Der alte griechische Arzt beugte sich über Severus’ Brustkorb und lauschte aufmerksam, während der Kaiser Luft holte und ausatmete. Dann nahm er ihn an den Schultern, setzte ihn auf, schüttelte ihn und drehte seinen Kopf auf der Suche nach den verräterischen Anzeichen einer Rippenfellentzündung hin und her. Er ließ ihn zurück auf das Bett sinken und besah sich die Farbe der Zunge und der Lederhaut seiner Augen. Schließlich untersuchte er die von der langjährigen Gicht angeschwollenen Gelenke.
»Nun?«, wollte Julia Domna wissen.
Galenos schüttelte den Kopf. »Aesculapius bin ich nicht. Ich kann Euch nicht sagen, ob er leben oder sterben wird.«
Julia drehte sich zu Caracalla und Geta um, die pflichtschuldig am unteren Ende des Bettes standen und warteten.
»Wieso hörst du überhaupt auf diesen Scharlatan?«, fragte Geta. »Wo seine Methoden doch ganz allgemein nur wenig Zustimmung finden. Er lehnt die Wahrsagerei ebenso ab wie die Suche der Wahrheit in den Sternen.«
Julia zögerte. Sie teilte die Ehrfurcht, die sein Vater und sein Halbbruder der Astrologie und der Mystik des Ostens entgegenbrachten, wie Caracalla wusste. Er selbst stand dem Übernatürlichen skeptisch gegenüber und hatte sich damit abgefunden, dass sich manche Dinge ändern ließen und andere nicht. Aber Galenos zählte zu Julias Freunden, war Teil des Zirkels aus Philosophen und anderen Gelehrten, die die kultivierte Kaiserin um sich geschart hatte. Sie war hin- und hergerissen zwischen ihrer Hochachtung für Galenos und dem ganz natürlichen Bedürfnis, alles in ihrer Macht Stehende für ihren Ehemann zu tun.
»Augusta«, sagte Galenos. »Ihr kennt meine Fähigkeiten. Ich habe die Menschen von der Antoninischen Pest kuriert und nicht nur Kaiser Commodus, sondern auch Eurer Familie als Leibarzt gedient. Ich habe den Philosophen Eudemus von der Malaria quartana befreit, als ihn alle anderen bereits aufgegeben hatten. Ich war der Erste, der zwischen Arterien und Venen unterschied, der die beiden voneinander unabhängigen Kreisläufe des Körpers erkannte und entdeckte, dass das Blut in der Leber gebildet wird.
Nichtsdestotrotz befindet sich das Leben des Kaisers auf Messers Schneide und ich weiß nicht, ob er leben oder sterben wird. Fest steht dagegen, dass heute der achte Tag des gegenwärtigen Anfalls ist und die meisten, die an einer Lungenentzündung leiden, noch vor dem siebten sterben.«
»Also wird er leben?«
»Mit Verlaub, Augusta, aber Ihr hört mir nicht zu. Mit Sicherheit kann ich es nicht sagen. Die Zukunft kennen nur die Götter. Aber ja, meine Prognose lautet, dass er den Anfall überleben wird. Gebt ihm weiterhin Galbanum und Pinienkerne in attischem Honig gegen den Husten und legt ihm regelmäßig einen Schlauch mit heißem Wasser auf die Brust. Aller Voraussicht nach wird er sich erholen. Diesmal noch.«
»Diesmal noch?«
»Augusta, der Winter ist nahe. Die Anfälle werden immer schlimmer. Ihr solltet euch darauf einstellen, dass …« Er blickte auf den Boden. Den Satz zu vollenden war völlig unnötig und auch nicht ganz ungefährlich.
»Mutter«, sagte Geta in beinahe quengelndem Ton, »lass mich meinen Arzt rufen. Er wird die Sterne befragen, Opfer bringen …«
»Geta, es reicht!«, sagte Julia streng. »Galenos, wir werden deinem Rat folgen. Mach ihn wieder gesund. Sollte sich sein Leben tatsächlich dem Ende zuneigen, werden wir Trost in der Gewissheit finden, dass es ein außergewöhnliches Leben war.«
Sie rauschte davon, gefolgt von ihrer Kammerzofe.
Caracalla sah ihr mit gemischten Gefühlen hinterher. Einerseits war er eifersüchtig auf die Liebe, die sie ganz offensichtlich für ihren Gemahl empfand, auch wenn er diese Liebe dem alten Mann gegenüber teilte. Andererseits war Severus nur noch ein Schatten seiner selbst. Sollte er dem Schicksal zur Hand gehen und die Gelegenheit nutzen, sein Ableben etwas zu beschleunigen? Selbstverständlich allein zum Wohle des Imperiums und um die Würde seines Angedenkens zu bewahren. Nicht etwa zu seinem eigenen Vorteil.
Geta beobachtete ihn genau. Was wusste sein Halbbruder? Was ahnte er? Wenn er von seiner Affäre mit Julia erfuhr, konnte er ihn mit diesem Wissen vernichten. Das durfte er keinesfalls zulassen. Caracalla dachte nicht daran, nach Severus’ Tod seine Macht mit irgendjemandem zu teilen.
Die einfachste Lösung war natürlich, das Verhältnis zu beenden. Doch er hatte weder seine Frau noch eine Mätresse oder eine Sklavin jemals auch nur annähernd so geliebt wie Julia. Und sie liebte ihn auch, da war er sich sicher, sosehr sie die Rivalität zwischen den Brüdern auch zur Verzweiflung brachte. Nein, es musste ihr Geheimnis bleiben. Um jeden Preis.
Wenn der Kaiser starb, wurde abgerechnet. Wie so oft überlegte Caracalla, wer sich in dem unvermeidlichen Machtkampf auf seine Seite schlagen würde und wer nicht. Die beiden Parteien waren am kaiserlichen Hof durch eine kulturelle Grenze getrennt. Die afrikanische Partei, die Caracalla seine Rolle beim Sturz des ehemaligen Prätorianerpräfekten Plautianus nie verziehen hatte, sowie Severus’ Verwandte und Favoriten würden Geta unterstützen, die Syrer um Julia Domna wohl eher Caracalla. Papinianus, ein weiterer Prätorianerpräfekt und ein enger Vertrauter von Severus, war mit Julia Domna verwandt und würde wahrscheinlich, wie auch die Augusta selbst, für keine der beiden Seiten Partei ergreifen. Maecius Laetus, der andere, in Rom verbliebene Präfekt, traute Caracalla nicht über den Weg. Valerius Patruinus teilte seine Ansichten in Militär- und Regierungsangelegenheiten. Sextus Varius Marcellus und Quintus Marcius Dioga unterstützten ihn aus Eigennutz. Und nicht zu vergessen Oclatinius, der treu an Caracallas Seite stand.
Beim Gedanken an Oclatinius musste er an den Schützling des alten Mannes denken. Ob es Silus gelungen war, Rache an dem Barbarenfürsten zu nehmen? Wenn er lebend zurückkehrte, würde er seine schützende Hand über ihn halten. Dazu musste er nicht viel politisches Kapital investieren, und wer wusste schon, wozu dieser einfallsreiche Mann noch zu gebrauchen war?
Er erwiderte seelenruhig Getas Blick und lächelte in Erwartung dessen, was die Zukunft bringen würde.