Maglorix starrte in die Suppenschale in seinen Händen. Fleisch konnte er darin nicht entdecken, nur ein paar Blätter und Wurzeln. Sie schmeckte wie Schmutzwasser. Der Rauch eines Herdfeuers stieg ihm in die Nase, irgendwo schrie sich ein Säugling die Seele aus dem Leib. Niemand kam ihm zu Hilfe, und bald würde er sterben. Die Milch der meisten Mütter war versiegt, ihre unterernährten Kinder fielen der Auszehrung anheim. Die Ruhr hatte mehrere Familien heimgesucht, die ein totes Reh gefunden hatten, das bereits so verdorben gewesen war, dass selbst das Braten am Spieß sie nicht vor der Krankheit bewahrt hatte, die – wie jeder wusste – mit dem Verzehr von Aas einherging.
Der Winter stand vor der Tür. Die Blätter änderten ihre Farbe, die Sonne stand immer tiefer am Himmel. Morgens und abends war die Luft empfindlich kühl. Er zog den Kapuzenmantel fester um sich. In letzter Zeit fror er ständig, ganz egal, wie warm der Schein der Sonne war.
Die Menschen hatten nichts zu essen. Die Römer hatten das Getreide verbrannt, das Vieh geschlachtet, ihre Häuser niedergebrannt und untergepflügt, was auf ihren Äckern gewachsen war. Sie hatten ihnen selbst das Wild und die Früchte des Waldes genommen. Nun aßen sie Gras und Wurzeln, ja sogar trockene Zweige. Alles, was die quälende Leere in ihren Mägen irgendwie füllte. Nur wenige Kaledonier würden das Tauwetter im Frühjahr erleben.
Wie hatte es so weit kommen können? War das seine Schuld? Hatte sein Stolz, sein heiliger Zorn, seine feste Entschlossenheit, den Römern ihre Grausamkeiten heimzuzahlen, dieses Unglück über sein Volk gebracht? Oder hatte es sein Schicksal schon damals besiegelt, als Maglorix noch ein kleiner Junge gewesen war und die Krieger des Stammes unter der Herrschaft seines Vaters regelmäßig und ungestraft in die römische Provinz eingefallen waren und Gold, Vieh und Sklaven gestohlen hatten?
Hatten sich die Götter gegen sie gewandt und ihnen Severus und Caracalla mit ihren alles verwüstenden Armeen geschickt? Oder hatten die Römer den Kaledoniern das, was diese ihnen angetan hatten, mit gleicher Münze, aber in einem viel größeren Ausmaß zurückgezahlt?
»Ich verfluche euch«, sagte Maglorix mit ruhiger und fester Stimme. »Jeden einzelnen Gott, der mir und meinem Volk den Rücken zugekehrt hat. Heilige Hexe, ich verfluche dich. Aos-sídhje, ich verfluche euch. Esus, Teutates, Taranis, ihr habt mich und die meinen verlassen. Ich verfluche euch alle.«
Mehrere Gesichter drehten sich zu ihm um. Lon blickte unglücklich drein, doch weder der Druide noch sonst jemand sagte etwas. Bald kehrten sie wieder zu ihrer jeweiligen Beschäftigung zurück, mit der sie sich vom nagenden Hunger abzulenken versuchten. Einige schnitzten an Stöcken herum. Ein alter Mann schärfte sein Schwert an einem Schleifstein, obwohl er es schon seit vielen Jahren nicht mehr im Kampf gezogen hatte. Die Mütter drückten ihre Säuglinge an sich. Kein Kind spielte; sie hatten nicht die Kraft dazu. Kein Huhn gackerte, kein Hund bellte, keine Kuh muhte. Tiere gab es schon lange keine mehr.
Er starrte wieder in die Schüssel. Obwohl seine letzte vernünftige Mahlzeit eine Ewigkeit her war, hatte er keinen Hunger. In seinen Eingeweiden verspürte er nichts als eine dumpfe Übelkeit.
Silus. Dieser Verräter an seinem eigenen Volk. Der Britannier, der für die Römer kämpfte. Wenn es einen Mann gab, dem er die alleinige Verantwortung für alles anlasten konnte, dann ihm. Hätte er seinen Vater nicht ermordet und ihn zu unüberlegten Handlungen im Namen der Vergeltung verleitet, hätten sie womöglich Frieden mit dem Feind schließen und all dies vermeiden können. Er mahlte mit den Kiefern und umklammerte fest die Schüssel. Dann seufzte er.
Ihm fehlte die Kraft zur Wut. Er nahm einen Mundvoll Suppe und schluckte mühsam hinunter. Dann ließ er die Schüssel durch die Finger gleiten. Sie fiel auf den Boden und zerbrach. Die wässrige Brühe bildete eine Pfütze auf der Erde.
Ein Murmeln drang zu ihm. Nicht mehr als die leise Bestätigung, dass etwas vor sich ging – für echtes Interesse oder Angst fehlte die Kraft. Er blickte auf.
Zwei bewaffnete, allem Anschein nach gut genährte und gesunde Männer betraten das Dorf.
Einer ergriff das Wort. Er sprach Inselkeltisch mit römischem Akzent. »Wo ist Maglorix?«
Je näher Silus Dùn Mhèad kam, desto stärker wurde der mit den Erinnerungen einhergehende Wirbel der Gefühle. Hier hatte alles angefangen, auf jenem Erkundungsstreifzug, der eine Ewigkeit her zu sein schien. Als er noch ein einfacher Explorator gewesen war, der weder Oclatinius noch Caracalla jemals persönlich getroffen, dafür aber eine Familie gehabt hatte …
Sie marschierten durch den Wald, durch den Silus damals mit dem Kopf von Maglorix’ Vater geflohen war. Diesmal gab er sich keine Mühe, seine Anwesenheit zu verbergen. Sie hatten nichts zu befürchten. Silus zeigte Atius mehrere Stationen auf seinem Weg. Hier hatte er völlig durchnässt und zitternd vor Kälte und Furcht sein Lager aufgeschlagen. Da hatte er sich nach seiner ersten Begegnung mit Voteporix, Maglorix und Buan versteckt. Und dort hatte er Voteporix aufgelauert und ihm den Kopf abgeschnitten.
Atius hörte sich seine Ausführungen zu den einzelnen Stellen mit finsterer Miene an und nickte schweigend. Der Hunger und das Elend der Menschen gingen ihm zu Herzen, und seine unverbrüchliche Treue zum Kaiser ließ sich nur noch schwer mit den Grundsätzen seines Glaubens vereinbaren.
Sie ritten den Hügel zur Wallburg hinauf. Die Römer hatten die Palisade niedergerissen. Hier und da lagen noch zerbrochene, aus der Erde gerissene Pfähle herum. Die meisten waren längst Brennholz. Die Menschen, die die Massaker der Römer überlebt hatten, waren in ihre zerstörten Häuser zurückgekehrt, um dort auf den Winter und den Tod zu warten. Wohin hätten sie sonst auch gehen sollen?
Gleich innerhalb der einst von der Palisade gebildeten Grenze des Dorfes saß ein kleines Mädchen von höchstens sechs Sommern im Schneidersitz auf dem Boden. In ihrem langen, verfilzten roten Haar steckten Blätter und kleine Zweige. Der Schmutz auf ihrem Gesicht war nicht von Tränenspuren durchzogen. Wahrscheinlich hatte sie schon lange aufgehört zu weinen. Sie blickte aus großen Augen über hohlen Wangen zu ihnen auf. Muss ich jetzt sterben?, schien sie sich zu fragen, doch ohne Furcht, nur mit einer dumpfen Neugier.
Silus wandte sich ab und ging schnell an dem Mädchen vorbei ins Dorf. Bei ihrer Ankunft ging leises Gemurmel durch die Reihen der niedergeschlagenen Maeatae, doch sie schienen sich nur mäßig für die Neuankömmlinge zu interessieren.
»Wo ist Maglorix?«, fragte Silus laut in ihrer Sprache.
Einige weitere Köpfe wandten sich zu ihm um, doch niemand sagte etwas. Ein großer, glatzköpfiger Krieger in einer zerlumpten Tunika mit den Narben noch nicht lange verheilter Wunden auf Armen und Gesicht richtete sich unter Schmerzen und Mühen auf. Silus erkannte ihn: Es war Buan. Wo er war, konnte Maglorix nicht weit sein. Sein Leibwächter und Freund humpelte mit erhobenem Speer auf sie zu. Dies kostete ihn bereits solche Anstrengung, dass die Spitze zitterte.
Atius trat zwei Schritte vor, schob den Speer mit dem Arm beiseite und stieß seinen Dolch in Buans Bauch. Der riesenhafte Barbar packte den Griff der Waffe und riss sie aus Atius’ Händen, dann fiel er mit dem Gesicht voraus auf den Boden und blieb still liegen.
Eine weitere Gestalt kam mit wedelnden Armen auf sie zu. Es war der Druide mit der rasierten Stirn, dem langen weißen Haar und der spitzen Nase. Sie erkannten Lon sofort, auch wenn er dünner geworden und der reich verzierten Robe und des prächtigen Schmucks verlustig gegangen war. »Seid verflucht, Römer«, zischte er. »Cailleach Bhéara, ich rufe dich an. Mögen diese niederträchtigen Männer niemals Frieden finden.«
»Wenn ich mich recht erinnere, hattest du Großes mit uns vor, Druide.«
»Die Hexe wird eure Augen in den Höhlen verfaulen lassen. Sie wird eure Hoden mit Eiter füllen, bis sie platzen. Sie wird eure Schwänze …«
Atius zog das Schwert und vollführte damit einen einzigen horizontalen Streich. Lon fiel auf die Knie und umklammerte seinen Hals. Blut spritzte zwischen seinen Fingern hervor. Atius wartete teilnahmslos, bis er zur Seite wegkippte.
Silus sah sich um. Die Barbaren, schon lange bar jeder Hoffnung, beschränkten sich auf ihre Rolle als Zuschauer.
»Maglorix!«, brüllte Silus. »Komm und stell dich. Oder müssen wir dich jagen und zur Strecke bringen wie ein feiges Wiesel?«
Einen Augenblick lang herrschte Stille. Dann blickte eine Gestalt in einem Kapuzenmantel auf. Der Mann machte keine Anstalten aufzustehen, ergriff jedoch nach kurzem Zögern mit beiden Händen die Kapuze und zog sie sich vom Kopf.
Silus holte tief Luft. Atius wollte auf ihn zugehen, doch Silus hielt ihn zurück, indem er eine Hand auf seine Brust legte. »Warte hier.«
»Du darfst dieser falschen Schlange nicht über den Weg trauen.«
»Das war einmal«, sagte Silus. »Ihr Gift ist längst verspritzt und ihre Zähne gezogen. Sieh ihn dir an. Er ist am Ende.«
Silus ging mit leeren Händen und locker an den Seiten herunterbaumelnden Armen auf den Häuptling zu, blieb vor ihm stehen und blickte auf ihn herab. Silus hatte ihn größer in Erinnerung, doch vielleicht lag es daran, dass er saß. Maglorix’ langes, lockiges rotes Haar auf dem Kopf, auf den Silus bei seiner ersten Begegnung mit dem Stammesfürsten mit dem Schwertgriff eingeschlagen hatte, um ihn außer Gefecht zu setzen, war nun matt und ohne Glanz. Die einst prächtigen Locken waren zu mit Laub und Schmutz durchsetzten Strähnen verfilzt, der einst wohldefinierte Körper war ausgemergelt, die Brustmuskeln so sehr geschrumpft, dass die Tätowierungen auf der schlaffen Haut darüber traurig herabzuhängen schienen.
Die größte Überraschung erwartete Silus jedoch, als er ihm in die Augen sah. Maglorix’ Blick war völlig leer, er konnte nicht den kleinsten Funken Wut, Resignation oder Trotz darin erkennen. Maglorix betrachtete Silus mit der Gleichgültigkeit eines alten Mannes, der vor seiner Tür sitzt und auf den Tod wartet, während die Welt an ihm vorbeizieht.
So sahen sie sich lange an.
»Es tut mir leid«, sagte Silus schließlich.
Maglorix’ Augen verengten sich leicht, und er legte fragend den Kopf schief.
Silus machte eine ausholende Geste. »Das alles. Dein Volk. Dein Vater.«
Maglorix schüttelte den Kopf. »Du hast gewonnen. Du bist ein großer Krieger. Leider haben deine und meine Götter uns auf verschiedene Seiten gestellt. Gemeinsam wären wir unbesiegbar gewesen.«
Silus nickte. »Du bist auch ein großer Krieger. Du hast Rom die Stirn geboten, obwohl du tief im Inneren gewusst haben musst, dass es hoffnungslos ist.«
»Hoffnung ist ein zu hoch gehandeltes Gut.« Seine Stimme klang so bemitleidenswert, dass Silus einen Augenblick lang Zweifel kamen, ob er es über das Herz brachte, das zu tun, was getan werden musste. Doch nun führten Velua und Sergia seine Hand.
»Steh auf«, sagte Silus.
Maglorix holte tief Luft und atmete langsam wieder aus. Er legte die Hände auf die Knie und stemmte sich hoch. Silus sah sich um. Speer und Schild des Stammesfürsten waren nicht weit. Er holte sie und gab sie Maglorix.
Maglorix schob die Hand durch die Lederschlaufen des Schilds, packte den Speerschaft an seinem Schwerpunkt, der sich von der Spitze aus auf etwa einem Drittel seiner Länge befand, und hob ihn versuchsweise hoch. Dann drehte er sich zu Silus um. Schild und Speer baumelten locker an seinen Seiten herab.
»Neeeein!« Es war Buans Schrei. Der Leibwächter lebte noch. Er hatte den Dolch aus seinem Bauch gezogen und holte damit aus, um ihn nach Silus zu werfen. Silus drehte sich um. Er war völlig ungeschützt.
Atius war sofort zur Stelle. Er trat die Waffe aus Buans schwachen Händen, wirbelte herum und stieß sein Schwert in das Herz des Barbaren. Er wartete, bis sein Todeskampf vorüber war, bevor er es wieder herauszog und an der Tunika des Leibwächters abwischte.
Silus wandte sich wieder Maglorix zu. Der hatte sich nicht gerührt, hatte beim Tod seines treuesten Freundes nicht die geringste Regung gezeigt.
Sie sahen sich in die Augen und Silus erkannte tiefe Trauer und Schicksalsergebenheit im Blick des Stammesfürsten.
Maglorix ließ den Kopf hängen.
Silus trat einen Schritt vor und zog dabei den Dolch. Er legte einen Arm um Maglorix’ Schultern.
Dann stieß er ihm den Dolch knapp links vom Brustbein zwischen die Rippen.
Herzblut quoll aus der Wunde. Maglorix’ Augen weiteten sich etwas, sonst blieb er völlig reglos, bis seine Beine nachgaben und Speer und Schild aus seinen Händen fielen. Er hielt sich an Silus fest. Der ließ ihn behutsam zu Boden sinken und wartete an seiner Seite liegend, bis das Leben nach wenigen Augenblicken aus Maglorix gewichen war.
Dann legte er den Kopf auf die Brust seines Feindes und weinte vor Trauer, Verlust und der Leere, die er in sich spürte.
Auf dem Weg nach Süden stieß die schwere Satteltasche im Takt gegen die Flanke von Atius’ Pferd und gab dabei einen dumpfen Laut von sich. Atius hatte darauf bestanden, Maglorix’ Kopf als Beweis für die erfolgreiche Erledigung ihres Auftrags mitzunehmen. Silus hatte sich geweigert, diese Last zu tragen.
Atius hatte Silus’ Reaktion auf seinen Sieg nicht so ganz verstanden. Und ehrlich gesagt verstand sie Silus ja selbst nicht so genau. Er hatte sich diesen Augenblick so oft in seinen Fantasien und Träumen vorgestellt. Den Moment, an dem er sich endlich an dem Mann rächte, der ihm alles genommen hatte. Warum hatte er sich nur so leer angefühlt?
Womöglich, weil alles so war wie vorher. Er hatte immer noch nichts, tatsächlich sogar weniger als zuvor. Er hatte ein Ziel vor Augen gehabt. Und jetzt?
Sie ritten nach Eboracum zurück, wo man sie entweder für die Beseitigung des Barbarenfürsten, der für so viel Leid verantwortlich gewesen war, als Helden feiern oder als Deserteure von den eigenen Kameraden steinigen lassen würde.
Es war ihm egal.
Silus sah zu Atius hinüber. Er pfiff fröhlich vor sich hin und freute sich zweifellos darauf, wieder bei Menenia zu sein. Silus selbst empfand bei dem Gedanken, die kleine Issa wiederzusehen, einen Augenblick der Freude, der allerdings nur von kurzer Dauer war. Selbst seine geliebte Hündin konnte den Schmerz in seinem Innersten nicht lindern.
Vor ihnen lagen mehrere Tagesritte durch die Siedlungen der Hungernden, der Kranken und der Sterbenden. Er musste sein Herz ihrem Leid gegenüber verschließen.
Atius beugte sich vor und drückte seine Schulter zum Zeichen, dass er für ihn da war. Silus lächelte traurig. Vielleicht würden der Augustus und der Herr der Arcani ja einen Platz für ihn finden, der sein Leben mit Bedeutung erfüllte. Vielleicht.
Er richtete den Blick auf den Weg vor sich und ritt dem Schicksal entgegen, das Fortuna ihm zugedacht hatte.