatten.

»Na also«, sagte er. »Jetzt müssen wir nur noch nach Horrea Classis übersetzen, dann haben wir es geschafft.«

Hinter ihnen bellte ein Hund. Dann noch einer. Silus drehte sich um. Ein halbes Dutzend Maeatae-Krieger ritt den Hügel hinauf. Ihre Pferde wirbelten beim beschwerlichen Aufstieg Schlammbrocken auf und wirkten trotz der Anstrengung noch recht frisch. Sie würden sie in wenigen Augenblicken erreicht haben.

»Reitet um euer Leben!«, rief Silus. Er trieb das Pferd mit Fersentritten zur Höchstleistung an und brüllte in sein Ohr, damit es noch schneller lief. Das verängstigte Tier preschte durch das Flussbett, rutschte und glitt über die glitschigen Steine. Silus umklammerte seinen Hals, Enid fest seine Taille. Sie atmete hörbar, sagte aber nichts, sondern vertraute seinen Reitkünsten und der naturgegebenen Trittsicherheit des Tieres. Atius schrie auf, als sein Pferd einen Augenblick lang den Halt verlor und ihn um ein Haar abwarf. »Bei Christus, das war knapp«, fluchte er, als das Pferd wieder Tritt gefasst hatte.

Das Flussbett war zu schmal für mehr als ein Tier. Silus hörte, dass Atius dicht hinter ihm war. Die Hunde bellten aufgeregt, die Rufe der Krieger wurden immer lauter. So gerne er auch einen Blick über die Schulter geworfen hätte, um anhand des Abstands zu den Verfolgern einschätzen zu können, wie wahrscheinlich es war, ihnen zu entkommen, er wagte es nicht – an ihrer Lage hätte es nichts geändert, sie aber in die Gefahr eines tödlichen Sturzes gebracht.

Atius schien keine derartigen Bedenken zu haben. »Scheiße, was zum Hades macht Menenius denn da?«, rief er.

Silus drehte sich nun doch um. »Bei Mithras und Mars«, fluchte er laut. »Menenius, tut das nicht!«

Ihr Kommandant war zurückgefallen. Offenbar hatte er bemerkt, dass er nicht schnell genug war, um den Barbaren zu entkommen, und hatte das Pferd gewendet. Nun wartete er mit dem unter den Arm geklemmten Speer auf die anstürmenden Krieger.

»Wir müssen umkehren«, rief Atius und riss an den Zügeln. Silus ließ sein Pferd ebenfalls anhalten und starrte voller Entsetzen hinter sich.

»Vergiss es, Atius. Es ist zu spät. Das sind zu viele. Er verschafft uns etwas mehr Zeit zur Flucht. Mit seinem Leben.«

»Silus, nun hilf mir doch. Noch können wir ihn retten, aber alleine schaffe ich das nicht.«

»Nein, Atius. Wir müssen Horrea Classis erreichen, um den Kaiser von Maglorix’ Plänen zu unterrichten. Das ist wichtiger als unser aller Leben.«

»Scheiße, Silus. Das ist unser Kommandant!«

»Ich bin dein Kommandant und du wirst mir jetzt folgen. Das ist ein Befehl!« Ohne eine Antwort abzuwarten, trat Silus einmal mehr in die Flanken des Pferdes. Kurz darauf hörte er den schweren Atem und die Hufschläge von Atius’ Pferd hinter sich. Silus warf einen Blick über die Schulter und spähte an der finsteren Miene seines Freundes vorbei. Die Krieger hatten Menenius erreicht, doch der Pfad war so schmal, dass sie ihn nur einzeln und nacheinander angreifen konnten. Sie berieten sich kurz, dann warf einer seinen Speer auf Menenius. Der alte Veteran duckte sich rechtzeitig und der Speer segelte über seine Schulter hinweg.

Man reichte dem Anführer des Reitertrupps einen weiteren Speer. Diesmal ließ er das Pferd näher herantraben und stieß zu, sobald er in Reichweite war. Menenius zog mit einer Hand an den Zügeln, sodass das Tier einen Schritt zur Seite trat, und parierte den Angriff mit seinem eigenen Speer. Der Krieger fluchte und holte wieder aus.

Menenius riss die Zügel in die andere Richtung. Das Pferd bäumte sich auf und drehte sich auf den Hinterbeinen herum, bis es seitlich zu Menenius’ Angreifer stand. Silus staunte – er hatte nicht gewusst, dass der Präfekt ein so vorzüglicher Reiter war. Der Kampf schien ihm, gerade noch ein Bild des Jammers, neue Lebenskraft zu verleihen.

Unter Gebrüll stieß Menenius mit seiner wenigen noch verbliebenen Kraft zu. Der Speer fuhr direkt in den Mund des Barbaren und trat am Hinterkopf wieder aus. Der Krieger fiel ohne einen Laut vom Pferd und kam schwer auf dem Boden auf, wobei er Menenius’ Speer mit sich riss.

Einen Augenblick lang herrschte Stille. Dann stiegen zwei Krieger ab, zwängten sich an dem Pferd ihres Kameraden vorbei, packten Menenius und rissen ihn zu Boden. Der Präfekt verschwand aus Silus’ Blickfeld, er sah nur noch, wie die Maeatae ihre Speere wieder und wieder hoben und sie in blinder Wut in seinen Körper stießen.

Silus blinzelte sich die Tränen aus den Augen, richtete den Blick nach vorne, die Gedanken auf die eigene Flucht, und betete zu jedem ihm bekannten Gott, dass ihnen Menenius’ Opfer ausreichend Zeit verschafft hatte.

Der Tatha war nicht mehr weit entfernt, doch bald darauf waren auch die lauter werdenden Geräusche der Verfolger wieder zu hören. Das Flussbett wurde immer breiter, je näher sie dem großen Strom kamen. Sie lenkten die Pferde die nördliche Uferböschung hinauf und auf eine breite Straße, die den Fluss entlangführte. Nun brauchten sie dringend ein Boot, mit dem sie übersetzen konnten.

Leider war weit und breit keines zu sehen. Silus fragte sich, was er erwartet hatte – einen mit Kähnen und Booten vollgestopften Fluss und Fährmänner, die alle nur darauf warteten, sie überzusetzen? Sie ritten mit eingezogenen Köpfen im gestreckten Galopp am Ufer entlang nach Osten. Die Pferde hatten die Augen weit aufgerissen und blutigen Schaum vor dem Maul. Sie atmeten heiser und schwer und näherten sich dem Ende ihrer Kräfte. Die Verfolger schrien und fluchten. Zu Silus’ Linken war dichter Wald, zu seiner Rechten der reißende Strom. Sie kamen um eine Biegung.

Ein Boot!

Am Ufer lag ein Ruderboot aus Haselholz und Ochsenleder mit zwei Holzpaddeln, in dem ein Junge saß und einen Apfel aß. In einem Netz am Boden des Bootes zappelte eine Forelle. Sobald er den schnellen Schlag der Hufe hörte, ließ er den Apfel fallen und griff nach den Paddeln.

Silus kam ihm zuvor. Er sprang vom Pferd und packte das Boot, bevor der Junge davonrudern konnte.

»Lasst mich in Ruhe!«, rief der Junge.

»Rein da«, rief Silus Atius und Enid zu, ohne dem Kleinen Beachtung zu schenken.

Er hielt das Boot mit einer Hand ruhig und half mit der anderen Enid hinein. Atius stieg vorsichtig ein, um es nicht zum Kentern zu bringen. Der Kahn war für einen, höchstens zwei Personen gedacht und lag schon mit dreien bedenklich tief im Wasser. Wenn Silus auch noch dazukam, würde er untergehen. Er drehte sich zu den Kriegern um, die keine hundert Schritt mehr entfernt waren, und zog das Schwert – bereit, sich ihnen zu stellen, sich wie Menenius zu opfern, um Atius die nötige Zeit zu verschaffen, die so wichtige Nachricht nach Horrea Classis zu bringen.

Ein Schrei, gefolgt von einem Platschen, ließ ihn herumfahren. Atius hatte den Fischerjungen kurzerhand ins Wasser geworfen, wo er erbost spuckte und platschte.

»Rein mir dir«, drängte Atius. »Na los.«

Silus bestieg das Boot, das noch tiefer sank und sich dann allmählich beruhigte. Die Bordwände ragten kaum aus dem Wasser. Er schnappte sich ein Paddel, und sie ruderten unbeholfen, aber mit aller Kraft drauflos. Schon entfernten sie sich vom Ufer. Ein Schritt, zwei, drei. Der erste Verfolger erreichte die Stelle, an der sie an Bord gegangen waren, und sprang vom Pferd direkt auf das Boot zu. Er verfehlte es und landete im Wasser, und Silus befürchtete kurzzeitig, dass die dabei entstandene Welle das Boot zum Kentern bringen könnte. Sie mussten sich festhalten, als es hin und her schwankte. Der Krieger schwamm auf sie zu. Atius hob das Paddel und zog es dem Barbaren mit aller Macht über den Schädel. Der ging unter und tauchte nicht mehr auf.

Die übrigen vier Krieger standen am Ufer und schrien ihnen wüste Beschimpfungen hinterher. Silus und Atius legten sich in die Riemen, und der Abstand zum Ufer vergrößerte sich weiter. Nun konnten die Barbaren sie nicht mehr erreichen. Sie waren in Sicherheit.

Die Krieger hoben ihre Speere, holten aus und schleuderten sie gleichzeitig dem Boot hinterher. Vier tödliche Geschosse sausten in bogenförmiger Flugbahn auf sie zu.

Ein Speer fiel vor ihnen ins Wasser.

Einer flog über ihre Köpfe hinweg.

Einer streifte Atius’ Oberarm.

Einer bohrte sich in Enids Brustkorb.

Sie taumelte nach hinten und in Silus’ Arme.

Silus ließ das Ruder auf den Boden des Boots fallen und blickte in Enids vor Schreck geweitete Augen. Er nahm den Speer und versuchte, ihn herauszuziehen, doch sie schrie und packte seine Hand, und er ließ den Schaft wieder los. Blut quoll aus der Wunde, doch nicht wie in einer von einem Herzstich verursachten kräftigen Fontäne. Es war kein schneller Tod.

Silus sah Atius hilflos an. Wortlos lenkte sein Freund das Boot in die schneller fließende Strömung in der Mitte des Flusses. Die Reiter am Ufer blickten ihnen ohnmächtig hinterher.

»Es tut mir leid«, sagte Silus. »Ich wollte …«

»Es … tut so weh«, sagte Enid. »Ich kriege keine Luft.«

»Wir bringen dich nach Horrea Classis. Zu einem Arzt. Sei tapfer.«

»Müde«, sagte Enid. »Ich will nach … Hause.«

Ihr Körper verkrampfte sich, sie drückte den Rücken durch und riss mit einer schmerzverzerrten Grimasse den Mund auf. Dann erschlaffte sie und tat einen letzten langen Seufzer.

Der Fluss trug das Boot stromabwärts, der Festung von Horrea Classis entgegen.